8

 

 

 

Gertrude kam gleich, als ich sie rief. Zögernd blieb sie an der Tür stehen. Wir hatten bisher kaum miteinander gesprochen, doch ich hatte immer noch die Hoffnung, daß ich von ihr etwas erfahren würde. Aber, das hatte ich inzwischen gelernt, ich mußte vorsichtig zu Werke gehen. Gertrudes Blick sagte mir eindeutig, daß sie sich nicht bereitwillig öffnen würde. »Gertrude«, sagte ich, während wir nebeneinander im Zimmer standen, »wir haben noch gar keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Dabei haben wir uns doch soviel zu erzählen. Von früher, meine ich.«

»Ja, Miss Leyla, aber wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

»Meines auch nicht, das haben Sie sicher schon bemerkt. Aber ich möchte so gern die alten Erinnerungen auffrischen. Vielleicht können Sie mich dabei unterstützen.«

»Ich würde Ihnen bestimmt gern helfen, Miss Leyla, aber ich glaube nicht, daß ich es kann.«

»Wir könnten es wenigstens versuchen. Vor zwanzig Jahren waren wir doch sicher gute Freunde. Das habe ich im Gefühl.«

»O ja, das waren wir!«

Wir setzten uns beide auf das Sofa vor dem kleinen Tisch, auf dem Tee und Toast bereitstanden. Das klare Licht des frühen Morgens fiel durch das Fenster und warf helle Streifen auf den Teppich. Der Wind pfiff immer noch um das Haus, aber der Himmel leuchtete herrlich blau. Bemüht, ihr die Befangenheit zu nehmen, schenkte ich uns beiden ein. Die Jahre waren freundlich gewesen zu unserer alten Haushälterin, die rosige Haut ihres Gesichts hatte kaum Falten. Sie war vielleicht sechzig, rundlich und klein, eine gute Köchin, die gern von ihren eigenen Speisen probierte, wie mir schien.

»Ich hab’ viel zu tun, Miss Leyla. Die Familie steht bald auf.«

»Aber bis dahin ist doch noch ein bißchen Zeit. Sonst kommen wir ja gar nicht zum Plaudern. Und wir haben uns soviel zu erzählen.«

»Wenn Sie meinen, Miss Leyla.«

»Ich weiß es, Gertrude. Ich meine, Sie müssen mich als Kind doch sehr gut gekannt haben. Haben Sie nicht damals immer für uns Kinder gebacken? Und Ihre Spezialität waren Lebkuchen, nicht wahr?«

»Nein, Miss Leyla. Ihre Tante Sylvia hat die Lebkuchen gebacken. Von mir haben Sie und die anderen Kinder immer am liebsten Apfelstrudel gegessen.«

»Ach ja, natürlich.« Keinerlei Erinnerung regte sich. »Und im Winter mußte ich Ihnen immer heiße Schokolade machen. Die tranken Sie mit Vorliebe.«

»Ach, ja?«

Gertrude blieb steif und zurückhaltend. Zweifellos hatte sie genaue Anweisungen erhalten. Aber ich hoffte auf eine Gefühlsregung von ihr. »Hat mein Bruder auch so gern Ihre Schokolade getrunken, Gertrude?«

Sie setzte sich noch steifer hin. Offenbar hatte ich hier einen wunden Punkt getroffen. »Der kleine Thomas war wie alle anderen. Er liebte alles, was ich machte, Hauptsache, es war schön süß.«

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern, Gertrude. Können Sie mir ein wenig von ihm erzählen?«

»Ich habe leider ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich kann Ihnen nichts sagen.«

Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und durch den Abzug des Kamins. Mich fröstelte. Ich setzte meine Teetasse ab und legte meine Hand auf ihren Arm. Bis jetzt hatte sie mich nicht ein einziges Mal angesehen. »Gertrude, bitte, verstehen Sie doch. Ich habe alle Erinnerung an meine ersten Kinderjahre verloren und ich möchte sie so gern zurückhaben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.«

Doch ihr Gesicht blieb unbewegt. Meine Hoffnung auf eine Gefühlsregung war fehlgeschlagen. Oder aber ich hatte ihren Pflichteifer unterschätzt. Von wem auch immer der Befehl zu schweigen gekommen war – von meiner Großmutter oder Henry – , sie würde sich fest daran halten.

»Nun ja«, sagte ich seufzend. Diesmal war die Enttäuschung leichter zu ertragen. Erst meine Tante und mein Onkel, dann meine beiden Vettern und meine Cousine, dann meine Großmutter und jetzt Gertrude. Alles vergeblich. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von der Arbeit abgehalten, Gertrude. Ich hatte so gehofft, Sie könnten mir auf meiner Suche ein wenig helfen. Sie können gehen, wenn Sie möchten.«

»Die Familie möchte sicher das Frühstück – «

Wir standen gleichzeitig auf, und ich machte einen letzten Versuch. Ich drückte meine Hand an die Stirn, stöhnte ein wenig und murmelte: »O, mein Kopf.«

Gertrude fuhr erschrocken herum und sah mich an. Tiefe Bekümmerung sprach aus ihren Augen. So unrührbar war sie also doch nicht. »Haben Sie Kopfschmerzen, Miss Leyla?«

»Es ist nicht schlimm.« Ich hatte überhaupt keine Kopfschmerzen. Ich hatte nur zu dieser List gegriffen, um Gertrude vielleicht doch noch erweichen zu können. »Haben Sie öfter Kopfschmerzen?«

»Ja, ab und zu. Es fällt mir erst jetzt auf, wo Sie fragen. In den letzten Monaten kam es immer wieder mal. Woher wußten Sie das?«

»Arme kleine Leyla. Daran litt auch Ihr Vater. Er litt in den letzten Wochen seines Lebens unter grauenvollen Kopfschmerzen.« Plötzlich blitzte eine Erinnerung auf: Ich hörte das Stöhnen eines Mannes hinter verschlossener Tür.

»Er hat entsetzlich gelitten, Kindchen, und kein Arzt konnte ihm helfen. Wir gaben ihm die Arznei, aber es mußte jedesmal mehr sein und am Schluß half sie gar nicht mehr. Dann bekam er das Fieber und fiel ins Delirium. Ach, Kindchen, Sie sollten sich solche Erinnerungen nicht zurückwünschen. Sie sind zu traurig. Sie sind schlimm.« Aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. So sehr ich mir gewünscht hatte, daß meine kleine List Gertrude die Zunge lösen würde, achtete ich jetzt kaum auf ihre Worte. Etwas Neues formte sich nämlich in meinen Gedanken, etwas, das ich nicht ganz greifen konnte… »Sie sind noch so jung, Kindchen! Daß Sie jetzt schon diese Kopfschmerzen haben! Ihr Vater war im besten Alter, und Ihr Großvater war alt. Ich bete zu Gott, daß die Kopfschmerzen einen anderen Grund haben. Vielleicht kommen sie vom Kummer über den Tod Ihrer Mutter…« Gertrudes Worte rauschten an meinen Ohren vorüber. Ich wußte jetzt, was für ein neuer Gedanke durch ihre ersten Bemerkungen bei mir ausgelöst worden war. Die Kopfschmerzen, die immer stärkeren Dosen Opium – das erinnerte mich an Henry. Er litt jetzt genauso wie vor zwanzig Jahren mein Vater gelitten hatte.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Gertrudes Gesicht. Ich wollte sehen, ob sie mir Theater vorspielte. Doch ihre Tränen waren echt, das sah man. Mein Vater hatte also wirklich an grauenvollen Kopfschmerzen und Fieberwahn gelitten. Dieser Teil der Geschichte war wahr, das sah ich an ihrem angstvollen Blick und ihren zitternden Händen. Mein Vater hatte in der Tat an einem unbekannten Fieber gelitten. Gertrude ging jetzt; ich wartete, bis sie an der Treppe war, ehe ich meine Zimmertür schloß. Es war vielleicht herzlos gewesen, was ich ihr angetan hatte, aber mir hatte es eine neue Erkenntnis gebracht. Mein Vater hatte offenbar tatsächlich an einer geheimnisvollen Krankheit gelitten. Gertrudes Bekümmerung war echt gewesen, und mir selbst war eine flüchtige Erinnerung an sein Leiden gekommen. In meinem Gedächtnis regte sich der Gedanke an ein verschlossenes Zimmer, das ich nicht betreten durfte, und an einen weinenden Mann hinter dieser verschlossenen Tür. Ich meinte zu spüren, daß dieser Mann mein Vater gewesen war, und ich spürte zugleich die Angst und die Verzweiflung des Kindes, das nicht zu ihm konnte. Wenn Gertrudes Anteilnahme echt gewesen, wenn meine schattenhaften Erinnerungen keine Täuschung waren, dann konnte ich daraus nur schließen, daß mein Vater vor seinem Tod tatsächlich schwer krank gewesen war.

Doch das deutliche Gefühl, daß er an der grauenvollen Tat im Wäldchen unschuldig war, blieb. Ein Teil des Bildes fehlte, und da Gertrude, in die ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte, mir nicht geholfen hatte, konnte ich die letzte Antwort auf meine Fragen nur an einem Ort finden.

 

 

Am späten Nachmittag ging ich, wie ich es geplant hatte, zum Wäldchen hinunter. Anna legte sich nach dem opulenten Mittagessen zur Ruhe, Martha saß irgendwo und stickte, Henry und Theo waren immer noch in East Wimsley. Das ganze Haus war totenstill. Nachdem ich Hut und Cape angelegt hatte, verließ ich leise mein Zimmer und huschte an den Räumen meiner Familie vorbei, um sie nicht zu stören. Der Besuch im Wäldchen würde wahrscheinlich zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden, mir alle Erinnerungen zurückgeben und die zahllosen Fragen beantworten, die mich bedrängten. Im Wäldchen würde ich meine Kindheit wiederfinden, denn durch das Aufdecken jener einen bösen Erinnerung, würden mir auch die guten wiedergegeben werden. Im Wäldchen würde ich erfahren, wer meinen Vater und meinen Bruder getötet hatte, wer den mit Sylvias Namen gezeichneten Brief geschrieben hatte, wer die Geschichte vom Wahnsinn der Pembertons in die Welt gesetzt hatte und wer auf Pemberton Hurst mein Feind war. Das Haus war wie ausgestorben. Niemand begegnete mir. Und auch Colin fand ich nicht. Entweder hatte er unsere Verabredung vergessen oder er hatte es sich anders überlegt; ich würde also allein ins Wäldchen gehen müssen. Es störte mich nicht, da dies ja meine ursprüngliche Absicht gewesen war.

Der Wind war wieder heftiger geworden; eisig blies er durch die Äste der Bäume und trieb dicke graue Wolken über den Himmel. In der Ferne war ein mächtiges Donnern zu hören. Am Abend würde es wohl ein richtiges Gewitter geben. Ich wußte, daß ich mich beeilen mußte, wenn ich genügend Zeit im Wäldchen haben wollte.

Mit beiden Händen Umhang und Röcke festhaltend, lief ich um das Haus zu dem Weg, der zu den Ställen führte. Von hier aus konnte ich die weite Grünfläche sehen, die sich den Hang hinabzog und am Fuß des Hügels vor einem dichten Wald endete. Die Bäume sahen grau und spröde aus, wie sie im Sturm gegeneinander schlugen. Immer dichter ballten sich die finsteren Wolken zusammen, wuchsen zu einem bedrohlichen schwarzen Meer. Ihre Schatten bedeckten die Grünfläche jetzt ganz, ließen nur hier und dort einige Sonnenstrahlen durchscheinen. Mein Ausflug würde wohl von kurzer Dauer sein.

Ich folgte dem Weg bis zu seinem Ende auf dem Kamm des Hügels und blieb einen Moment stehen, um den sanften Hang hinunterzublicken. Ich sah, etwa aus der Mitte der Lichtung emporragend, das Wäldchen, eine Gruppe dicht stehender, kahler Bäume.

Noch einen Moment zögerte ich, sah furchtsam hinunter und wußte doch, daß ich den Kampf um meine Vergangenheit aufnehmen mußte. Die Akazien drängten sich im Sturm zusammen, als wollten sie um jeden Preis das schreckliche Geheimnis hüten, das sie all die Jahre hindurch bewahrt hatten, und das ich ihnen jetzt entreißen wollte. Ja, ich würde kämpfen, wenn es sein mußte; wenn die Erinnerungen nicht gleich zurückkehren wollten, würde ich tagtäglich so lange ins Wäldchen hinuntergehen, bis jedes Stückchen meiner Vergangenheit wieder mir gehörte, ganz gleich, wie schrecklich sie sein mochte.

Hier stand ich nun, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Ich schaute hinunter in das Wäldchen, wo ich meinen Vater und meinen Bruder hatte sterben sehen. Die anderen waren alle im Haus, meine Mutter im Garten an der Arbeit. Ich war ein Kind, unternehmungslustig und neugierig, ich wollte sehen, was Vater und Thomas machten.

Ich ging los. War es kalt gewesen an jenem Tag? Hatten graue Wolken den Himmel bedeckt? Hatte ein Gewitter gedroht? Oder war ich im hellen Sonnenlicht hinuntergetollt?

Je näher ich dem Wäldchen kam, desto stärker wurde die innere Spannung. Noch zeigte sich nicht einmal das Fünkchen einer Erinnerung, das mich hätte wissen lassen, daß ich hier schon einmal gewesen war. Der Wind schnitt mir ins Gesicht. Das Gras unter meinen Füßen knisterte. Ich war eine Fremde an einem fremden Ort. Wenn Erinnerungen kommen sollten, so würden sie an jenem Ort im Wäldchen kommen. Um mich an den Vorfall selbst nicht erinnern zu müssen, hatte mein Gehirn eine Barriere aufgebaut, die auch alle anderen Erinnerungen zurückhielt – die guten, wie die bösen. Um sie zurückzuerobern, mußte ich die Barriere einreißen. Und um das tun zu können, mußte ich an den Ort des Ereignisses zurückkehren.

Ich spürte, wie ich Angst bekam. Was würde mir die Erinnerung zeigen? Welches Entsetzen, welchen Schrecken würde ich noch einmal durchleben müssen, um mein Ziel zu erreichen? Während ich mich mit zögernden Schritten dem Wäldchen näherte, sagte ich mir, daß ich ja jederzeit umkehren, nach London zurückreisen und alles vergessen konnte, was ich hier vorgefunden hatte. Zugleich aber wußte ich, daß das nicht möglich war. Ich hatte mich auf einen Weg begeben, auf dem es keine Umkehr gab. Mein Vater war unschuldig – dessen war ich sicher; und ich sah es als meine Pflicht an, ihm und mir und vor allem meiner Mutter, die um seinetwillen zwanzig Jahre lang gelitten hatte, das zu beweisen. Plötzlich stand ich am Wäldchen. Ich drehte mich um und schaute den Hügel hinauf. Oben thronte das mächtige alte Haus, und seine dunklen Fenster blickten zu mir herunter. Ein Gefühl wie im Traum überkam mich. War ich vor wenigen Tagen wirklich noch in London gewesen, ohne von den Morden in diesem kleinen Hain, ohne von dem lächerlichen Fluch, mit denen sie sich so bequem erklären ließen, etwas zu wissen? Hatte es wirklich einmal eine Zeit gegeben, in der die Namen Colin, Anna, Henry und Theo mir nichts gesagt hatten? Ich mußte mich stellen. Kein Zaudern mehr. Ich war zu einem bestimmten Zweck hierher gekommen, und es lag mir nicht, die Dinge aufzuschieben. Ich sah in das Wäldchen hinein, doch ich konnte nichts erkennen; es war unmöglich zur anderen Seite hindurchzusehen. Ich machte einen Moment die Augen zu und versuchte, das Bild von vier Kindern heraufzubeschwören, die fröhlich in den Ruinen im Herzen des Wäldchens spielten. Aber ich konnte sie nicht sehen, die fünfjährige Leyla, den siebenjährigen Thomas, die zwölfjährige Martha und den vierzehnjährigen Colin. Ich machte die Augen wieder auf. Nur ein kleiner dunkler Wald, der vom Sturm geschüttelt wurde, winkte mir. Der erste Schritt fiel mir am schwersten; dann ging es leichter. Ich hielt meinen Umhang fest und drängte vorwärts. Dabei hatte ich das Gefühl, als träte ich durch eine Tür in die Vergangenheit. Die Umgebung veränderte sich: Der Wind schien sich zu legen, sein Brausen war nur noch gedämpft zu hören; die Luft wurde klarer, herber; ein Geruch nach feuchter Erde umgab mich. Waren diese Eindrücke Teil der Vergangenheit? Waren sie heute hierher zurückgekehrt, um mich zu begleiten? Oder waren sie Ausgeburten meiner Phantasie? Irgendwo mitten im Wäldchen machte ich halt. Die Augen brannten mir von der Anstrengung, alles aufzunehmen, jede kleinste Einzelheit, die mein Gedächtnis hätte anregen können. Meine Ohren lauschten auf jedes Geräusch, meine Nase sog alle Düfte und Gerüche in sich ein. Alle meine Sinne öffnete ich weit, um das Wäldchen zu erfassen und zu umschließen; ich hoffte, einen kleinen Anhaltspunkt zu finden, der mir schlagartig die Vergangenheit wieder zu Bewußtsein bringen würde. Dieser Steinhaufen. Dieser glatte Felsblock dort. Die moosbewachsene Mauer aus grauem Stein. Der verrottende Baumstamm. Würde eines dieser Dinge in meinem Geist eine Kettenreaktion auslösen, die die Barriere einreißen würde?

War es hier geschehen? Hatte ich als Fünfjährige hier, an dieser Stelle, gestanden und gesehen, daß dort bei der abgebröckelten alten Mauer die Morde verübt worden waren?

Ich schaute zu dem Fleckchen blauen Himmels hinauf, das sich plötzlich zwischen den Baumwipfeln zeigte, und gleichzeitig wurde ein Bild aus der Vergangenheit greifbar: Das eines goldenen Ringes, der einen roten Stein hatte.

Ich senkte den Blick wieder, während mein inneres Auge das Bild eines Ringes festhielt. Ein Ring an einer Männerhand. Nein… Vielleicht doch keine Männerhand. Eine schmale, knochige Hand. Der Rubinring funkelte in der Sonne. Er war mir bekannt. Ich hatte ihn schon einmal gesehen.

Das Bild ging mir verloren, und ich stand wieder einsam im Wäldchen. Was hatte er zu bedeuten, dieser Rubinring im hellen Sonnenlicht? Wie näherte man sich nur dem Bewußtsein eines fünfjährigen Kindes? Ich konnte keine Verbindung herstellen zwischen diesem Ring – es war der, den Theo jetzt trug – und dem, was vor zwanzig Jahren im Wäldchen geschehen war. Es war unmöglich, daß der Mörder den Ring getragen hatte. Hatte der Ring an jener Hand gesessen, die das Messer geführt hatte? Oder gehörte er zu einer ganz anderen Erinnerung an das Wäldchen? Vielleicht war ich als Kind mit meinem Großvater, Sir John, hierher gekommen und war fasziniert gewesen von seinem Ring. Dann war das Bild Teil einer glücklichen Erinnerung und gehörte nicht zu dem Tag, an dem die Morde verübt worden waren.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß ich nicht mehr allein war. Unwillkürlich zog ich fröstelnd die Schultern zusammen, während ich mich rasch umsah. Es war eigenartig. Ich sah nichts, hörte kein Geräusch, und doch war ich sicher, daß jemand mich beobachtete. Ängstlich und mutig zugleich, rief ich laut: »Wer ist da?«

Nichts rührte sich. Nur der Wind strich seufzend durch die Wipfel der Bäume.

»Ich weiß, daß jemand hier ist, und ich mag es nicht, wenn man mich heimlich beobachtet.«

Dennoch war ich überrascht, als sich in den Bäumen in der Nähe tatsächlich etwas bewegte. Stiefel traten in welkes Laub, Arme teilten kahle Äste auseinander.

»Wer ist da?« rief ich wieder. »Ich will wissen, wer da ist! Schluß mit dem Versteckspiel.«

Aber niemand antwortete mir. Die Schritte kamen eindeutig näher. Mein Beobachter blieb ohne Identität, verborgen zwischen den Bäumen, aber ohne sich die Mühe zu machen, seine Anwesenheit zu verheimlichen. Mir wurde unheimlich. Was sollte das? Warum sagte der Eindringling nichts? Aber trotz meiner Furcht wich ich nicht von der Stelle. Ich war entschlossen, keine Furcht zu zeigen.

Ganz in meiner Nähe hörten die Schritte auf. Ich stand stocksteif, mit angehaltenem Atem, und das Herz klopfte mir bis zum Hals. »Hallo«, sagte es plötzlich hinter mir.

Ich wirbelte herum. »Colin! Das ist überhaupt nicht komisch.«

»Hat das denn jemand behauptet?« Ein ironisches Lächeln begleitete sein Achselzucken.

»Warum hast du dich nicht gemeldet, als ich gerufen habe?«

»Ich wollte dich nicht stören.«

»Aber du hast mich gestört…« Ich drückte eine Hand auf meine Brust, als könnte ich so mein rasendes Herz beruhigen. »Ich finde das abscheulich von dir. Du hast mich beobachtet. Warum?«

»Weil ich meinte, es wäre besser, wenn du ungestört bleibst. Nachdem du meinem Vorschlag, dich hierher zu begleiten, zugestimmt hattest, kamen mir Bedenken. Ich sagte mir, es sei vielleicht doch am besten, wenn du allein hierher kämst. In meiner Gegenwart hättest du dich vielleicht nicht richtig entspannen können. Oder vielleicht wäre durch meine Anwesenheit die Stimmung gestört worden, die du brauchtest, um dich zu erinnern. Ich fand, es wäre besser für dich, dich hier allein zu glauben; aber ich wollte dich dennoch nicht allein lassen.«

»Also bist du mir gefolgt. Sehr freundlich von dir, Colin, aber du hast mich zu Tode erschreckt.«

»Na, hör mal, was ist schon so ein bißchen Gehölz im Vergleich zu Londons Straßen bei Nacht? Du bist doch bestimmt schon schlimmeren unheimlichen Gestalten begegnet.«

Wider Willen mußte ich lächeln, und im Grund war ich froh, daß jemand bei mir war. Eine merkwürdig düstere Stimmung ging von diesem Wäldchen aus, die sich unmittelbar auf mich übertrug. Sie kam allerdings nicht von Erinnerungen aus der Vergangenheit, sondern von den Dingen, die mir die anderen über diesen Ort erzählt hatten. »Hast du dich an irgend etwas erinnert?« fragte Colin. Ich ließ den Blick wieder über die verfallenen Mauern und die kahlen Bäume schweifen. »Nein, an gar nichts.« Die Erinnerung an den Rubinring wollte ich lieber für mich behalten. »Irgend etwas hat heute nicht gestimmt. Vielleicht war es das Wetter. War es damals warm?«

»Ja, es war wärmer als heute und nicht so stürmisch.«

»Dann lag es vielleicht wirklich am Wetter. Ich muß eben an einem schöneren Tag wieder herkommen. Es muß wahrscheinlich alles genau übereinstimmen. Ich werde so oft wieder hierher kommen, bis ich mich erinnern kann.«

»Ist es dir so wichtig?«

Ich sah ihn an. In seinen Augen war Besorgnis. Aber ich konnte nicht erkennen, um wen. »Ja, es ist mir sehr wichtig.«

»Und wenn es nun sehr lange dauert?«

»Dann mußt du mir eine Guinee bezahlen.«

»Ich muß dir –?« Plötzlich warf er den Kopf weit zurück und lachte. Es war ein gutes Lachen, voll und herzlich. Wie schön wäre es gewesen, gemeinsam mit Colin aufgewachsen zu sein. Er wäre mir ein großer Bruder gewesen, der mich beschützt und für Abenteuer und Heiterkeit gesorgt hätte. Ich hätte ihn in diesen Jahren so gut kennenlernen können, wie ich mir vorstellte, daß Martha ihn kannte, anstatt über sein unberechenbares Verhalten rätseln zu müssen, wie ich das jetzt tat. Ich stellte ihn mir neben Edward am großen Tisch im Speisezimmer vor – der unglaublich wohlerzogene, immer zuverlässige Edward neben meinem Vetter, der sich genau umgekehrt verhielt – und hätte beinahe laut herausgelacht.

Colin, der meine Heiterkeit bemerkte, sagte: »Du bist also gar nicht so bitter ernst, wie es manchmal den Anschein hat. Komm, Leyla, laß uns diesen unwirtlichen Ort verlassen.«

Wir machten kehrt und gingen ein paar Schritte bis zum Rand des Wäldchens. »Komm nicht zu bald wieder hierher«, sagte Colin. »Laß dir Zeit. Gönn dir ein bißchen Ruhe. Ich glaube, du forderst es zu stark heraus. Außerdem solltest du das nächstemal aus einer anderen Richtung kommen.«

Ich blieb stehen. »Warum sagst du das?«

Colins Gesicht war eine undurchdringliche Maske, als er erwiderte: »Nun, wenn du wirklich die Stimmung jenes Tages wiederherstellen willst, um dich erinnern zu können, was du gesehen hast, dann solltest du wenigstens an der richtigen Stelle stehen.«

Ich warf einen Blick über meine Schulter. »An der richtigen Stelle?«

»Ja. Dort, wo du heute standest, warst du damals nicht. Als du versteckt zwischen den Bäumen hocktest und deinen Vater und deinen Bruder beobachtet hast, warst du an einer ganz anderen Stelle.«