9

 

 

 

Als wir ins Haus zurückkamen, hörten wir, daß Henry sich, von heftigem Unwohlsein geplagt, in sein Zimmer zurückgezogen hatte, und daß meine Großmutter nach mir verlangt hatte. Weder das eine noch das andere berührte mich sonderlich. Mich beschäftigte, während ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauflief, nur eine Frage: Woher wußte Colin, wo ich an jenem Tag vor zwanzig Jahren versteckt gewesen war? Im Zimmer warf ich Hut und Umhang auf das Bett und setzte mich vor den Spiegel über meinem Toilettentisch. Keine Blässe, keine farblosen Lippen und glanzlosen Augen wie in den Tagen zuvor; statt dessen rosige Wangen und Lippen und strahlende Augen. Es war, als wäre mein Körper plötzlich zum Leben erwacht.

Das Wiedersehen mit dem Wäldchen, sagte ich mir. Oder das Wetter, der Wind und die Kälte. Der lange Anstieg zum Haus hinauf. Vielleicht auch die Erinnerung an den Rubinring. In meinem Bestreben zu leugnen, daß mein Vetter Colin eine solche Wirkung auf mich haben konnte, dachte ich mir alle möglichen Dinge aus, um mir meine plötzliche Lebendigkeit zu erklären.

Während ich mein Haar bürstete, hörte ich im Flur Stimmen und Schritte. Ich hörte Gertrude und Anna miteinander sprechen, dann Theo, alle offensichtlich bemüht um Henry, der wieder an seinen Kopfschmerzen litt. Aber ich kümmerte mich nicht um das, was vor meiner Tür passierte. Ich hatte anderes im Sinn.

Immer noch beschäftigte mich Tante Sylvias Brief. Und nun kamen noch Colins rätselhafte Worte im Wäldchen hinzu. Woher wußte er, wo mein Versteck gewesen war? Wenn ich allein dort unten gewesen war, und sie mich erst später gefunden hatten, wie ich in völliger Verwirrung vor den beiden Toten gestanden hatte, dann konnte doch keiner außer mir wissen, wo ich mich versteckt gehalten hatte. Es klopfte laut. »Leyla?« rief Theo von draußen. »Ja, was möchtest du?«

Er steckte den Kopf zur Tür herein, das Gesicht ungläubig und verärgert. »Leyla, du weißt doch, daß Großmutter wartet.«

»Ja. Aber ich bürste mir gerade das Haar, wie du siehst. Es wird Großmutter schon nichts ausmachen, noch ein bißchen länger zu warten.« Theo vergaß alle guten Manieren und kam einfach in mein Zimmer. »Also, wirklich, Leyla! Du hast noch einiges zu lernen. Wir wissen, daß du anders erzogen worden bist als wir, aber du mußt dich anpassen. Wenn du zur Familie gehören willst, mußt du dich auch an unsere Regeln halten. Und Regel Nummer eins schreibt vor, Großmutter niemals warten zu lassen.«

»Entschuldige«, sagte ich kühl. Als ich aufstand, fiel meine Haarbürste zu Boden. »Und erlauben eure Regeln auch, einfach das Zimmer einer jungen Dame zu betreten, die allein ist? Ach, Theo, ich habe einen anstrengenden Nachmittag hinter mir. Ich möchte mich ein wenig ausruhen, eine Tasse Tee trinken und mich frischmachen, ehe ich zu Großmutter hinaufgehe.«

Er öffnete den Mund, um mir etwas zu erwidern, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Außerdem hat Großmutter zwanzig Jahre in aller Seelenruhe auf mich gewartet, Theo. Da kann sie ruhig noch ein wenig länger warten.«

»Lieber Gott, was ist denn nur in dich gefahren?«

»Nichts.« Ich bückte mich und hob die Bürste auf. »Und wo bist du überhaupt gewesen? Was hast du heute getan?« Ich setzte mich wieder an den Toilettentisch und bürstete heftig und gereizt durch mein Haar. »Ich war im Wäldchen.«

»Was?« rief er heiser. Im Spiegel sah ich, wie er weiß wurde. »Leyla, ich – « Er griff sich mit der Hand an die Stirn. Ich wandte mich ihm wieder zu. »Was ist denn?«

Er sah sich nach einem Sessel um, setzte sich und schüttelte immer nur den Kopf. So außer Kontrolle hatte ich ihn noch nie erlebt. Als er mich endlich ansah, erschrak ich. Große Furcht und Unruhe spiegelten sich in seinen Augen. Einen Moment lang glaubte ich, es ginge ihm um mich und mein Wohlergehen, aber bei näherer Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß Theo aus anderen Gründen beunruhigt war.

»Du hättest nicht hingehen sollen«, sagte er leise. »Warum denn nicht? Sag mir doch, was los ist, Theo!«

»Und – wie war es, Leyla? Hast du – hast du dich an etwas erinnert?« Ich sah auf den Rubinring an seinem Finger, den Ring, den ich im Sonnenlicht hatte aufblitzen sehen und der in irgendeiner Verbindung mit dem Wäldchen und der Vergangenheit stand. Aber auch zu Theo sagte ich: »Nein, ich erinnere mich an nichts.«

Er lehnte sich scheinbar erleichtert zurück, aber seine Stimme blieb angespannt. »Es hätte – furchtbar werden können für dich. Diese Erinnerung, meine ich. Sei froh, daß sie dir erspart geblieben ist. Mein Gott, es war grauenvoll.«

Lange sah ich Theo eindringlich an, beobachtete seine fahrigen Bewegungen, bemerkte die Furcht und die Unruhe in seinem Gesicht. Ich sah meinen Eindruck, daß Theo weniger um mein Wohl als um etwas anderes besorgt war, bestätigt und hatte das Gefühl, er fürchtete das, woran ich mich vielleicht erinnern würde.

»Es wird gewiß nicht so furchtbar werden, wie du glaubst«, entgegnete ich ruhig. »Ich habe in London schreckliche Dinge gesehen – der Tod ist mir nicht fremd, ebensowenig der Anblick von Blut. Ich habe einmal mitangesehen, wie bei einem Unfall ein Mann die Beine verlor – «

»Das ist nicht das gleiche, Leyla.« In flehentlicher Gestik breitete er die Hände aus. »Natürlich ist es schrecklich, einen Unfall mitanzusehen, aber einen Mord – das ist das reine Entsetzen. Und dann noch beim eigenen Vater und Bruder. Ich begreife einfach nicht, daß du das alles noch einmal erleben willst, Leyla. Ich verstehe es nicht.« Ich stand auf und ging zur Tür. »Doch, ich glaube schon, daß du es verstehst, Theo. Denn du weißt genau, warum ich wissen möchte, was ich an jenem Tage gesehen habe, und ich glaube, dir liegt sehr viel daran, mich davon abzuhalten, daß ich mich erinnere.«

Er sprang zornig auf. »Jetzt reicht es aber wirklich. Du hast mit deinem Gerede schon Martha aus der Fassung gebracht. Aber ich lasse mir das nicht bieten. Außerdem war dein Besuch im Wäldchen ja ohnehin vergeblich.«

»Diesmal, ja, aber ich war ja nicht das letztemal dort.« Ich sah zu seinem Ring hinunter. »Vielleicht wird die Barriere mit jedem Besuch ein Stück weiter eingerissen. Oder vielleicht kommt einmal ein Tag, an dem das Wetter genau so ist, wie es damals war, an dem die Stimmung und selbst das Licht im Wäldchen so sind, wie vor zwanzig Jahren. Und dann, Theo, dann werde ich mich an alles erinnern.«

Damit wandte ich mich ab und ging zur Tür hinaus. Ich hätte mir gern ein anderes Kleid angezogen, ehe ich meiner Großmutter gegenübertrat, aber Theo hatte mich mehr aus der Ruhe gebracht, als ich ihm gezeigt hatte, und ich hatte nur den Wunsch, ihm zu entkommen. Seine Art, niemals zu sagen, was er wirklich dachte, konnte ich nicht lange ertragen. Außerdem ärgerte mich sein dominantes Verhalten. Zornig und traurig zugleich ging ich zu meiner Großmutter hinauf und kam in ziemlich aufgewühltem Seelenzustand vor ihrem Zimmer an, gewiß nicht in der rechten Verfassung für ein Rencontre mit ihr. Aber ich wollte es nicht länger aufschieben. Nachdem ich mir noch einmal über das Haar gestrichen hatte, klopfte ich kurz. »Herein«, sagte sie scharf.

Alles war so wie am Abend zuvor. Das Zimmer war düster, nur von niedrig brennenden Ölflammen und flackernden Kerzen beleuchtet. Sie thronte wieder in ihrem Lehnstuhl, die schmalen Füße auf einer Fußbank, die Hände auf den Armlehnen des Sessels. Und wieder fiel Schatten auf ihr Gesicht, so daß ihre Züge nicht zu erkennen waren, sie jedoch ihr Gegenüber genau beobachten konnte. Diesmal jedoch würde ich mich nicht einschüchtern lassen; ich kannte sie inzwischen ein wenig besser und hatte eine klare Vorstellung davon, was sie von mir erwartete. Anstatt wie am Abend zuvor direkt vor sie hinzutreten, daß mir der Schein der Öllampe aufs Gesicht gefallen wäre, stellte ich mich an den Kamin, wo sie mich nur als Silhouette wahrnehmen konnte. Augenblicklich drehte sie den Kopf nach rechts, zornig, wie mir schien. »Warum stehst du da drüben? Ich kann dich nicht sehen.«

»Ich friere, Großmutter.«

»Komm näher, Kind, meine Augen sind nicht so gut wie deine.«

»Ich möchte lieber am Feuer bleiben, Großmutter, wenn es dir recht ist. Es ist wirklich schrecklich kalt hier drinnen.«

Sie zögerte kaum merklich, ehe sie sagte: »Dann hättest du bei diesem Wetter nicht ausgehen sollen. Wir hatten Sonnenschein, aber seit du hier bist, toben diese höllischen Winde. Der Satan ist dir auf den Fersen, Kind. Nimm dich in acht.«

»Ein Spaziergang an frischer Luft ist gesund, Großmutter.«

»Auch wenn er ins Wäldchen führt?«

Sie wußte es also. Sollte mich das überraschen? Angesichts der Tatsache, daß Theo nichts gewußt hatte, ja. Und wer hatte es ihr erzählt? Wer, außer Colin, wußte, daß ich im Wäldchen gewesen war? Obwohl wir natürlich auch von jemandem beobachtet worden sein konnten…

»Und du erinnerst dich an nichts«, fuhr sie fort, und es klang beinahe schadenfroh.

War es etwa doch Colin, der ihr Bericht erstattete? »Du irrst dich, Großmutter. Ich habe mich sehr wohl an etwas erinnert.«

Mit meiner Großmutter geschah eine Veränderung. Es war nichts Sichtbares; sie machte keine Bewegung, sagte nichts, und doch veränderte sich die ganze Stimmung im Raum. Er war plötzlich mit Feindseligkeit geladen. Die Schatten wurden dunkler, das Heulen des Windes hinter den Fenstern schien lauter zu werden.

»Woran kannst du dich schon erinnert haben? Gewiß nichts von Belang.«

»Das weiß ich nicht, Großmutter. Es wird sich zeigen. Es war nur ein flüchtiges Bild, aber es zeigte sich im Wäldchen, und ich glaube fest, daß das nur der Anfang war.«

Während ich sprach, wandte ich meinen Blick unwillkürlich zu ihren Händen. Hart und knochig waren sie, von Altersflecken übersät. Ich stellte mir vor, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen sein mußten – kräftig, sehnig, wahrscheinlich mit Ringen geschmückt.

»Möchtest du mir nicht sagen, was das für eine Erinnerung war, Leyla?«

Ich hob den Blick. Das war ein neuer Ton, und er überraschte mich. Anstatt zu befehlen, hatte sie gebeten. Es machte mich mißtrauisch. »Ich kann dein Widerstreben verstehen, mein Kind, und ich wünschte, ich könnte dir den Aufenthalt hier angenehmer machen. Wir sollten uns nicht feindlich gegenüberstehen, wir sind schließlich von einem Fleisch und Blut. Ich bin die Mutter deines Vaters. Wir sollten Freundinnen sein.«

»Das habe ich gestern abend versucht.«

»Du bist ein sehr eigensinniges Kind, Leyla, und das ist nur zum Teil mit deiner Jugend zu entschuldigen. Du denkst einzig an dich und versuchst gar nicht, den Standpunkt anderer zu sehen. Du bist voller Erwartungen und naiver Hoffnungen hierher gekommen und warst tief enttäuscht, als sie nicht erfüllt wurden. Du glaubtest, du würdest hier eine Familie finden, die dich mit offenen Armen aufnehmen würde, statt dessen kamst du in ein Haus voller fremder Menschen, die dein plötzliches Erscheinen aus der Fassung brachte. Und dir war nur eingefallen, dich schmollend zurückzuziehen und alle möglichen Phantastereien über uns zu verbreiten. Du hast uns mit deinen Anschuldigungen tief getroffen und verletzt, Leyla.«

Ich blieb einen Moment reglos am Feuer stehen und ließ ihre Worte auf mich wirken. Ich konnte nicht leugnen, daß sie ein bitteres Körnchen Wahrheit enthielten. Plötzlich lief ich zu ihr und fiel neben ihrem Sessel auf die Knie.

»Und wie habt ihr euch mir gegenüber verhalten? Habt ihr euch denn die Mühe gemacht, meine Seite zu sehen? Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn man heimkehrt, sich nach nichts als Liebe sehnt und statt dessen mit Mißtrauen und Abwehr behandelt wird? Ich habe diese Anschuldigungen vorgebracht, weil ihr die gleichen gegen meinen Vater gerichtet habt. Ja, ich kam voller Hoffnung, weil ich glaubte, ein liebevolles Willkommen erwarten zu dürfen. Jahrelang habe ich mit meiner Mutter in Armut gelebt. Jahrelang sehnte ich mich nach einer Familie. Ich bin hier geboren, Großmutter. Ich gehöre hierher. Ich bin nicht aus eigenem Antrieb vor zwanzig Jahren von hier fortgegangen. Ich wurde fortgebracht; von allein wäre ich niemals gegangen. Und es war nicht meine Schuld, daß ich fort blieb. Ich hatte keine Wahl. Und bei der ersten Gelegenheit – nach dem Tod meiner Mutter – kam ich zurück nach Pemberton Hurst zu meiner Familie. Sag mir bitte, inwiefern ich euch Unrecht getan habe!«

Ich war überrascht, als ich die Tränen in den Augen meiner Großmutter sah. Sie sah mich nicht an, sondern starrte unverwandt geradeaus. Meine Worte hatten sie offenbar tief bewegt.

»Es war ein Werk des Teufels, daß du von uns fort mußtest, Leyla«, sagte sie. »Dein Vater – mein Lieblingssohn – war von Dämonen besessen und hatte Grauenvolles getan. Unsere Familie ist verdammt. Keinem Pemberton wird erspart bleiben, was er durchlitten hat.«

»Aber das stimmt doch nicht, Großmutter. Mein Vater war unschuldig. Der Teufel hatte nichts damit zu tun. Den Fluch der Pembertons gibt es nicht und auch nicht den Wahnsinn, dem wir angeblich alle verfallen werden. Ich weiß nicht, warum ihr alle das glaubt; ich fühle, daß es Lüge ist. Und ich möchte es beweisen. Wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals sah – «

»Nein, Leyla!« Die Kraft ihrer Stimme erstaunte mich. »Laß es ruhen. Du hättest niemals zurückkehren sollen. Es ist nicht gut. Laß die Toten ruhen, kehre nach London zurück.« Plötzlich faßte sie mich mit einer ihrer knochigen Hände und hielt mich sehr fest. »Leyla, mein Kind. Verlasse dieses Haus. Sofort. Du bringst dich in die höchste Gefahr. Geh fort von hier und komme niemals zurück. Ich flehe dich an.« Mir liefen die Tränen über die Wangen, während ich sah, wie sie mich mit bebenden Lippen bat, fortzugehen. Ich stellte mir ihren Schmerz vor, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn und Enkel auf so grauenhafte Weise den Tod gefunden hatten. Welch schreckliche Erinnerungen mußte der Anblick des Wäldchens täglich in ihr wecken! Und ich hatte durch mein Erscheinen alles wieder lebendig gemacht.

»Bitte, verzeih’ mir«, sagte ich leise. »Aber ich habe keine Wahl. Ich schulde es meinem Vater – «

»Dein Vater ist tot.«

»Dann schulde ich es seinem Andenken und meiner Mutter, die zwanzig Jahre für das gelitten hat, was er, wie sie glaubte, getan hatte. Jetzt muß ich beweisen, daß das nicht stimmt. Nur dann kann ich mein eigenes Leben aufnehmen. Ich kann jetzt nicht dieses Haus verlassen und Edward heiraten. Ich müßte dauernd daran denken, daß ich meinen Vater und meine Mutter im Stich gelassen habe. Ich hoffte, du würdest das verstehen, Großmutter. Das Andenken deines Sohnes soll wieder rein werden.«

»Es ist zu schmerzhaft«, stöhnte sie. »Ich kann es nicht ertragen.« Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die Tränen ab. Dann stand ich auf. »In gewisser Weise ist es wohl alles meine Schuld«, sagte ich. »Wäre ich niemals zurückgekommen, so wärt ihr hier ungestört geblieben. Verzeih mir, Großmutter. Aber ich bin gekommen, und ich werde den Weg, den ich eingeschlagen habe, bis zum Ende gehen.« Ich war selbst erstaunt, wie gefaßt ich war, als ich zur Tür ging. Dort blieb ich noch einmal stehen.

»Und wie wird dieses Ende aussehen?« fragte meine Großmutter hinter mir.

Eine schwarze Wand stand direkt vor meinem Gesicht. Ich wußte, daß es die Tür war, die in den Flur hinausführte. Gleichzeitig jedoch schien es mir meine Zukunft zu sein, die da vor mir stand, so dunkel und abschreckend wie meine unbekannte Vergangenheit. »Das Ende wird die Vereinigung der Vergangenheit mit der Gegenwart sein, Großmutter.«

»Wozu? Wir wissen alle, was die Zukunft bereithält.« Ich drehte mich noch einmal nach ihr um, sah sie an, wie sie da im schützenden Dunkel saß wie eine Eremitin, die in einer vergangenen Zeit verharrt und sich weigert, einen Schritt in die Zukunft zu tun. Hatte sie seit jenem schrecklichen Tag vor zwanzig Jahren so gelebt? Oder war sie erst mit dem Tod von Colins Vater zur Einsiedlerin geworden? Oder aber hatte der Selbstmord ihres Mannes vor zehn Jahren sie dazu gemacht?

»Ich glaube nicht an diese Zukunft. Es gibt keinen Fluch. Die Pembertons sind nicht verdammt.«

»Nein?« kam die Stimme dünn aus der schattendämmrigen Vergangenheit. »Dann sag dir das nur ganz fest, wenn du deinen Onkel Henry besuchst. Denn es geschieht schon wieder.«

 

 

Das es, vermutete ich, bezog sich auf das Syndrom, das mit dem Wahnsinn einherging: Kopfschmerzen, Fieber, Delirium und schließlich der Tod. So war angeblich Sir Johns Bruder Michael vor fünfundvierzig Jahren gestorben. So war, wie man mir berichtet hatte, mein Vater gestorben. Und das gleiche Schicksal hatte später meinen Großvater ereilt. Henry, so schien es, sollte das nächste Opfer werden. Aufregung empfing mich, als ich in den unteren Flur hinunterkam. Gertrude rannte, gefolgt von zwei Mädchen, an mir vorbei; die eine trug ein Kissen, die andere ein Teetablett. Anna stand völlig außer sich vor dem Schlafzimmer, das sie mit Henry teilte, und rief immer wieder: »O Gott, o Gott, hilf uns doch!«

Als ich zu ihr eilte und meine Hand auf ihren Arm legte, starrte sie mich an, als kenne sie mich nicht. »Ach, Jenny, ich bin so durcheinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Wegen Onkel Henry?«

Sie nickte mehrmals. »Wir haben nach Dr. Young geschickt. Er wäre gleich gekommen, aber in der Spinnerei hat es einen Unfall gegeben. Der Junge sagte, er würde heute im Lauf des Abends kommen. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Hoffentlich kommt er bald.« Ich wollte ins Zimmer gehen, aber sie hielt mich zurück. »Es ist schlimmer, Jenny, schlimmer als je zuvor. Es ist genau wie bei Robert. Du weißt doch noch, erst hatte er nur ab und zu Kopfschmerzen, dann kamen sie immer häufiger und wurden so grauenvoll, daß sie nicht mehr zu ertragen waren.«

Aus dem Zimmer kam ein Schrei Henrys, dessen Stimme von Qual verzerrt war.

»Er hat noch kein Fieber«, fuhr Anna hastig fort. »Aber es wird noch kommen, Jenny, du wirst sehen. Seine Zeit ist da. O Gott, mein armer, armer Henry.« Anna schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Sie war völlig aufgelöst und drohte unter der Belastung des anscheinend Unvermeidlichen zusammenzubrechen. Nicht in der Lage, ihr mehr zu geben als eine tröstliche Umarmung, entfernte ich mich von ihr und trat leise in das dämmrige Schlafzimmer, wo mein Onkel stöhnend auf seinem Bett lag. Sein Haar war feucht von Schweiß, das Gesicht aschfahl, die Lippen zeigten überhaupt keine Farbe. Ich näherte mich ihm vorsichtig, unsicher, was ich tun oder sagen konnte, um ihm zu helfen, nur am Rande Gertrude bemerkend, die am Fußende des Bettes stand. Die Augen fest zusammengekniffen vor Schmerz, stöhnte Henry immer wieder laut auf. Als ich das bleiche, eingefallene Gesicht sah, die Hände, die sich vor Schmerz in die Bettdecke krampften, überkam mich tiefes Mitgefühl. Mochte er gegen mich sein, oder nicht, er war der Bruder meines Vaters und ein leidender Mensch.

»Onkel Henry«, flüsterte ich und kniete neben dem Bett nieder. »Onkel Henry.«

Es dauerte einen Moment, ehe er den Kopf zur Seite drehte, um mich anzusehen. Seine Pupillen waren winzig klein. »O Gott«, hauchte er. »Jenny, ich sterbe.«

»Aber nein, Onkel Henry.« Ich legte ihm sachte die Hand auf die Stirn und spürte mit Erschrecken, wie kalt seine Haut war. »Das geht vorüber. Du wirst schon wieder gesund.«

»Nein! Nein!« flüsterte er beinahe heftig. »Erst mein Onkel Michael, dann mein Bruder Robert, dann mein Vater und jetzt ich. Die nächsten werden die Kinder sein, Theo und Colin, Martha und Leyla. Ja, auch die kleine Leyla. Wir sind alle Pembertons. O Gott!« Er drückte wieder die Augen zu, und sein ganzer Körper zuckte in einem heftigen Krampf. »Ich habe das Gefühl, daß mir der Kopf zerspringen will. O Gott, hilf mir doch, hilf mir doch!«

»Bitte, beruhige dich«, sagte ich tröstend. »Es wird doch wieder besser werden, Onkel Henry. Ganz bestimmt.«

Aber eigentlich wollte ich mit diesen Worten mehr mich selbst beruhigen, als ihn. Ich fühlte mich in einen Strudel der Aussichtslosigkeit hineingerissen, gegen den ich mich gewappnet geglaubt hatte. Außerdem glaubte ich nicht, daß er irgend etwas von dem, was ich sagte, hörte. Er schwebte in einer Zwischenwelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo ihn meine Stimme nicht erreichen konnte. Als er die Augen wieder öffnete, sah ich darin einen irren Glanz und die nackte Angst. »Lieber Gott, bitte, laß mich nicht die Verbrechen begehen, zu denen mein Bruder getrieben wurde. Bitte, erspare mir diese Grausamkeit. Laß mich dieser Familie nicht zu einer weiteren Quelle des Schmerzes und des Kummers werden.«

Entsetzt sah ich Henry an. Während er seine zitternden Finger um die Bettdecke klammerte und mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit über sich starrte, verband nur noch ein dünner Faden klaren Denkens ihn mit der Wirklichkeit, ein Fünkchen Einsicht, das ihn angstvoll erkennen ließ, was geschehen könnte, wenn das Delirium eintrat. »Nein, Onkel Henry«, rief ich. »Das wird nicht geschehen. Mein Vater hat das nicht getan. Er war das Opfer, nicht der Mörder.«

»Du weißt es nicht, Jenny. Du warst nicht dabei.«

»Aber Leyla war dabei. Ich war dabei!« Ich schlug mir mit der Faust an die Stirn. »Ach, wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Onkel Henry, wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals im Wäldchen sah, könnte ich dich beruhigen: Mein Vater war kein Mörder, und du wirst auch keiner werden. Siehst du das denn nicht? Du hast dir eingeredet, daß – «

»Mein Gott!« schrie er laut und riß sich mit beiden Händen an den Haaren. »Diese Schmerzen! Es ist, als stocherte mir jemand mit einem heißen Schürhaken im Kopf herum.« Er warf sich so wild hin und her, daß ich Angst bekam.

Im nächsten Augenblick war Anna an seiner Seite und legte ihm beruhigend den Arm um den Leib. »Beruhige dich, Liebster«, flüsterte sie unter Tränen. »Beruhige dich. Es wird ja wieder gut. Dr. Young ist schon unterwegs.«

Als mein Onkel etwas ruhiger geworden war, wandte sich Anna mir zu und sagte mit einer Heftigkeit, die mich erschreckte: »Du! Du hast ihn aufgeregt! Verschwinde und komm ja nicht wieder hier herein, solange er krank ist.«

»Aber ich möchte helfen – «

»Du hast genug angerichtet. Verschwinde!«

Ich wich vor meiner aufgebrachten Tante zurück und lief zur Tür hinaus. Ich kam mir vor wie in einer Geisterwelt, nichts als zuckende Schatten und gespenstische Finsternis um mich herum. Der Anblick Henrys, in dem ich eine Vaterfigur gesehen hatte und der jetzt nur noch ein stöhnendes Bündel von Schmerz und Wahn war, hatte mich aus der Fassung gebracht. Keines klaren Gedankens fähig, lief ich durch den Flur zu meinem Zimmer.

Von allen Seiten schien Tod mich zu umgeben. Der Geist meines Vaters und meines Bruders waren an meiner Seite; mein Großvater, der sich umgebracht hatte; mein Onkel Richard und meine Tante Jane, die durch einen Unfall ums Leben gekommen waren; mein Großonkel Michael, der selbst Hand an sich gelegt hatte; und meine Mutter, die mich nach länger Krankheit verlassen und ein Stück von mir mitgenommen hatte.

Auf meiner blinden Flucht durch den Flur prallte ich unversehens mit Colin zusammen und hätte uns beinahe beide zu Boden gerissen. Doch er umfing mich rasch mit seinen Armen und hielt mich fest, bis wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten. Dann erst ließ er mich los. »Wohin denn so eilig, Leyla? Wovor läufst du denn weg?« fragte er ruhig.

Ich blickte über meine Schulter zurück, sah wieder das schmerzverzerrte Gesicht Henrys, die blassen Lippen, die weit aufgerissenen Augen. »Ich war bei Onkel Henry. Mein Gott, ihm ist so elend, Colin. Warum können wir denn nichts für ihn tun? Mit Laudanum – «

»Er bekommt schon die höchste Dosis, Leyla. Dr. Young wagt nicht, ihm mehr zu geben, sonst – « Colin breitete die Hände aus. Ja, ich kannte Laudanum, eine Mischung aus Morphium und Alkohol. Es linderte Schmerzen auf wunderbare Weise, aber es barg auch große Gefahren.

»Wir können nichts mehr tun.«

»Aber er leidet doch so.« Colin schwieg, doch sein Gesicht sagte alles.

»Ich glaube es nicht«, erklärte ich heftig und erbittert. »Es kann nicht wahr sein. Diese geheimnisvolle Krankheit der Pembertons gibt es nicht.«

»Und du glaubst nicht daran, daß wir ihr alle hilflos ausgeliefert sind?«

»Nein! Es ist ein unglückliches Zusammentreffen, oder vielleicht eine ortsgebundene Krankheit, aber es gibt eine sicherlich normale Erklärung dafür, und ich verstehe nicht, daß du das nicht siehst. Colin, wie kannst du nur so blind sein!«

Ich schrie ihn an und machte damit meinem ganzen Schrecken über Henrys Leiden und Annas Verzweiflung Luft. Und zugleich entlud sich die Spannung, die sich im Lauf dieses Tages in mir angestaut hatte – mit dem Fund des Tagebuchs in Tante Sylvias Zimmer, mit dem Besuch im Wäldchen, dem Gespräch mit meiner Großmutter, dem Anblick von Henrys Qual.

Ich zwang mich nach meinen heftigen Worten zur Ruhe, umgab mich mit einer Fassade künstlicher Gelassenheit, während ich innerlich weiter raste. Colins grüne Augen sahen mich hart an und verbargen, was er wirklich dachte. Schweigend stand er vor mir, als warte er auf etwas. »Ich war vorhin bei Großmutter«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Ja, und sie wußte, daß ich heute nachmittag im Wäldchen war.«

»Du hast aus deiner Absicht kein Geheimnis gemacht, Leyla.«

»Sie wußte auch, daß es vergeblich war; daß ich mich an nichts erinnert habe. In der kurzen Zeit zwischen meiner Rückkehr aus dem Wäldchen und meinem Besuch bei ihr hatte sie alles erfahren.«

»Tatsächlich?« Sein Gesicht verriet nichts.

»Ach, Colin, es sollte mich wahrscheinlich nicht wundern, und ich habe wahrscheinlich auch kein Recht, darüber zornig zu sein, aber mußt du denn zu Großmutter laufen und ihr alles erzählen? Mußt du für sie der Beobachter sein?«

Sonderbarerweise ließen ihn meine Worte völlig ungerührt. Sein verschlossenes Gesicht sagte nichts. Mich brachte das nur noch mehr in Zorn und Verwirrung.

»Was ist denn nur los mit dir? Mit euch allen!« Ich stampfte mit dem Fuß. »Die flüchtigen Bilder, die mir manchmal doch kommen, zeigen mir Gelächter und Fröhlichkeit in diesem Haus.« Mir sprangen die Tränen der Ohnmacht in die Augen. »Was ist mit euch allen geschehen? Warum habt ihr dieses Haus in ein Mausoleum verwandelt?« Mit unerwartetem Mitgefühl nahm Colin meine Hand und sagte: »Komm mit, Leyla. Ich möchte dir etwas erzählen.« Ich ging mit ihm durch den Flur zur Treppe und hinunter in die Bibliothek. Hier unten war es still, und in der wohligen Wärme des lodernden Feuers entspannte ich mich allmählich. Oben, umgeben von Düsternis und Tod, hatte ich mich wie ein in der Falle gefangenes Tier gefühlt. Hier unten wurde ich ruhig.

Colin blieb vor mir stehen, während ich mich in einen Sessel am Kamin setzte. »Leyla, die Menschen in diesem Haus sind seit Jahrzehnten unglücklich und werden es wohl immer sein, auch im nächsten Jahrhundert, wenn es unsere Familie dann noch gibt. Du hast mich einmal gefragt, Leyla, warum Theo, Martha und ich nicht verheiratet sind. Du sagtest, daß Martha mit ihren zweiunddreißig Jahren hier die jüngste ist. Dir ist natürlich auch aufgefallen, auch wenn du niemals etwas darüber gesagt hast, daß es hier im Haus keine Kinder gibt. Seit Thomas’ Tod und seit deine Mutter mit dir fortgegangen ist, gibt es auf Pemberton Hurst keine Kinder mehr.«

»Wegen des Fluchs«, sagte ich mit Bitterkeit.

»Richtig. Wir können nicht zulassen, daß dieses Erbe immer weitergegeben wird. Es muß damit ein Ende haben. Wenn unsere Vorfahren schon vor langer Zeit diese Einsicht gehabt hätten, dann säßen wir heute nicht hier; dann wären wir heute nicht mit dem gleichen Schicksal konfrontiert, dem Onkel Henry preisgegeben ist. Nein, warte, Leyla«, sagte er rasch, als ich etwas einwerfen wollte. »Laß mich aussprechen. Ich weiß, daß du nicht an diese Erbanlage glaubst, aber das wird sich ändern. Ich habe gesehen, was mit deinem Vater geschah, wie es unserem Großvater erging, und ich sehe, was jetzt mit Onkel Henry geschieht. Theo und Martha, du und ich, wir werden alle zu gegebener Zeit den gleichen Weg gehen. Der Bruder unseres Großvaters war noch ein junger Mann, als er der Krankheit erlag. In den Dreißigern erst.«

»Nein, Colin, ich glaube das einfach nicht.«

»Aber die anderen Pembertons glauben es, und darum haben wir vor langer Zeit beschlossen, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Darum haben wir beschlossen, die Familie aussterben zu lassen.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Darum hat also keiner von euch geheiratet?« Er nickte.

»Aber, das ist doch verrückt. Es ist völlig unnatürlich und verstößt gegen den Willen Gottes, nicht zu heiraten und keine Kinder in die Welt zu setzen. Ihr habt kein Recht, euch eine solche Entscheidung anzumaßen.«

»Meinst du? Glaubst du denn, es ist Gottes Wille, daß Kinder geboren werden, die sich eines Tages in Ungeheuer verwandeln wie wir, ihre Eltern? Haben wir das Recht, solche Kinder in die Welt zu setzen? Kannst du, Leyla, ruhigen Herzens ein Kind zur Welt bringen, bei dem du von vornherein weißt, daß es dazu verdammt ist, genauso zu enden, wie dein Vater endete?«

»Den Fluch gibt es nicht!«

»Ich habe nicht erwartet, daß du mir jetzt zustimmen würdest. Aber du wirst deine Meinung noch ändern.«

Ich starrte schweigend ins Feuer, voller Groll plötzlich gegen Colin. Seine Worte hatten mich stark aufgewühlt. Ich wußte nicht, was ich denken sollte.

»Deshalb«, sagte ich schließlich, »war Onkel Henry gegen meine Heirat mit Edward.«

»Ja. Und mit Recht.«

»Nein! Ich heirate, wen und wann ich mag. Colin!« Ich sah ihn mit zorniger Herausforderung an. »Findest du das alles denn richtig?« Er erwiderte meinen Blick und meine Worte mit einem Ausdruck von solcher Traurigkeit, daß ich mich abwenden mußte. »Es muß eine Lösung geben«, erklärte ich grimmig entschlossen. »Und ich werde sie finden. Colin… Colin, du bist genauso kleinmütig wie die anderen, das hätte ich nicht von dir erwartet. Aber ich lasse mir den Mut nicht nehmen. Ich werde kämpfen und beweisen, daß ihr alle unrecht habt. Und ich werde mit Edward zusammen Kinder bekommen, die kräftig und gesund sind und ein ganz normales Leben führen werden.«

Ich hatte geglaubt, er würde mir darauf mit Vorhaltungen antworten und versuchen, mich zu entmutigen, aber er sagte gar nichts, sondern sah mich nur still an.

»Ich werde die Lösung finden«, flüsterte ich etwas weniger kämpferisch. »Gott helfe dir bei der Suche.«