Irenes Grund

- Sie sind unglücklich und sie müssen eine Begründung dafür finden. Das ist nicht so einfach, wie man glauben möchte. Es reicht nicht, sich zu sagen: Ich bin unglücklich. Sie müssen es sich beweisen. Ich bin unglücklich, weil ich arm bin, weil ich nicht schön bin, weil die Menschen mich nicht verstehen, weil die Welt so kalt ist, weil alle immer nur Theater spielen, weil sie ihr Herz verschließen, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Weil Hass, Verrat und Treulosigkeit überall knietief stehen. Ich bin unglücklich, weil ich mir mein Leben anders vorgestellt habe. Und immer, immer müssen sie suchen, damit ihnen die Gründe nicht ausgehen. Dauernd müssen sie sich beweisen, dass das, was sie fühlen, richtig ist. So ist der Mensch, könntest du sagen, aber sieh mich an, ich hätte alle möglichen Gründe, um unglücklich zu sein. mit dem Satz komm ich nicht ganz klar, da wechselt die Perspektive innerhalb dieses Monologs so plötzlich, ebenso plötzlich taucht das du auf, das vorher nicht präsent war. Besser wäre vielleicht, den vorhergehenden Satz wegzulassen (den es ohnehin nicht unbedingt braucht), dann wäre der Anschluss logischer (wenn es weiterhin ums Unglücklichsein geht), und nur zu schreiben: Aber sieh mich an: Ich hätte alle möglichen Gründe, unglücklich zu sein.

Manchmal fragte ich mich, wie sie das machte, so lange ohne Gesellschaft zu bleiben. Sie ging nicht mehr raus, meine Eltern ließ sie nicht in die Wohnung. Irene hatte nicht mal ein Telefon. Wenn ich sie besuchte, redete sie viel, aber es wirkte nicht so, als wäre das ein Bedürfnis, das sie sonst unterdrückte. Mit den Auslieferern der Zustelldienste tauschte sie auch nur Grußformeln aus, und mit den Nachbarn sprach sie seit der Hausdurchsuchung kein Wort mehr. Ich wusste nicht, ob sie die Polizeibeamten beschimpft hatte an jenem Morgen oder in ihrer Gegenwart die Nachbarn, als vier Herren ihre gesamte Wohnung auseinandernahmen, weil sie glaubten, sie würde Cannabis züchten.

- Die Nachbarn, hatte sie später gesagt, diese schlauen Nachbarn, die wünschen sich doch, sie hätten vier Mäuler, die sie sich zerreißen können, ein Maul zum Anschwärzen, eins zum Verleumden, eins zum Verketzern, eins zum Entwürdigen. Da klingelt die Polizei in aller Herrgottsfrühe an deiner Tür und macht einen Radau, als wollte sie eine Rockerbande einschüchtern. Das Leid der Menschen rührt daher, dass jedermann sich berufen fühlt, nicht nur Ratschläge zu erteilen, sondern auch noch in dein Leben einzugreifen. Bei der Polizei anrufen, weil ich so viele Pflanzen habe, die so komisch riechen. Weil man vom Flur ins Wohnzimmer sehen kann und es dort so grün ist. Und weil dort so viele Lampen hängen. Und weil diese Denunzianten mit ihrem eigenen Unglück nicht zufrieden sind, müssen sie schauen, ob es nicht in meiner Wohnung etwas gibt, das auch mich unglücklich machen kann.

Irene hatte Natriumdampflampen und Metallhalogendampflampen, sie hatte mir die Unterschiede schon oft erklärt, aber ich konnte es mir nicht merken. Ihr Wohnzimmer stand voller Pflanzen, außer einem Sessel und einem kleinen Regal hatte darin nichts anderes Platz, große grüne Plastikwannen nahmen fast den gesamten Raum ein.

Nach der Polizei hatten sich die Nachbarn an den Vermieter gewandt, doch der hatte keine Handhabe, Irene aus dem Haus zu klagen und hoffte nun, dass sie bald sterben würde.

Meine Eltern hätten sie am liebsten im Altersheim gesehen, schließlich war sie schon 81, doch sie erfreute sich trotz wenig Bewegung und einseitiger Ernährung bester Gesundheit. Sie war seit zehn Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen und aß hauptsächlich Erdnüsse und Eiscreme. Sie machte auch sonst nichts von dem, wovon die Menschen angeblich glücklicher und gesünder wurden. Sie glaubte nicht an Gott, sie arbeitete nicht ehrenamtlich, sie hatte keine sozialen Kontakte, sie war nicht mal Mitglied in irgendwelchen Internetforen. Sie besaß keinen Fernseher und kein Radio, doch sie nutzte das Internet. Dort kaufte sie Samen, Erde, Lampen, Eis, Erdnüsse, Dünger, Klopapier, Alkohol, um Pflanzenauszüge zu machen, Flakons und Fläschchen.

Wenn es um Versandhäuser ging, die exotische Samen oder seltene ätherische Öle führten, war Irene Expertin. Musste sie sein, anders war ihr Wohnzimmer nicht zu erklären. Doch davon sprach sie nie. Meistens hörte ich Tiraden gegen alles und jeden und ich fragte mich, ob Irene sich wohl auf meine Besuche freute. Immerhin, wie wenig es auch war, das ich sagte, sie konnte sich alles merken, auch wenn sie sich nicht weiter dafür zu interessieren schien. Mein Auftauchen nach einem vereinbarten Klingelzeichen schien sie eher gleichgültig hinzunehmen.

Wirklich interessierten sie nur ihre Pflanzen und ihre Gründe, wie sie es nannte. Bei allen anderen Themen schimpfte sie. Sie schimpfte über meinen Vater, ihren Sohn, der sich aus Angst vor dem Leben eine Frau gesucht hatte, die alle Entscheidungen im Alleingang traf und die sie am liebsten ins Altersheim gebracht hätte. Angst vor dem Leben, das hätte man Irene auch vorwerfen können, aber sie hätte nur gelacht. Sie schimpfte über meinen Opa, der vor fast zwanzig Jahren, kurz nach meiner Geburt, gestorben war. Sturzbesoffen mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Als Besitzer einer Baumschule. Das brachte Irene immer noch zum Lachen.

Man hätte sie für unglücklich halten können, wenn sie schimpfte, keifte und belferte, wenn sie sich in ihrer Rage aus dem Sessel hochstemmte und ihren Zorn mit ihren Händen unterstrich, während sie zwischen den Pflanzen auf und ab ging.

Irene zweifelte. Sie zweifelte an der Welt, in der wir lebten, an unserem Gesellschaftssystem, am Sozialstaat, am Wert der Wahrheit, an den Nachbarn sowieso, an ihrem Sohn, und auch an mir, weil ich nicht richtig studierte und nicht in der Lage war, Entscheidungen zu treffen. Sie zweifelte nicht an der Boshaftigkeit, der Niedertracht und der Dummheit der Menschen. Und sie zweifelte nicht an ihrem Verstand. Niemals.

- Sie wollen einen verrücken, sagte sie, sie wollen einen vom eigenen Weg abbringen und dann sagen, man sei verrückt, weil man nicht ihren Weg geht. Sie sind so schlau heute, sie sind alle so schlau und hätten am liebsten hundert Mäuler. Sie glauben nicht mehr an Gott, an die Religion, an Geister und Gespenster. Sie glauben an den Fortschritt und die Wissenschaft und dass sich alles um den Menschen dreht und dass alle Rätsel gelöst werden. Dabei geht es um die Pflanzen. Die waren vor uns hier und die werden nach uns hier sein, sie werden auch in unseren Städten leben, nachdem wir ihnen geholfen haben, sich in der ganzen Welt zu verbreiten, dem Chili, den Tomaten, dem Tee, den Brennnesseln, dem Jasmin, dem Lavendel, den Veilchen und Rosen, dem Basilikum und Koriander, dem Ingwer und Waldmeister, den Arten des Salbeis und denen der Minze. Alle haben wir verbreitet und mit ihnen ihre Düfte.

Die Düfte. Sie waren Irenes Grund. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie sich kaum mit etwas anderem beschäftigt.

Gerüche werden, hatte ich von ihr gelernt, im limbischen System des Gehirns verarbeitet, das für Emotionen zuständig ist, und auch im Hippocampus, wo die Erinnerungen liegen. Man speichert Gerüche zusammen mit Gefühlen ab.

Bevor sie sich zu Hause eingeschlossen hatte, war Irene drauf und dran gewesen, verrückt zu werden, wie sie erzählte. Sie hatte versucht, die Düfte ihrer Erinnerung zusammenzumischen. Den Geruch der Berliner U-Bahn 1983. Den Geruch nach Bohnerwachs im Treppenhaus ihrer Eltern 1948. Den Geruch des Sommers 1952, in dem sie zusammen mit meinem Großvater die Baumschule eröffnet hatte.

- Davon wird man verrückt, sagte sie, man jagt einer Vergangenheit hinterher und die ist nicht einzuholen. Solange man atmet, riecht man. Man riecht jetzt. Egal, ob es einen an früher erinnert. So wie man jetzt atmet. Der Atem ist immer hier und jetzt. Es geht gar nicht anders. Man riecht immer nur die Gegenwart. Man riecht das Jetzt. Und ich wollte, dass mein Jetzt gut riecht. Nach Pflanzen. Nach Erde. Nach Holz. Zuerst war der Geruch. So finden die Dinge zueinander. So findet man Essen und Partner. So finden die Mücken einen, so findet man einen Mann. Der fing erst nachher zu trinken an.

Sie machte Auszüge aus ihren Pflanzen, sie mixte Salben und Parfüms und sie machte Duftstifte, die sie im Regal im Wohnzimmer aufbewahrte. Gerüche waren ihr Grund genug, um glücklich und gesund zu sein.

- Du kommst nicht wegen mir, du kommst nur wegen der Duftstifte, sagte Irene, aber sie lachte dabei.

Wenn ich merkte, dass mir alles zu viel wurde, wenn ich nicht mehr wusste, wie und wohin ich dieses Leben lenken sollte, ging ich zu Irene und wir atmeten ein und wir atmeten aus, ich mit einem Duftstift unter der Nase. Solange man atmet, riecht man. Ich ging zu Irene, um alles zu vergessen, so wie andere auf Sauftour gingen oder stundenlang an der Playstation zockten. Ich ging zu Irene und hörte zu, wie sie redete, doch irgendwann wurde das zur Hintergrundmusik und ich inhalierte den Geruch der säuberlich beschrifteten Duftstifte. Inhalierte Leben.

Irene hatte ein Leben um den Geruch und um die Pflanzen herum aufgebaut. Da gab es keine Abkürzungen, keine Ausreden und keine Sorgen. Es roch. Es riecht, solange man lebt. Riechen ist eine Standleitung ins Gehirn.

Wenn ich Irenes Wohnung verließ, empfing mich draußen eine Luft, die kühler war als die fast tropischen Temperaturen im Wohnzimmer, doch die Welt roch leichter, leichter als meine Gedanken und mein Kummer. Es roch nach jetzt.

Es riecht immer nach jetzt.