Sechstes Kapitel
Hanter wirkte alles andere als begeistert, aber Carola Stein bestand trotzdem darauf, dass er sich die Liste der Grundstückseigentümer genauer ansah, nachdem sie ihm mit wenigen Sätzen erläutert hatte, worum es ging. Mit dem Zeigefinger fuhr er die sechs Namen entlang und stutzte plötzlich.
„Der kommt mir irgendwie bekannt vor“, meinte er nachdenklich.
Carola Stein blickte auf den Namen. Hugo Brandner. Ihm gehörte eine alte Fabrikhalle in der Nähe der Landsberger Allee. Sie las laut: „Unternehmer, verdient sein Geld mit dem Verleih von Luxuslimousinen und…“
„Richtig!“ Dirk schlug sich vor die Stirn. „Den hab ich kürzlich überprüft.“
„Und?“
„Alles bestens.“
„Und warum hast du ihn dann überprüft?“, fragte Carola erstaunt.
„Na ja…“ Er strich sich das Haar zurück. „Routine. Eine Bekannte hat nachgefragt, ob was gegen ihn vorliegt.“
„Eine Bekannte?“
„Ja.“ Dirk winkte ab und zögerte fortzufahren. „Es ging um nichts Besonderes“, meinte er dann.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Kollege, ich übernehme gerade deinen Job – ich muss genau wissen, was hier wie gespielt wird.“
Dirk seufzte. „Ja, schon gut. Eine Freundin von mir ist Privatdetektivin…“
Carola verdrehte die Augen. Ach, daher wehte der Wind.
„Tessy Ritter“, fuhr er fort. „Brandner hat sie wegen eines Auftrags kontaktiert, und ich hab schnell mal in den Computer geguckt, um sicher zu gehen, dass sie...“
„Verstehe. Und was war das für ein Auftrag?“
„Keine Ahnung“, gab Dirk zurück. „Vielleicht nur eine unverbindliche Anfrage. Soll ich sie anrufen und …“
„Nein, danke“, wehrte Carola schnell ab. „Ich kümmere mich zu gegebener Zeit selbst darum.“
Das fehlte ihr gerade noch, dass ausgerechnet eine private Schnüfflerin sich in ihren ersten Fall als Hauptkommissarin in Steglitz einmischte. Abgesehen davon hatte das eine garantiert nichts mit dem anderen zu tun.
Brandner war nur ein Name auf der Liste und unter Umständen völlig unwichtig. Stein hielt es für sehr wahrscheinlich, dass Lilly von wem auch immer in eines der alten und sicherlich nur notdürftig gesicherten Gebäude verschleppt worden war, wo man sie missbraucht und getötet hatte. Die anonyme Anruferin war höchstwahrscheinlich eine zufällige Zeugin gewesen, die ihr Gewissen beruhigen wollte, aber keine Lust auf Stress hatte. Um den Vorgang zu beschleunigen, musste sie Kontakt mit allen Eigentümern aufnehmen und um Überprüfung der Örtlichkeiten bitten.
Sie griff zum Telefon, nachdem Hanter das Zimmer verlassen hatte und vereinbarte die ersten drei Termine. Hugo Brandner gehörte nicht dazu.
Es war spät, als sie nach Hause kam. Die ersten Nachforschungen hatten nichts ergeben. Carola hatte sich von unterwegs eine Pizza mitgebracht, die sie mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher zu genießen dachte. Sie war erst vor einigen Wochen in ein Mehrfamilienhaus in die Jägerstraße gezogen – quasi einen Katzensprung von ihrem neuen Job entfernt – und hatte ihren Entschluss noch nicht eine Sekunde bereut. Sie liebte den Berliner Altbau, auch wenn die hohen Räume nicht immer optimal zu heizen waren, die großzügig gestalteten Zimmer, knarrenden Dielen und stuckverzierten Decken.
Dass jemand direkt vor ihrer Wohnungstür saß, erkannte sie erst, als sie den Schlüssel hervorkramte und den letzten Treppenabsatz in Angriff nahm. Es war Meike. Carola stutzte, atmete scharf ein und entschloss sich dann, die Situation zugleich forsch und gelassen in Angriff zu nehmen. Hatte sie wirklich geglaubt, Meike würde sich so mir nichts, dir nichts abservieren lassen? Nur weil sie, Carola, die Nase voll hatte? Nicht wirklich.
Meike war knapp dreißig, rotblond, vollbusig, streitlustig und temperamentvoll. In den drei Monaten, in denen sie ein Paar gewesen waren, hatte Carola kaum eine Nacht genug Schlaf bekommen, und es war keine Woche ohne Grundsatzdiskussion und zermürbenden Streit vergangen. Meike war nichts fürs Leben, für den Alltag, noch dazu bei Carolas Job. Meike verdiente ihre Brötchen als Eventmanagerin und ließ sich nur auf den Stress ein, auf den sie Lust hatte, während Carola bei ihrer Ermittlungsarbeit kaum eine Wahl blieb. Rücksicht war ein Fremdwort für Meike, Nachgiebigkeit und Toleranz konnte sie kaum buchstabieren.
„Was willst du hier?“, fragte Carola, während sie die letzten Stufen nahm und die Tür aufschloss. Meike erhob sich lächelnd und sah sie an, als seien sie verabredet.
„Mit dir reden.“
„Es gibt nichts mehr zu bereden.“
„Sagst du.“
„Genau – und das genügt.“
„Finde ich nicht.“ Meike grinste. „Nun sei doch nicht so unfreundlich. Lass uns ein Glas Wein trinken und …“ Sie schielte in Richtung der Pizzaschachtel. „Und gemeinsam deine Tunfisch-Paprika-Käse-Pizza vertilgen. Danach sieht die Welt ganz anders aus.“
Carola schob die Tür einen Spalt auf und atmete tief durch. „Hör zu, Meike, ich hatte einen anstrengenden Tag, und das Letzte, worauf ich jetzt Lust habe, ist eine elende Diskussion mit dir…“
Meike hob die Hände. „Versprochen: keine Diskussion, schon gar keine elende. Nur ein Stündchen zusammensitzen. Das sollten wir hinkriegen, oder?“
Carola verdrehte die Augen. Das war eine Lüge, so oder so. Meike würde eine halbe Flasche Wein trinken, mindestens zwei Drittel der Pizza wie selbstverständlich für sich beanspruchen und dann mit laszivem Lächeln ihre Jeans öffnen … Carola spürte ein sanftes Ziehen im Bauch. Bei allem, was sie gegen Meike vorzubringen hatte – im Bett war sie unschlagbar: laut, leidenschaftlich, einfallsreich.
Sie zögerte zwei Sekunden und schob dann ihre Bedenken beiseite. Allein essen macht dick und Sex bedeutet Entspannung pur, stellte sie pragmatisch fest. Sie würde nie wieder eine Beziehung mit Meike eingehen, aber gegen eine kurze knackige Bettsession nach einem langen Tag war eigentlich nichts einzuwenden.
Eine gute halbe Stunde später saß sie zwischen Meikes weit auseinander gespreizten Beinen und vögelte sie heftig mit drei Fingern. Meike gebärdete sich, als hätte sie seit Monaten keinen Sex mehr gehabt.
„Mehr!“, verlangte sie stöhnend, während Carola sie nicht aus den Augen ließ. Als Meike schreiend gekommen war, kniete Carola sich mit geöffneten Beinen rittlings über ihr Gesicht. Meike ließ sich nicht lange bitten – ihre Zunge suchte und fand ihr Ziel, umspielte Carolas Knospe, schlüpfte in die feuchte und vibrierende Tiefe ihrer Möse. Carola begann sich zu bewegen, schob ihre Hüften vor und zurück, während Meikes Hände ihren Hintern umfassten und den Rhythmus unterstützten.
Kurz bevor Carola kam, streckte sie sich aus und beugte sich über Meikes Schoß, drang mit der Zunge ein und spürte laut keuchend, wie ihr Begehren mit Meikes verschmolz – zu einer gemeinsamen Gier und einem gemeinsamen Höhepunkt.
* * *
Tessy hatte eine ganze Stunde in der Badewanne verbracht, nachdem sie mit Bus und U-Bahn durch die Stadt gekurvt und schließlich noch Auto und Fahrrad am Friedhof abgeholt hatte. Als sie in einen kuscheligen Bademantel gehüllt ins Wohnzimmer trat, bollerte der Ofen und verströmte wohlige Wärme. Das Leben kann richtig schön sein, dachte Tessy – wenn man nicht gerade eins übergezogen bekommt oder in die Hände eines Gewalttäters gerät oder sich in einem Abrisshaus im Wedding verstecken muss, weil man sich mit einer üblen Erpressergeschichte verkalkuliert hat, unter anderem.
Sie setzte sich mit ihrem lauwarmen Döner aufs Sofa und vertilgte ihn dennoch hungrig und mit gutem Appetit. Bei einem Seitenblick aufs Handy entdeckte sie einen Anruf von Hanter. Er hatte ihr auf die Mobilbox gesprochen.
„Na, alles okay bei dir?“, vernahm sie seine Stimme, und sie hörte, dass er im Auto saß. „Was macht eigentlich dein Auftrag mit dem Luxuswagen-Typ? Irgendwas Besonderes? Bin heute Abend unterwegs. Kannst dich ja morgen mal melden – versuch es ruhig häufiger. Ich bin am Packen, erledigen, die letzten Besprechungen und so weiter. Ciao.“
Womit wir wieder beim Thema wären, dachte Tessy und lehnte sich zurück. Ich darf Dirk nichts sagen, grübelte sie seufzend. Er müsste sofort handeln beziehungsweise seine Nachfolgerin einschalten – die Detektivhasserin mit dem dunklen und aufregend strengen Blick. Und dann ist Oliver am Arsch – jedenfalls über kurz oder lang. Und wenn diese ganze Scheißgeschichte irgendwann von alleine ins Rollen kommt und klar wird, dass ich die Behörden nicht eingeschaltet habe, bin ich meine Zulassung los … Und zwar mit Recht. Hier ging es schließlich um Mord. War es nicht ihre verdammte Pflicht, sofort und ohne weitere Überlegungen die Polizei einzuschalten? Brandner würde sich auch ihren Namen gut merken …
Sie schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Einzelne Szenen des Videos geisterten durch ihren Kopf. Ihr Herz klopfte unregelmäßig und schnell. Was war mit der zweiten Frau? War sie auch schon tot? Oder hatte sie sich irgendwo verkrochen?
Tessy stand auf und zog sich an. An Schlaf war nicht zu denken, so lange sie auf dem Problem herumkaute. Wie konnte sie etwas bewirken, ohne dass Brandner sie und Oliver damit in Verbindung brachte? Sie ging in die Küche und kochte eine ganze Kanne Kaffee. Im Vorratsschrank befand sich noch ein halber Streuselkuchen, gefüllt mit Sahnepudding. Tessys Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und ihr die Kalorien ihrer üppigen Nachtmahlzeit mit vor Entsetzen geschwängerter Stimme vorrechnen. Tessy lächelte. Ein Grund mehr, es sich wenigstens beim Essen gut gehen zu lassen.
Beim zweiten Stück Kuchen fuhr sie ihren Rechner hoch und surfte eine Weile gelangweilt durchs Netz. Die Idee sprang sie an, als sie auf der Seite ihres ehemaligen Arbeitgebers landete und sich die Mitarbeiter der einzelnen Ressorts des Tagesanzeigers genauer ansah. Der zuständige Nachtredakteur war immer noch Jannick Deuter. Ein freundlicher, bequemer und durch kaum etwas aus der Ruhe zu bringender Kollege im Innendienst. Einer, der den Mund halten konnte und sich durchaus was traute, wenn es nicht allzu viel Aufwand kostete und er keine Verantwortung übernehmen musste.
Tessy schenkte sich frischen Kaffee ein und griff zum Telefon.
„Jannick, altes Haus, was läuft so bei dir?“, fragte sie in munterem Plauderton – so, als hätten sie erst kürzlich zusammengesessen –, als der Redakteur sich gemeldet hatte.
„Ich bin es, Tessy“, schob sie hinterher, nachdem es einen auffallend langen Moment still geblieben war.
„Tessy? Tessy Ritter?“ Verblüffung quoll durch die Leitung.
„Na, welche Tessy kennst du denn sonst noch?“
Er lachte kurz auf. „Meine Güte – lange nichts von dir gehört, also von dir persönlich. Stimmt es, dass du inzwischen als private Ermittlerin unterwegs bist?“
„Das stimmt. Aufregender Job.“
Jannick seufzte. „Eben. Nichts für mich. Ich brauch’s ruhig und gemütlich, wenn du dich erinnerst.“
„Tu ich. Tu ich sogar gerne.“
Erneutes Schweigen. „Tessy, du rufst mich doch nicht mitten in der Nacht an, um unsere Bekanntschaft aus alten Zeiten beim Anzeiger hochleben zu lassen, oder?“, hob Jannick schließlich an.
„Nö, aber ich erinnere mich gerne an dich.“
„Danke für die Blumen. Und nun sag schon: Was willst du?“
Tessy lachte. „Du musst mir einen Gefallen tun und auch noch die Klappe halten.“
„Muss ich?“ Das klang brummig.
„Der Aufwand ist denkbar gering.“
„Schon besser“, kommentierte Jannick freundlicher. „Erzähl – worum geht es?“
„Ich muss einen Informanten schützen“, erklärte Tessy ein wenig großspurig, aber sie schätzte, dass sie den Zeitungsmann mit dieser Erklärung motivieren konnte, seine Bedenken über Bord zu werfen und ihr zu helfen. Zumindest war die Chance größer, denn Informantenschutz galt in Journalistenkreisen nach wie vor als hohes Gut.
„Hm“, gab Jannick von sich. „Und weiter?“
„Er hat handfeste Hinweise für ein Kapitalverbrechen.“
„Dann sollte er sich an die Behörden wenden“, meinte Jannick in lapidarem Tonfall.
„Danke für den Tipp, aber die Idee findet er nicht ganz so toll“, entgegnete Tessy ungerührt. „Sein Leben dürfte keinen einzigen Pfifferling mehr wert sein, wenn sein Mitwirken herauskommt. Und das gilt auch für den Fall, dass die Typen, um die es hier geht, überführt werden können und hinter Gitter wandern.“
„Wow, die ganz schweren Jungs also – die mit den weitreichenden Verbindungen.“ Jannicks Stimme klang nun unmissverständlich gelangweilt und ironisch.
„Ich meine es ernst.“
„Wie ernst? Kannst du ein bisschen deutlicher werden?“
„Die Tote aus dem Papenfuhlbecken. Die Meldung war gestern in der Zeitung.“
Jannick schwieg. Ob er beeindruckt war, würde sich zeigen.
„Mein Informant weiß, was passiert ist.“
Tessy hörte, dass der Redakteur scharf einatmete. „Wie sicher ist das?“
„Ganz sicher. Ich habe die Beweise selbst gesehen.“
„Ach? Und nun?“
„Wir können sie nicht verwenden, solange es eine Spur zu ihm gibt.“
„Und warum gibt es eine Spur zu ihm?“, hakte Jannick nach.
„Das ist eine andere Geschichte, die an dieser Stelle zu weit führt und nicht wichtig ist“, wich Tessy aus und hoffte, dass er sich mit dieser Antwort zufrieden geben würde.
„Na schön, und was hast du vor?“
„Er muss aus der Schusslinie“, erklärte sie eifrig, als sie spürte, dass sie Jannicks Interesse geweckt hatte. „Und zwar ziemlich schnell. Dann können wir die Beweismittel der Polizei übergeben, und ich sag dir: Es sind hässliche Beweismittel.“
„Das habe ich jetzt verstanden. Was ist mein Job bei der ganzen Sache?“
„Du bringst eine Zeitungsmeldung vom Tod meines Informanten nach einer Schlägerei im Milieu unter. Damit ist er auf der sicheren Seite, wenn ich das mal so formulieren darf.“
Stille.
„Es reicht ein kleiner Artikel – von wegen Streit über Spielschulden und so weiter. Dazu eine Personenbeschreibung. Nichts Großartiges – so, dass du den Text ohne Prüfung an der Chefredaktion vorbei kriegst und im Blatt platzieren kannst.“
Schweigen.
„Jannick!“
„Meine Güte, Tessy, das ist dein Ernst, nicht wahr?“
„Natürlich.“
„Aber…“
„Ich sehe keine andere Möglichkeit, sonst würde ich dich nicht bitten“, fiel sie ihm energisch ins Wort. „Der Typ hat Material, bei dem sich dir der Magen umdreht und mir auch. Was meinst du, warum ich heute Nacht kein Auge zukriege? Außerdem tickt der Junge bald ab vor Angst.“
Schweigen.
„Jannick? Sag was, bitte!“
„Wann?“
„Am besten sofort. Ich schicke dir gleich ein paar Stichpunkte…“
„Nö, nö – du schreibst den Artikel mal schön selbst. Das wirst du ja wohl nicht verlernt haben, oder? Ich kümmere mich darum, dass er ungeprüft durchgeht. Und wenn alles gelaufen ist, hab ich ein Bier bei dir gut. Oder auch zwei.“
Tessy lächelte. „Okay. Danke.“
Eine halbe Stunde später mailte sie Jannick einen Fantasietext über eine tätliche Auseinandersetzung in der Nähe des Bahnhofs Zoo, in deren Folge ein noch nicht identifizierter, großer sportlicher Mann, ungefähr vierzig Jahre alt, dunkelblond, schwarzer Mantel, ausgeraubt und später ums Leben gekommen war. Die Polizei vermutete aufgrund von Zeugenaussagen, dass es bei dem Streit um Spielschulden gegangen war, und bat um sachdienliche Hinweise. Und so weiter und so fort. Wenn alles gut ging, erschien der Artikel übermorgen.
Als nächstes musste sie nur noch Oliver davon überzeugen, dass er für Brandner nun ein toter Mann war und darum nahezu risikolos seine Videodateien der Polizei übergeben konnte. Aber das hatte noch ein paar Stunden Zeit.
Es war vier Uhr früh, als Tessy schließlich schlafen ging – erschöpft, aber zufrieden mit sich. Oder besser gesagt: Sie hatte eine Strategie, und es war ihr gelungen, ihr Gewissen zu beruhigen.