Fünftes Kapitel
Lautes Summen und Stechen war das Erste, was sie fühlte. Als steckte ihr Kopf in einem Bienenstock. Dezente Übelkeit das Zweite. Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Sie konnte ihre Hände nicht bewegen. Warum waren sie gefesselt? Mit dem Öffnen der Augen kehrte die Erinnerung zurück. Der alte pfeifende Mann auf dem Friedhof, der gar kein alter Mann gewesen war und sie ausgetrickst hatte wie eine Anfängerin. Wann würde sie je lernen, im richtigen Moment den Rückzug anzutreten? Timing. Es fehlt mir am Timing, dachte sie, aber das sollte ich später diskutieren, mit wem auch immer. Wenn es noch ein Später gab.
Tessy versuchte, den dröhnenden Kopfschmerz und das dumpfe Angstgefühl zu ignorieren, während sie vorsichtig den Blick schweifen ließ. Sie saß mit dem Rücken an einen Holzstapel gelehnt auf einer zerschlissenen Decke. Es war zugig, kalt und düster – ein verwaister Dachboden, auf dem neben tausenderlei anderem, längst vergessenem Kram alte Schränke, Regale und Kommoden verstaut waren. Ein Nest für Ratten, dachte Tessy. Zwei- und vierbeinige.
„Wer bist du?“
Tessy schrak zusammen. Erst jetzt nahm sie die Gestalt wahr, die zwischen zwei Schränken regungslos im Halbdunkel auf einem alten Küchenstuhl saß und sie anstarrte. Der Erpresser. Der alte Mann. Der Biker, Bus- und U-Bahnfahrer. Endstation Turmstraße. Da war noch alles in Ordnung gewesen. Sie schluckte. „Das könnte ich dich auch fragen, oder? Warum…“
Der Mann sprang auf und war mit drei großen Schritten bei ihr. Tessy zuckte zusammen, als er sich zu ihr herunterbeugte, sie am Kragen ihrer Jacke packte und mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte, bis ihre Ohren klingelten. „Erzähl mir bloß keinen Scheiß, hörst du? Ich bin nicht bescheuert, und ich hab kein Problem damit, dir noch eins überzubraten!“
Tessy stöhnte, und ihr Herz flatterte. Sie war kurz davor, in Panik auszubrechen. „Schon gut, hör auf – sonst platzt mir der Schädel, und ich kann dir gar nichts mehr erzählen“, gab sie dennoch schnoddrig zurück.
Verblüffenderweise ließ er sie sofort los und musterte sie einen Augenblick angestrengt. Dann drehte er sich um, zog seinen Stuhl heran und platzierte ihn direkt vor Tessy. Er setzte sich und nestelte ein Handy aus seiner Manteltasche. Es gehörte Tessy, wie sie sofort erkannte.
„Was hast du mit Brandner zu schaffen? Und bitte – erspar mir dumme Sprüche und Märchen.“ Er hielt ihr das Display vors Gesicht, auf dem die SMS an ihren Auftraggeber aufleuchtete.
Es ist nicht sinnvoll, in einer ausweglosen und gefährlichen Situation zu lügen und sich selbst unnötig in Gefahr zu bringen, überlegte Tessy. Er hat eine passable Rechte und ist ziemlich sauer, aber wie ein kaltblütiger Killer sieht er nicht aus. Vielleicht habe ich eine Chance.
„Also?“
„Ich bin Privatdetektivin“, erklärte Tessy schließlich unumwunden. „Ich sollte nach der Geldübergabe an dir dranbleiben.“
Er betrachtete sie abwartend und nickte dann langsam. Durch eine Dachluke fiel ein Sonnenstrahl und erhellte für einen Moment sein Gesicht. Es war schmal und bleich. Kummervoll. Er hatte braune Augen und fast mädchenhaft lange Wimpern.
„Aber eine Adresse hast du nicht durchgegeben“, meinte er in feststellendem Ton und klang zufrieden. „Zumindest nicht per Handy. Die SMS jedenfalls erlaubt keine großartigen Schlussfolgerungen.“
Glücklicherweise, dachte Tessy. Vielleicht wäre er sonst wesentlich unfreundlicher… Oder hätte längst das Weite gesucht. Was hielt ihn eigentlich davon ab? Neugier?
„Machst du häufiger solche Jobs?“
„Ich bin Privatdetektivin“, wiederholte Tessy erstaunt. „Natürlich mache ich auch solche Jobs.“
„Was zahlt er dir?“
„Ein paar tausend.“
Er trat ihr gegen die Füße – das war keine freundliche Geste, aber der Schmerz hielt sich trotz ihrer nach wie vor deutlich spürbaren Kopfschmerzen in Grenzen. Ein mieser Erpresser, der sein Geschäft in Gefahr sah und keinen Bock auf ausweichende Antworten hatte, hätte wahrscheinlich keine Skrupel, deutlich härter zuzuschlagen, mutmaßte Tessy und hoffte, dass bei ihrer Überlegung nicht der Wunsch der Vater des Gedanken war.
„Ja, schon gut“, wiegelte sie eilig ab. „Er will mir zehntausend zahlen.“
Er pfiff leise. „Nette Summe für eine kleine Verfolgungsjagd quer durch die Stadt, oder?“
„Ja, ohne Zweifel.“
„Kommt dir das nicht merkwürdig vor?“
Seine Frage schien Tessy viel merkwürdiger. Sie starrte ihn verdutzt an. „Er spart ’ne Menge Geld, wenn er nicht mehr an dich zahlen muss – das ist ihm ein ordentliches Sümmchen wert. Was ist daran merkwürdig, zumal der Mann ganz offensichtlich keine finanziellen Probleme hat?“
Er zog die Augenbrauen zusammen. „Sag mal, weißt du eigentlich, worum es hier geht?“
„Selbstverständlich! Ich übernehme doch keinen Job, wenn ich keinen blassen Schimmer über die Hintergründe habe.“
„Bist du sicher?“
Tessy beugte den Oberkörper langsam vor. „Meine Güte, du erpresst ihn, und zwar schon zum zweiten Mal. Darauf hat er keinen Bock mehr! Er will das Material und hat wahrscheinlich nicht übel Lust, dir einen Denkzettel zu verpassen, um es mal vornehm auszudrücken. Darum geht es hier.“
Der Braunäugige stützte das Kinn in die Hand und sah sie unschlüssig an.
„Was ist los? Streitest du das etwa ab?“, hakte Tessy nach. „Meine Güte, ich habe das Video und die Fotos gesehen…“
Der Mann richtete sich auf. „Er hat es dir gezeigt?“
„Sag ich doch!“
„Und du machst bei einer solchen Sache mit?“
„Wie darf ich das denn verstehen?“ Tessy hielt sich im letzten Moment zurück und schüttelte nicht den Kopf. Es ging ihr zwar deutlich besser, aber das Dröhnen war nach wie vor unüberhörbar. „Willst du etwa den Moralapostel spielen?“
„Was?“
„Brandner und seine Freunde vergnügen sich mit ein paar Nutten und feiern hin und wieder eine kleine, amüsante Orgie in einer abgelegenen Fabrikhalle. Vielleicht nicht gerade das, was in bürgerlichen Kreisen als angemessene Freizeitgestaltung gilt, aber was soll’s?“, begehrte Tessy auf. „Ich finde daran nichts Anstößiges, auch wenn die Männer verheiratet sind. Außerdem…“
Der Schmalgesichtige sprang so plötzlich auf, dass Tessy zusammenzuckte und abrupt verstummte. Er starrte grübelnd auf sie herunter. Dann wischte er sich über den Mund. „Es gab keine kleine, amüsante Sexorgie“, sagte er leise. „Alles, nur das nicht.“
Tessy schluckte. „Wie meinst du das? Ich hab doch…“
„Was immer er dir gezeigt hat“, unterbrach er sie barsch. „Es hat nichts mit dem zu tun, worum es hier geht, oder sagen wir: höchstens am Rande. Weißt du was? – Ich zeig dir den richtigen Streifen, aber zuerst musst du Brandner anrufen und ihm erklären, dass ich dir entwischt bin.“
Tessy zögerte einen Moment, dann nickte sie langsam. Irgendwas stimmte hier nicht, und sie wüsste ganz gerne, was. Und genauer betrachtet war er ihr ja auch entkommen.
„Keine Tricks. Und überleg dir gut, was du ihm sagst. Er wird es nachprüfen, darauf kannst du Gift nehmen. Es ist besser für dich, wenn er dich nicht beim Lügen erwischt.“
Tessy überlegte nur kurz, dann atmete sie tief durch. Er wählte Brandners Nummer und hielt ihr das Handy ans Ohr.
Es klingelte zweimal. „Er ist mir verdammt peinlich, aber er ist mir im Gewühl am Bahnhof Zoo entwischt“, sagte sie leise, kaum dass ihr Auftraggeber sich gemeldet hatte.
Sie hörte, dass Brandner scharf einatmete. „Scheiße“, zischte er. „Das habe ich befürchtet. Können Sie ihn wenigstens näher beschreiben?“
„Ja, kann ich: großer sportlicher Typ, ungefähr vierzig, dunkelblond, schwarzer Mantel. Er ist kräftig und flink.“
Schweigen am anderen Ende. „Tut mir leid“, fügte Tessy hinzu. „So was passiert mir selten. Ich bin eigentlich ganz fix und lasse mich nicht so schnell…“
„Schon gut. Schicken Sie mir Ihre Rechnung. Und vergessen Sie bitte nicht: kein Wort zu niemandem über diesen Auftrag, verstanden?“
„Das habe ich verstanden.“
Eine Sekunde später war die Verbindung unterbrochen.
Der Braunäugige legte das Handy beiseite. Für den Bruchteil einer Schrecksekunde schoss Tessy der böse Verdacht durch den Kopf, sie könnte einen riesengroßen Fehler gemacht haben – zum zweiten Mal an diesem Tag – und auf eine ganz fiese Tour hereingefallen sein. Sie hielt kurz die Luft an. Doch plötzlich huschte ein leises Lächeln über sein Gesicht. „Ich heiße übrigens Oliver.“
Tessy atmete erleichtert aus. „Wie wäre es, wenn du mir die Fesseln abnehmen würdest, Oliver? Eine Kopfschmerztablette wäre auch keine schlechte Idee. Und dann will ich wissen, was hier eigentlich los ist. Immerhin sind mir gerade zehntausend Euro durch die Lappen gegangen.“
Am anderen Ende des Dachbodens führte eine schmale Eisentür, die geschickt hinter einem Berg Müll und Gerümpel verborgen war, in einen dunklen Flur, der auf der einen Seite einen Treppenabgang erahnen ließ und auf der anderen an eine weitere Tür grenzte. Oliver schloss sie auf und bat Tessy mit einer einladenden Handbewegung herein.
„Hier wohnst du?“ Tessy sah sich staunend um. Keine Frage, im Gegensatz zum Dachboden und dem angeranzten Gesamtambiente des Hauses wirkte die kleine Mansardenwohnung nahezu gemütlich, aber es war kalt, und die Einrichtung war wild zusammengestellt – ein Sammelsurium billiger Möbel und Gebrauchsgegenstände.
„Ja, hier wohne ich.“ Er bereitete die Arme aus und nahm einen mobilen Gas-Heizkörper in Betrieb, der nach Tessys Schätzung vor ungefähr dreißig Jahren modern gewesen sein dürfte.
„Natürlich illegal“, fuhr er fort. „Offiziell wohnt hier niemand mehr, und in Kürze soll der Komplex abgerissen werden. Dann entstehen hier Büros und so’n Scheiß. Aber das erzählen sie schon seit einem Jahr…“ Er winkte ab. „Strom habe ich mir durch den Keller vom Nachbarhaus herübergelegt. Mal sehen, wann die das spitz kriegen…“
Ein jungenhaftes Grinsen flog über sein Gesicht und machte es für einen Moment zehn Jahre jünger und sehr sympathisch. „Aber die Kälte ist natürlich ein Problem. Der letzte Winter war kein Zuckerschlecken, kann ich dir sagen. Setz dich doch.“
Er wies auf eine Couch an der Rückwand der Küche. „Ich koche uns einen Tee.“
Tessy rieb sich die Hände. Allmählich wurde es wärmer. Verstohlen rieb sie sich über Kinn und Wange – der Schlag hatte wirklich gut gesessen –, während der Wasserkessel, Jahrgang und Modell Edgar, zu summen begann.
„Warum wohnst du eigentlich so bescheiden?“, fragte sie, als Oliver sich zu ihr gesetzt und den duftenden Tee eingegossen hatte. Zitrone-Ingwer, wenn sie nicht alles täuschte.
Er rührte vier Löffel Zucker in seine Tasse und überlegte einen Moment. „Ich kann nicht mit Geld umgehen“, meinte er schließlich bemerkenswert ehrlich und schüttelte den Kopf. Eine Locke fiel ihm in die Stirn, die er unwirsch beiseite schob.
„Oh“, machte Tessy. Sie begnügte sich mit drei Zuckerstücken und etwas Sahne. „Aber hunderttausend müssten doch ausreichen, um sich eine andere Bude leisten zu können und seine Stromrechnung ganz legal zu bezahlen.“
Oliver hielt inne und lachte dann kurz und trocken auf. „Hat er das erzählt? Dass ich hunderttausend gekriegt habe?“
„Ja.“
„Ich wollte fünfzig. Er hat zwanzig gezahlt – beim ersten Mal und heute auch. Glaub es oder lass es bleiben. Damit kann ich kaum meine Schulden bezahlen.“
Tessy lehnte sich zurück und musterte ihn skeptisch. Aber ihr Bauch sagte ihr, dass er keinen Mist erzählte. Welchen Sinn sollte das auch haben?
„Ich hab’ einen Haufen Spielschulden“, fuhr er fort, nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte. „Ich bin Spieler – ich mache den gleichen Fehler immer und immer wieder.“ Er ließ den Blick durch die ärmliche Küche schweifen. „Darum lebe ich so. Und darum habe ich Lilly um Hilfe gebeten. Mal wieder.“
„Wer ist Lilly?“
„Meine Schwester.“ Seine Hände umschlossen die Teetasse, und seine Stimme war plötzlich schwer und dunkel. „Sie hat sich mit Brandner und seinen Kumpeln eingelassen – sie und eine andere Frau. Die Kerle haben den beiden eine Menge Geld geboten, und Lilly ist darauf eingegangen, um mir zu helfen. Ein Gläubiger, der überhaupt keinen Spaß versteht, saß mir verdammt unangenehm im Nacken.“ Er rieb sich über die Nase.
„Was ist passiert?“, fragte Tessy.
Statt einer Antwort stand Oliver auf und ging ins Nebenzimmer. Als er zurückkam, hatte einen Laptop dabei – nicht gerade das allerneueste Modell, doch im Vergleich zu seiner Einrichtung wirkte der Computer nahezu surrealistisch modern. „Aber ich sage dir, das ist nichts für schwache Nerven“, erläuterte er, während er ihn hochfuhr.
Oliver sollte recht behalten. Die Videoaufnahmen hatten in der Tat so gut wie nichts mit dem Filmchen zu tun, das Brandner ihr gezeigt hatte. Olivers Aufnahmen waren zum Teil verwackelt und unscharf, aber es war deutlich zu erkennen, dass vier Typen sich über zwei Frauen hermachten, wobei Lilly und ihre Freier – Brandner und ein zweiter Mann – im Fokus standen, während die andere Frau lediglich ab und an ins Bild rückte. Tessy hielt die Luft an, während sie das Geschehen mit zunehmend größerem Entsetzen verfolgte.
Sie war kein Kind von Traurigkeit und hatte hin und wieder auch nichts gegen eine Portion Ruppigkeit beim Sex einzuwenden – Gertrud versohlte ihr manchmal den Hintern auf zauberhafte Weise oder spielte die autoritäre Geliebte, wobei es handfest zur Sache ging –, aber die Videoszenen hatten nichts mehr mit einvernehmlichen Spielchen oder dezenten SM-Praktiken zu tun.
Abgesehen von den ersten Minuten lebten die Männer schlicht und ergreifend ihre Gewalt- und Hassfantasien aus. Sie schlugen, fesselten, würgten und vergewaltigten die beiden Frauen auf übelste Art, und ihre Schreie waren voller Angst und Schmerz.
Tessy war elend. Sie wandte den Blick ab und sah Oliver an. „Mein Gott, warum bist du nicht dazwischen gegangen oder hast die Polizei gerufen?“, fuhr sie ihn entgeistert an.
„Als ich mitbekam, was da abging, war es zu spät“, flüsterte er und betätigte die Stopptaste.
„Was? Wie darf ich mir das denn vorstellen? Du hast die Aktion doch gefilmt – eingepennt wirst du wohl nicht sein!“, entgegnete Tessy empört.
„Ich hab die Kamera an einem versteckten Platz aufgestellt, mich dann verkrochen und mir Musik auf die Ohren gemacht.“
„Das ist doch nicht dein Ernst!“ Tessy starrte ihn fassungslos an. Der junge Mann war dabei, seine gerade gewonnenen Sympathien zu verspielen.
Er hob die Hände. „Scheiße – ja! Meinst du, ich sehe meiner Schwester beim Ficken zu? Noch dazu mit einem oder sogar mehreren Freiern? Mann, kapier doch: Das war mir unangenehm! Die Idee mit der Filmerei ist mir ganz spontan gekommen, als Lilly erzählte, dass sie ein Date mit irgendwelchen Geldsäcken hätte. Da ist mehr zu holen, dachte ich. Ich bin dem Trupp hinterher geschlichen und hab mich in der Halle versteckt, nachdem ich einen morschen Seiteneingang entdeckt und meine Kamera angestellt hatte. Als ich dann nach zehn, fünfzehn Minuten die Einstellungen überprüfen wollte und mal genauer hingesehen habe, ging es plötzlich richtig zur Sache…“
„Und? Immer noch Zeit, was zu unternehmen.“
„Meine Güte, ich hatte die Hosen voll! Die waren zu viert und haben so was von keinen Spaß verstanden.“
„So kann man es auch ausdrücken: Deine Schwester und ihre Kollegin sind brutalst zusammengeschlagen und übel vergewaltigt worden, und du hast noch nicht mal soviel Eier in der Hose, dass du die Bullen holst?“, schäumte Tessy vor Wut und zeigte ihm einen Vogel.
„Stattdessen filmst du munter weiter und willst Brandner nun zumindest finanziell an die Wäsche“, wütete sie weiter. „Ist ja richtig mutig! Ich hoffe doch sehr, dass die Frauen wenigstens was davon abkriegen! Wie geht es den beiden eigentlich inzwischen?“
Er schwieg so lange, dass Tessy zunächst noch wütender wurde und schließlich zu begreifen begann. „Oh nein“, flüsterte sie.
Oliver nickte langsam. „Doch. Lilly ist tot. Brandner hat sie erwürgt.“ Er zeigte auf den Monitor. „Das ist auch auf dem Film zu sehen. Ich erspar dir die Szene. Was aus der anderen Frau geworden ist, weiß ich nicht. Sie war irgendwann verschwunden. Sehr wahrscheinlich lebt sie auch nicht mehr.“ Er wischte sich über den Mund. „Und gestern war Lillys Bild in der Zeitung. Sie haben sie aus dem Papenfuhlbecken gefischt.“
Lange Zeit hörte man nur das zärtliche Klacken des Heizkörpers.
„Wir müssen zur Polizei“, sagte Tessy schließlich.
Er schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. „Vergiss es. Ich hab mich ein bisschen in der Szene umgehört: Brandner ist gefährlich. Eine Leiche mehr oder weniger interessiert den gar nicht. Und du kannst davon ausgehen, dass er keine Spuren hinterlassen hat…“
„Der Film beweist aber, was da passiert ist“, widersprach Tessy. „Diese Spur kann er nicht auslöschen.“
Oliver lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Der Film bewies auch seine unrühmliche Rolle.
„Du musst was unternehmen – die Geschichte wird dich ein Leben lang verfolgen“, beharrte sie eindringlich. Und Brandner auch, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ich kann nicht. Außerdem macht es Lilly nicht wieder lebendig.“
Tessy beugte sich vor. „Wenn Brandner so dermaßen gefährlich ist und du die Hosen so voll hast, warum hast du es dann trotzdem gewagt, ihn zu erpressen? Warum bist ein solches Risiko eingegangen?“
„Er hat mich nicht erwischt – weder beim ersten noch beim zweiten Mal, oder?“ Das klang nahezu triumphierend, und in seinen Augen blitzte es auf.
Tessy verzog keine Miene. Ein durchgeknallter Spieler geht jedes Wagnis ein, dachte sie. Immerhin sitze ich hier, und du erzählst mir, was du angestellt hast.
„Außerdem… ja, er sollte zumindest zahlen und mir einen Gläubiger vom Hals schaffen oder auch zwei – wenigstens das!“, fügte er trotzig hinzu.
„Super“, kommentierte Tessy in ironischem Ton. Dann tippte sie sich an die Stirn. „Du machst aus dem Tod deiner Schwester auch noch ein Geschäft, ist dir das nicht klar? Willst du darauf auch noch stolz sein?“
Wieder herrschte tiefes Schweigen. „Ich war mein Leben lang ein Verlierer und Versager“, hob Oliver schließlich unvermittelt an. „Außerdem habe ich wahnsinnige Angst. Wenn ich zur Polizei gehe, und er kann sich aus der Sache herauswinden oder einen Prozess auch nur verzögern, was trotz der Aufnahmen nicht unwahrscheinlich ist, bin ich dran – der Typ killt mich beziehungsweise lässt mich killen. Daran gibt es nichts zu rütteln. Und eine Aussage vor Gericht … das krieg ich nicht hin, wirklich nicht.“
Leider war die Einschätzung durchaus realistisch, das wusste Tessy. Brandner hatte sie, eine kleine, stets allein arbeitende und noch relativ unerfahrene Detektivin, mit einem fingierten Sexfilm verarscht, um dem Erpresser auf die Spur zu kommen, und wenn sie ihren Job richtig gemacht hätte, wäre Oliver längst in seiner Gewalt. Niemand hätte sich großartig gewundert, wenn auch Lillys Bruder in der Versenkung verschwunden wäre – und selbst wenn… An Olivers Stelle hätte sie auch Angst.
„Na schön“, sagte sie leise und trank ihren Tee aus. „Aber irgendwas müssen wir trotzdem tun.“ Sie stand auf. „Das kann man nicht so stehen lassen. Und noch was: Brandner wird nicht eher ruhen, bis er dich erwischt hat, darauf kannst du Gift nehmen.“
Er blickte erschrocken zu ihr auf. „Wo willst du hin?“
„Nach Hause und nachdenken. Hast du eine Handynummer, unter der ich dich erreichen kann?“
„Ja, klar, aber…“
„Ich unternehme nichts, ohne es mit dir besprochen zu haben, okay?“, versprach sie halbherzig, nachdem Oliver ihr die Nummer diktiert hatte. „Hast du mal darüber nachgedacht, woanders ein ganz neues Leben zu beginnen?“
Er schüttelte verwirrt den Kopf.
„Ach, bevor ich es vergesse“, hob sie, schon in der Tür stehend, noch einmal an. „Woher wusstest du eigentlich Brandners Namen? Er wird sich doch wohl kaum bei deiner Schwester vorgestellt haben.“
„Natürlich nicht. Einer der Wagen trug den Aufkleber seiner Firma. Ich hab dann ein bisschen im Internet recherchiert und ihn wiedererkannt… Seine Kumpels kenne ich allerdings nicht.“
Erst als Tessy die Turmstraße in Richtung U-Bahn herunterlief, wurde ihr bewusst, dass auch sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hatte und jeden ihrer Schritte sorgfältig überlegen sollte.