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Er starrte mich lange mit leerem Blick an, so daß ich mich fragte, ob er meine Worte überhaupt gehört hatte. Schließlich jedoch fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und sagte leise: »Du darfst nicht ins Wäldchen gehen, Leyla. Niemals.«

Er mußte meinem Vater so ähnlich sein – Gesicht, Stimme, Körperhaltung. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Mann geliebt; aber das konnte ich nicht, solange ich ihn fürchtete. Es war nicht Angst, sondern eher eine Art von Mißtrauen, wie weit er gehen würde, um das Familiengeheimnis zu bewahren. Henry würde mir niemals etwas Böses antun, dessen war ich gewiß, aber seine Gegnerschaft konnte mich sehr unglücklich machen.

»Ich werde gehen, weil ich gehen muß, damit ich mich erinnere.«

»Ich weiß, was du für einen Plan hast, Leyla. Ich weiß, worauf du hinauswillst. Indem du die Unschuld deines Vaters erklärst, schiebst du die Schuld einem anderen Mitglied der Familie zu. Du beschuldigst einen Pemberton des Mordes!«

»Mein Vater war auch ein Pemberton, und ihr denkt euch nichts dabei, ihn zu beschuldigen.«

»Das war etwas anderes. Er wurde vom Wahnsinn zu der Tat getrieben.«

»Wie einfach für euch alle. Aber ich glaube nicht daran.«

»Aber, Bunny, wer von der Familie hätte einen Grund gehabt! Es war auch sehr häßlich von dir, zu Martha zu sagen, wir würden um das Familienvermögen streiten. Ich hätte dich solcher Gedanken nicht für fähig gehalten.«

Das tat weh. Wenn sie meinen Vater, der sich nicht mehr wehren konnte, des Mordes beschuldigten, so war das völlig in Ordnung. Wenn ich hingegen einen von ihnen beschuldigte, so war das gemein und niedrig. »Ich gehe morgen ins Wäldchen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Henry schien sich völlig in eine eigene Welt zurückzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Laudanum er genommen hatte und warum, aber ich wußte, daß es ein sehr starkes Schmerz- und Betäubungsmittel war.

Ich bekam eine Erklärung, als er stöhnend die Hand an die Stirn drückte und sagte: »Diesmal ist es schlimmer als je zuvor.«

»Was ist schlimmer, Onkel Henry?«

»Die Kopfschmerzen. Ach, diese Kopfschmerzen. Sie sind zermürbend, Leyla.«

Ich sah Henry leicht beunruhigt an. »Wieviel Laudanum hast du genommen, Onkel?«

Sein Blick glitt an mir vorbei. »Deine Tante Anna hat es mir mit dem Tee gegeben. Aber diesmal brauche ich mehr. Dieser gräßliche Wind bläst durch alle Ritzen. Daher kommen die Kopfschmerzen.«

»Hat mein Vater auch Kopfschmerzen gehabt, Onkel?«

»Wie? Oh, ich muß gehen. Mutter erwartet, daß ich noch einmal nach ihr sehe, ehe sie zur Ruhe geht.«

»Großmutter kann ruhig einen Moment warten – « Er lachte laut und gequält. »Wie wenig du weißt, Bunny. Niemand läßt Abigail Pemberton warten.« Unsicher stand er auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Geh nach London zurück, Leyla, solange du kannst.«

»Das werde ich nicht tun, Onkel. Jedenfalls jetzt nicht.« Während er leicht taumelnd neben mir stand, schweiften seine Augen von neuem durch das Zimmer, und ich sah, wie sein Blick auf meinem Brief an Edward haften blieb. »Du schreibst einen Brief?«

»Nein«, log ich. »Ich habe mir nur ein paar Notizen für mein Tagebuch gemacht.«

Henry lachte ein wenig. »Entschuldige, Bunny, aber ich muß jetzt gehen. Mir zerspringt der Kopf. Wir können uns morgen weiter unterhalten, wenn es dir besser geht.«

»Aber es geht mir gut.«

»Würdest du mich zur Tür bringen? Ich bin ein bißchen unsicher auf den Beinen.«

Ich mußte ihn führen wie einen Betrunkenen. Offenbar hatte er seinen Tee mit dem Laudanum unmittelbar ehe er zu mir gekommen war, getrunken; jetzt erst schien sich seine Wirkung zu entfalten. An der Tür blieb er stehen. »Schlaf gut, Bunny.«

»Gute Nacht, Onkel Henry.« Ich küßte ihn auf die Wange, aber er schien es gar nicht zu bemerken. Während ich ihm nachblickte, wie er torkelnd durch den dämmrig erleuchteten Flur zu seinem eigenen Zimmer ging, überkam mich eine Welle der Verzweiflung. Henry war wahrhaftig eine tragische Gestalt. Er war ein schwacher Mensch, von dem ich keine Unterstützung zu erwarten hatte.

Zurück in meinem Zimmer lehnte ich mich mit schwerem Herzen an die Tür und fragte mich, wie ich das, was auf mich zukam, aushalten sollte. Meine Großmutter hatte mich zurückgestoßen. Henry hatte mich enttäuscht. Martha war mir böse, und auf Colin war kein Verlaß. Wer blieb da noch? Anna? Nein, sie würde sich dem Willen meiner Großmutter noch eher beugen als ihr Mann. Theo? Der würde sich auf die Seite seiner Eltern stellen. Wer dann?

Wie in Trance bewegte ich mich im Zimmer, sah in die verlöschende Glut im Kamin und ging zum Fenster. Ich kam mir vor wie in einem Käfig, wie eine Gefangene, die aus einer Welt, die sie nicht verstehen kann, in eine Welt des gesunden Menschenverstands hinausblickt. Wieviel vernünftiger wäre es für mich gewesen, nach London zurückzukehren und meinen Platz an Edwards Seite einzunehmen. Aber Liebe, Haß und Schmerz kennen keine Vernunft.

Wenn ich Edward dazu bewegen könnte, hierher zu kommen, würde ich den Kampf nicht allein zu führen brauchen. Aber bis dahin mußte ich jemanden haben, mit dem ich sprechen konnte, der mir meine Fragen beantwortete.

Da fiel mir Gertrude ein, die Haushälterin. Ihr Gesicht an dem Abend, als sie mich das erstemal gesehen hatte, stand deutlich vor meinen Augen. Ihren Ausdruck wußte ich jedoch nicht zu deuten. War es Schrecken gewesen? Furcht? Oder nur Überraschung? Wie betrachtete sie meine Heimkehr? Ich konnte mir vorstellen, daß Gertrude in meiner Kindheit eine wichtige Rolle für mich gespielt hatte; vielleicht hatte sie gelegentlich das Kindermädchen vertreten. Wenn das zutraf, dann dachte sie vielleicht mit Wehmut an jene Zeit zurück, dann war sie vielleicht bereit, mir Auskunft zu geben.

Doch das mußte heimlich geschehen, das war wichtig. Der Brief an Edward ging mir jetzt leicht von der Hand. Der Besuch meines Onkels hatte mich in meinem Beschluß bestärkt, die ganze Wahrheit herauszufinden, gleich, um welchen Preis. Ich schrieb einfach das nieder, was ich fühlte und empfand. Während der letzten Worte hoffte ich aus tiefstem Herzen, er würde meine Verzweiflung erkennen und unverzüglich zu mir eilen.

Nachdem ich den Umschlag versiegelt hatte, beschloß ich, ihn am folgenden Morgen von einem der Mädchen nach East Wimsley bringen zu lassen. Von dort aus würde er in zwei Tagen in London sein. Wenn Edward dann gleich aufbrach, konnte ich hoffen, ihn in spätestens sechs Tagen zu sehen.

Erleichtert und ermutigt, machte ich mich bereit zum Schlafengehen. Das Zimmer war kalt und dunkel, aber nicht mehr so fremd wie zuvor. Als ich mich mit Behagen in das weiche Bett sinken ließ, dachte ich mit Unruhe daran, was der folgende Tag bringen würde. Ich war überzeugt, daß im Wäldchen alle Erinnerung wiederkehren würde. Alles würde sich offenbaren. Und ehe ich einschlief, dachte ich, werde ich auch dieses Haus erforschen und nach Erinnerungen aus meiner Kindheit suchen.

Kurz vor Tagesanbruch erwachte ich frisch und ausgeruht, das erstemal, seit ich in diesem Haus war. In aller Eile machte ich Toilette und schlich, während alle noch schliefen, die Treppe hinunter.

Die Hausangestellten saßen bereits in der Küche vor dem großen Herd, in dem schon Feuer brannte. Sie grüßten höflich, als ich eintrat. Ich gab einem Mädchen, das ich schon kannte, den Brief und eine Pfundnote, und betonte nachdrücklich die Dringlichkeit der Besorgung. Ohne ein Wort, aber sichtlich erfreut über das Geld, griff sie hastig nach einem Mantel und eilte davon. Die anderen betrachteten mich stumm, alle noch zu jung, als daß sie vor zwanzig Jahren schon hätten im Haus gewesen sein können.

»Wo ist Gertrude?« fragte ich.

»Noch nicht da, Madam«, antwortete ein Mädchen. »Sie kommt immer erst um sechs, Madam. Soll ich sie ‘raufschicken, Madam?«

»Nein, nein, nicht nötig. Danke.«

Bis zu meinem Gespräch mit Gertrude blieb mir also noch eine Stunde Zeit, und die Familie würde sicher nicht vor sieben aufstehen. Einen besseren Zeitpunkt für die Erforschung des Hauses meiner Kindheit, gab es nicht, zumal ich hellwach und voller Optimismus war. Die Flure waren dunkel und kalt. Die beiden Seitenflügel des Hauses waren verschlossen, da sie nicht mehr bewohnt wurden. Aber ich stellte mir vor, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der die Familie groß gewesen war und häufig Gäste beherbergt hatte, so daß jedes Zimmer genutzt worden war. Jetzt, da nur sieben Menschen hier lebten und Besuch selten war, wurde nur noch der Mittelteil des Hauses bewohnt. Ich stieß auf viele verschlossene Türen, vor allem im zweiten Stockwerk, wo viele Zimmer leerstanden. Während ich über den staubigen Teppich ging und die modrige Luft atmete, bemühte ich mich, mit offenen Sinnen auf alles zu achten, um auch nicht den kleinsten Anstoß zu einer Erinnerung zu übersehen. Aber es kam nichts. Im zweiten Stockwerk, wo wir alle unsere Zimmer hatten, waren zwei lange Flure, die noch nicht so lange unbewohnt zu sein schienen wie die Seitenflügel. Hier und dort war sogar noch Öl in den Lampen. Vorsichtig drehte ich einen Türknauf nach dem anderen, aber die Zimmer waren alle abgeschlossen. Bis auf eines.

Dieser Raum mußte noch bis vor kurzem bewohnt gewesen sein. Der Tisch neben der Tür war noch nicht von Staub bedeckt, die Topfpflanze schien vor kurzem noch gegossen worden zu sein. Langsam schob ich die Tür weiter auf, leuchtete mit der Kerze und sah, daß ich mich in einem Schlafzimmer befand. Ohne die Tür hinter mir zu schließen, trat ich weiter ins Zimmer, bis ich alles erkennen konnte. Der reingefegte Kamin, das Fehlen von Lampen und Kerzen verrieten, daß das Zimmer nicht mehr benutzt wurde. Aber die Möbel standen alle richtig an ihrem Platz. Ich fragte mich, wer in diesem Zimmer gelebt hatte. Als ich näher zum Bett trat, überkam mich plötzlich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Dieses Zimmer kannte ich, oder hatte es früher einmal gekannt; seine Atmosphäre war angenehm, freundlich. Auf dem Nachttisch lag ein Buch, in Leder gebunden und ohne Titel. Ich stellte die Kerze nieder und schlug es auf.

Es war Sylvia Vauxhalls Tagebuch von 1856. Die Seiten waren in einer schön geschwungenen Schrift beschrieben. Während ich las, was sie diesem Buch anvertraut hatte, stieg ein Strom von Gefühlen in mir auf, von Liebe und Sehnsucht, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich fühlte mich Tante Sylvia plötzlich unglaublich nahe, dieser Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte und von der ich doch wußte, daß ich als Kind sehr an ihr gehangen hatte.

Wie traurig, daß es mir nicht vergönnt gewesen war, sie wiederzusehen. Wie wunderbar wäre dieses Wiedersehen geworden! Die anderen hätten mich nicht zu kümmern brauchen, denn Tante Sylvia wäre ja hier gewesen, um mir die Wärme und die Liebe zu geben, die ich ersehnt hatte. Glücklich und traurig zugleich, wischte ich mir eine Träne von der Wange und erstarrte. Mein Blick lag wie gebannt auf den Seiten des Tagebuchs. Mit einem Schlag wurde alle Wehmut von eisigem Entsetzen weggefegt. Die Handschrift auf diesen Blättern, die fein geschwungenen Bögen, diese weiche, flüssige Schrift war nicht die gleiche wie die in Tante Sylvias Brief.

Ich war völlig verwirrt. Das war ihr Tagebuch, aber die Schrift war eine andere. Der Brief an Mutter war in einer festen, energischen Handschrift geschrieben gewesen, mehr kantig, als weich und schwungvoll. Aber in wessen Schrift?

Ich stand da und betrachtete das Tagebuch. Plötzlich hörte ich hinter mir die Tür ins Schloß fallen. Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr ich herum.

»Mein Gott, hast du mich erschreckt«, sagte ich atemlos zu der Silhouette an der Tür.

Ein leises Lachen antwortete mir.

»Bist du das, Theo?« Ich griff hinter mich, nahm die Kerze und hielt sie hoch. Colins Gesicht tauchte aus dem Dunkel.

»Was hast du in Tante Sylvias Zimmer zu suchen?« fragte er in anklagendem Ton.

»Ich – ich habe einen Rundgang durch das Haus gemacht. Ich dachte, ich würde mich vielleicht an irgend etwas erinnern. Das Zimmer war nicht abgeschlossen…«

»Ziemlich taktlos, einfach ein fremdes Tagebuch zu lesen, meinst du nicht?«

Ich sah wieder auf das Buch. Meine Augen brannten. »Ich fühlte mich ihr plötzlich so nahe. Ich konnte mich beinahe an sie erinnern.«

»Und was hat es dir sonst noch gesagt?« Mit einem Ruck hob ich den Kopf. »Was meinst du damit?«

»Wirst du darin erwähnt? Hast du deshalb darin gelesen? Ich wette, du hast eine Enttäuschung erlebt, liebe Leyla. Tante Sylvia hat nie von dir gesprochen. So wenig wie wir anderen.«

»Nein – nein, von mir steht nichts in dem Buch.« In meinem Kopf schwirrte es. Wer hatte den Brief geschrieben? »Ich will dir etwas sagen, Leyla«, sagte Colin und kam einen Schritt näher. »Es ist nicht ganz ungefährlich allein durch dieses Haus zu streifen. Manche der Treppen, die nicht mehr benutzt werden, sind in schlechtem Zustand. Du hättest leicht stürzen können. Das nächstemal suchst du dir Begleitung.«

»Die anderen schlafen ja noch.«

»Aber jetzt bin ich da und kann dich herumführen. Theo und Henry sind ebenfalls aufgestanden, aber sie sind schon nach East Wimsley gefahren.«

»Fährst du nie hin?«

»Ich habe mit dem Geschäft nichts zu tun. Mein Onkel und mein Vetter halten mich beide für unfähig, obwohl es einmal eine Zeit gab, in der ich sehr häufig mit der Leitung der Geschäfte zu tun hatte. Aber das ist lange her, und es war nur für kurze Zeit.«

»Wann war das?«

Sein Gesicht verschloß sich. »Nachdem deine Mutter mit dir fortgegangen war. Onkel Henry ging mit Tante Anna und Theo nach Manchester, um unsere dortige Fabrik zu leiten. Ich blieb mit meinem Vater hier und führte für Großvater die Geschäfte. Aber dann – « er stockte – »dann kamen meine Eltern bei dem Unfall ums Leben und Onkel Henry kam mit seiner Familie zurück. Er übernahm gemeinsam mit Theo die Leitung der hiesigen Fabrik, und so ist es geblieben.« Er lachte kurz auf. »Diese Fabriken sind mir gleichgültig. Ich bin kein Geschäftsmann. Ich bin der geborene Müßiggänger. Außerdem – « seine Stimme wurde hart – »ist es nicht nach meinem Geschmack, Baumwollspinnereien zu leiten, in denen es stinkt, daß die armen Menschen, die dort schuften, kaum atmen können und alle möglichen widerwärtigen Krankheiten bekommen. Ich bin kein Reformer, aber ich finde die Bedingungen, unter denen diese Leute dort arbeiten müssen, ungeheuerlich.«

Ich war erstaunt über die plötzliche Leidenschaft in seiner Stimme. Seine Worte überraschten mich. Sie stimmten genau mit dem überein, was ich dachte.

»Und mein hochherziger Onkel Henry war tatsächlich gegen den Zehn-Stunden-Tag, liebe Leyla. Er behauptete, er würde den Arbeitern nur mehr freie Zeit geben, um sich ins Wirtshaus zu setzen. Da kann ich nur sagen, um so besser für sie! Ich sage dir eines, irgendwann wird der Acht-Stunden-Tag kommen und Kinderarbeit überhaupt verboten werden. Und wenn dieser Tag kommt – « Colin brach ab. Er wirkte beinahe verlegen. »Ja, sprich weiter! Stell dir vor – «

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. Das Feuer war erloschen. Plötzlich war er wieder der alte Colin, der sich nur um sich selbst kümmerte.

»Komm, Leyla, gehen wir, in diesem Zimmer findest du doch nichts.« Ich legte das Tagebuch wieder auf den Nachttisch und stellte die Frage, wer meiner Mutter den Brief geschrieben hatte, fürs erste zurück. Als wir wieder im Flur standen, nahm Colin mir die Kerze ab und hielt sie nahe an mein Gesicht.

»Du siehst deiner Mutter unglaublich ähnlich«, sagte er leise. »Und meinem Vater nicht?«

Er kniff die Augen zusammen. »Doch, deinem Vater auch. Man sieht dir an, daß du eine Pemberton bist, verflucht, wie alle Pembertons.«

»Hör’ auf mit dem Unsinn, Colin!«

»Ach, Leyla, wenn du wüßtest, wie lebendig durch deinen Anblick die Vergangenheit wird. Ich war damals zwar erst vierzehn, aber ich war alt genug, um einen Blick für Schönheit und Anmut zu haben. Ach, wie habe ich damals gehofft, wenigstens einmal einen Blick auf die zarten Fesseln deiner Mutter zu erhaschen! Sie war zwar meine Tante, aber ich brauchte sie nur zu sehen, um im Fieber der Leidenschaft zu entbrennen.«

»Ach, Colin!« Ich lachte.

»Und du, Leyla, du launisches Frauenzimmer. Damals hingst du mit abgöttischer Liebe an mir! Aber davon ist jetzt nichts mehr übrig, oder?« Er sah mich forschend an.

»Du mußt dich getäuscht haben, Colin. Ich habe dich bestimmt nur als älteren und klügeren Bruder gesehen, so wie jetzt. Es wäre doch unvorstellbar gewesen, daß ich mich in meinen Vetter verliebe.«

»Weißt du noch, daß ich dir oft vorgelesen habe?« Ich versuchte, mich zu erinnern. »Nein…«

»Und einmal habe ich dir zum Geburtstag eine Laterna Magica geschenkt. Ich bastelte wochenlang daran herum – «

»Colin!« Ich schrie fast seinen Namen und packte ihn aufgeregt beim Handgelenk. Nicht nur ein vages, undeutliches Bild, sondern eine klare, lebendige Erinnerung. »Ich glaube, ich erinnere mich. War ein Bild von einem kleinen Hasen darauf? Und das Häschen hatte ein Kleid an, das wie meines aussah. Das Häschen sollte ich sein, und wenn ich die Kurbel drehte, hopste es auf und ab. Colin, ich erinnere mich ganz genau!«

»Ich habe ewig gebraucht, um das Ding fertigzubekommen, Leyla, aber es lohnte sich. Du hättest sehen sollen, wie dein Gesicht strahlte, wenn du damit spieltest. Ich bin froh, daß du dich erinnerst.«

»Ja, ganz deutlich.« Unwillkürlich grub ich meine Finger tiefer in seinen Arm. Weitere bruchstückhafte Erinnerungen kamen zurück, wie Steine eines Mosaiks. Ich sah die Geburtstagsfeier im Speisezimmer, eine Torte und Leckereien auf dem Tisch, der mir in der Erinnerung riesig erschien. Ich sah wogende Röcke, um mich herum ein Farbenmeer von Rosarot und Blau. Ich erinnerte mich an die Laterna Magica und wie ich Colin vor Freude um den Hals gefallen war. »Täusche ich mich, oder wirst du rot, schöne Cousine?« Die Bilder verschwanden, ich sah Colin an. »Und meine Hand ist bereits völlig taub.«

Ich ließ seinen Arm los. »Mir ist plötzlich alles wieder eingefallen. Das ganze Geburtstagsfest. Aber ich konnte nur Hosenbeine und Röcke sehen, keine Gesichter.«

»Das wird schon noch kommen.«

Er sah mich schweigend an, und während ich von seinem Blick gefangen war, versuchte ich, ohne zu wissen warum, mir Edwards Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und konnte es nicht. »Ich dachte, du möchtest nicht, daß ich mich erinnere.«

»Doch, Leyla, an die glücklichen Zeiten schon. Sie gehören dir. Aber nicht an die schlimmen Tage. Das würde dir wehtun.«

»Ich muß trotzdem hin, Colin. Ich muß ins Wäldchen. Ich gehe heute hinunter und – «

Jetzt packte Colin mich beim Arm, und so heftig, daß ich zusammenzuckte. »Das kann nicht dein Ernst sein, Leyla. Geh nicht!«

»Aber ich muß! Colin, du tust mir weh.«

»Das ist doch Wahnsinn! Es kann dir passieren, daß du dich an überhaupt nichts erinnerst und dennoch das Grauen fühlst und die Angst jenes Tages.«

»Bitte, laß mich los!«

Zornig stieß er mich von sich. Wie rasch bei diesem Mann die Stimmung wechselte. Seine plötzlichen Ausbrüche, seine Unberechenbarkeit ängstigten mich. »Leyla, bitte – «

»Ich gehe, Colin.«

»Dann laß mich mitgehen. Erlaube mir, daß ich dich begleite. Vielleicht brauchst du mich, wenn – du dich wirklich erinnern solltest.« Seine Fürsorge tat mir gut. »Komm mit. Ich gehe heute nachmittag.«

»Gut. Wenn du jetzt noch mehr vom Haus sehen willst, dann laß mich dich führen.«

Gertrude fiel mir plötzlich ein. »Nein, danke, Colin. Ich bin ein bißchen müde und möchte mich noch ein Weilchen hinlegen. Wir sehen uns später, wenn es dir recht ist.«

Er begleitete mich zu meinem Zimmer, wartete, bis ich die Tür geschlossen hatte, und ging dann den Flur entlang, vermutlich die Treppe hinunter. Ich hatte nicht ganz die Unwahrheit gesagt, als ich erklärte, müde zu sein. Die Erkenntnisse dieses Morgens hatten mich nicht nur tief getroffen, sondern auch recht mitgenommen, insbesondere das Geheimnis um Tante Sylvias Brief. Ich setzte mich auf das Sofa am Kamin und las ihn wohl zum zwanzigstenmal.

›Liebe Jenny‹, stand da, ›verzeih dieses plötzliche Schreiben nach so vielen Jahren des Schweigens. Ich verspüre eine starke Sehnsucht, Dich zu sehen. Ich kann mir vorstellen, daß Du kaum gute Erinnerungen an Pemberton Hurst hast, und ich kann es verstehen. Aber das ist alles lange her, und so vieles hat sich seither verändert. Ich möchte Dich und Leyla gern sehen, aber ich kann nicht nach London kommen. Ich bin jetzt eine alte Frau und möchte in meiner Familie sein, wenn der Herr mich ruft. Kannst Du nicht für einige Tage hierher zurückkommen und Leyla mitbringen? Dann könnte mein Herz Frieden finden. In Liebe, Tante Sylvia‹

Ein schlichter Brief, der aber eindeutig nicht von Sylvia Pemberton geschrieben war. Doch wer in diesem Haus hatte meine Mutter und mich hierhaben wollen? Und warum hatte der Betreffende nicht im eigenen Namen geschrieben, sondern sich hinter Tante Sylvia versteckt, die damals kurz vor dem Tod gestanden haben mußte?

Von allen Rätseln, die mir hier begegnet waren, schien mir dies das unergründlichste.

Ich war dem Ruf dieses Briefes gefolgt, doch alle im Haus waren, so hatte es jedenfalls den Anschein, über mein Kommen höchst überrascht gewesen. Und alle schienen sie meine baldige Abreise zu wünschen. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand sagte die Unwahrheit.