5

 

 

 

Ich wandte mich von Colin ab und schlug die Hände vor mein Gesicht. »Wir drei fanden dich dort«, fuhr er fort. »Du standest mit völlig verwirrtem Gesicht vor den beiden Toten. Du hast nicht geweint, du hast überhaupt keinen Laut von dir gegeben. Du hast nur dagestanden und die beiden Toten mit starrem Blick angesehen. Onkel Henry nahm dich auf den Arm und trug dich zum Haus, während ich nach East Wimsley ritt, um den Arzt zu holen. Theo suchte deine Mutter und fand sie im Garten. Er holte sie ins Haus, damit man ihr sagen konnte, was geschehen war.« Colin legte mir wieder die Hände auf die Schultern, aber diesmal sachte und behutsam. »Du hast an dem Tag und auch am folgenden nicht ein einziges Wort gesprochen, Leyla; du hast nicht eine Träne geweint. Und du hast nichts gegessen. Du hast die ganze Zeit nur wie benommen in deinem Zimmer gesessen. Aber deine Mutter weinte; sie weinte so laut, daß es im ganzen Haus zu hören war. Es war furchtbar. Ich habe nie einen so schrecklichen Tag erlebt.«

»Und weiter?« fragte ich leise.

»Danach seid ihr verschwunden. Am frühen Morgen des dritten Tages hörten wir alle eine Kutsche in der Auffahrt, und später entdeckten wir, daß der Einspänner weg war. Deine Mutter hatte uns verlassen, ohne irgend jemandem etwas zu sagen, und dich hatte sie mitgenommen.«

»Ist uns denn niemand gefolgt?« Er schwieg.

Ich drehte mich mit einer heftigen Bewegung um. »Eine Frau, die vor Schmerz und Kummer außer sich war, und ein fünfjähriges Kind – und keiner ist uns gefolgt?«

»Leyla, bitte hör’ mir zu – «

»Und wir mußten in London in Not auf engstem Raum hausen, meine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst, und ich ohne Erinnerung, während ihr hier in satter Selbstzufriedenheit und Überfluß weiterlebtet, als gäbe es uns gar nicht.« Meine Stimme war im ganzen Stall zu hören, so außer mir war ich. »Wie konntet ihr nachts überhaupt noch schlafen?« schrie ich. »Ihr Ungeheuer! Ihr gemeinen Ungeheuer!«

Ich trommelte Colin mit geballten Fäusten an die Brust, bis mir die Knie versagten, und ich schluchzend zusammensank. Augenblicklich nahm er mich in die Arme und hielt mich ganz fest, tröstete mich und gab mir endlich die Fürsorge, die ich zwanzig Jahre zuvor so dringend gebraucht hätte. Ich weinte noch einmal um meinen Vater und meinen Bruder und um meine Mutter, die soviel gelitten hatte. Aber diesmal weinte ich auch noch um ein fünfjähriges kleines Mädchen, das die Tragödie nur hatte überleben können, indem ihm alle Erinnerung daran verlorenging.

Lange standen wir so, Colin und ich, und das Revers seines Jacketts war bald völlig durchnäßt. Als die Tränen nachließen, schluchzte ich immer wieder: »Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sei dankbar dafür, Leyla«, sagte Colin leise. »Es ist gut, daß du dich nicht erinnerst.«

Bei diesen Worten löste ich mich von ihm, trat einen Schritt zurück und sah ihm mißtrauisch ins Gesicht. In seinen Augen waren Traurigkeit und Schmerz, aber ich glaubte auch noch etwas anderes zu sehen. Es war nur sehr vage, kaum wahrnehmbar…

»Du hast mir immer noch nicht alles gesagt.«

Er wich meinem Blick aus. »Ich habe nichts weggelassen.«

»Lüge mich nicht an, Colin. Das verdiene ich nicht. Das Schreckliche, was hier geschehen ist, geht mich mehr an, als jeden von euch. Ich habe ein Recht auf die ganze Wahrheit, Colin.«

Als er mich wieder ansah, wußte ich, daß er mir nun alles sagen würde.

Und wenn es noch so schmerzlich war, ich mußte es wissen.

»Die ganze Wahrheit«, sagte Colin bedrückt, »betrifft deinen Vater.

Oder, genauer gesagt, die Familie Pemberton. Komm, Leyla, setzen wir uns.«

Er führte mich zu einer Holzbank, wischte sie ab, und dann setzten wir uns. Der Geruch nach Heu und Leder, das leise Schnauben der Pferde, das dämmrige Licht, gab dem Ort etwas Unwirkliches, so, als wären wir weit weit weg, von allen anderen getrennt.

Leise und monoton drang seine Stimme an mein Ohr, und während er sprach, stiegen Bilder vor meinen Augen auf. »Was du an jenem Tag gesehen hast und heute nicht mehr erinnerst, war etwas, das sich schon früher hier ereignet hat. Wir Pembertons sind mit einem schrecklichen Erbe belastet. Wir tragen alle den Keim einer Krankheit in uns, die sich in Form von Wahnsinn äußert. Dein Vater litt nicht an irgendeinem geheimnisvollen Fieber oder einer plötzlichen und unerklärlichen Krankheit. Er war ein Opfer des Pembertonschen Wahnsinns geworden. Die Geschichten von grausamen Morden und seltsamen Todesfällen reichen Generationen zurück. Einige der Schauermärchen, die man über Pemberton Hurst hört, beruhen auf wahren Ereignissen; sie haben ihren Ursprung in unserer Familiengeschichte, und sie sind der Grund, daß die Einheimischen uns meiden. Wir gelten als verflucht, und mit Recht, Leyla. Denn durch das schreckliche Erbe, das wir in uns tragen, ist jeder Pemberton zu einem Schicksal verdammt, das in seiner Grausamkeit kaum vorstellbar ist.«

Ich sah todmüde zu ihm auf. Ich war so erschöpft und schwach, als hätte ich eine endlos lange Reise hinter mir. »Jeder Pemberton?« fragte ich.

Er nickte. »Jeder und jede. Der Geschichte zufolge, die unser Großvater, Sir John, mir erzählte, ist keinem einzigen der Pembertons hier auf Pemberton Hurst das schreckliche Schicksal erspart geblieben. Alle endeten im Wahnsinn. Wir sind eine Familie, die rettungslos verloren ist.« Rettungslos verloren. Ohne Hoffnung dem Unvermeidlichen ausgeliefert. Das war also die bedrückende Ausstrahlung, die mir von Henry entgegengekommen war. Aufgrund einer undeutlichen Erinnerung aus meiner Kindheit vielleicht, hatte ich beim Anblick meines Onkels gewußt, daß er verloren war, ein Verdammter. »Das ist doch nicht möglich, Colin. Ich kann das nicht glauben.«

»Was glaubst du denn, warum deine Mutter dich von hier fortgebracht hat? Damit du dich nicht daran erinnerst, was du im Wäldchen gesehen hattest? Das auch vielleicht, ja. Aber ich bin überzeugt, daß sie dich von hier fortbrachte, weil sie hoffte, dir damit das Schicksal ersparen zu können, das dich erwartet.«

»Nein, nein, nein«, sagte ich mehrmals. »Das glaube ich nicht.«

»Unser Großvater nahm sich das Leben, indem er sich vom Ostturm stürzte. Sein Bruder Michael vergiftete sich. Und so ist es in der ganzen Familiengeschichte zu verfolgen, Leyla, du kannst zurückgehen so weit du willst. Meinem Vater wurde dieses Schicksal dadurch erspart, daß er bei einem Unfall ums Leben kam. Sonst wäre er den gleichen Weg gegangen wie alle Pembertons.«

»Ich fühle mich elend, Colin. Bring mich ins Haus zurück.« Schwankend standen wir beide auf. Das, was er befürchtet hatte, daß ich ihm böse sein würde, weil er mir die Wahrheit gesagt hatte, war jetzt eingetreten. Colin hatte mir Schlimmes zugefügt; er hatte mein Leben in einen Alptraum verwandelt, und in diesem Augenblick richtete sich mein ganzer Zorn gegen ihn.

Er schien es zu spüren, vielleicht an meinem veränderten Ton, vielleicht an der Tatsache, daß ich seinen Blick mied; denn er sagte tief bekümmert: »Ich wollte dir das alles nicht erzählen. Ich wußte, daß es dich nur unglücklich machen würde. Aber du wolltest es unbedingt wissen. Du hast darauf bestanden, es zu erfahren. Meine einzige Hoffnung ist jetzt, daß du unverzüglich Pemberton Hurst verläßt, Leyla, zurück nach London gehst, und dort ein neues Leben mit deinem zukünftigen Ehemann anfängst. Vergiß uns. Denk nie wieder an uns.«

Wir traten aus dem Stall in den peitschenden Wind und kehrten schweigend zum Haus zurück. Colin stützte mich, als wir die Treppe hinaufstiegen und ins Haus traten, das still und düster war, wie von dunklen Vorahnungen erfüllt. Als wir vor meiner Zimmertür standen, stieß ich ihn weg, um ihm zu beweisen, daß ich allein stehen konnte, und sagte bitter: »Ich werde Pemberton Hurst niemals verlassen.«

»Aber es macht dich doch nur unglücklich, wenn du bleibst.« Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich hätte es nicht erklären oder in Worte fassen können, aber ich wußte tief im Innern, daß ich noch bleiben mußte.

Als er sich zum Gehen wandte, sagte ich: »Du kannst Großmutter ausrichten, daß ich wie verabredet zum Tee zu ihr kommen werde.«

Ich stand in meinem Zimmer vor dem großen Spiegel über dem Toilettentisch und straffte die Schultern wie ein Soldat, der Haltung annimmt. Vor mir lag möglicherweise einer der bedeutsamsten Augenblicke meines Lebens. Großmutter Abigail war offensichtlich eine sehr bedeutende Persönlichkeit, und ich vermutete, daß sie – und nicht Henry – über die Familie und das Vermögen herrschte. Und wenn meine Vermutung richtig war, daß Abigail Pemberton wie eine Königin Pemberton Hurst regierte, dann hatte sie auch die Antworten auf die vielen Fragen, die ich ihr vorzulegen gedachte. Fragen, die meine Vorfahren betrafen, meine eigene Vergangenheit, meine Eltern und meinen Stand innerhalb der Familie. Ehe ich Edward heiratete und meine eigene Familie gründete, mußte ich alles wissen.

Schlimme Stunden hatte ich verbracht, seit ich mich von Colin getrennt hatte; Stunden, in denen ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In weniger als achtundvierzig Stunden hatte sich meine ganze Welt so dramatisch verändert, daß ich Schwierigkeiten hatte, mich innerlich auf diese Veränderungen einzustellen. Die seligen Kindheitserinnerungen, die ich hier auf Pemberton Hurst zu finden gehofft hatte, hatten sich als grauenhafte Alpträume entpuppt. Aber nun, da ich mich mit dem schrecklichen Wissen auseinandergesetzt hatte, war ich bereit, meiner Großmutter Abigail gegenüberzutreten.

 

 

Ich klopfte laut an ihre Tür, kräftig und selbstbewußt. Ich wollte ihr von Anfang an deutlich machen, daß ich, ganz gleich, welche geheimnisvolle Macht sie über die Familie besaß, meine eigene Herrin war und nicht so war wie die anderen.

Als ich das Zimmer betrat, stellte ich fest, daß meine Vermutungen nicht falsch gewesen waren. Die herrische Macht dieser alten Frau wurde spürbar, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Es war, als träte man in das klösterlich abgeschlossene Gemach einer mächtigen Tyrannin, die in selbstherrlicher Unzugänglichkeit ihre Fäden spann. »Tritt näher, damit ich dich sehen kann.«

Starr und unbewegt saß sie in einem hohen Lehnstuhl, das Gesicht im Dunkeln. Abigail Vauxhall Pemberton war ganz in Schwarz gekleidet, vom hohen Kragen, der ihren mageren Hals umschloß, bis zu den weiten Röcken, die über ihre Füße zum Boden reichten. Ich näherte mich ihr vorsichtig, mühsam mein Selbstvertrauen bewahrend, und blieb dort stehen, wo ich vermutete, daß es ihrem Wunsch entsprach. »Komm näher, Kind.« Eine kalte, körperlose Stimme aus dem Schatten. »Ich bin achtzig Jahre alt und sehe nicht mehr gut. Wie soll ich dich sehen, wenn du so weit weg stehst.«

Ihre scharfen Worte ärgerten mich; sie deuteten an, daß sie sich innerhalb von Sekunden bereits ihr Urteil über mich gebildet hatte. Als ich noch einige Schritte näher trat und erneut stehen blieb, vergeblich bemüht, einen Blick auf dieses von Dunkelheit umhüllte Gesicht zu erhaschen, fiel mir plötzlich eine Geschichte ein, die ich in der Zeitung gelesen hatte. Ein amerikanischer Seemann namens Perry hatte erzählt, daß der Kaiser von Japan keinem Menschen je sein Gesicht zeigte, weil, wie es hieß, keiner seiner Untertanen wert war, dieses hehre Antlitz zu erblicken. Genauso, wie eine Untertanin dieses Kaisers, fühlte ich mich, als ich jetzt vor dieser in ihrem Lehnstuhl thronenden alten Frau stand, die nicht gewillt schien, mir ihr Gesicht zu zeigen. »Du kommst zögernd. Du hast wohl Angst vor mir?«

»Respekt habe ich, nicht Angst.«

»Noch einen Schritt, Leyla. Das Licht ist schlecht. So ist es besser. Siehst du die Lampe da auf dem Tisch rechts von dir? Drehe sie höher, damit sie dein Gesicht beleuchtet.«

Ich gehorchte, und als ich mich nun wieder meiner Großmutter zuwandte, sah ich, daß das Licht nicht nur mein Gesicht aus der Dunkelheit hob, sondern auch das ihre. Schweigend musterten wir einander über die Kluft der Jahre hinweg, die uns voneinander trennten. Das Gesicht meiner Großmutter unter dem wohlfrisierten, schlohweißen Haar war wachsbleich. Kein Schmuckstück lockerte das strenge Schwarz ihrer Kleidung auf. Aber wenn auch ihre Haut faltig und blutlos war, wenn auch ihre Hände, lang und mager, verknöchert wirkten, wenn sie auch von beinahe erschreckender Magerkeit war, so blitzte doch in den dunklen Augen feuriges Leben. Die Härte dieser Augen sprach von ungebrochener Willenskraft und ließ keinen Zweifel daran, daß diese alte Frau eine alles überwindende Kraft und Energie besaß.

»Wie ähnlich du deiner Mutter bist«, sagte sie leise, als sähe sie ein Gespenst. »Jennifer…«

»Man hat mir gesagt – «

»Kennst du mich?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Nein, Großmutter, ich kenne dich nicht. Du bist mir fremd, und doch bist du die Mutter meines Vaters. Dein Blut fließt in meinen Adern, aber wir sind Fremde.«

»Deine Mutter hat nie von mir gesprochen?« Ich schüttelte den Kopf.

»Das ist eine ungezogene Art zu antworten. Colin sähe das ähnlich, aber von dir hätte ich es nicht erwartet. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann erhebe deine Stimme, aber sprich nicht mit deinem Körper. Es gehört sich nicht für eine junge Dame, Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu ziehen.«

»Ja, Großmutter«, sagte ich ein wenig verwirrt.

»Ich höre, daß du nur sehr wenig über uns weißt. Wenn das zutrifft, warum bist du dann zurückgekehrt?«

Nicht Neugier sprach aus der Frage; sie war ein Befehl an mich, meine Anwesenheit auf Pemberton Hurst zu rechtfertigen. Das war Großmutters Art, Fragen zu stellen. Die harten, glitzernden Augen blieben unverwandt auf mich gerichtet, so schwarz wie Gagat.

Ich dachte an den Brief. Hatte Großtante Sylvia vor ihrem Tod mit ihrer Schwester Abigail über ihn gesprochen? Ein Gefühl, das ich nicht hätte erklären können, hielt mich, wie schon einmal zuvor, davon zurück, etwas von dem Brief zu sagen.

Stumm maßen wir einander, ich nicht bereit, ihre Frage zu beantworten, sie meines Widerstrebens bewußt. Ihr Blick, dunkel unter schweren Lidern, schien mich bis ins Innerste zu durchdringen, ohne etwas von ihren Gefühlen oder Gedanken preiszugeben. Als sie endlich sprach, fuhr ich erschrocken zusammen. »Vor zwei Tagen noch«, sagte sie, »war es hier auf Pemberton Hurst ruhig und friedlich. Dann bist du gekommen. Und mit dir kam dieser höllische Sturm. Hast du ihn mitgebracht, Leyla?«

»Ich bin aus London gekommen, nicht aus der Hölle.« Sie zog die dünnen Augenbrauen hoch, als wolle sie sagen, daß das für sie ein und dasselbe sei.

»Meine Schwiegertochter ist also tot, und nun ist ihre Tochter zurückgekehrt, um Ansprüche auf das Familienvermögen geltend zu machen.« Ich wußte, daß Großmutter Abigail versuchte, mich aus der Reserve zu locken, aber ich hatte nicht die Absicht, mich von ihr reizen zu lassen. Eine derartige Anspielung hörte ich hier nicht das erste Mal. Die Unterstellung, ich sei nur aus Habgier zurückgekehrt, konnte mich nicht mehr kränken.

»Ich bin zurückgekommen, weil ich meine Familie kennenlernen wollte, ehe ich im Frühjahr heirate. Zu einem früheren Zeitpunkt war es mir nicht möglich, da meine Mutter schwer krank war. Ich bin außerdem zurückgekommen, weil ich mehr über mich selbst erfahren will. Ich habe an die ersten fünf Jahre meines Lebens keinerlei Erinnerung.« Sie blieb völlig ruhig. Ich konnte nicht erkennen, ob meine Worte irgend etwas in ihr bewegt hatten, obwohl sie die Bitterkeit in meiner Stimme, als ich von meiner Mutter gesprochen hatte, deutlich gehört haben mußte.

Es klopfte. Auf die Aufforderung meiner Großmutter hin trat ein Mädchen mit dem Teetablett ein. Ohne ein Wort stellte sie es zwischen uns auf einen niedrigen Tisch und ging wieder hinaus. Als wären wir gar nicht unterbrochen worden, fuhr meine Großmutter zu sprechen fort. »Ich kann mir denken, daß Pemberton Hurst und die Familie nicht deinen Vorstellungen entsprechen. Keiner hier glaubte, dich jemals wiederzusehen, Leyla. Du mußt verstehen, daß die Familie eine Weile braucht, um sich auf diese überraschende Tatsache einzustellen.«

Wenn man bedachte, daß Großmutter Abigail kaum je ihre Räume verließ, wußte sie erstaunlich gut Bescheid. Vermutlich wurde Henry täglich zur Berichterstattung gerufen.

Mit steifen Bewegungen schenkte sie den Tee ein.

Ich betrachtete ihre ringlosen Hände und versuchte mir vorzustellen, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte, als ihre Söhne klein gewesen waren. Ich fragte mich, was für ein Mensch ihr Mann, Sir John, gewesen war, und welche Umstände zu seinem mysteriösen Tod geführt hatten. Was hielt Großmutter Abigail von Colins phantastischer Geschichte über den Wahnsinn der Pembertons? Sie war gewiß eine viel zu sachliche Frau, um solchen Geschichten Glauben zu schenken. Ein ganz neuer Gedanke stieg in meinem Kopf auf. Der Keim dazu war zweifellos in jenem Moment gelegt worden, als Colin mir die schreckliche Familiengeschichte erzählt hatte. Jetzt begann er langsam Formen anzunehmen.

Obwohl ich immer noch stand, schob sie mir auf dem kleinen Tisch Tasse und Untertasse herüber, dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und führte ihre Tasse an die Lippen.

»Seit Generationen trinken wir in diesem Haus nur Darjeeling Tee. Hat deine Mutter in London die Tradition fortgeführt?«

»Das konnten wir uns nicht leisten«, antwortete ich kurz. »Schade.« Sie trank einen Schluck und schürzte die schmalen Lippen. »Leyla, leidest du eigentlich an Kopfschmerzen?«

Ich sah sie verblüfft an. »Kopfschmerzen?« Diese Frage hatte mir doch schon einmal jemand gestellt. Ich konnte mich nicht entsinnen, wer es gewesen war. »Nein. Nur ganz selten.«

»Wenn du einmal welche haben solltest, kann ich dir ein Mittel empfehlen, das Wunder wirkt. Wenn du einmal schlimme Kopfschmerzen haben solltest.« Wieder nippte sie von ihrem Tee und betrachtete mich dabei über den Rand ihrer Tasse.

»Ich kann mir nicht denken, daß es für dich einen Grund gibt, länger hier zu bleiben, Leyla. Du hast gesehen, was du sehen wolltest. Es gibt gewiß keinen Anlaß – «

»Doch, einen«, unterbrach ich, meinen Zorn mühsam beherrschend. »Die fünf Jahre, die mir fehlen.«

»Unsinn. Es gibt viele Menschen, die an ihre Kindheit keine Erinnerung haben. Das ist ganz normal.«

»Aber ich müßte mich erinnern – wenigstens an einen bestimmten Tag in diesen fünf Jahren.«

Meine Großmutter nahm sich von den Biskuits auf der silbernen Schale. »Ich verstehe nicht.«

»Ich müßte mich zumindest an den Tag erinnern, an dem ich sah, wie mein Vater zuerst Thomas tötete und sich dann selbst das Leben nahm.«

Hätte ich meine Großmutter nicht aufmerksam beobachtet, so hätte ich die Reaktion gar nicht wahrgenommen. So aber entging mir nicht, daß sie einen Moment lang aus der Fassung geriet. Es zeigte sich in einem flüchtigen Zusammenzucken, einem Einsinken ihres mageren Körpers, als wäre sie nahe daran, die Haltung zu verlieren. Aber schon faßte sie sich wieder, straffte die knochigen Schultern und sah mir mit ihren schwarzen Augen ins Gesicht. Sie hatte also nicht gewußt, daß jemand mir von diesem Tag erzählt hatte.

»Es hat wahrscheinlich sein Gutes, daß du dich an diesen Tag nicht erinnerst. So ein Gedächtnisverlust kann ein Schutz sein, der einem ermöglicht, ohne die Belastung einer grauenvollen Erinnerung weiterzuleben.«

»Sicher. Aber vielleicht verlor ich auch das Gedächtnis, weil ich fürchtete, daß noch etwas geschehen würde. Und daß es mir geschehen würde.«

Ihre Unterlippe bebte. »Wenn du deinen Vater sterben sahst, konntest du nicht fürchten, daß er auch dich töten würde.«

»Das ist richtig. Es sei denn, daß gar nicht mein Vater tötete – sondern jemand anderer.« Nun war er ausgesprochen, der quälende Gedanke, der sich langsam in mir verdichtet hatte. Er hatte keinerlei wirkliche Grundlage, aber ich hatte ihn aussprechen müssen, um sie wissen zu lassen, was mich beschäftigte.

Mir klopfte das Herz. »Vielleicht sah das kleine Mädchen, das verborgen im Gebüsch stand, wie eine dritte Person ins Wäldchen kam und den Vater und den Bruder tötete. Das würde zweifellos ausreichen, um ein Kind mit solcher Angst zu erfüllen, daß es vergißt, was es gesehen hat. Wäre das möglich?«

Meine Großmutter war zornig. »Eine sinnlose Frage, Leyla. Wir wissen, daß dein Vater die Tat beging. Er war krank, geistig verwirrt – «

»Ja, ich weiß. Der Wahnsinn der Pembertons.«

Sie starrte mich an. »Wer hat dir das erzählt? Und wer hat dir gesagt, daß du an dem Tag dabei warst? War es Colin?«

»Ich verstehe nicht, warum in diesem Haus um die Wahrheit ein solches Geheimnis gemacht wird, Großmutter. Du warst offensichtlich bis gestern völlig sicher, daß ich vom Verlauf meines letzten Tages hier nichts mehr wußte. Und dir lag offenbar daran, daß ich die Wahrheit nie erfahren sollte.«

»Das ist eine Unterstellung!«

»Warum wolltest du mir die Wahrheit über jenen Tag verschweigen? Zwanzig Jahre sind seit diesen schrecklichen Geschehnissen vergangen. So schmerzlich kann es heute doch nicht sein, darüber zu sprechen. Fürchtest du, ich könnte mich an etwas erinnern? Fürchtest du, daß ich mich jetzt, da Colin mir die Geschichte erzählt hat, plötzlich an alles erinnern werde? Daß ich vielleicht vor mir sehen werde, was ich damals gesehen habe?«

»Das ist ja lächerlich! Warum sollte ich das fürchten?«

»Nur aus einem Grund: Weil eine dritte Person da war – «

»Niemand war da!« Ihre Stimme war schrill. »Es war dein Vater. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt, der Fluch, der auf allen Pembertons lastet. Keiner entgeht ihm, Leyla. Auch dein Vater konnte ihm nicht entrinnen.«

Ich meinte mich undeutlich zu erinnern, doch das Bild wurde nicht greifbar – es hatte jedoch mit den Händen meiner Großmutter zu tun. »Ich rate dir, dieses Haus zu verlassen. Am besten sofort. Du hast hier nichts zu erwarten. Wenn du Geld haben willst – «

»Ich will kein Geld.«

»Dann geh zurück zu deinem Architekten.«

»Du bist erstaunlich gut unterrichtet, Großmutter. Es würde mich interessieren, wer es ist, der dir die letzten Neuigkeiten zuträgt. Ist es Onkel Henry? Tante Anna? Theodore? Oder Martha?«

»Du bist unverschämt, Leyla. Ich will, daß du gehst. Du bist deiner Mutter zu ähnlich; ausgesprochen ermüdend. Und du bist auch deinem Vater ähnlich. Deine Augen, dein Kinn…«

»Willst du mich vor dem Wahnsinn warnen, Großmutter? Die Frage, ob ich an Kopfschmerzen leide, war doch nicht müßiges Interesse, oder? Fängt die Krankheit so an?«

»Das wirst du schon noch merken, genau wie die anderen vor dir.« Wieder blickten wir einander in stummem Kampf an. Wie sehr mich dieses Gespräch erschüttert hatte; wie niederschmetternd es war, feststellen zu müssen, daß meine eigene Großmutter nicht willens war, mich mit der Herzlichkeit und Wärme aufzunehmen, die ich so verzweifelt ersehnte. Tiefe Traurigkeit erfaßte mich. Die Frau, die hier vor mir saß, war die Mutter meines Vaters; sie hatte ihn geboren, sie hatte seine Kinderjahre mit ihrer mütterlichen Fürsorge begleitet, sie hatte zugesehen, wie er zu einem stattlichen Mann heranwuchs. Und sie hatte auch mich von meiner Geburt an gekannt, mich vielleicht liebevoll in ihren Armen getragen… So gern wäre ich zwanzig Jahre zurückgegangen, wieder zum Kind geworden, um die Liebe und Geborgenheit einer Familie genießen zu können.

Aber das war vorbei. Was immer auch in den vergangenen Jahren geschehen war – seit jenem verhängnisvollen Tag –, ich war hier nicht willkommen.

»Ich glaube nicht an diesen Fluch«, sagte ich, »und es wundert mich sehr, daß du daran glaubst. Wenn du soviel über mich weißt, Großmutter, und erkennen kannst, wie sehr ich meiner Mutter ähnele, dann mußt du auch wissen, daß ich eine eigensinnige und hartnäckige Person bin und dieses Haus erst dann verlassen werde, wenn ich gefunden habe, was ich suche.«

Ich sagte das alles sehr ruhig, doch meine Worte trafen. Die harten schwarzen Augen funkelten mich zornig an.

»Ich sehe schon, du bist starrköpfig. Da du eine Pemberton bist, kann ich dir den Aufenthalt in diesem Haus nicht verbieten. Es ist allerdings fraglich, ob du das, was du hier in deiner blinden Entschlossenheit suchst, auch finden wirst. Ich kann dich nur warnen, Leyla.« Ihre Stimme wurde laut und beschwörend. »Vergiß nicht, daß auch du das Erbe der Pembertons in dir trägst. Ich rate dir, dieses Haus unverzüglich zu verlassen, am besten noch heute, und deinen Architekten zu heiraten, solange dir noch Zeit bleibt, dein Glück an seiner Seite zu genießen. Aber ich weiß, daß du nicht auf mich hören wirst. Darum werde ich fürs erste – «

»Darum wirst du den anderen verbieten, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, Großmutter.«

»Du hast offensichtlich eine blühende Phantasie, Leyla.« Sie neigte sich zur silbernen Schale und nahm eines der Biskuits. Ein Bild ihrer Hände schoß mir blitzartig durch den Kopf. Sie sahen anders aus als in diesem Moment, nicht so knochig, aber ich wußte, daß es ihre Hände waren. Und an der einen Hand leuchtete ein Ring – ein Ring mit einem roten Stein. »Es ist ungezogen, den Tee, den einem die Gastgeberin anbietet, stehenzulassen.«

Das flüchtige Bild erlosch. Ich sah zu meiner Tasse hinunter. Ich hätte den kostbaren importierten Tee gern gekostet, aber ich hatte keinen Stuhl und mochte im Stehen nicht trinken. Ich durchschaute das Spiel meiner Großmutter und war nicht bereit, mich von ihr beeinflussen zu lassen. »Ich habe heute schon sehr viel Tee getrunken, Großmutter, und ich bin müde. Ich ziehe es vor, jetzt wieder in mein Zimmer zu gehen.«

»Es ist gleichermaßen ungezogen zu gehen, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Mir scheint, deine Erziehung war sehr mangelhaft.«

»Das wird wohl darauf zurückzuführen sein, daß meine Mutter von morgens bis abends hart arbeiten mußte, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«

Damit drehte ich mich um und ging zur Tür. Als ich die Hand schon auf dem Knauf hatte, hielt ihre Stimme mich zurück.

»Du bist ein ungezogenes, junges Ding, Leyla, und von einer unverzeihlichen Unverschämtheit. Wenn du länger hier bleiben willst, wirst du deine Manieren ändern müssen.«

Ich ging hinaus und zog die Tür hinter mir zu. In meinen Augen brannten Tränen. Am liebsten hätte ich laut geweint wie ein kleines Kind. Das, was ich gesucht hatte, Liebe und Wärme, würde ich bei dieser unbeugsamen alten Frau niemals bekommen.

So schnell wie möglich, um nur ja keinem der anderen zu begegnen, lief ich in mein Zimmer und schob den Riegel vor. Aber so warm und behaglich es war, es war nicht mein Zimmer. In diesem fürstlichen alten Gemach fand ich keinen Trost.

Rastlos lief ich hin und her. Das Gespräch mit meiner Großmutter war niederschmetternd verlaufen. Es war mir so wichtig gewesen, von ihr angenommen zu werden, aber darauf konnte ich jetzt nicht mehr hoffen. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, ihr Zorn und Verachtung zu zeigen, das würde sie mir niemals verzeihen. Und mit der Hoffnung, ihre Zuneigung zu erwerben, war auch alle Hoffnung dahin, den anderen in diesem Haus nahezukommen. Ich war nun ganz allein.