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In meiner Verlegenheit wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Nicht einmal eine Entschuldigung brachte ich zustande. Statt dessen stand ich stocksteif und mit hochrotem Gesicht vor dem Mann. Seine Augen, die ganz ruhig auf mich gerichtet waren, waren grün. Die Wimpern und die Brauen waren so dunkel wie das Haar, das ihm wellig fast bis zu den Schultern hinunterfiel. Er hatte eine hervorspringende Nase, die sehr gerade war, und einen klar gezeichneten Mund, um den jetzt ein ärgerlicher Zug lag.

In seinem Gesicht entdeckte ich keines der typischen Pemberton-Merkmale – weder die dichten Wimpern noch das Grübchen am Kinn –, die, wie meine Mutter einmal gesagt hatte, mich als einen Sproß dieser Familie kennzeichneten. Unwillkürlich verglich ich diesen Mann mit Edward Champion, meinem Verlobten. Colin schnitt bei dem Vergleich nicht sonderlich gut ab. Sein Gesicht mochte einen gewissen Charme haben, wenn er lächelte, aber mit Edward konnte er es nicht aufnehmen.

Allmählich fand ich die Sprache wieder. »Oh, verzeih’ mir. Das war unglaublich ungezogen von mir.«

Er zuckte die Achseln. »Woher hättest du wissen sollen, wer ich bin? Typisch Tante Anna, nichts als Verwirrung zu stiften. Komm, setz dich doch. Hier im Haus hat alles seine genaue Ordnung, weißt du. Das Abendessen wird um Punkt acht serviert, ob man ohne Appetit ist oder völlig ausgehungert. Und du kannst nach der langen Reise nur das eine oder das andere sein.«

»Du scheinst ja bereits gründlich über mich unterrichtet.«

»Neuigkeiten sprechen sich hier schnell herum. Aber – « er setzte sich wieder, streckte seine langen Beine aus und kreuzte die Füße – »das wirst du bald selbst merken. Geheimnisse gibt es hier nicht.«

»Bist du Theos Bruder?«

»Was?« Er lachte ohne Heiterkeit. »Ich bin so wenig sein Bruder wie du meine Schwester bist. Er ist mein Vetter und dein Vetter, und ich bin auch dein Vetter.«

»Ich verstehe.«

»Nein, das glaube ich dir nicht. Für eine Pemberton weißt du erstaunlich wenig über die Pembertons! Ich kann mir denken, daß deine Mutter am liebsten überhaupt nicht von uns gesprochen hat. Also, paß auf: Unseren Ursprung haben wir alle bei dem ehrwürdigen Sir John Pemberton, der nunmehr seit zehn Jahren tot ist, und seiner Frau Abigail. John und Abigail hatten drei Söhne: Henry, Richard und Robert. Henry ist Theos Vater. Richard ist mein Vater. Und Robert war dein Vater.«

»Und Martha?«

»Martha ist meine Schwester.«

»Und wie ist Tante Sylvia mit uns allen verwandt?«

»Sie ist Abigails unverheiratete Schwester. Sie zog vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren mit ins Haus, als Abigail John heiratete.«

»Ich verstehe«, sagte ich wieder. »Ich freue mich schon darauf, alle kennenzulernen. Henry und Theo, deinen Vater – «

Colins Gesicht verdunkelte sich. »Mein Vater ist tot. Meine Mutter ebenfalls. Von den drei Söhnen Johns und Abigails lebt nur noch einer, Henry. Theos Vater. Und von den Frauen dieser Generation leben noch Tante Anna und deine Mutter.«

»Meine Mutter ist auch tot«, sagte ich leise.

»Ach?« Er schien nicht überrascht zu sein. »Dann bist du wohl deshalb hierher gekommen? Weil du jetzt ganz allein bist?« Seine Worte wirkten auf mich wie eine Anklage, und in seinem Ton schien mir Spott mitzuschwingen, der mich ärgerte.

»Ich bin aus persönlichen Gründen hierher gekommen. Unter anderem, weil ich den Wunsch hatte, meine Familie wiederzusehen. Und das Haus, in dem ich geboren bin.«

Jetzt wandte er mir seine ganze Aufmerksamkeit zu, und ich sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. Von seiner Lässigkeit war nichts zu spüren, als er fragte: »Und? Siehst du in uns noch etwas, das mit deinen Erinnerungen übereinstimmt?«

Ich sah ihm in die blaßgrünen Augen und wußte, daß er eigentlich eine andere Frage stellte. In Wirklichkeit wollte er wissen, ob ich mich überhaupt noch an ihn und die übrigen Familienmitglieder erinnerte. Ausweichend antwortete ich: »In zwanzig Jahren verändern sich die Menschen.«

»Sehr gut gesagt, liebe Cousine. Vor zwanzig Jahren war ich ein Knabe von vierzehn, und du warst gerade fünf. Es bekümmert mich tief, sehen zu müssen, daß die Liebe nicht von Dauer war.«

»Die Liebe?«

»Du hast mich damals regelrecht angeschwärmt, Leyla. Du bist mir überallhin gefolgt wie ein treues Hündchen.«

Ich errötete. Zugleich jedoch machten mich seine Worte traurig, da sie von glücklicheren Zeiten sprachen, die ich erlebt hatte, aber nicht erinnern konnte. Ich fand es beklemmend, ja, erschreckend, daß ich in all den Stunden des Suchens und verzweifelten Bemühens, meine Vergangenheit zurückzuholen, nicht einmal auf ein Bruchstück einer Erinnerung an Colin Pemberton gestoßen war.

»Hinter dem Haus – ich weiß nicht, ob du dich daran entsinnst – liegt eine große verwilderte Wiese, die Tante Anna hochtrabend den Garten nennt, und jenseits dieses Feldes ist ein Akazienwäldchen. Dort war, als wir alle noch Kinder waren, unser liebster Spielplatz. Mittendrin steht die Ruine eines alten Schlößchens, und das war unser Reich. Erinnerst du dich?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Anfangs spielten nur Theo und ich dort unten. Aber er ist vier Jahre älter als ich, und als er sich für diese Spiele zu alt fühlte, während ich noch Spaß daran hatte, stießen Martha und dein Bruder Thomas zu mir und bald auch du, so klein du warst. Du hast da unten immer das Häschen gespielt und bist herumgesprungen wie ein kleiner Kobold. Immer vergnügt und ausgelassen. Bist du immer noch so, Leyla?« Aber ich hörte seine letzten Worte nur mit halbem Ohr. Ich war in Gedanken im Akazienwäldchen, eines von vier fröhlichen Kindern, die dort spielten und herumtollten, als gäbe es kein Morgen. Nur leider sah ich diese Bilder mit den Augen Colins und nicht so, wie ich selber sie vielleicht in Erinnerung hatte. Ich erinnerte mich dieser unbekümmerten Spiele so wenig, wie ich mich seiner Schwester Martha und meines Bruders Thomas erinnerte.

»Du hast überhaupt keine Erinnerung daran, nicht wahr?« hörte ich ihn behutsam sagen.

»Wie bitte?« Ich sah auf und bemerkte, daß er mich mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. »Ach, ich war damals noch so klein. Hast du denn Erinnerungen an die ersten fünf Jahre deines Lebens?«

»O ja, eine ganze Menge.«

Ich senkte die Lider und starrte ins Feuer. Wieder empfand ich dieses Unbehagen. Wie zuvor bei Anna hatte ich auch jetzt bei Colin das Gefühl, daß er nicht sagte, was er wirklich dachte.

Impulsiv stand ich auf und ging zum Kamin, über dem ein sehr großer alter Spiegel hing. Nicht nur mich konnte ich darin sehen, sondern auch das Zimmer hinter mir und Colin in seinem Sessel, scheinbar in lässiger Pose und doch so angespannt.

Nun ja, für diese Leute war ich wahrscheinlich ein Gespenst aus der Vergangenheit. Ich hatte große Ähnlichkeit mit meiner Mutter, das gleiche schwere schwarze Haar, die gleiche helle Haut. Aber meine Lippen sahen im Spiegel grau und farblos aus, und meinen Augen fehlte der Glanz. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen, ich war es nicht; schon gar nicht jetzt, da Anstrengung und Verwirrung mein Gesicht zeichneten. Hatte ich auch so am Bahnhof in London ausgesehen, als Edward mich gebeten, fast angefleht hatte, nicht zu fahren? Hatte er in dieses bleiche, leblose Gesicht geblickt, als er beteuert hatte, der Gedanke an meine Schönheit werde ihm an einsamen Abenden Trost sein? Der gute Edward. Es war so gar nicht seine Art, in aller Öffentlichkeit seine Zuneigung zu beteuern. Immer höflich, stets sich der Formen bewußt, das war Edward, der vollendete Gentleman im Gegensatz zu meinem Vetter Colin, diesem ungehobelten Flegel.

Colin bemerkte mein Lächeln, und ich glaube, einen Moment lang war er verärgert. »Du amüsierst dich?«

Ich drehte mich um. »Ich habe nur an etwas Angenehmes gedacht.«

»Aus der Vergangenheit?«

»Nein, an meinen Verlobten.«

»Du bist verlobt?« Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe. »Ja, überrascht dich das?«

»Und der Mann hat dich allein hierher reisen lassen?« Ich kehrte zu meinem Sessel zurück und setzte mich. »Nur weil ich darauf bestand. Er wollte mich nicht reisen lassen. Aber ich mußte hierher kommen. Nur dieses eine Mal wenigstens. Meine Mutter ist tot. Ihr tut es nicht mehr weh, und ich wollte das Haus und die Familie wiedersehen, ehe ich heirate.«

Colin legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und sah mich nachdenklich an. Ich schien ihn auf einen interessanten Gedanken gebracht zu haben. Seine nächste Frage überraschte mich. »Wieso glaubst du, dein Besuch bei uns hätte deiner Mutter weh getan?«

»Ich weiß nicht… es war nur so ein Gefühl.«

»Hat sie dir von uns erzählt?«

»Nein, nichts.«

»Als wollte sie vergessen, daß es uns gibt…«

»Entschuldige, Colin, aber ich denke, das kann man ihr nicht verübeln. Als meine Mutter von hier fortging und nach London zog, war sie völlig mittellos und ohne jede Hilfe. Sie mußte ganz allein ein Kind großziehen und sehen, wie sie damit zurecht kam. Jahrelang hat sie sich als Hausschneiderin abgemüht, für reiche Frauen genäht, die sie schlimmer behandelten als ihre eigenen Domestiken. Sie war eine Frau aus bester Familie, die das Leben einer kleinen Arbeiterin führte. Meine Mutter war mit einem Pemberton verheiratet gewesen, ich war eine Pemberton, und dennoch lebten wir acht Jahre lang in Armut, während die Pembertons wie die Fürsten lebten.« Ich machte eine umfassende Geste. »Deine Bitterkeit ist nicht berechtigt, Leyla. Du darfst nicht vergessen, daß es deine Mutter war, die uns verließ; nicht wir sie. Niemand wußte, wohin sie gegangen war, als sie damals plötzlich verschwunden war und ihre gesamte Habe hier zurückgelassen hatte. Wir wußten nur, daß sie fort war und dich mitgenommen hatte. Und wir haben nie wieder von ihr gehört. Bis zum heutigen Tag.«

Ich starrte ihn zornig an. Ich konnte die Bitterkeit, die ich empfand, nicht verleugnen. Sie hatten nicht nach uns gesucht, sonst hätten sie uns gefunden. Unser Schicksal hatte sie nicht gekümmert, sonst hätten sie uns in den zwanzig Jahren geholfen.

Colin spürte wohl, was in mir vorging, denn er fragte in ruhigem, ernsthaftem Ton: »Und warum bist du dann jetzt zurückgekommen?« Ehe ich ihm antworten, ihm von meiner Einsamkeit, meiner Sehnsucht nach Familienzugehörigkeit erzählen konnte, öffnete sich die Tür.

»Leyla!« rief der Fremde, der mit großen Schritten hereinkam. »Leyla!« Er eilte auf mich zu und nahm meine Hände. »Auf den ersten Blick hätte ich dich erkannt! Du bist Tante Jenny wie aus dem Gesicht geschnitten. Willkommen zu Hause!«

Vetter Theodore war ein eleganter Mann. Zum burgunderfarbenen Rock mit Weste trug er ein weißes Hemd aus feinstem Leinen und dazu eine schwarze Hose. Sein Haar war so schwarz wie meines, und seine leicht vorstehenden Augen waren von einem Kranz dichter Wimpern umgeben. Die Nase war eine Spur zu groß, und am Kinn hatte er ein kleines Grübchen, genau wie ich. Daß dieser Mann ein Pemberton war, daran gab es keinen Zweifel.

»Ja, Theo«, fuhr Colin unhöflich dazwischen, »vorhin verwechselte unsere Cousine Leyla mich mit dir und bat mich um Schutz vor dem flegelhaften Vetter Colin.«

Ich errötete tief. »Ich sagte, daß es mir leid tut.«

Er zuckte wieder auf seine unerzogene Art die Achseln, dann stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort aus der Bibliothek. Theodore sah ihm einen Moment lang nach, ehe er sich mir zuwandte. Er lächelte mich an, aber seine Augen blieben kühl. An diese Zwiespältigkeit würde ich mich hier offenbar gewöhnen müssen. Keiner hier konnte mir mit wirklicher Herzlichkeit entgegenkommen. Dennoch gab sich Theodore von den vier Menschen, denen ich bisher im Haus begegnet war, die meiste Mühe, sein Unbehagen zu verbergen. Er schüttelte mir kräftig beide Hände, sprach laut und dröhnend, als wolle er den ganzen Raum mit seiner Persönlichkeit füllen.

Und dennoch hatte ich auch an ihn keinerlei Erinnerung. »So ungern ich es tue, ich muß dich bitten, Colin zu entschuldigen. Er ist hier sozusagen der Außenseiter, er paßt nicht in die Familie, verstehst du. Er ist mehr der Sohn seiner Mutter als seines Vaters. Weiß der Himmel, wo er seine flegelhaften Manieren her hat. Aber setz dich doch wieder, Leyla. Darf ich dir einen Sherry einschenken?«

Ich setzte mich und sah ihm zu, wie er mit bedächtigen Bewegungen den Sherry aus der Karaffe in die Gläser goß. Sein Gebaren war, so ungezwungen er sich auch gab, dennoch verkrampft. Nachdem er mir mein Glas gereicht hatte, stellte er sich nonchalant neben den Kamin und betrachtete mich mit unverhohlener Neugier.

»Du mußt verzeihen, daß ich dich so anstarre«, sagte er, »aber jetzt, da ich dich vor mir sehe, werden plötzlich zahllose Erinnerungen wach. Ich habe dich immer Bunny gerufen. Weißt du noch? Und du hast mit den anderen unten im Wäldchen gespielt. Lieber Gott, wie vergeßlich man ist.«

Theodore war meiner Schätzung nach Ende dreißig; das hieß, daß er damals fast zwanzig gewesen sein mußte. Wahrscheinlich achtzehn oder neunzehn, als meine Mutter mit mir fortgegangen war. Ich konnte mir vorstellen, daß ich ihn als kleines Mädchen ungeheuer beeindruckend gefunden hatte. Doch erinnern konnte ich mich nicht. Sein Gesicht hatte viel Ähnlichkeit mit meinem, nur die leicht vorstehenden Augen hatte er von seiner Mutter Anna geerbt.

Ich lächelte ihn an. Der Sherry tat mir gut. Zum erstenmal fühlte ich mich in diesem Haus wirklich gelöst.

»Sag mal, ist das Unterhaus eigentlich inzwischen fertig?« fragte Theo. »O ja, bis auf den Glockenturm. Da wird noch gearbeitet. Die Glocke zersprang bei der Probe. Soviel ich weiß, hat der Turm auch schon einen Namen – Big Ben.«

Theo lachte. »Das klingt ja sehr gemütlich. Ich war vor sechs Jahren das letzte Mal in London und da habe ich mir geschworen, nie wieder dorthin zu reisen. Ich muß ab und zu nach Manchester – wir haben eine Baumwollspinnerei dort –, aber das ist so ziemlich alles, was ich an Reisen unternehme. Wir Pembertons sind seßhafte Leute.« Ich sah mich um und dachte: Warum sollte man auch fort wollen, wenn man so ein Zuhause hat?

»Du möchtest sicher gern Großmutter deine Aufwartung machen, aber da wirst du bis morgen warten müssen. Sie fühlt sich in letzter Zeit nicht recht wohl. Sie hatte eine schwere Erkältung mit starken Kopfschmerzen. Leidest du auch an Kopfschmerzen?«

»Überhaupt nicht. Warum?«

»Du wirst sie also morgen sehen, wenn sie sich besser fühlt. Die Nachricht von deinem Kommen hat sie sehr bewegt.« Er sprach mit einer gewissen Ehrfurcht von unserer Großmutter. »Ehrlich gesagt, mochte ich viel dringender Tante Sylvia sprechen.«

»Was?« Er war verblüfft.

»Ja, sie hat doch – « Eigentlich wollte ich von dem Brief erzählen, aber dann unterließ ich es. »Ich meine, an sie erinnere ich mich am deutlichsten.« Was nicht ganz unwahr war, da ich ja vor der Lektüre ihres Briefes nicht ein einziges Mitglied der Familie Pemberton mit Namen gekannt hatte. »Wie merkwürdig, daß du ausgerechnet Tante Sylvia sehen möchtest.«

»Wieso?« Ehe er mir darauf eine Antwort geben konnte, kam eine dritte Person in die Bibliothek, eine Frau, die auf der Schwelle stehenblieb, als warte sie auf eine Aufforderung, einzutreten. Ich sah, wie Theos Blick zur Tür schweifte, und drehte den Kopf. In diesem Augenblick sprang mir blitzartig ein Bild vor Augen. Ich sah das Gesicht eines Mädchens, eines sehr hübschen jungen Mädchens mit roten Schleifen im Haar und einem weißen Kleid. Langsam, wie benommen, stand ich auf und hätte beinahe meinen Sherry verschüttet. »Martha!« flüsterte ich.

Aber dies war kein junges Mädchen in einem weißen Kleid. Die Frau, die mir mit ausgestreckten Händen entgegenkam, war älter als ich, mindestens dreißig, und sie trug ein elegantes Abendkleid aus altrosa Brokat mit kostbarer Stickerei am Dekollete. Ich bewunderte ihre modische Frisur mit den duftigen Ringellöckchen, die ihr über die Ohren fielen, als sie auf mich zuging. In der einen Hand trug sie einen ziemlich großen Pompadour mit einer Stickerei von Veilchen auf perlweißem Grund, aus dem mehrere Stricknadeln herausschauten.

»Leyla, willkommen zu Hause«, sagte sie, und ein wunderbarer Duft wehte mir entgegen, als sie meine Hände nahm.

Sie war von meinen Verwandten die erste, deren Ton mir aufrichtig schien.

Das Bild des strahlenden jungen Mädchens verblich. Statt dessen stand eine hübsche Frau vor mir, und ich war ihr sogleich für zwei Dinge dankbar: daß sie mich mit echter Herzlichkeit begrüßt hatte und mir den Anstoß zu einer ersten flüchtigen Erinnerung an meine Kindheit in Pemberton Hurst gegeben hatte.

»Ich habe gehört, daß deine Mutter gestorben ist. Das tut mir leid. Es war wohl erst vor kurzem?«

»Vor zwei Monaten.«

»Ich habe sie in so lieber Erinnerung. Es ist unglaublich, wie ähnlich du ihr siehst. Aber du hast auch mit deinem Vater Ähnlichkeit. Onkel Robert war ein blendend aussehender Mann. Du hast von beiden etwas, von Onkel Robert und von Tante Jenny.«

Wenn ich mich nicht eisern beherrscht hätte, hätte ich in diesem Moment zu weinen angefangen. Das erstemal hörte ich ein Wort über meinen Vater.

»Es gibt so viel zu erzählen, Leyla«, fuhr Martha fort. »Alte Erinnerungen – «

»Nicht so hastig, Martha«, unterbrach Theo. »Manchmal läßt man Erinnerungen lieber ruhen.«

Flüchtig umwölkte sich ihr Gesicht, dann lächelte sie wieder frei und offen.

»Natürlich. Leyla wird kaum daran interessiert sein, in der Vergangenheit zu graben. Was vorbei ist, ist vorbei. Unterhalten wir uns lieber über das Heute. Über die neueste Mode zum Beispiel. Wußtest du, daß die Krinoline im nächsten Jahr vorne flach werden soll? Wie findest du das, Leyla?«

Der abrupte Themawechsel war so irritierend, daß ich Martha nur sprachlos anschauen konnte. Ich war nicht nach zwanzigjähriger Abwesenheit in dieses Haus gekommen, um mich über die neueste Mode zu unterhalten.

»Oh, ich kann dich verstehen«, fuhr Martha fort, als ich beharrlich schwieg. »Man kann sich das zunächst gar nicht vorstellen.« Theo war daran schuld, daß Martha ihr Verhalten so plötzlich geändert hatte, denn er ließ sie keinen Moment aus den Augen, achtete auf jedes ihrer Worte. Martha, dachte ich, würde mich wohl genauso enttäuschen wie die anderen. Ich konnte nur noch auf Onkel Henry, meine Großmutter und Tante Sylvia hoffen. Wenn Henry Pemberton sich wie seine Frau und sein Sohn verhielt, so hatte ich auch von ihm nichts zu erwarten. Und von meiner achtzigjährigen, vielleicht vergreisten Großmutter durfte ich nicht zuviel erhoffen. Im Grunde also blieb mir nur Tante Sylvia. Sie hatte mir den Brief geschrieben, sie wenigstens mußte mich doch mit offenen Armen aufnehmen!

»Es ist gleich acht«, bemerkte Theodore. »Darf ich die beiden Damen ins Speisezimmer begleiten?«

Colin und Anna waren schon da. In gedämpfter Unterhaltung standen sie am offenen Kamin, dessen helles Feuer das Porzellan und das Silber auf dem gedeckten Tisch vergoldete. Die Pembertons wußten Behaglichkeit und Luxus zu vereinen. Das Speisezimmer war ein prachtvoller Raum. Auf dem wahrhaft königlich gedeckten Tisch mit der weißen Damastdecke standen Blumenarrangements und Schalen mit Früchten. Neben Anna und Martha in ihren eleganten Abendroben kam ich mir wieder vor wie eine arme Kirchenmaus.

Der Stuhl am Kopfende der Tafel blieb leer, obwohl auch dort ein Gedeck aufgelegt war. Die Plätze links und rechts von ihm wurden von Onkel Henry und Theo eingenommen; es schienen ihre angestammten Plätze zu sein. Anna setzte sich neben ihren Mann, Martha gegenüber. Dann folgte ich an Annas Seite und mir gegenüber, neben Martha, Vetter Colin. Auch der Stuhl am anderen Ende der Tafel, der zwischen Colin und mir, blieb leer. Dort lag allerdings auch kein Gedeck. Diese beiden Ehrenplätze, vermutete ich, waren den beiden Alten der Sippe vorbehalten, Großmutter Abigail und Großtante Sylvia. Voll ungeduldiger Spannung erwartete ich ihr Erscheinen.

Ehe ich mich setzte, kam Henry um den Tisch herum und schloß mich fest in die Arme. »Bunny«, murmelte er. »Es ist so schön, daß du wieder hier bist. Lauf das nächstemal nicht wieder so überstürzt davon, ja?«

Ich hätte mir gern sein Gesicht genauer betrachtet, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu, sondern kehrte sogleich an seinen Platz zurück. Ich wußte, daß Henry große Ähnlichkeit mit meinem Vater haben mußte, und ich wollte es ganz genau studieren. Doch dieser Mann weckte genau wie die anderen, außer Martha, keine Erinnerungen in mir.

Über Blumen und flackernde Kerzen hinweg lächelten wir alle einander freundlich zu, doch ich spürte, während wir den ersten Schluck Wein tranken, daß diese Freundlichkeit nicht stimmte. Ich wünschte mir so sehr eine Familie, daß ich mir dieses Verhalten kurzerhand damit erklärte, daß ich schließlich noch immer eine Fremde für diese Menschen sei, daß sie Zeit brauchten, um mich in ihrer Mitte aufzunehmen. Die quälende Ahnung, daß das Unbehagen meiner Verwandten einen anderen Grund haben könnte – und ich wußte nicht, welchen – , unterdrückte ich einfach.

Zwei Mädchen begannen, die Speisen aufzutragen, eine feine Bouillon zuerst, zu der Brot und Butter gereicht wurden, dann Platten mit Fleischpastete und Gemüse, das im eigenen Garten gezogen war. Wir aßen schweigend; ich hatte den Eindruck, daß das in diesem Haus so üblich war. Ab und zu fing ich einen Blick von Colin auf – wieder war es dieser forschende Blick –, und ich spürte, daß er wegen meiner ersten Worte zu ihm immer noch verärgert war. Gelegentlich lächelte Martha mir über den Tisch hinweg zu, aber auch sie verbarg ihre wahren Gefühle. Nur schien Martha mir gegenüber nicht dieses Unbehagen zu empfinden, wie die anderen; in den Augen meiner stillen Cousine spiegelte sich eher Traurigkeit.

Beim Dessert lockerte sich die Stimmung ein wenig, und meine Verwandten erwachten aus ihrer Schweigsamkeit.

Henry war es, der das Schweigen brach. »Die Lage in Amerika«, sagte er, »scheint ja immer schwieriger zu werden. Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, ehe es zum Bürgerkrieg kommt.«

»Das kommt nur, weil sie an der Sklaverei festhalten«, versetzte Theo. »Wir haben sie durch Parlamentsbeschluß schon 1833 in unseren Kolonien abgeschafft. Ich finde es barbarisch, daß sie unserem Beispiel nicht folgen.«

»Das mag richtig sein«, meinte Henry, »aber mir geht es weniger um die Sklaven als um die Baumwolle. Wenn die Südstaatler einen Krieg anfangen, sind unsere Baumwollieferungen gefährdet.« Ich hörte bei dieser Erörterung mit Interesse zu, da ich mich an Theos Bemerkung über eine Baumwollspinnerei in Manchester erinnerte. Hatten die Pembertons ihr Vermögen mit Baumwolle verdient? Ich hätte es wissen müssen; es war sicher kein Geheimnis, aber ich hatte keine Erinnerung daran.

»Es kommt ganz darauf an, ob den Südstaaten Menschlichkeit wichtiger ist als Profit.«

»Und wer soll die Baumwolle pflücken, wenn die Sklaven befreit werden? Hier geht es nicht um Moral und Menschlichkeit, Theo. Hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Die gesamte Industrie der Südstaaten steht und fällt mit der Sklaverei. Wenn sie die aufgeben, erwartet sie wirtschaftlicher Niedergang. Die Baumwollpreise werden in die Höhe schnellen. Jeder Geschäftsmann weiß, daß man keine Gewinne machen kann, wenn man auf die Forderungen der Arbeiter Rücksicht nehmen muß.«

»Aber als vor elf Jahren das Gesetz über den Zehn-Stunden-Tag erlassen wurde – «

Während Vater und Sohn sich unterhielten, beobachtete ich heimlich Colin. Ein- oder zweimal nahm er Anlauf, etwas zu sagen, und überlegte es sich dann anders. Und während Henry und Theo über die Geschäfte des Familienunternehmens sprachen, fragte ich mich, welchen Platz Colin in der Firma einnahm. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Gesten wirkten ein wenig verärgert.

Mit der Zeit jedoch begann ich ungeduldig zu werden. Waren diese Erörterungen von Familienangelegenheiten in meinem Beisein ein Hinweis darauf, daß man bereit war, mich in die Familie aufzunehmen? Oder wollte man mit dieser Diskussion nichts weiter als meine Anwesenheit ignorieren?…

Das Essen war ausgezeichnet gewesen, der Wein erlesen, die Umgebung angenehm. Nur die Gesellschaft hatte meinen Erwartungen nicht entsprochen. Aber was hatte ich denn erwartet? Schließlich war ich für diese Menschen zwanzig Jahre verschollen gewesen! Hatte ich wirklich geglaubt, man würde mich lachend und weinend in die Arme schließen?

Aber plötzlich fiel mir wieder ein, was mich getrieben hatte, nach Pemberton Hurst zurückzukehren: Tante Sylvias Brief. Ich hätte vielleicht nie den Mut aufgebracht, hierher zu kommen, wäre es zufrieden gewesen, Edward zu heiraten und mein neues Leben zu beginnen, ohne meine Familie wiedergesehen zu haben, wenn nicht der Brief gewesen wäre. Als ich Tante Sylvias warme, besorgten Worte gelesen hatte, ihre Mitteilung, daß sie uns erst jetzt in London ausfindig gemacht und große Sehnsucht nach uns hätte, da hatte ich geglaubt, die ganze Familie wünsche unsere Rückkehr.

Wie sehr hatte ich mich getäuscht, denn meinen Verwandten war dieses Schreiben unbekannt.

Ich schaute zu dem Platz hin, an dem das unberührte Gedeck lag, und der Wunsch, meine Tante zu sehen, wurde übermächtig. »Bitte entschuldigt«, sagte ich laut, »aber darf ich jetzt hinaufgehen und Tante Sylvia besuchen?«

Annas Kopf flog herum. Die anderen schwiegen, als hätte ich ihnen das Wort abgeschnitten, und an dem Ausdruck auf ihren Gesichtern sah ich, daß ich etwas absolut Unpassendes gesagt hatte.

»Ach, Leyla«, sagte Martha schließlich, und in ihren Augen sah ich wieder dieses tiefe Mitleid. »Hat es dir denn keiner gesagt?«

»Was denn?« fragte ich erschrocken. »Tante Sylvia ist tot. Sie ist vor vier Wochen gestorben.«