Achtes Kapitel

 

Ihre To-do-Liste war ganz einfach abzuarbeiten, fand Tessy jedenfalls. Sie würde den USB-Stick in einem Umschlag mit dem Vermerk „wichtig“ bei der Polizei hinterlegen und sich dann auf den Weg zu Brandner machen, um ihre Rechnung abzugeben und ihm nebenbei einen aktuellen Tagesanzeiger zu präsentieren.

 

Der Artikel über den Toten am Bahnhof Zoo war zwar nicht an zentraler Stelle platziert, aber unter Lokales in den Bezirken hübsch eingefügt. Tessy war nicht ganz wohl bei der Sache, aber sie wollte Brandner höchstpersönlich darauf aufmerksam machen, um eventuelle Bedenken, die er bezüglich ihrer Rolle haben könnte, zu zerstreuen. Und sie wollte seinen Gesichtsausdruck dabei beobachten. Würde ihn die Story überzeugen? Sie hoffte sehr, denn nach der Verfolgung durch den BMW-Fahrer war sie ziemlich beunruhigt und hatte auch nicht besonders gut geschlafen. Typen wie Brandner konnten verdammt nachtragend sein. Meine Güte, wenn Dirk wüsste…

 

Tessy fuhr auf den Parkplatz in der Gallwitzallee, als Hauptkommissarin Carola Stein gerade das Polizeigebäude verließ. Sie schien es eilig zu haben. Tessy sah, wie sie nach ihrem Handy griff und kurz stehenblieb, um zu telefonieren. Einem Impuls folgend ließ sie die Fensterscheibe ein Stück herunter, als sie eine freie Parklücke ergattert hatte. Die Stein telefonierte immer noch.

 

„Gut, das werde ich schon finden“, vernahm Tessy die Hauptkommissarin. Carola Stein hatte eine wundervoll tieftönende Stimme, die Tessy einen Moment wohlig seufzen ließ. Die Stein beendete das Telefonat: „Wir sehen uns dann gleich, Herr Brandner.“

 

Tessy stockte der Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie fest davon überzeugt, sich verhört zu haben, dann schüttelte sie den Kopf. Nein, hatte sie nicht. Sie starrte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Stein mit einer eleganten Bewegung hinters Lenkrad schlüpfte, kurz im Rückspiegel den Sitz ihrer schwarzen Locken überprüfte, um sich schließlich anzuschnallen und loszufahren. Was hatte die neue Hauptkommissarin mit Hugo Brandner zu schaffen? Tessy überlegte nicht lange, sondern startete den Motor und folgte Steins Wagen, dem sich ein weiteres Polizeiauto, in dem mehrere Beamte saßen, angeschlossen hatte.

 

Eine knappe Stunde später war sie zwar klüger – zumindest ging sie davon aus –, aber nichtsdestotrotz verwirrt und alarmiert. Wie es aussah, waren Ermittlungen eingeleitet worden, denn mehrere Polizisten einschließlich Carola Stein sahen sich in Begleitung von Brandner in dessen Fabrikhalle und auf dem Gelände um. Soweit Tessy es von weitem beobachten konnte, herrschte jedoch ein friedlich-einvernehmlicher Ton.

 

Konnte es sich um eine reine Routine-Überprüfung handeln? Ausgerechnet jetzt? Das wäre ein kaum zu glaubender Zufall. Sie biss sich auf die Unterlippe. Da war etwas im Busche, und es schmeckte ihr gar nicht, bezüglich der Hintergründe völlig im Dunklen zu tappen. Hintergründe, die ihr weiteres Handeln in dem Fall noch riskanter machten, als es ohnehin schon war – darüber war sie sich im Klaren.

 

Als die Besichtigung eine gute Stunde später beendet wurde, brach Tessy ebenfalls auf und fuhr in Richtung Potsdamer Platz, um in der Nähe des Autosalons auf Brandners Rückkehr zu warten. Der schien es aber nicht sonderlich eilig zu haben. Als er endlich in einem schicken Porsche auftauchte, hatte Tessy eiskalte Beine, ein Vermögen beim Coffeeshop ausgegeben und fluchte seit geraumer Zeit leise vor sich hin. Sie ließ ihm jedoch noch zehn Minuten, bis sie mit der Rechnung in der einen und einer Zeitung in der anderen Hand den Salon betrat und eiligen Schrittes den Weg zu seinem Büro einschlug, bevor die blondmähnige Sekretärin auf die Idee kommen konnte, sie zu begleiten.

 

Brandner war sichtlich überrascht, als Tessy nach einmaligen Anklopfen mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht eintrat und vor seinem Schreibtisch stehen blieb, als seien sie fest verabredet.

 

„Entschuldigen Sie, dass ich hier so reinplatze“, bemerkte sie. „Aber ich war grad in der Nähe und dachte mir …“ Sie wedelte mit der Rechnung in der Hand und vertiefte ihr Lächeln.

 

Brandner runzelte kurz die Stirn. „Ach so, ja – die hätten Sie auch gleich meiner Sekretärin geben können. Ich lasse den Betrag noch heute anweisen.“ Er sah sie auffordernd an. Sein Ton war eine Spur gereizt.

 

Ich gehe ihm auf die Nerven, dachte Tessy und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. „Noch mal, Herr Brandner, es tut mir aufrichtig leid, dass ich…“

 

Er winkte dezent ungeduldig ab. „Vergessen Sie es. Nicht mehr zu ändern.“

 

Sie nickte. „Ja, da haben Sie wohl recht. Die Sache scheint sich aber dennoch endgültig erledigt zu haben“, fuhr sie fort und gab nun ihrem Lächeln eine, wie sie fand, angemessen verheißungsvolle Note.

 

„Wie meinen Sie das?“

 

Sie reichte ihm die aufgeschlagene Zeitung. „Lesen Sie mal – wenn mich nicht alles täuscht, könnte er das sein, oder?“

 

Brandner beugte sich über die Seite und las konzentriert und mit ungerührter Miene. Als er wieder hochsah, schnellte ein zugleich flüchtiges wie verblüfftes Lächeln über sein Gesicht. „Möglich, ja, durchaus. Klingt ganz nach Ihrer Beschreibung.“ Er wiegte den Kopf und nickte ihr dann zu. „Danke für die Info.“

 

„Keine Ursache. Ich dachte mir, dass Sie das interessieren könnte.“ Tessy hob kurz die Hand und wandte sich dann zur Tür um.

 

„Ach, Frau Ritter?“

 

Tessy drehte sich noch einmal um. „Ja?“

 

„Ich nehme die Sache mit der Verschwiegenheit sehr ernst.“ Der Blick seiner grünen Augen wurde dunkel und hart. „Das haben Sie verstanden, oder?“

 

Tessy erschrak, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Und ich nehme meinen Job sehr ernst – Verschwiegenheit ist dabei ein herausragender Aspekt“, erklärte sie ruhig. Ein anderer ist die schlichte Tatsache, dass ich mich nicht für kriminelle Straftaten benutzen lasse, du Arschloch, fügte sie ebenso wortlos wie wütend hinzu.

 

„Na dann ist ja alles klar.“

 

„Das war es von Anfang an, Herr Brandner.“

 

Als sie das Gebäude verließ, war ihr heiß und schwindelig. Sie setzte ihr Headset auf, während sie losfuhr, und versuchte, Hanter zu erreichen – ohne Erfolg. Das wunderte sie nicht sonderlich, schließlich war der Mann mit seinem Aufbruch und Umzug beschäftigt, es frustrierte sie aber dennoch. Die Zeiten mit dem Drei-Tage-Bart-Kommissar gehörten endgültig der Vergangenheit an. Und vielleicht bot sich ihr nunmehr die Chance, die schöne Stein von ihren Qualitäten als Ermittlerin zu überzeugen. Unter anderem.

 

 

 

* * *

 

 

 

Carola Stein ließ sich ihren späten Mittagsimbiss schmecken, während sie Hugo Brandner mit konzentrierter Miene von der Liste strich. Der smarte Unternehmer kam ihr zwar eine Spur zu eloquent rüber, und sein Bemühen, bei der Durchsuchung locker und entspannt zu wirken, schien ein wenig übertrieben, aber das allein war kein Argument, ihm zu misstrauen. Immerhin hatte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass die Beamten die Fabrikhalle gründlich in Augenschein nahmen, wobei nichts Ungewöhnliches festgestellt werden konnte. Für detaillierte Spuranalysen bestand keinerlei Anlass.

 

Es klopfte. Carola runzelte die Stirn. Sie hätte gerne ein paar Minuten ganz für sich allein gehabt. „Herein.“

 

Eine Frau öffnete die Tür – brünett, um die dreißig, grüne Augen, attraktive weibliche Formen, ein frecher forschender Blick. Woher kenne ich die?, dachte Carola irritiert, während ein Begrüßungslächeln über das Gesicht der Besucherin huschte.

 

„Guten Tag, Frau Stein. Wir sind uns noch nicht persönlich vorgestellt worden, allerdings kürzlich zufällig begegnet, und zwar hier in diesem Büro“, erklärte sie in selbstsicherem Ton, während sie näher kam.

 

Carola legte ihren Stift beiseite. „Ach?“

 

„Ja, mein Name ist Tessy Ritter. Ich habe häufiger mit Dirk Hanter zusammengearbeitet…“

 

Carola atmete laut aus und konnte gerade noch ein genervtes Seufzen verhindern. Ach, du liebe Güte. „Sie sind die Privatdetektivin?“

 

„Genau die.“ Das Lächeln wurde breiter.

 

Carola schüttelte den Kopf. „Frau Ritter, ich weiß natürlich nicht im Detail, wie Herr Hanter seinen Job gemacht hat. Für mich jedenfalls gilt eine ganz klare Maxime, die ich stets beherzige: niemals mit Privaten zusammenarbeiten.“

 

„Warum nicht?“

 

„Ist die Frage wirklich ernst gemeint?“

 

Tessy Ritters Lächeln schwächte sich deutlich ab, aber die Frau sah sie weiterhin unerschrocken an, fast ein wenig provozierend. „Durchaus“, sagte sie.

 

„Sehen Sie, ich halte nichts davon, die beiden, ich drücke es mal ganz sachlich aus: Arbeitsbereiche miteinander zu vermixen“, erklärte Carola ruhig und lediglich mit einer winzigen Prise Ironie versetzt.

 

Tessy Ritter nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich verstehe. Aber ich sage Ihnen, Sie liegen zumindest in diesem Fall mit ihrem Misstrauen oder auch Vorurteilen falsch und könnten einen Fehler machen.“

 

„Ach ja?“

 

„Und ob.“

 

Einen Augenblick lang fixierten die beiden Frauen einander. „Sie dürfen ruhig deutlicher werden“, meinte Carola schließlich scharf. „Ich bin fast ein bisschen gespannt, was Sie zu bieten haben.“

 

„Okay“, Tessy Ritter nickte und warf ihr dann einen herausfordernden Blick zu. „Stichwort: die Tote aus dem Papenfuhlbecken.“

 

Carola Stein setzte sich mit einem Ruck auf. „Wie bitte? Was wissen Sie denn darüber?“

 

„Mehr als mir lieb ist. Darf ich mich setzen?“

 

Carola schwieg einen Moment verblüfft. Dann wies sie mit einer fahrigen Bewegung auf einen Stuhl, der hinter der Tür stand. „Bitte.“ Was hat die Schnüfflerin mit dem Fall zu tun, dachte sie entrüstet.

 

Die Detektivin platzierte die wacklige Sitzgelegenheit etwas umständlich vor dem Schreibtisch und nahm in aller Gemütsruhe Platz.

 

„Legen Sie los“, forderte Carola sie auf. Sie hörte selbst, dass ihr Ton gereizt klang.

 

„Mir ist Material zugespielt worden“, begann die Detektivin zu berichten. „Entscheidendes Material. Ich kann jedoch nur deutlicher werden, wenn Sie mir zuvor verraten, wie Sie bei Ihren Ermittlungen auf Hugo Brandner gestoßen sind.“

 

Einen Augenblick lang dachte Carola, sie habe sich verhört. Sie machte den Mund auf, schloss ihn wieder und atmete zweimal tief durch. Dann beugte sie sich über den Tisch vor. „Sie wissen schon, dass die Polizei keine Geschäfte mit Detektiven macht, oder?“

 

„Ich weiß so einiges, aber ich kann mir gut vorstellen, dass es immer auf den Einzelfall ankommt“, erwiderte die Ritter ungerührt.

 

Die Kleine ist verdammt dreist, dachte Carola. Diese Unverschämtheit würde ich ihr gerne eigenhändig austreiben …

 

Die Detektivin stützte ihr Kinn auf eine Hand. „Hören Sie, ich bringe jemanden in große Gefahr, wenn ich …“

 

„Reden Sie doch keinen Mist!“, entfuhr es Carola wütend. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätte mit der Faust auf den Tisch gehauen. „Sagen Sie mir lieber, wie Sie auf Hugo Brandner kommen oder was Sie mit ihm zu schaffen haben. Und wenn Sie sachdienliche Hinweise wissentlich zurückhalten…“

 

Tessy Ritter winkte ab und stand abrupt wieder auf. Ihr Lächeln war plötzlich wie weggewischt. „Ich bleibe dabei, Frau Hauptkommissarin. Wenn Sie wissen möchten, was mit der Frau passiert ist und den Fall aufklären wollen, ohne jemanden zu gefährden, sollten Sie meinen Vorschlag annehmen.“ Sie drehte sich um und schlenderte mit wiegenden Hüften zur Tür.

 

„Frau Ritter, ich kann Sie in Untersuchungshaft …“

 

Tessy wandte sich wieder um. „Sie meinen Beugehaft?“ Für einen kurzen Moment huschte ein unverschämtes Grinsen über ihr Gesicht. „Ja, könnten Sie, aber tun Sie es nicht. Ich habe gute Gründe, meine Infos zurückzuhalten, glauben Sie mir.“

 

Carola Stein biss die Zähne aufeinander. Dieses kleine Miststück! Doch wenn sie Recht hatte und die Kommissarin lediglich aufgrund ihrer ganz persönlichen Animositäten auf stur schaltete, konnte das im schlimmsten Fall böse Konsequenzen haben, auch für ihre Karriere …

 

„Es gab einen anonymen Anruf“, presste sie hervor, als die Detektivin die Hand auf die Klinke gelegt hatte und bereits im Begriff war, die Tür zu öffnen.

 

Ritter fuhr rasch herum. „Mann oder Frau?“

 

„Frau. Und das war die letzte Frage, die ich Ihnen beantwortet habe.“

 

Tessy Ritter atmete tief aus. „Diese Frau dürfte sich in großer Gefahr befinden, wenn …“

 

Carola Stein sprang auf und eilte mit wenigen, energischen Schritten um den Schreibtisch herum auf die Detektivin zu. Dicht vor ihr blieb sie stehen und fixierte sie mit scharfem Blick. „Es reicht! Nun sind Sie dran! Und ich will keine vagen Andeutungen oder geheimnisvollen Warnungen oder Ähnliches in der Preisklasse hören, verstehen Sie?“

 

Tessy Ritter spitzte erstaunt die Lippen. Dann griff sie in die Innentasche ihrer Jacke und zog einen USB-Stick sowie eine Visitenkarte hervor. „Wenn Sie sich das angesehen haben und noch Fragen offen bleiben, die ich beantworten kann, bin ich gerne für Sie da.“ Damit schlüpfte Tessy Ritter aus der Tür.

 

Carola sah ihr einen langen Moment nach und ballte die Hände zu Fäusten.

 

 

 

* * *

 

 

 

Tessy fuhr auf direktem Weg nach Hause. Sie war aufgewühlt. Die Kommissarin hatte so dicht vor ihr gestanden, dass Tessy ihr sinnliches Parfum gerochen hatte und ihre Aufgebrachtheit hautnah hatte spüren können. Dazu dieser dunkle forschende Blick, in dem ein wildes Feuer zu glimmen schien. Wenn der Fall nicht so ernst wäre, hätte Tessy die Gelegenheit genutzt, Carola Stein ganz gewaltig auf den Zahn zu fühlen. Aber der Fall wurde immer gefährlicher, und für erotische Fantasien war zur Zeit einfach kein Platz.

 

Eine Frau hatte anonym bei der Polizei einen Hinweis auf das Verbrechen gegeben. Das konnte nur bedeuten, dass Lillys Kollegin dahinter steckte, überlegte Tessy. Der Tipp war allerdings nicht so fundiert und weitreichend gewesen, dass die Polizei großartig eingeschritten war – er hatte lediglich eine Durchsuchung der Halle und des Geländes zur Folge gehabt, bei der Brandner sogar noch ganz gut gelaunt gewirkt hatte. Jedenfalls war er locker und entspannt gewesen. Er hat natürlich vorher aufgeräumt, wandte Tessy stumm ein. Der Mann ist nicht blöd. Alles, nur das nicht.

 

Tessy schloss die Haustür auf und fragte sich, wann Carola Stein bei ihr auf der Matte stehen würde oder aber sie abholen ließ. In einer Stunde? Zwei? Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel vor dem Kamin und schloss erschöpft die Augen. Es war früher Nachmittag, aber sie hatte das Gefühl, seit vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr im Einsatz zu sein.