12

 

 

 

Der Morgen war schon nahe, als ich endlich einschlief. Stundenlang hatte ich mich rastlos in meinem Bett gewälzt, aufgewühlt von neuen Gefühlen und Ängsten. Die Geborgenheit Londons war verloren; verloren war auch der Trost von Edwards Liebe und Schutz; auf immer verloren war das strahlende Morgen mit einer Familie und Kindern. Dafür war ich nun in eine Familie aufgenommen, deren Mitglieder samt und sonders zum Wahnsinn verurteilt waren. Dafür hatte ich in mir die hoffnungslose Liebe zu einem Mann entdeckt, der für mich zweifellos nichts als Geringschätzung empfand.

Edward hatte ich fast ein Jahr gekannt, ehe ich mich schließlich in ihn verliebt hatte, und selbst da war es, wie ich nun wußte, nur freundliche Zuneigung gewesen. Ich hatte ihn gemocht, aber Leidenschaft war dabei nicht im Spiel gewesen. Colin hingegen kannte ich gerade sechs Tage, und das Gefühl, das ich ihm entgegenbrachte, war anders als alles, das ich bisher empfunden hatte. Es ergriff mich bis in die tiefsten Winkel meiner Seele, entflammte Leidenschaften, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich sie in mir barg, erschütterte mich so heftig, daß ich gleichzeitig hätte lachen und weinen mögen.

Als ich endlich einschlief, hatte ich wilde, unheimliche Träume. Colin schien meiner Phantasie Flügel gegeben zu haben. Während ich mit schlafendem Auge wundersame Bilder in glühenden Farben sah und von Gefühlen überschwemmt wurde, die bisher brachgelegen hatten, erkannte ich, daß Colin nicht, wie ich zuerst glaubte, einen neuen Menschen aus mir gemacht, sondern nur eine Seite meines Wesens geweckt hatte, die bisher neben meiner vernünftigen Seite hatte zurücktreten müssen. Selbst wenn Colin mir niemals etwas anderes geben sollte, dies hatte er mir gegeben: eine neue, schöne Weise, das Leben zu sehen.

Ich war froh, daß ich beim Frühstück allein war und mich ungestört meinen Gefühlen überlassen konnte – auf der einen Seite der Seligkeit über meine neue Liebe, auf der anderen der Schmerz über das Erbe meiner Familie, das ich annehmen mußte. Es gab keine Zukunft für mich und Colin, selbst wenn er auch mich lieben sollte. Die Krankheit bannte uns wie ein böser Zauber und verbot uns, jemals ein Leben gemeinsam zu führen.

Diese aussichtslose Liebe zu Colin würde mein Geheimnis bleiben, niemand würde je davon erfahren. Ich würde sie immer in mir tragen, mich ihrer freuen und sie hegen, aber niemals würde ich sie auch nur einem einzigen Menschen offenbaren. Das schwor ich mir an jenem grauen, windigen Morgen, als ich wieder zu einem langen Spaziergang aufbrach. Ich hatte wieder Kopfschmerzen, hervorgerufen durch den inneren Aufruhr, und ich hoffte, die frische Luft würde sie vertreiben. Aber als ich aus meinem Zimmer trat und die Tür hinter mir zuzog, sah ich, daß der Tag nicht so angenehm werden sollte, wie ich gehofft hatte.

Martha eilte mit mürrischem Gesicht durch den Flur zu Henrys Zimmer. »Es geht um Theos Ring«, rief sie in Antwort auf meinen Morgengruß. »Großmutter hat die Räume der Dienerschaft durchsuchen lassen und die Angestellten selbst befragt, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Jetzt will sie unsere Zimmer durchsuchen.«

»Das ist doch nicht möglich!«

»Doch, und ich finde es ungeheuerlich. Ich wollte, derjenige, der den Ring genommen hat, gäbe ihn endlich zurück.«

»Wieso ist ihr der Ring eigentlich so wichtig?« fragte ich. »Ach, der Ring selbst bedeutet ihr gar nichts; es ist eine Frage des Anstands. Ein Dieb im Haus, das ist für Großmutter unvorstellbar. Sie ist zornig und aufgebracht.«

»Wie geht es Onkel Henry heute morgen?«

»Ich weiß nicht genau. Dr. Young ist über Nacht geblieben und ist jetzt bei ihm. Ich will Tante Anna ablösen, damit sie sich einmal ein wenig ausruhen kann. Sie hat ja tagelang nicht mehr geschlafen. Ach, Leyla, ich finde das alles so furchtbar.«

Mit ihrem Pompadour im Arm und empörter Miene lief Martha weiter. Meine zweiunddreißigjährige Cousine erschien mir in vieler Hinsicht unglaublich kindlich, so verwöhnt und eigensinnig wie ein kleines Mädchen, doch in anderer Hinsicht wiederum benahm sie sich schon wie eine alte Jungfer, so festgefahren in ihren Gewohnheiten, daß sie die geringste Störung übelnahm. Ich sah ihr nach, und fragte mich, ob ich nach sieben Jahren unter diesem Dach genauso sein würde.

 

 

Der Spaziergang erfrischte mich, und die Bewegung tat mir gut, aber gegen die Kopfschmerzen half er nicht. Als ich kurz vor Sonnenuntergang heimkehrte, bat ich darum Gertrude, mir mit dem Abendessen etwas Laudanum zu bringen. Niemand von der Familie aß an diesem Abend unten. Anna und Theo wachten bei Henry, dem es sehr schlecht ging. Martha hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Colin war ebenfalls nicht da. Ich ging früh zu Bett und schlief, ein ungelesenes Buch aufgeschlagen auf der Brust, sehr bald ein.

Am Morgen erwachte ich erneut mit Kopfschmerzen. Ich hätte eigentlich beunruhigt sein müssen, aber ich führte die Kopfschmerzen wie zuvor auf die Spannungen und die bedrückende Atmosphäre in diesem Haus zurück und nahm einfach noch einmal etwas Laudanum. Ich streifte fast den ganzen Tag durch den benachbarten Wald, genoß die Freiheit und die Stille der Natur hier auf dem Land und setzte mich am späten Nachmittag mit einer Tasse Tee und einem Buch in mein Zimmer.

Die tiefe Stille im ganzen Haus war drückend und schwer. Es war, als hielt das Haus selbst den Atem an. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen zu sein. Unten huschten die Bediensteten leise durch die Räume und sprachen flüsternd miteinander, als fürchteten sie, durch ein lautes Wort ein Gewitter zur Entladung zu bringen. Aus Henrys Zimmer drang kein Laut. In den oberen Korridoren rührte sich nichts. Alles schien zu warten.

Als die Kopfschmerzen nach einer Weile wiederkehrten, bat ich Gertrude, Dr. Young zu mir zu bringen.

Das sachte Klopfen war bezeichnend für den Mann, zurückhaltend und rücksichtsvoll. Ich legte ein Lesezeichen in mein Buch, schloß es und sagte: »Bitte, treten Sie ein.« Gertrude kam zuerst herein. Ihr Blick schweifte rasch und aufmerksam durch das Zimmer, dann wandte sie sich mir zu und musterte mich von Kopf bis Fuß, um sich zu vergewissern, daß ich geziemend gekleidet war, ehe sie dem männlichen Besucher den Weg freigab. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Doktor«, sagte ich zu Dr. Young, der geduldig hinter Gertrude wartete.

Sie schien mit mir und dem Zimmer zufrieden und trat zur Seite, um Dr. Young vorbeizulassen. Sie schloß die Tür hinter ihm und stellte sich mit gekreuzten Armen und mit wachsamem Blick davor. »Wie geht es Ihnen heute abend, Miss Pemberton?« Die Wärme, die von ihm ausging, schien alle Schatten aus dem Zimmer zu vertreiben, und sein herzliches Lächeln gab mir das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein.

»Beinahe ausgezeichnet, Sir«, antwortete ich.

Dr. Young zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Sein Blick war sehr aufmerksam. »Was macht Ihnen denn zu schaffen?«

»Nur ein leichter Kopfschmerz. Es ist eigentlich nichts.«

»Sollten Sie das Urteil darüber nicht lieber mir überlassen?« Er rückte etwas näher zu mir heran und öffnete seine schwarze Ledertasche. Augenblicklich trat Gertrude an meine Seite, als wolle sie die Untersuchung überwachen. Ich war noch nie von einem Arzt untersucht worden, aber während der Krankheit meiner Mutter war ich bei den Arztbesuchen oft genug dabei gewesen, um zu wissen, was ungefähr ich zu erwarten hatte.

Als erstes nahm Dr. Young mein Handgelenk, um meinen Puls zu zählen. Dann sah er sich meine Augenlider an, prüfte die Farbe meiner Ohrläppchen, ließ sich meine Zunge zeigen. Als er danach ein Stethoskop herauszog, war ich beeindruckt. Dr. Young schien einer jener Ärzte zu sein, die sich über den neuesten Stand der Wissenschaft unterrichteten und mit neuen Methoden arbeitete. In London hatte nur einer der Ärzte meiner Mutter ein Stethoskop gehabt.

Dr. Young drückte das lange Rohr aus poliertem Holz auf meine Brust, legte sein Ohr an das offene Ende und sagte: »Bitte tief atmen, und jetzt holen Sie tief Atem und halten Sie die Luft an. Ja, gut. Atmen Sie jetzt wieder aus bitte.«

Dieses Verfahren wiederholte er sechsmal, wobei er das Rohr immer auf eine andere Stelle meiner Brust drückte. Gertrude stand die ganze Zeit wachsam an meiner Seite. Nachdem Dr. Young das Stethoskop wieder eingepackt hatte, stellte er mir eine Reihe von Fragen.

»Sehen Sie gut oder verschwimmen Ihnen manchmal die Gegenstände vor den Augen?«

Die Frage machte mich argwöhnisch. »Ich habe sehr gute Augen«, antwortete ich steif. »Litten Sie in den letzten Tagen an Übelkeit?«

»Nein.« Gertrudes Hand, die während der ganzen Untersuchung auf meiner Schulter gelegen hatte, schien mir jetzt drückend und schwer zu werden.

»Wie steht es mit Ihrem Bewegungsapparat? Ist Ihnen aufgefallen, daß sie irgendwelche Bewegungen nicht richtig machen konnten, haben Ihnen Arme oder Beine einmal den Dienst versagt, oder hatten Sie vielleicht plötzliche Schmerzen in einem Ihrer Glieder?«

»Nichts dergleichen, Doktor.«

»Hatten Sie in letzter Zeit einmal beim Sprechen Schwierigkeiten? Konnten Sie plötzlich die Worte nicht herausbringen? Stotterten Sie oder merkten Sie, daß Sie lallend sprachen?«

»Nein, nichts dergleichen«, sagte ich wieder.

»Gut.« Einen Moment lang sah er zu Gertrude auf, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, dann aber richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Sie sind nicht entspannt, Miss Pemberton. Habe ich irgend etwas gesagt, das Sie beleidigt hat?«

Ich war einen Moment verlegen. »Die Fragen, die Sie mir gestellt haben, Dr. Young«, sagte ich dann, »scheinen mir in eine bestimmte Richtung zu gehen, so als hätten Sie eine bestimmte Vorstellung…« Gertrude neigte sich noch näher zu mir, und ihre Hand wurde noch schwerer auf meiner Schulter.

»Ja, das haben Sie richtig erkannt, Miss Pemberton. Aber Ihre Antworten haben mir gezeigt, daß mein Verdacht falsch war. Ihre Kopfschmerzen sind einzig durch Spannung ausgelöst, sonst nichts.« Seine Stimme war jetzt wieder warm und beruhigend, und Gertrude nahm wie erleichtert ihre Hand von meiner Schulter. »Fürchten Sie, ich hätte den Verdacht, Sie könnten wie Ihr Onkel erkrankt sein? Es tut mir leid, aber wenn ich eine Diagnose stellen will, muß ich fragen. Ich weiß, daß Fragen von einem Arzt beunruhigend sein können. Wenn Sie eine meiner Fragen mit Ja beantwortet hätten…« Er hielt inne. Sein Blick sagte mir den Rest.

»Ich danke Ihnen, Dr. Young. Ich weiß, daß mein Onkel häufig an Kopfschmerzen litt. Und ebenso vor ihm mein Vater.«

»Ja, ich kenne die Krankengeschichte. Das erstemal suchte ich Ihren Onkel vor einem Jahr auf. Es war überhaupt mein erster Besuch auf Pemberton Hurst.« Er lächelte amüsiert. »In East Wimsley schaudern die Leute, wenn man nur den Namen Ihres Hauses nennt. Sie behaupten, hier spuke es. Hier lebten ein Haufen Wahnsinniger und Giftmischer.«

»So ganz unwahr ist das ja nicht«, sagte ich bedrückt. »Später war ich noch zweimal hier, um Ihrer Cousine Martha etwas gegen ihre Migräne zu geben.« Seine blauen Augen blitzten freundlich. »Was Sie angeht, junge Frau, kann ich Ihnen nur viel Ruhe empfehlen. Und versuchen Sie, sich nicht ständig mit Gedanken an Ihren kranken Onkel zu belasten.«

»Ich habe Laudanum genommen«, sagte ich.

Dr. Young runzelte die Stirn. »Das ist ein Mittel, mit dem bei uns viel Mißbrauch getrieben wird. Die Leute halten es für ein Allheilmittel. Insbesondere die Reichen, die nichts zu tun haben, greifen sehr schnell dazu, um sich die Langeweile zu vertreiben. Sie verurteilen die Armen, die Alkohol trinken, während sie selbst in großen Mengen Laudanum zu sich nehmen. Morphium ist gefährlich, Miss Pemberton, und leider allzu leicht greifbar.«

»Ich werde vorsichtig sein.«

»Gut«, meinte er mit einem leichten Lächeln. »Gut.« Ich sah zu Gertrude auf, die immer noch mit strenger Miene neben mir Wache hielt. »Sie können jetzt gehen, Gertrude. Dr. Young ist fertig.«

»Aber Kindchen«, sagte sie.

Ich lachte und gab ihr einen leichten Puff. »Es ist schon in Ordnung, Gertrude. Keine Sorge.«

Widerstrebend ging sie zur Tür, sichtlich unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Mich amüsierte es, sie in ihren Vorstellungen davon, was sich gehörte und was nicht, so erschüttert zu sehen. Als sie in meinem Alter gewesen war, hätte kein Arzt sie anrühren, geschweige denn ihre Brust abhören und ihr persönliche Fragen stellen dürfen. Den Mann jetzt mit mir in meinem Zimmer allein zu lassen, mußte ihr als schlimmster Verstoß gegen Sitte und Anstand erscheinen.

»Ich warte draußen, falls Sie mich brauchen, Miss Leyla.« Mit einem scharfen Blick auf Dr. Young fügte sie hinzu: »Gleich in der Nähe.«

»Danke, Gertrude.«

Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Dr. Young zu. »Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, wenn es Ihnen jetzt paßt«, sagte ich. »Aber gern, Miss Pemberton, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Ich finde das, was mit unserer Familie geschieht, ganz schrecklich. Es macht mir große Angst. Wieso kann man da überhaupt nichts tun?«

»Die Medizin ist voller Geheimnisse, Miss Pemberton.«

»Ich weiß, aber trotzdem, ich finde es so ungerecht, so grausam, daß wir davon wissen und es dennoch nicht verhindern können.« Er sagte nichts, sah mich nur still und abwartend an. »Ich habe weniger um mich selbst Angst, wissen Sie – « ich krampfte meine Finger ineinander, daß sie wehtaten – »als um die anderen. Ich bin die Jüngste und habe wahrscheinlich noch am längsten Zeit. Aber meine Vettern – Theo ist fast vierzig. Und Martha ist zweiunddreißig. Ich fühle mich so entsetzlich hilflos!«

»Und Ihr Vetter Colin?« Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Colin?«

»Er ist vierunddreißig.«

»Ja, um ihn habe ich auch Angst.« Ich sah Dr. Young forschend ins Gesicht, versuchte, von seinen Augen abzulesen, was er wußte. Hatte er als scharfsichtiger Beobachter meine Gefühle für Colin wahrgenommen?

»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß wir alle verloren sind. Dr. Young, Sie haben doch die Werke von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?«

»Thomas Willis?« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Ja, ich habe sie gelesen. Aber damals studierte ich noch.«

»Wir haben hier im Haus ein bestimmtes Buch, das seine Schriften enthält und von einem gewissen Cadwallader zusammengestellt wurde. Erinnern Sie sich seiner kurzen Abhandlung über den Pemberton Tumor?«

Dr. Young lachte. »Soweit ich mich an Thomas Willis erinnere, schrieb er in endlos langen Sätzen, zeichnete verblüffende anatomische Diagramme und befleißigte sich einer sehr eigenwilligen Orthographie. Aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Erwähnt er tatsächlich die Pembertons? Ich habe mich schon gefragt, wo die Wurzeln der Familiengeschichte liegen.«

»Ich habe das Buch, wenn Sie es lesen möchten.« Ich wollte aufstehen.

Dr. Young hielt mich zurück. »Nein, nein, bemühen Sie sich nicht, Miss Pemberton. Mein Haus ist bis unter die Dachbalken mit wissenschaftlichen Werken vollgestopft. Cadwalladers Buch ist gewiß auch darunter. Ich werde es bei nächster Gelegenheit heraussuchen und nachschlagen, was Mr. Willis über die Sache zu sagen hat. Möchten Sie sonst noch etwas mit mir besprechen, Miss Pemberton?« Er sah mich aufmerksam an.

Ich zögerte. Das einzige, was ich von ihm gewollt hatte, war nähere Auskunft über die Krankheit unserer Familie und vielleicht einen Funken Hoffnung für die Zukunft. Doch mir das zu geben, ging über sein Vermögen hinaus, das erkannte ich jetzt. Dr. Young war so fehlbar wie alle Menschen. Eines jedoch mußte ich noch wissen.

»Können Sie mir sagen, Doktor, mit welchen Anzeichen ich zu rechnen habe, wenn die Krankheit ausbricht?«

»Meine liebe Miss Pemberton, ich finde, sie beschäftigen sich viel zu sehr mit dieser Geschichte. Sie sollten sich nicht ständig damit belasten, mein Kind. Sie sind noch sehr jung und haben, da bin ich sicher, ein langes Leben vor sich. Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit Mutmaßungen und Ängsten, die nichts Gutes bringen. Vergessen Sie die Geschichte. Versuchen Sie, Ihr Leben zu genießen.«

»Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Ermutigung, Doktor, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich trotzdem wissen, was ich zu erwarten habe.«

Danach schwieg Dr. Young lang, und mir wurde das Herz immer schwerer, während er mit nachdenklichem Gesicht schweigend vor mir saß. »Es handelt sich hier nicht um einen klassischen Gehirntumor, Miss Pemberton«, sagte er schließlich. »Die Symptome stimmen mit den Fallstudien aus den Lehrbüchern nicht überein. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß er in einer anderen Zone des Gehirns entsteht. Beim klassischen Gehirntumor zeigen sich Symptome wie Aphasie, also die Unfähigkeit zur sprachlichen Koordinierung oder zum Verstehen von Gesprochenem; Bewegungsstörungen der Arme und Beine; Sehstörungen; Übelkeit; Kopfschmerzen; Taubheit an manchen Stellen des Körpers. Kurz gesagt, Miss Pemberton, man erklärt sich dies so, daß an jenem Teil des Körpers, für den der Gehirnteil zuständig ist, wo der Tumor sitzt, sich Störungen zeigen. Fest steht beim Pemberton Tumor zwar, daß die Symptome, die ich bisher bei Ihrem Onkel festgestellt habe, genau mit denen übereinstimmen, die ich den Krankengeschichten Ihres Vaters und Sir Johns entnommen habe.«

»Ich verstehe.« Seine Worte trafen mich nicht unerwartet und doch empfand ich sie als niederschmetternd. »Und was sind das für Symptome, Doktor?«

»Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Unterleibsschmerzen, Muskelschwäche, Delirium, Schüttelkrämpfe und plötzlich eintretender Tod. Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge trat der Tod in allen Fällen ungefähr zwei Monate nach Erscheinen der ersten Symptome ein.«

»Aber Sie sagten doch eben, Sie seien schon vor einem Jahr bei meinem Onkel gewesen, weil er Kopfschmerzen hatte.«

»Gewiß, das ist richtig. Aber die Kopfschmerzen rührten damals von einer starken Erkältung her und hatten mit seiner gegenwärtigen Krankheit nichts zu tun. Man rief mich, weil er beunruhigt war.«

»Ach, Dr. Young, ich bin so durcheinander«, sagte ich verzweifelt. »Vor einer Woche kam ich so zuversichtlich hier an, und jetzt ist plötzlich alles finster und schwarz. Seit dem Tod meiner Mutter – «

»Ihre Mutter ist erst kürzlich gestorben?« fragte er. »Verzeihen Sie, aber als Sie neulich beim Abendessen erwähnten, Sie seien mit dem Tod in Berührung gekommen, glaubte ich, Sie sprächen von Ihrem Vater.«

»Ja, sie ist erst vor zwei Monaten gestorben. Sie war vorher sehr lange krank. Dr. Harrad hatte mich darauf vorbereitet – «

»Dr. Harrad?« rief er. »Verzeihen Sie, daß ich Sie schon wieder unterbreche, Miss Pemberton, aber was Sie mir da erzählen, überrascht mich. Ihre Mutter wurde von Dr. Oliver Harrad vom Guy’s Krankenhaus behandelt?«

»Ja. Warum?«

Dr. Young war auf einmal sehr lebhaft geworden. »Ich war mit Oliver Harrad befreundet. Wir studierten zusammen. Später fingen wir beide im Guy’s Krankenhaus an und hatten lange Jahre eine gemeinsame Praxis. Als ich nach Edinburgh ans Königliche Krankenhaus ging, um mich der Forschungsarbeit zu widmen, versprachen Oliver und ich uns, Kontakt zu halten und uns zu schreiben. Aber wie das häufig der Fall ist, wenn Freunde weit getrennt voneinander leben, wurde unser Briefwechsel immer spärlicher und schlief schließlich ganz ein. Das muß jetzt mehr als zehn Jahre her sein.« Dr. Young blickte einen Moment lang sinnend in die Ferne. »Oliver Harrad, mein alter Freund. Er ist also immer noch am Guy’s…«

»Er ist als Arzt sehr beliebt«, bemerkte ich.

Dr. Young sah mich wieder an, mit Wehmut in den Augen. »Was haben Sie plötzlich für Erinnerungen geweckt, Miss Pemberton! Die Zeit mit Oliver Harrad liegt so lange zurück, und ich hatte immer soviel zu tun…«

»Er hat sich sehr um meine Mutter bemüht. Ich werde ihm immer dankbar sein.«

Ich hatte das Gefühl, daß sich Dr. Young durch die Erinnerungen, die ich ihm zurückgebracht hatte, mir ungewöhnlich nahe fühlte. Er sah mich an, wie man gewöhnlich einen Freund ansieht, mit dem man vieles geteilt hat, und seufzte ein wenig.

»Es ist doch seltsam«, meinte er nachdenklich. »Gerade wenn wir die Vergangenheit begraben und vergessen haben, bringt ein Wort sie uns so frisch und lebendig zurück, daß man glaubt, es sei erst gestern gewesen. Oliver Harrad und ich waren in unseren jungen Jahren enge Freunde, hitzige Rebellen, die glaubten, sie könnten mit ihrem Unternehmungsgeist die Welt verändern. Wir sind wohl beide bescheidener geworden und haben eingesehen, daß wir uns, statt große Sprünge zu machen, mit kleinen Schritten begnügen müssen. Ach, ist das ein schöner Zufall, daß Sie meinen alten Freund Harrad kennen, Miss Pemberton.«

»Das freut mich, Dr. Young«, erwiderte ich und erinnerte mich mit plötzlichem Schmerz daran, wie ich selbst noch vor wenigen Tagen um die Rückeroberung der Vergangenheit gerungen hatte. Dr. Young wollte eben etwas sagen, da klopfte es. »Herein«, rief ich, und Gertrude trat ein. »Entschuldigen Sie, Miss Leyla, aber Mrs. Pemberton schickt mich.«

»Oh, Tante Anna möchte wohl mit Dr. Young sprechen?«

»Nein, Miss Leyla, mich schickt nicht Mrs. Anna, sondern Mrs. Abigail Pemberton, Ihre Großmutter. Sie ist jetzt bei Mr. Pemberton und wünscht den Doktor zu sehen.«

Ich erschrak. Wenn meine Großmutter, die kaum je ihre Räume verließ, es für nötig gehalten hatte, Henry aufzusuchen, konnte das nur eines bedeuten.

»Onkel Henry!« Ich sprang auf. Augenblicklich war Dr. Young an meiner Seite.

»Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte er beschwichtigend. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde alles für ihn tun, was in meiner Macht steht.«

Dankbar drückte ich ihm die Hand. »Danke«, sagte ich leise und sah ihm niedergeschlagen nach, wie er mit Gertrude zur Tür hinausging.

 

 

Mein Abendessen nahm ich wieder allein ein. Vorher hatte ich versucht, Henry zu sehen, aber meine Großmutter hatte mir den Zutritt zu seinem Zimmer verwehrt. Ich sah sie nur einmal ganz flüchtig, als ich spät abends, von Stimmen aufmerksam gemacht, meine Zimmertür öffnete.

Sie ging hochaufgerichtet wie eine Königin an mir vorüber den Flur entlang. Später schaute Martha kurz zu mir herein, um mir mitzuteilen, daß sich der Zustand Henrys weiter verschlechtert hatte. Anna und Theo , bekam ich nicht zu sehen. Und auch Colin nicht.

 

 

Der folgende Tag war grau und kalt. Wieder blies ein heftiger Wind, der dunkle Sturmwolken über den Himmel trieb. Am Morgen wanderte ich rast- und ziellos durch das Haus, ohne einem Menschen zu begegnen. Die einzigen Anzeichen von Leben in diesem düsteren Gemäuer nahm ich wahr, als ich an den Räumen meiner Großmutter vorüberkam. Da hörte ich plötzlich ihre scharfe Stimme durch die massive Tür und blieb stehen. Ich hatte Großmutter noch bei Henry geglaubt. Ihre Stimme war laut, ihre Worte jedoch waren nicht zu verstehen. Ich konnte ihrem Ton entnehmen, daß sie sehr zornig war, aber den Grund dafür erfuhr ich nicht. Im nächsten Moment hörte ich gedämpftes Schluchzen. Es kam ebenfalls aus ihrem Zimmer, und schien mir zu verraten, daß meine Großmutter mit jemandem streng ins Gericht ging. Ich hatte den Eindruck, daß es eine Frau war, die da so bitterlich schluchzte, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war. Es konnte sich ebensogut um Anna oder Martha wie um Gertrude oder eines der Mädchen handeln. Mit schlechtem Gewissen wegen meines Lauschens eilte ich davon. Am Nachmittag machte ich den Spaziergang, der mir nun schon zur Gewohnheit geworden war. Als ich bei meiner Rückkehr das Haus so still vorfand wie am Morgen, ging ich in mein Zimmer hinauf, setzte mich ans warme Feuer und ließ mir eine Tasse Tee bringen. Um acht Uhr servierte mir ein Mädchen das Abendessen, und um neun ging ich zu Bett und schlief sofort ein.

Es mußte gegen Mitternacht sein, als ein Schrei mich weckte. Aus tiefem Schlaf gerissen, fuhr ich in die Höhe und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Hinter meiner Tür hörte ich Stimmen und Schritte. Als der zweite gellende Schrei durch das Haus hallte, sprang ich aus dem Bett und lief zur Tür.

Ohne mich darum zu kümmern, daß ich im Nachthemd war und nichts an den Füßen hatte, lief ich in den Flur hinaus und sah Martha schlaftrunken aus ihrem Zimmer kommen. Halb benommen noch sah sie mich an, rieb sich die Augen und murmelte irgend etwas, das ich nicht verstand. Ich stand noch unschlüssig an der offenen Tür, als ein dritter markerschütternder Schrei die Stille des Hauses zerriß. Diesmal erkannte ich die Stimme. Es war Anna, die da so grauenvoll schrie.

Ich vergeudete keine Zeit. Ich nahm rasch meinen Morgenrock und rannte, dabei in die Ärmel schlüpfend, den Flur hinunter. Martha folgte mir nach.

Die Tür zum Zimmer von Henry und Anna stand offen. Es war niemand darin. Neuerliche Schreie führten mich weg von unserem Flügel zu den unbewohnten Räumen des Hauses. Obwohl mir zum Nachdenken überhaupt keine Zeit blieb, klopfte mein Herz rasend vor Angst. Blind rannte ich vorwärts, immer den Schreien folgend.

Sie führten mich in das nächste Stockwerk hinauf, die zweite Etage des Hauses, in einen Flügel, wo viele Jahre keine Menschenseele mehr gewesen war. Oben sah ich geisterhafte Lichter, und als ich näherkam, erkannte ich, daß es brennende Kerzen waren, getragen von denen, die mir vorausgeeilt waren.

Schneller laufend jetzt, um die Gruppe einzuholen, nahm ich den modrigen Geruch wahr, der in diesem Korridor hing, die abgestandene Luft, die Spinnweben, die mir das Gesicht streiften. Annas Schreie wurden lauter, je mehr ich mich der Gruppe vor mir näherte, und nach einer Zeit hörte ich Colin rufen: »Tante Anna! Wo bist du?«

Sie gab ihm Antwort, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Ich hatte jetzt die anderen eingeholt. Instinktiv drängte ich mich zu Colin und rannte im Schein seiner Kerze neben ihm her. Es wunderte mich, daß er vollständig angekleidet war, während wir anderen – Dr. Young, Gertrude und ich – alle im Morgenrock waren. Unsere Angst vor dem, was sich uns zeigen würde, hing schwer in der Luft.

Colin sah mich nicht an, sondern eilte ohne anzuhalten weiter, um in jedes Zimmer, jede Nische zu schauen. In seinen Augen war eine wilde Entschlossenheit, die mich ängstigte.

Schließlich gelangten wir in einen schmalen Gang, der zu der Treppe des Ostturms führte, von dem zehn Jahre zuvor mein Großvater Sir John sich in den Tod gestürzt hatte. Von dort oben kamen die Schreie. Am Fuß der engen Treppe befahl Colin Gertrude mit den Kerzen unten zu bleiben, faßte mich dann zu meiner Überraschung bei der Hand und zog mich, nachdem er auch Dr. Young gebeten hatte zu warten, mit sich die Stufen hinauf.

Wir hörten schon beim Hinaufgehen das heftige Schluchzen Annas. Als wir um die Ecke bogen, hörten wir auf einmal Theos Stimme, ruhig und klar verständlich.

»Bitte Mutter, bleib zurück. Komm nicht näher. Bleib zurück.« Colin blieb stehen und warf mir einen mahnenden Blick zu, ehe er, langsamer jetzt, weiterging. Wir wußten nicht, was sich im Turm abspielte, darum mußten wir uns vorsichtig nähern, um nicht durch unser plötzliches Auftauchen womöglich eine Katastrophe auszulösen. Langsam stiegen wir eine Stufe nach der anderen hinauf, tasteten uns durch die Dunkelheit, während Theos Stimme immer deutlicher zu uns drang. »Bitte bleib genau da, wo du bist, Mutter. Rühr dich nicht. Sag kein Wort. Ich mache das schon. Sei ganz ruhig.«

Endlich waren wir oben und konnten in das kleine Turmzimmer hineinsehen. Auf dem Boden in der Mitte stand eine Öllampe, der Docht ganz herausgedreht, so daß das Licht den ganzen Raum erleuchtete. Anna befand sich der Treppe am nächsten. Ihr Gesicht war kreideweiß und voller Angst, das aufgelöste Haar hing ihr in Strähnen den Rücken hinunter. Im flackernden Licht, das sie von unten beleuchtete, wirkten ihre Züge verzerrt – die Augen weit aufgerissen, die Lippen schmal, die Wangen wie dunkle Höhlen. Im ersten Moment erschrak ich bei ihrem Anblick. Dann sah ich zu den beiden anderen Menschen hier oben, Henry und Theo.

Auf den ersten Blick erkennbar war für mich nur der Sohn. Der Vater in seinem Wahnsinn und in diesem entstellenden Licht wirkte wie ein grauenerregender Fremder auf mich. Mit wild rollenden Augen stand der gepeinigte Mensch an die Wand des Zimmers gedrückt und hielt mit beiden Händen ein großes Fleischermesser vor sich. Der Schweiß strömte ihm über das Gesicht, und die Klinge des Messers blitzte bedrohlich. Wie ein gehetztes Tier schaute Henry bald auf seinen Sohn, bald auf seine Frau.

Theo, blaß und angespannt, ebenfalls im Morgenrock, sah Colin und mich an, ohne auch nur die geringste Reaktion zu zeigen. Sein Vater hatte unser Eintreten nicht bemerkt, und es war wohl besser, wenn wir ruhig blieben und nicht eingriffen.

»Vater, hör mir zu«, sagte Theo ruhig, obwohl wir sehen konnten, daß er trotz der kalten Nachtluft schwitzte. »Du mußt das Messer weglegen. Leg es weg, Vater.«

Henry stieß einen Laut aus, der wie das Knurren eines tollwütigen Tiers klang, und krümmte den Rücken, als wolle er sich auf Theo stürzen. Nichts war vertraut an diesem zähnefletschenden Gesicht. Henry war nur noch ein von blinder Angst getriebener Wahnsinniger, der jede Verbindung mit der Wirklichkeit verloren hatte.

Anna schluchzte auf und preßte sich eine Hand auf den Mund. Die Angst und das Entsetzen in ihren Augen weckten tiefes Mitgefühl in mir.

»Vater, leg jetzt das Messer weg«, sagte Theo ruhig und fest. Doch Henry verzog den Mund nur zu einem höhnischen Grinsen. So also spielte es sich ab, so also hatte mein Großonkel Michael geendet, so mein eigener Vater und mein Großvater. Würden auch Martha und ich auf diese Weise in den Tod gehen?

Theo richtete sich ein wenig auf, sah zu uns herüber und seufzte tief. »Er hat mich mit dem Messer angegriffen«, sagte er leise, »aber zum Glück hat er nicht getroffen. Dann rannte er vor mir weg, und bis jetzt konnte ich nicht an ihn herankommen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Colin. Es ist wie damals bei Onkel Robert. Auch damals konnten wir nichts verhindern.«

Colin antwortete nicht. Wachsam stand er da, den Blick auf Henry gerichtet.

»Ist Dr. Young da unten?« fragte Theo. »Er hat doch so eine neue Spritze, mit der man mit einem einzigen Stich das Medikament in den Körper befördern kann. Das wäre der richtige Moment, um sie auszuprobieren.«

»Nein!« sagte ich unwillkürlich. Ich wollte nicht sehen, wie man Henry überwältigte und fesselte wie ein Tier. Er mochte gefährlich sein, er mochte wahnsinnig sein, aber er war ein Mensch und verdiente, menschlich behandelt zu werden.

Beim Klang meiner Stimme sah Henry mich an. In diesem Moment, als er mich mit seinem Blick eines Wahnsinnigen erfaßte, fürchtete ich um mein Leben. Das Messer würde blitzschnell zustechen. Colin und Theo würden ihn vielleicht nicht rechtzeitig zurückhalten können…

Aber im nächsten Augenblick schon geschah etwas Seltsames. Während wir einander ansahen, veränderte sich Henrys Gesicht. Sein Gesichtsausdruck, wenn auch noch immer erschreckend, wirkte auf einmal weicher und sanfter.

»Bunny?« sagte er mit erstickter Stimme.

»Ja, Onkel Henry.« Mit heftigem Herzklopfen stieg ich, ohne zu überlegen, die letzte Stufe hinauf und ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein.

»Bunny, du solltest nicht hier sein. Du weißt… du solltest nicht hier sein.«

Henry schien plötzlich bei klarer Vernunft zu sein und genau zu wissen, was mit ihm vorging. »Ich kann nichts dafür«, stieß er schluchzend hervor. »Es sind diese furchtbaren Schmerzen. Ach, Bunny, ich kann diese Schmerzen nicht aushalten. Es ist, als stünde mein ganzer Kopf in Flammen. Die Schmerzen treiben mich zum Wahnsinn. Ich kann nichts dagegen tun. Lieber Gott, hilf mir doch. Laß nicht zu, daß ich das gleiche tue wie mein Bruder.«

Vorsichtig ging ich noch etwas näher zu ihm hin. Ich war mir bewußt, daß alle Augen auf mir ruhten. Ich war mir bewußt, wie steif und verkrampft meine Bewegungen waren, wie groß meine Angst war. Aber mit einem Mut, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, bot ich Henry meine Hand.

»Du wirst nichts Unrechtes tun, Onkel Henry«, sagte ich. »Gib mir das Messer.«

Seine Augen flammten auf. »Ich muß töten«, rief er. »Nur so kann ich den Schmerz beenden. O Gott, diese Schmerzen.« Seine Stimme schallte aus dem kleinen Zimmer weit in die Nacht. »Ich kann nichts dagegen tun!«

»Gib mir das Messer«, wiederholte ich.

Er sah mich wild an, doch ich blickte ihm weiterhin tief und ruhig in die Augen. Dann schob er mir mit einer schnellen Bewegung, bei der ich beinahe aufgeschrien hätte, den Messergriff in die Hand. »Nimm es weg! Schnell!« sagte er heiser.

Ich wich augenblicklich zurück, während Colin und Theo vorwärtsstürzten, um meinen Onkel bei den Armen zu nehmen. Mir zitterten die Knie, als ich mich umwandte, um die Treppe hinunterzusteigen. Zum Glück war plötzlich Dr. Young an meiner Seite, legte mir den Arm um die Schulter und half mir die Stufen hinunter.

Wie ein Trauerzug gingen wir durch die dunklen Flure zurück, Dr. Young und ich voran, dann Henry, der von Colin und Theo gehalten vorwärtstorkelte, zum Schluß die hemmungslos weinende Anna, die von Gertrude gestützt wurde.

Als wir das Schlafzimmer meines Onkels und meiner Tante erreichten, tauschte Colin seinen Platz mit Dr. Young und nahm mich, da ich immer noch schwankte, in den Arm, während der Doktor Henry ins Bett half. Wir blieben an der Tür stehen und Colin nahm mir das Messer aus der Hand und gab es Gertrude. Er sagte kein Wort. Es sprach überhaupt niemand, bis mein Onkel in seinem Bett lag.

Während Anna ihm die Stiefel auszog, und Dr. Young die Spritze vorbereitete, stieß Henry plötzlich einen röchelnden Schrei aus und fiel tief in die Kissen. Wir waren alle wie erstarrt. Der erste, der reagierte, war Dr.

Young. Er umfaßte Henrys Handgelenk und stand ein paar Sekunden lang stumm und schweigend über ihm. Dann sagte er leise: »Henry Pemberton ist tot.«

Anna fiel neben dem Bett auf die Knie und warf beide Arme über Henrys Körper. Dr. Young blieb ruhig an ihrer Seite stehen, während Theo sich wie betäubt in einen Sessel sinken ließ.

Colin zog leise die Tür zu und führte mich weg. »Er hat es hinter sich, der arme Kerl.«

Ja, dachte ich, er hat es hinter sich. Aber uns steht es noch bevor. Als wir mein Zimmer erreichten, drehte Colin sich um, so daß er mich ansehen konnte. Er legte seine Hände auf meine Schultern und sah mich lange schweigend an, ehe er schließlich sagte: »Das war sehr mutig von dir.«

»Findest du?« sagte ich nur, immer noch so benommen, daß nicht einmal Colins Nähe, seine Berührung, seine warme Stimme zu mir durchdrangen. Die Empfindungslosigkeit, die mich befallen hatte, seit ich vor vier Nächten Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, schien sich durch die Ereignisse dieser Nacht noch verstärkt zu haben. Was ich soeben miterlebt hatte, das hatte ich vor zwanzig Jahren, als kleines Mädchen, unten im Wäldchen schon einmal erlebt. Nur hatte ich in dieser Nacht das Schlimmste gerade noch verhindern können.

»Du hast uns allen viel Schmerz und Kummer erspart«, sagte Colin. »Wir haben dir viel zu verdanken.«

Doch ich war so verwirrt und erschöpft, daß ich mich nur in mein Bett zurücksehnte.

»Gute Nacht, Colin.« Ich wollte mich umdrehen, aber er hielt mich fest.

»Leyla«, sagte er, »du mußt mir etwas sagen.«

»Was denn?«

»Versuchst du gar nicht mehr, dich an früher zu erinnern?«

»Das ist jetzt nicht mehr nötig.«

»Dann glaubst du also, daß dein Vater und dein Bruder so umgekommen sind, wie man dir erzählt hat?«

»Ja. Nach heute abend weiß ich, daß es wahr sein muß. Bitte, laß mich jetzt gehen, Colin.«

Er ließ wortlos meinen Arm los, und ich ging in mein Zimmer und schloß ab. Ich konnte mich mit der Ungerechtigkeit dieses Schicksals nicht abfinden. Ich warf mich völlig verzweifelt auf mein Bett und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann zog ich meinen Morgenrock aus und schlüpfte völlig erschöpft unter die Decke. Thomas Willis’ gesammelte Werke lagen auf meinem Nachttisch. Ich nahm das Buch und las mit verquollenen Augen jene schreckliche Seite noch einmal.