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Ich weiß nicht, warum diese Nachricht mich so heftig erschütterte. Ich hatte meine Tante ja nie gekannt, ich hatte keinerlei Erinnerungen an sie, nichts, was mich mit ihr verband. Und doch war ich wie vor den Kopf geschlagen; alle meine Hoffnungen hatten auf Sylvia Pemberton geruht.

Mit jeder neuen Begegnung in diesem Haus war mein Bedürfnis, sie zu sehen, stärker geworden, als werde sie die einzige sein, die sich ehrlich freuen würde, mich wiederzusehen. Aber nun war sie tot.

»Es tut mir leid, Leyla«, sagte Anna. »Ich hätte es dir sagen sollen. Jetzt habe ich dir das Abendessen verdorben.«

»Warum so niedergeschmettert, Cousine?« fragte Colin. »Du hast sie doch kaum gekannt.«

»Entschuldigt mich.« Ich sprang so heftig auf, daß mein Stuhl umkippte.

»Ach Gott!« sagte jemand; und Henry eilte um den Tisch herum zu mir.

»Es ist zuviel für sie«, sagte Anna. »Erst ihre Mutter, jetzt Sylvia. Das arme Ding braucht Ruhe. Bring sie hinauf, Henry. Ich schicke Gertrude mit einer Tasse Tee.«

Ich fühlte mich wie von Schleiern eingehüllt, als Henry mich aus dem Speisezimmer führte. Bis zu diesem Augenblick war ich mir nicht bewußt gewesen, wie sehr ich mich auf Tante Sylvias herzlichen Empfang verlassen hatte.

Henry schob seine Hand unter meinen Ellbogen und half mir die Treppe hinauf.

Der Geruch seines Haaröls stieg mir betäubend in die Nase, und die dunklen Wände schienen um mich herum zusammenzurücken. Ich würde nicht ohnmächtig werden, das war mir noch nie passiert, und doch schien es mir, als wäre ich nahe daran. In meiner Enttäuschung über Sylvias Tod war ich wütend auf die anderen. Jeder hatte die Gelegenheit gehabt, mir die traurige Wahrheit zu sagen, doch keiner hatte es getan. Warum nicht? Sie war doch nur eine fünfundsiebzigjährige unverheiratete Großtante gewesen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Warum hatten sie geglaubt, ihr Tod könne mir etwas bedeuten? Warum hatten sie es nicht fertiggebracht, mir die Wahrheit zu sagen? Vor meiner Zimmertür blieben wir stehen. Durch die Nebelschwaden, die mich zu umgeben schienen, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Dabei wünschte ich mir verzweifelt, ihn eingehend betrachten zu können. Immer wieder hatte ich beim Essen versucht, an Anna vorbeizusehen, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, das das meines Vaters hätte sein können.

Henry redete mit leiser, beschwichtigender Stimme auf mich ein. Hatte ich diese Stimme als Kind gehört, wenn mein Vater mich getröstet hatte? Brüder sind sich häufig sehr ähnlich. War Henry ein Abbild meines Vaters?

Die Zimmertür ging auf, und ich wankte hinein. Der Schock und die Enttäuschung über Sylvias Tod setzten mir sehr zu. Ich fand zum Bett und ließ mich jetzt weinend darauf niederfallen. Ich spürte Henrys Nähe. Er stand besorgt über mich geneigt.

Ich weinte und ließ die ganze Enttäuschung aus mir herausströmen, ehe ich schließlich nach meinem Taschentuch kramte, mir die Augen trocknete und aufstand. Henry stand immer noch an meinem Bett, ein gutes Stück größer als ich, und betrachtete mich schweigend.

»Verzeih mir«, sagte ich stockend. »Es tut mir leid, daß ich so unhöflich war.«

»Es ist nicht unhöflich, um eine Tote zu trauern, Bunny.« Er nannte mich bei diesem Namen, als hätten meine Mutter und ich Pemberton Hurst erst gestern verlassen. Indem er mich Bunny nannte, überbrückte er die Kluft von zwanzig Jahren.

Als ich meine Tränen getrocknet hatte, sah ich endlich zu ihm auf. Ein Bild blitzte auf. Es war, als hätte sich flüchtig ein Vorhang geöffnet, um mir eine Szene auf der anderen Seite zu zeigen, und sei sogleich wieder zugefallen. Nein, keine Szene eigentlich, kein Bild, das ich festhalten konnte. Es war mehr ein Gefühl. Als ich in Henrys ausdrucksloses Gesicht sah, überkam mich ein tiefer Schmerz, Qual beinahe, die an etwas anderes grenzte, das ich in diesem Moment nicht benennen konnte. Die dichten Wimpern hingen schwer über seinen Augen. Die Nase war eine Spur zu groß, das Kinn kaum eingekerbt. Und die Ausstrahlung, die mir in dieser Sekunde bewußt geworden war, war eine Ausstrahlung tödlichen Verhängnisses. Ich sah in Henrys Gesicht und spürte, wie eine tiefe Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigte, ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Aber warum dieses Gefühl?

Und war dies das Gesicht meines Vaters? Henry, sicherlich Ende fünfzig, war ein stattlicher Mann, auch wenn sein Haar von Grau durchzogen war und sein Gesicht von den Jahren gezeichnet. Er war immer noch schlank und beweglich und hielt sich kerzengerade. Ich stellte mir vor, daß mein Vater, hätte er damals die Cholera-Epidemie überlebt, jetzt ähnlich aussehen müßte.

»Morgen wirst du dich besser fühlen, Bunny. Du brauchst jetzt vor allem Schlaf.«

»Ja«, sagte ich leise. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit begann zu weichen, mir wurde wohler. Gewiß hatte mich nur die unerwartete Nachricht von Sylvias Tod so aus der Fassung gebracht. »Ich bin froh, daß ich wieder hier bin«, sagte ich, mehr um mich selbst als ihn zu überzeugen. Er musterte mich aufmerksam mit forschendem Blick. Forschend. Das gleiche Wort war mir gekommen, als Anna mich gemustert hatte. Und genauso hatten Theo und Colin mich angesehen, so, als suchten sie noch etwas.

»Bunny«, sagte Henry, und seine Stimme klang weich und tröstlich, »warum bist du eigentlich zurückgekommen? Ich meine, warum bist du erst jetzt gekommen und nicht schon viel, viel früher?«

Ich wußte nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte. Das beharrliche Schweigen meiner Mutter über dieses Haus und diese Familie hatte auf mich die Wirkung eines unausgesprochenen Gebots gehabt, Pemberton Hurst zu vergessen. Bis dieser Brief gekommen war. Der Brief von Tante Sylvia.

»Ich werde bald heiraten, Onkel Henry, und ich wollte vorher – « Er wich einen Schritt zurück. »Du willst heiraten!«

»Ja. Und ehe ich diesen neuen Abschnitt beginne, wollte ich wenigstens einmal noch meine Familie sehen und das Haus, wo ich geboren bin, und – «

»Bunny, wer ist der Mann?«

»Du kennst ihn nicht, Onkel. Er ist Architekt in London. Ein Schüler von Charles Barry. Er ist wohlhabend, Onkel, und aus guter Familie. Und er ist sehr gebildet. Ich lernte ihn – «

»Habt ihr den Tag schon bestimmt?«

»Wir wollen im nächsten Frühjahr heiraten. Er arbeitet an den Plänen für den Victoria-Bahnhof. Er hofft, daß man seinem Entwurf den Vorzug vor den anderen geben wird – «

»Wir müssen ihn kennenlernen, Leyla«, sagte mein Onkel mit, wie mir schien, übertriebenem Ernst.

»Aber natürlich.« Ich sah Henry an. Irgend etwas stimmte nicht. Als er meine Verwirrung bemerkte, wurde er wieder weicher. »Bunny, Kind, du bist noch so jung, und es gibt eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt. Als du vor zwanzig Jahren mit deiner Mutter von hier fortgingst, fürchteten wir, daß wir dich niemals wiedersehen würden. Du warst unser Sonnenschein. Wir gehören alle einer Familie an, in unseren Adern fließt Pemberton Blut. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du hast viel von Jenny, aber noch mehr von meinem Bruder Robert. Du und Theo, ihr ähnelt einander, ist dir das nicht aufgefallen? Ich bin einzig um dein Wohl besorgt. Und ich möchte, daß du dich hier zu Hause fühlst. Wir alle wünschen das.«

Aber das stimmt nicht, hätte ich am liebsten gerufen. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte so tun, als wäre dieser Mann mein Vater; ich könnte mich ihm in die Arme werfen. Aber das ging nicht. Er mochte mit mir verwandt, er mochte mir ähnlich sein, er blieb ein Fremder. »Bis morgen legt sich dieser schreckliche Wind bestimmt, dann kann ich dir das Grundstück zeigen. Es beschränkt sich nicht auf den Hügel, weißt du; es reicht viel weiter.«

»Ja, ich weiß. Das Wäldchen.«

Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, das zu sagen; die Wirkung jedenfalls, die es auf meinen Onkel hatte, war völlig unerwartet. Sein Gesicht veränderte sich, wurde hart und verschlossen. »Du erinnerst dich also an das Wäldchen?«

»Nein. Colin hat mir davon erzählt.«

»Ach so. Und was hat er dir erzählt?«

»Nur, daß wir dort gespielt haben.«

»Ja, wir haben große Ländereien. Fast der ganze Grund zwischen dem Haus und East Wimsley gehört uns. Du wirst mit der Zeit alles kennenlernen. Ich hoffe, du bleibst lange bei uns, Bunny. Ich hoffe es von Herzen.«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

»Ah, da kommt Gertrude mit dem Tee. Schlaf gut, Bunny, morgen sieht alles ganz anders aus.«

Gertrude wartete, bis er gegangen war, dann kam sie mit dem Tablett leise herein. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich hatte den Eindruck, daß sie, als sie das Tablett auf den kleinen Tisch vor dem Kamin stellte und dann zum Bett ging, um das Kissen aufzuschütteln, verstohlen zu mir herüberblickte, als wage sie es nicht, mich offen anzusehen. Viel zu müde, um lange Umschweife zu machen, fragte ich unverblümt: »Erinnern Sie sich an mich, Gertrude?«

Sie hielt augenblicklich in ihrer Tätigkeit inne. »Ja, Miss Leyla, ich erinnere mich.«

»Es tut mir leid, aber ich kann mich an Sie nicht erinnern.« Ich ging um das Bett herum und stellte mich ihr gegenüber. »Sind Sie schon lange bei der Familie Pemberton, Gertrude?«

»Fast dreißig Jahre.«

Noch immer sah sie mich nicht an. Noch immer stand sie regungslos da, wie auf dem Sprung. Ich fand dieses Verhalten bei einer Frau, die mich wahrscheinlich versorgt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, ausgesprochen sonderbar. Sie schien beinahe Angst vor mir zu haben. »Danke für den Tee, Gertrude. Sonst brauche ich jetzt nichts mehr.« Schlurfenden Schrittes, das eine Bein etwas nachziehend, ging sie zur Tür. Der Schein des Feuers glänzte auf ihrem krausen Haar. Hatte dieser seltsame Gang nicht etwas Vertrautes? Hatte ich als Kind Gertrude beobachtet und mich gefragt, warum sie hinkte? Als sie die Tür öffnete, ergriff mich ein Gefühl – das Gefühl, diese Frau schon früher gekannt zu haben. »Haben Sie mich vermißt, als ich fort war, Gertrude?«

Sie fuhr herum, und ich sah erstaunt die Tränen in ihren Augen. »O ja, ich habe Sie schrecklich vermißt, Kindchen. Sie und Ihre liebe Mutter. Ich habe immer darum gebetet, daß Sie wiederkommen.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Und jetzt bin ich wieder da.«

»Ja, Kindchen.« Ihre Lippen zitterten. Ich konnte ihren Kummer nicht verstehen.

»Ich möchte so gern über früher sprechen. Können wir beide das nicht bald einmal tun?«

»Ach, ich habe ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen.«

»Das glaube ich nicht. Sie können mir von meiner Mutter erzählen und von meinem Vater – «

»Verzeihen Sie mir, Miss Leyla, aber Vergangenes gehört in die Vergangenheit. Eine schöne junge Frau wie Sie sollte sich nicht um Dinge kümmern, die aus und vorbei sind. Verzeihen Sie, daß ich das so sage.«

»Wenn Sie meinen…« Ich breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Sind die anderen denn auch dieser Meinung?« Sie nickte mit Nachdruck.

»Spricht denn die Familie nie über die Vergangenheit?« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe…« Aber ich verstand natürlich nicht. »Nochmals danke für den Tee. Wecken Sie mich zum Frühstück? Gute Nacht.« Die Tür schloß sich leise, und ich war nun allein. Ich konnte mich nicht erinnern, mich je in meinem Leben einsamer und verlorener gefühlt zu haben. Das merkwürdige Verhalten meiner Verwandten, Gertrudes Abwehr und eine neue Sehnsucht nach meinem Vater, lösten in mir ein Gefühl der Leere und tiefer Schwermut aus.

Das Zimmer war plötzlich klein und fremd. Abgesehen von den persönlichen Dingen, die ich im Raum verteilt hatte, war es ein Zimmer, das ich nicht kannte und das mich nicht kannte. Mit dem Haus war es ähnlich; es war groß und leer und fremd, und die Menschen, die in ihm wohnten, waren Unbekannte für mich und behandelten mich wie eine Unbekannte, mit der sie nichts gemeinsam hatten.

Alles war ganz anders, als ich erwartet hatte. Woran lag das? Lag es vielleicht nur an mir? War ich überempfindlich? Ich hatte die ersten fünf Jahre meines Lebens in diesem Haus verbracht. Mein Vater und mein Bruder waren in diesem Haus gestorben. Vielleicht hatte ich allzu hohe Erwartungen gehegt. War es denn verwunderlich, daß ich nach so langer Zeit diesen Menschen hier genauso fremd war wie sie mir? Ich mußte Geduld haben. Mit der Zeit würden sie mich gewiß in ihrer Mitte aufnehmen.

Der Tee wirkte Wunder. Er versetzte mich in einen Zustand leichter Euphorie, so daß ich schließlich mit einem Gefühl des Wohlbehagens mein Nachthemd anlegen und in das Bett schlüpfen konnte. Henry hatte recht gehabt. Morgen würde alles anders aussehen. Nachdem ich die Kerze auf dem Nachttisch gelöscht hatte, drehte ich mich auf die Seite und schloß aufatmend die Augen. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. So müde und erschöpft ich von den Ereignissen des Tages war, mein Geist war hellwach. Fragen begannen mich zu quälen; Fragen, die ich, durch das Zusammensein mit der Familie abgelenkt, hatte verdrängen können, die mir aber jetzt, in der Dunkelheit und Stille des Schlafzimmers, wieder in den Sinn kamen. Sicherlich war das seltsame Verhalten meiner Verwandten mir gegenüber zum Teil damit zu erklären, daß wir einander fremd waren, aber ihr offenkundiges Widerstreben, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, war so einfach nicht zu begründen. Alle hatten sie deutliche Abwehr gezeigt, wenn das Gespräch auf die Vergangenheit gekommen war, so als wäre das Thema peinlich oder schmerzlich. Aber warum war das so? Was an der Vergangenheit war so aufwühlend, daß man jetzt, zwanzig Jahre später, nicht darüber sprechen konnte?

Eine der wenigen Auskünfte, die ich von meiner Mutter auf meine Fragen bekommen hatte, war, daß mein Vater und mein Bruder in diesem Haus an Cholera gestorben waren. Gewiß war das tragisch, aber es konnte doch kein so erschütterndes Ereignis gewesen sein, daß die Familie noch heute darunter litt.

Und doch gab es keinen Zweifel, daß sie jedes Gespräch über die Vergangenheit bewußt vermieden. Alle, außer Colin. Er hätte am liebsten den ganzen Abend Erinnerungen aufgefrischt, wenn Theo uns nicht unterbrochen hätte. Aber gerade vor Colin hatte Anna mich gewarnt… Ich lag mit offenen Augen in der Dunkelheit und dachte über meinen Vetter Colin nach. Ich rief mir unser Gespräch in der Bibliothek ins Gedächtnis, die Wärme, mit der er von unserer Kindheit und von unseren Spielen im Wäldchen erzählt hatte. Und plötzlich hörte ich glasklar seine Antwort auf meine Bemerkung, daß meine Mutter niemals über die Pembertons gesprochen hatte, und die mich jetzt tief traf: ›Als wollte sie vergessen, daß es uns gibt.‹

Mir war zuvor niemals aufgefallen, daß meine Mutter in der Tat jedes Gespräch über die Vergangenheit vermieden hatte.

Und war es nicht hier in Pemberton Hurst das gleiche? Hatte ich nicht bei meinen Verwandten dieselbe Überzeugung angetroffen, daß die Vergangenheit am besten begraben und vergessen sei? O ja, das hatte meine Mutter mit diesen Menschen gemeinsam gehabt – den Wunsch, zu vergessen.

Aber warum? Was gab es in meiner Vergangenheit, das es notwendig machte, sie zu vergessen? Was war es, worüber nicht gesprochen werden durfte?

Von dieser Frage belastet, schlief ich schließlich doch ein. Aber mein Schlaf war unruhig, von grotesken Bildern und seltsamen Träumen gestört. Einer nach dem anderen suchten meine Verwandten mich im Traum auf: Henry, der mich in den Armen hielt wie ein Vater; Anna, die mit lauter Stimme Lügen erzählte, aber gleichzeitig flüsternd die Wahrheit sagte; Theodore, freimütig und offen, aber mit einem Lachen voller Falschheit; Colin mit seiner Unbekümmertheit um die Gefühle anderer; Martha, die sich über die Mode des nächsten Jahres ereiferte; Tante Sylvia in ihrem Grab; die ungesehene Großmutter Abigail, eine strenge Äbtissin in einem hohen Turm. Und schließlich Gertrude, die nahe daran zu sein schien, mir alles zu sagen.

 

 

Ich fühlte mich nicht sehr ausgeruht, als ich erwachte, aber ich freute mich zu sehen, daß die Sonne schien. Durch mein Fenster sah ich einen winterlichen Wald kahler schwarzer und grauer Bäume, von deren Ästen vereinzelte welke Blätter herabfielen. Der Wind war so stürmisch wie am Tag zuvor, doch der Himmel war so blau, wie ich ihn in London nie gesehen hatte.

Während ich mich ankleidete, dachte ich an den vergangenen Abend, und ich mußte lächeln über mein kindisches Verhalten. Ich mußte wirklich sehr müde gewesen sein, um mich derartig in einen solchen Zustand hineinzusteigern.

Entschlossen, mir durch nichts die Stimmung verderben zu lassen, stieg ich die Treppe hinunter ins Frühstückszimmer.

Meine Mutter und ich hatten selten in Ruhe gefrühstückt, da wir schon in aller Frühe mit der Arbeit beginnen mußten. Auch wenn es uns nach den ersten bitteren Jahren besser ging, mußten wir dennoch hart arbeiten, um uns unser tägliches Brot zu verdienen. Nachdem meine Mutter mir die Grundbegriffe des Schneiderhandwerks beigebracht hatte, betraute sie mich jeden Tag mit besonderen Detailarbeiten, die es mir ermöglichen sollten, eines Tages meine eigene Schneiderwerkstatt zu führen. Wir arbeiteten in unserer Wohnung und kauften die Stoffe bei Londoner Großhändlern. Und meiner Mutter war es im Lauf der Jahre gelungen, sich einen gewissen Ruf zu schaffen, und es mangelte uns nicht an Aufträgen.

Aber diese Tage waren jetzt vorüber. Ich war allein und ohne Familie; erst wenn ich meinen Platz bei den Pembertons wiedergefunden hatte, wußte, daß ich zur Familie gehörte, würde ich wieder gehen und Edward heiraten können.

Theodore war allein im Frühstückszimmer. Er stand auf und rückte mir einen Stuhl zurecht, ehe er sich wieder an seinen Platz setzte. »Hast du gut geschlafen, Leyla?«

»Danke. Die Ruhe hier ist herrlich, wenn auch etwas ungewohnt. In London wird es praktisch die ganze Nacht nicht still. Du hörst die Pferdewagen am Fenster vorbeirollen, die Musik in den Wirtschaften, das Geschrei der Straßenhändler, das Grölen der Betrunkenen.« Er lachte. »Wie kann man nur in der Stadt leben!«

»Ach, so schlimm ist es gar nicht.« Ich dachte an die vornehmen Herrschaftshäuser am Grosvenor und Belgravia Square und fragte mich, warum meine Verwandten kein Stadthaus hatten. »Warte nur, dir wird es hier gefallen. Sogar im Winter ist Pemberton Hurst sehr schön.«

Ein Mädchen brachte Tee und Toast. Theodore, der wieder tadellos gekleidet war, schlürfte genießerisch seinen Tee und betrachtete mich dabei wieder auf diese irritierende, forschende Weise.

Aber ich war entschlossen, mir den Tag nicht durch Phantasien verderben zu lassen. Tante Sylvia war tot; meine ganze Hoffnung ruhte nun auf den sechs Menschen hier im Haus, und ich hatte mir insgeheim geschworen, nicht eher von hier fortzugehen, als bis sie mich als eine der Ihren unter sich aufgenommen hatten.

»Aber nun sag doch mal, Leyla«, sagte Theodore, während er sich frischen Tee einschenkte. »Was hat dich nach Pemberton Hurst zurückgeführt?«

Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. Das war eine weitere Merkwürdigkeit, die mir auffiel: Wenn die Pembertons nicht gerade damit beschäftigt waren, die Vergangenheit mit Geplauder zuzuschütten, verlegten sie sich darauf, mich nach dem Grund meiner Rückkehr zu fragen. »Zwanzig Jahre lang war meine Mutter meine ganze Familie. Als sie starb, fühlte ich mich sehr einsam. Verloren. Ich wollte wissen, woher ich komme, ich wollte wieder eine Familie haben.«

»Aber du bist doch verlobt. Du wirst bald eine eigene Familie gründen.«

»Ja, aber das ist etwas anderes. Die Familie, aus der ich stamme, sind die Pembertons. Das verstehst du doch, nicht?«

»Aber ja, natürlich.« Er schien damit zufrieden. »Übrigens, Großmutter möchte dich heute sehen.« Das hörte sich an wie ein Befehl.

»Sie hat sich in letzter Zeit gar nicht wohl gefühlt. Immerhin ist sie schon achtzig.«

»Dann gehe ich gleich zu ihr.«

»Nein, noch nicht. Erst heute nachmittag. Ich bringe dich zu ihr und stelle dich vor. Großmutter ist ein wenig exzentrisch.«

»Wie Colin?«

Theodore lachte humorlos auf.

»Wo sind denn die anderen?« fragte ich dann etwas verlegen. »Meine Mutter ist bei Großmutter. Vater ist nach East Wimsley gefahren. Martha sitzt wie immer über irgendeiner Stickerei. Und Colin – weiß der Himmel, wo der sich herumtreibt.«

»Sag mal, Theo, die große Fabrik gleich außerhalb von East Wimsley, gehört die uns?«

Ich glaube, er stieß sich an dem Wort ›uns‹, aber er ging darüber hinweg.

»Ja«, antwortete er, »das ist unsere Fabrik. Unserer Familie gehören die gesamten Außenbezirke von East Wimsley. Wir haben die fünftgrößte Baumwollspinnerei in England.«

»Das wußte ich nicht.«

Seine Augen verengten sich ein wenig. Ich hatte den Verdacht, er argwöhne, ich sei aus reiner Berechnung zurückgekehrt, angelockt vom Reichtum der Familie.

»Deine Mutter scheint dich ja wirklich völlig im dunklen gelassen zu haben.«

Der ironische Unterton ärgerte mich.

»Ganz recht«, erwiderte ich mit einer gewissen Schärfe, nicht bereit, mich von Theodore einschüchtern zu lassen. »Kannst du dir vorstellen, warum?«

Einen Moment lang erwiderte er meinen Blick, und ich hatte den Eindruck, er sei nahe daran, mir eine offene Antwort zu geben. Dann aber sah er weg und sagte nur: »Nein, ich kann es mir nicht erklären.«

»Guten Morgen, schöne Cousine. Guten Morgen, Theo.« Ich fuhr herum. Colin stand breitbeinig an der Tür, in der einen Hand eine Reitgerte. Sein Haar war vom Wind zerzaust, und um seine Lippen lag ein unverschämtes Grinsen. »Guten Morgen, Colin«, antwortete ich höflich.

Obwohl er noch in Reitkleidung war, setzte er sich ohne Umstände an den Tisch.

»Du bist wirklich ein Flegel, Colin.«

»Danke, Theo. Deine Offenheit ist wohltuend. Ich fürchte nur, sie wird der guten Leyla, die so gern in diesen harmonischen Familienkreis aufgenommen werden möchte, sämtliche Illusionen rauben.« Er schenkte sich Tee ein und trank ihn hastig. »Reitest du eigentlich, Leyla?« fragte er mich.

»Mehr schlecht als recht.«

»Kein Wunder, wenn man in der Stadt lebt. Da lernt man nur Unsinn.« Ich betrachtete die beiden Männer, die mir am Tisch gegenübersaßen, und wußte nicht, welchen ich unerfreulicher fand – Theo mit seiner Falschheit oder Colin mit seiner unverfrorenen Ehrlichkeit. »Komm mit mir«, sagte Colin, »dann zeige ich dir dein früheres Zuhause.«

»Ich hatte eigentlich Theo versprochen – «

»Schön, dann geh’ mit Theo.« Colin stand abrupt auf und sah, die Hände in die Hüften gestemmt, mit einem herausfordernden Lächeln zu mir herunter. »Eine Guinee, daß du in weniger als vierzehn Tagen wieder in London bist.«

»Ist das eine Herausforderung?«

»Wieso? Willst du es für eine Guinee in diesem Haus aushalten?«

»Ich habe nicht den Eindruck, daß es hier etwas auszuhalten gibt.« Colin warf den Kopf zurück und lachte. »Hast du das gehört, Theo? Wie wenig sie über uns weiß.«

Theo war nicht belustigt. »Na, wenigstens hast du uns jetzt das Frühstück gründlich verdorben«, war alles, was er sagte. »Letzte Chance, Leyla«, bemerkte Colin ungerührt. »Du kannst dir Pemberton Hurst von mir zeigen lassen oder du kannst mit Theo gehen. Überleg’ dir die Wahl gut.«

»Sie geht mit mir, Colin, fertig. Du hast doch sicher noch im Pferdestall zu tun.« Theo tupfte sich die Lippen mit der Serviette, und ich fühlte mich flüchtig an Edward erinnert. Colin ignorierte Theos Bemerkung. Er hielt die grünen Augen unverwandt auf mich gerichtet. »Ach, du hältst dich wohl immer noch brav an den guten Rat, dem flegelhaften Colin aus dem Weg zu gehen, wie? Nun, da man dich so nachdrücklich vor meiner Gesellschaft gewarnt hat – «

»Theo hat mich zuerst aufgefordert, Colin, sonst würde ich gern mit dir gehen. Für gestern abend habe ich mich entschuldigt. Was muß ich noch tun, um dir mein Bedauern unter Beweis zu stellen?« Die grünen Augen blitzten unternehmungslustig. »Komm mit mir zum Wäldchen.«

»Colin!« rief Theo und sprang zornig auf. »Bist du verrückt geworden?«

»Ach, aber ich möchte sehr gern zum Wäldchen, Theo. Schon wegen der alten Erinnerungen.«

»Nein, Leyla. Da ist es gefährlich. Die Ruinen sind baufällig. Ich muß dir verbieten, dorthin zu gehen.«

Ich starrte ihn verblüfft an, und er senkte die Lider. Theo war es vielleicht gewöhnt, Befehle zu geben, aber ich hatte nicht die Absicht, mich von ihm herumkommandieren zu lassen. Mir lag schon eine entsprechende Erwiderung auf der Zunge, aber dann fiel mir ein, daß ich hier immer noch Gast war, eine Fremde in diesem Haus, und daß es unklug wäre, mir die Feindschaft dieses Mannes zuzuziehen.

Colin schien enttäuscht zu sein. »Tja, schöne Cousine, mir scheint, Theos Wort ist dir Gesetz. Nun, das kannst du halten wie du willst. Ich wünsche euch beiden einen angenehmen Rundgang.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Theo setzte sich wieder. »Du wirst dich schon noch an Colin gewöhnen«, sagte er entschuldigend. »Manchmal könnte man meinen, er wäre bei den Wilden aufgewachsen und nicht auf Pemberton Hurst.« Ich blickte zur Tür. »Wie ist sein Vater eigentlich gestorben?«

»Onkel Richard? Durch einen Unfall mit dem Wagen. Das Pferd scheute, glaube ich.«

»Du weißt es gar nicht genau? Warst du denn nicht hier?«

»Nein, meine Eltern und ich waren damals nicht hier. Es war vor ungefähr zwölf Jahren. Colin war damals dreiundzwanzig. Es war schrecklich für ihn. Er war monatelang nicht ansprechbar. Jedenfalls erzählte man uns das, als wir zurückkamen.«

»Und seine Mutter?«

Theo rührte geistesabwesend in seinem Tee. »Sie kam auch bei dem Unfall ums Leben. Sie saßen beide im Wagen.«

»O Gott…« Ich sah ihn an. »Und wo ist das passiert?«

»Gleich hier unten an der Straße.«

»Hier? In Pemberton Hurst? Das kann doch nicht wahr sein!«

»Wieso nicht?«

»Aber sein Vater – und mein Vater… Das ist ja unglaublich.« Zum erstenmal hatte ich das Gefühl, mit einem der Pembertons etwas gemeinsam zu haben.

»Wir sind eine große Familie, Leyla, und Unfälle gibt es immer wieder«, sagte er, als wäre damit alles erklärt.

Ich schaute ihn unverwandt an, aber er wich meinem Blick aus. »Und wo wart ihr, als es passierte?« fragte ich.

»Ich war damals mit meinen Eltern in Manchester. Wir lebten dort. Mein Vater leitete die Spinnerei.«

»Dann hast du also nicht ständig in Pemberton Hurst gewohnt?«

»Nein.«

Seine Antworten wurden immer knapper. Ich weiß nicht, warum ich fragte; die Frage kam mir plötzlich in den Kopf, und ich stellte sie. »Und wann bist du mit deinen Eltern von hier fortgegangen?« Er zögerte, als müsse er seine Worte erst überlegen. »Laß mich nachdenken«, sagte er langsam. »Die Spinnerei wurde 1838 eröffnet. Vater mußte vorausfahren, um Personal einzustellen. Es ist lange her, aber ich glaube, daß wir im selben Jahr von hier fortgegangen sind wie du und deine Mutter. Ein merkwürdiger Zufall eigentlich.«

»Im selben Jahr?«

»Hm.« Er drehte sich demonstrativ um und sah auf die Uhr über dem Kamin. »Es kann kaum mehr als einen Monat später gewesen sein.« Ich blickte Theo stumm an.

»Ah«, sagte er mit gespielter Lebhaftigkeit, »du bist mit deinem Tee fertig. Nimm dir einen warmen Umhang mit. Der Wind ist kalt.« Wir standen gleichzeitig auf. Eine ganz neue Frage schoß mir plötzlich durch den Kopf, ausgelöst wohl durch unser Gespräch. »Theo«, sagte ich, »ist eigentlich bei der Cholera-Epidemie damals sonst noch jemand von der Familie gestorben?«

»Bei welcher Cholera-Epidemie?«

»Bei der mein Vater und mein Bruder gestorben sind.« Theo wurde fahl im Gesicht. »Was soll das heißen, Leyla? Dein Vater und dein Bruder sind nicht an der Cholera gestorben.«