Der Tankwart ist mein Zeuge

So wie sie den Satz sagt, klingt es, als wäre ich eine Art Gott. Dabei habe ich ihr schon gesagt, dass Götter mindestens halb so alt wie die Zeit sein müssen.

Am besten eigentlich noch älter. würde ich streichen – der vorige Satz ist SO gut, leidet dann eher unter dem Zusatz

Die Chefin fand ja gut, dass sie schließlich mit einem ganzen Fernsehteam vorgefahren kam, klar, Werbung ist immer gut schön. Annina, die Aushilfe, war gerade da und ich habe mich auf der Toilette eingeschlossen.

Sarah Rotblatt hat mir das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Nach diesen zwei Stunden auf der Toilette, mehr Geduld hatten die Reporter nicht, bin ich auf die Nachtschichten ausgewichen, damit das nicht noch einmal passiert. Immer nur Dunkelheit. Die Reporter habe Und ich habe die Reporter einfach nicht reingelassen und die Scheibe des Nachtschalters vom Nachtschalter vorher schon mit Joghurt verschmiert. Und ich bin vermummt rein und raus. Und bis nach Hause hat mich auch niemand verfolgt, da habe ich immer gut aufgepasst.

Wie bescheiden ich sei, verkündete Frau Rotblatt dann, wie bodenständig und integer. Während die meisten glauben, ihr Leben würde realer werden, wenn sie ins Fernsehen kommen, will wollte ich unbedingt weg von dieser Realität.

Was auch immer passiert ist an diesem Tag, von dem Sarah Rotblatt jetzt immer erzählt: Es hat nichts mit mir zu tun.

Frau Rotblatt ist an einem Mittwochnachmitttag vor vier oder fünf Wochen vermutlich weiß er das auf den Tag genau, wenn es so wichtig war für sein Leben, oder? an einem Mittwoch vor fünf Wochen vermutlich weiß er das auf den Tag genau, wenn es so wichtig war für sein Leben, oder? mit ihrem dunkelblauen Porsche 911 auf an die Tankstelle gefahren, an der ich arbeite. Den Der Wagen habe ich ist mir natürlich bemerkt aufgefallen und ich habe geschaut, was für eine Person wer da wohl aussteigt. Frau Rotblatt hatte ein weinrotes Kostüm an, hochhackige Schuhe in derselben Farbe, sie sah selbst geschminkt nicht so aus, dass ich ihr irgend einen Preis verliehen hätte, aber sie bewegte sich so derart, dass ich dachte: Das ist der Asphalt einer Tankstelle, kein Laufsteg.

Sie ging zum Kühlschrank, und blieb vor kalorienreduzierten Softdrinks stehen und zog die Augenbrauen zusammen. Vielleicht hatte sie nicht genug gegessen, vielleicht hatte sie etwas genommen, vielleicht hatte auch nur irgend jemand Malen nach Zahlen mit den Sternen gespielt und es war Schicksal, wie sie später behauptete.

Ich sah, wie ihre die Beine wegknickten, ich sah, wie sie nach schräg links vorne fiel und die Tür des Kühlschranks ihren Sturz abfing. Ich sah nicht mehr genau, wie sie auf dem Boden aufschlug, weil ich schon auf dem Weg zu ihr war.

Ich nahm ihren Kopf, gab ihr ein, zwei leichte Ohrfeigen und da öffnete sie auch schon die Augen. Ihre Pupillen sahen normal aus, aber ihr Blick war vernebelt. Was immer sie gesehen hat, ich war es nicht. Vielleicht war ihr Leben auch schon immer so, sie hat stets nur in einen Spiegel geguckt und nichts gesehen außer sich selbst.

-Schön, hauchte sie.

Ihr Kopf hing in meinem Arm und sie machte keine Anstalten, sich aufzurichten.

- Geht es Ihnen gut?

- Ja. Schön. Sehr schön. Endlich ...

Vielleicht ist alles in diesen Sekunden passiert. Schön. Schön. Schön. Schön ist so ein billiges Wort. Drei Stück kosten nicht mal einen Euro und man kann damit nach Dosen schmeißen wie auf einem Jahrmarkt, von mir aus mit geschlossenen Augen, und irgendwann trifft man mal. Sarah Rotblatt glaubte, ich sei eine Art Hauptgewinn.

- Mein Guru, sagte sie.

Ich konnte nicht wissen, ob schon vor dem Sturz jemand vorsorglich die Tassen aus dem Schrank geholt genommen hatte, damit sie nicht kaputt gingen.

Strahlend richtete sie sich auf. So ein Strahlen, das Scheinwerfer vergessen machen soll.

- Du kannst mich sehen, sagte sie.

- Ja.

- Nein. Du kannst mich sehen. Wie ich wirklich bin.

- Am Boden.

Sie lachte ein kurzes kieksiges kg ieksiges Lachen, das klang wie auswendig gelernt klang klang .

- Du siehst nicht nur die Schönheit. Nicht nur den Körper. Man kann es an deinen Augen sehen. Du erkennst mich.

- Quatsch.

Kurz darauf stand sie hinter der Theke, trank eine Cola Zero und beteuerte, es gehe ihr gut, sie brauche keinen Krankenwagen. Sie erzählte erklärte, wie vergänglich Schönheit doch war und wie sie viel lieber sie für ihren Intellekt bewundert werden wollte und für ihre schauspielerischen Fähigkeiten, wie leer ihr Leben ihr immer vorkam, weil alle nur auf die Hülle starrten.

- Quatsch, sagte ich wieder. Intelligenz ist ja auch vergänglich. Noch nie was von Alzheimer gehört oder Demenz? Und dafür, dass man zufällig klüger oder kreativer ist als jemand anders, heißt ja auch nichts. Als ob man was dafür könnte. Das ist genau so wie auf die seine Farbe Augenfarbe der eigenen Augen stolz zu sein. Zufällig intelligente Menschen können sich halt nur besser ausdrücken und versuchen das als ihren Vorteil auszuspielen.würde ich streichen, nimmt dem Ganzen etwas die Dynamik Schönheit und Intelligenz, das zählt doch nicht, aber Humor, den man muss man lernen.

Woher habe ich den Satz nur geholt. Das weiß man nie. Die Zunge ist manchmal zu schnell und der Kopf kann die Folgen nicht abschätzen. Frau Rotblatt hörte nur, was sie hören wollte. Woher hatte ich den Satz? Aber woher hatte sie ihre Ohren?

- Ja, sagte sie, genau. Ich möchte deiner Lehre folgen.

- Gute Frau, sagte ich, ich habe keine Lehre.

- Genau das würde ein richtiger Guru antworten. Ich habe viel darüber gelesen.

- Man soll nicht alles glauben, was man so liest.

Sie lächelte und nickte, als hätten wir ein gemeinsames Geheimnis.

Danach kam sie eine Woche lang jeden Tag. Ich Da wusste ich noch nicht, wer sie war.

- Was finden Sie daran, hier den ganzen Tag herumzustehen?, fragte ich. Ich war zu höflich, sie rauszuschmeißen.

- Es gibt nichts zu finden, das möchtest du mir sagen, ich verstehe, sagte sie und lächelte wieder dieses Lächeln, dem man die fehlenden Tassen schon fast ansah.

Schon am zweiten Tag fing sie an, mir auf die Nerven zu gehen, aber ich habe hatte mir geschworen, nie wieder eine Frau anzuschreien.

- Was ist das Geheimnis des ewigen Lebenns?, wollte sie wissen.

- Ewiges Leben, das ist nur eine Art umgekehrter Selbstmord, sagte ich, da ist nichts dran an dieser Idee .

Aber wie pampig ich auch immer antwortete, bei ihr kamen nur Weisheiten hat an .

- Was ist real?, fragte sie.

- Alles, was einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat.

Sie sah mich an, als könnte manwollte sie mich für den Nobelpreis vorschlagen. Und s Selbst wenn ich nur mit den Schultern zuckte, erschien ihr das wie ein ganzer Löffel.

Statt eines Hinterns hatte sie ein Problem mit dem Essen. Das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Aber man konnte halt nicht sofort sehen, wo sie noch überall behindert war und vor allem warum, das konnte man halt nicht sofort erkennen sehen .

Die Leute proben jeden Tag einen Aufstand gegen die Realität. Ich arbeite an einer Tankstelle, ich spreche jeden Tag mit Menschen, alle Schichten, jedes Alter, auch Fahrradfahrer und Fußgänger, die hier ein Eis kaufen oder eine Pizza. Sie sperren wehren sich gegen das Wetter, gegen die Benzinpreise, gegen Boni für Banker, gegen Terroristen, gegen Ausbeutung. Sie wollen sich verstecken vor Anschlägen, vor Epidemien, sie wollen geschützt werden vor Krisen und finanziellem Ruin.

Aber sie proben immer nur, sie proben. Das ist ein gutes Training für die Realität, sie wird bewegt und legt an Muskeln zu. Doch es kommt nie zur Aufführung.

Die Leute, die nicht an die Realität glauben und daran, dass sie sich mit ihr abfinden müssen, die könnten sie zum Einsturz bringen. Wenn du etwas gegen die Benzinpreise hast, fährst du kein Auto mehr. Wenn du nicht immer nur probst, sondern einfach bei der Aufführung keinen Pieps von dir gib s t, bricht das ganze System zusammen dann erst bekommt das System Risse . naja, das System bricht nur zusammen, wenn alle das machen. besser vielleicht: bekommt das System eine Delle/einen Riss

Von solchen GedankenDavon hätte ich Frau Rotblatt natürlich nichts erzählen dürfen. Aber das ist ein Job, der einen schon mal langweilt, und ich habe schon immer viel geredet.

Frau Rotblatt redete aber auch viel. Sie probte auch den Aufstand, klagte, wie oberflächlich ihre Realität war, wie Konkurrenz, Neid und Intrigen alles vergifteten. Sie sehnte sich nach Liebe und Frieden. Warum sollte man so etwas das an einer Tankstelle suchen?

Sie sagte es nie selten in meiner Gegenwart, ich war ja da, aber nach den ersten Tagen an der Tankstelle fing sie wohl an zu sagen: Der Tankwart ist mein Zeuge. Den Satz trug sie draußen wohl in ihrem Mund herum, als sei er eine Art Kaugummi, den man überall auspucken kann. finde ich etwas unklar, bezieht man zuerst auf den vorigen Absatz. Vielleicht besser voranstallen: Der Tankwart ist mein Zeuge. Sie sagte es nie ...

Wie gesagt, es klang, als wäre ich eine Art Gott.ist eigentlich unlogisch: Er sagt, es klang so, aber selbst gehört hat er es ja nie? Vielleicht wäre es besser, wenn im vorigen Absatz das „sagte es nie in meiner Gegenwart“ ganz wegfallen würde, sie es z.B. nie direkt zu ihm sagen würde, er aber hört, wie sie zu anderen sagt etc. Und die Menschen, wer immer das da draußen auch war sein mochte, die Menschen da draußen wollten angeblich wissen, wer dieser Tankwart wohl war. Der Tankwart ist mein Zeuge, dass ich mich in dieser Model l welt nicht zu Hause fühle. Der Tankwart ist mein Zeuge, ich war nie auf Geld aus oder auf Ruhm. Der Tankwart ist mein Zeuge, ich will den Menschen helfen, ihre eigene innere Stimme zu finden. Der Tankwart ist mein Zeuge, ich möchte gelebte Spiritualität verbreiten und nicht eine dogmatische Rel i gion. Der Tankwart ist mein Zeuge, ich trage mein Herz auf der Zunge.

So tauchten die Reporter hier auf. Und Frau Rotblatt hat nicht nur eine Behinderung und Probleme mit ihrem Porzellan und lügt mir das Blau e vom Himmel, nein, sie schreibt mir auch Sprüche zu, die ich nie gedrückt habe. Es kam wohl gut, Anfang, Mitte, Ende, umgekehrter Selbstmord, Aufstand gegen die Realität, da hat sie sich sich wohl noch einige andere geliehen und behauptet, sie stammten von mir. Macht ist lieblos, aber Liebe ist niemals machtlos. Man muss zuerst lernen zu fallen, wenn man fliegen möchte. Wenn Du du glaubst, dass Du du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Zimmer ist. Menschen wurden geschaffen um geliebt zu werden. Dinge wurden geschaffen um benutzt zu werden. Der Grund warum die Welt im Chaos ist: die Dinge werden geliebt und die Menschen benutzt.

Menschen wurden geschaffen, um geliebt zu werden. Dinge wurden geschaffen, um benutzt zu werden. Der Grund, warum die Welt im Chaos ist: weil Dinge geliebt und Menschen benutzt werden.

Das musste sie aus Büchern haben, die von Menschen gelesen werden, die zwar Bestellungen ans Universum aufgeben, aber nicht ihre Vorliebe für einen ihren betonharten Blick auf die Welt. Einen Blick, den sie auch noch für weich halten, aber dabei sind sie nur weich sind sie nur im Kopf.

Es wird alles schwer, wenn man die Dinge zwanghaft leicht sieht.

Ich wollte nicht mal klar stellen, dass ich so etwas nie sagen würde. Ich schlief lieber tagsüber und arbeitete nachts, damit sie mich in Ruhe ließen.

Sie wollten die Wahrheit. Und nichts als die Wahrheit würde ich streichen Wer ist dieser Tankwart? Als wäre das nicht egal. Und als hätte was hätte das irgendetwas mit Realität zu tun gehabt, einen kernigen Burschen bei seiner ehrlichen Arbeit zu filmen? Erst wenn es inszeniert ist, glauben die Leute, es sei real. Ich sag ja, gegen die Realität wird der Aufstand immer nur geprobt.

Aber diese Sarah Rotblatt ist ja nun, da während ich versuche, in den Nachtschichten unsichtbar zu werden, erst recht davon überzeugt, dass ich etwas Übermenschliches an mir habe. Weil ich ja nicht die Öffentlichkeit nicht suche. Weil ich keine Aufmerksamkeit möchte will. Keine Bühne. Keine Liebe. Keinen Applaus. Keinen Ruhm. Keine Realität.

Die Realität sieht anders aus. Da kommt einfach so eine Schönheitskönigin vorgefahren, die so aussieht, als könnten ihr der nicht mal zwei Jahrzehnte an Drogen verschwendete Nächte Charakter ins Gesicht zwingen könnten. Sie fällt vor dem Kühlschrank um und die Resttassen geraten völlig durcheinander in ihrem Schrank und sie bringt ihre Welt, in der sie ohnehin nie glücklich geworden wäre, einfach in meine hinein. So machen das die Leute, sie tragen ihre Behinderungen in eine Welt, die sie als größer empfinden als ihre eigene.

Ich bin den umgekehrten Weg gegangen. Ich habe eine große Behinderung in eine kleine Welt getragen. In so eine so kleine Welt, dass die Behinderung einfach nicht mit rein passte. Das hat funktioniert. Ich bin geflohen vor meinen Fehlern, die ordentliche Miese verursacht hatten. Wir sprechen hier von richtig Asche. Ich schulde einem Großdealer in Hannover über 100.000 Euro. Ich sage doch, richtig Asche. Die Stadt ist verbrannte Erde für mich. Wenn dort jemand herausfindet, dass ich hier an einer Tanke arbeite: Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Aber Frau Rotblatt ist mit ihren fehlenden Tassen beschäftigt, mit Aufmerksamkeit und Liebe und Frieden. Ich will nicht in meiner Vergangenheit leben. Mir ist auch egal, was die anderen welche für Probleme die anderen haben, ich bin bereit mir, das Blau weglügen zu lassen, ich will nur die Luft in meine Lungen und wieder aus ihnen hinaus bewegen.

Aber dann findet dich eine Schönheitskönigin in einem Kaff in Bayern. Scheiß auf Frau Rotblatt und alle, die nicht zufrieden damit sind, in Bedeutungslosigkeit vielleicht besser: unsichtbar unsichtbar zu leben.

 

Verlorene Versprechen

Ich war voller Zweifel, wie ich eine Hand oder einen Fuß bewegen sollte, und ich musste nachdenken, bevor ich zu sprechen begann, weil es so viele Wörter gab, aus denen man wählen musste, und so viele von ihnen waren ausgelacht und verhöhnt worden. Sobald ich den Mund aufmachte, wurdest du ungeduldig, also sprach ich immer weniger. Ich saß auf dem alten braunen Sofa, die Ellenbogen auf den Knien, den Rücken rund. Du standest vor dem Fenster, die Zigarette zwischen den Fingern, ich sah deine Turnschuhe, die Unruhe.

Wir waren schon so oft hier gewesen. Wie zwei Schauspieler, die wieder und wieder diesselbe Szene improvisierten. Aber ich war müde. Ich war müde wie jemand, der unter Schlaflosigkeit leidet. Meine Augen waren rot und ich atmete ein.

- Weißt ...

Doch mehr wollte schon nicht mehr aus meinem Mund. Das war nicht der richtige Anfang. Ich wollte nicht sprechen, ich wollte die Szene umschreiben. Das wolltest du auch, warum sonst hättest du in meinem Wohnzimmer gestanden? Das wolltest du auch. Auch wenn du es vielleicht nicht wusstest.

- Was weiß ich? Was soll ich wissen?

Die Wörter waren verbraucht. Sie waren älter, als ich es war, und sie waren müder. Wir hatten sie alle schon so oft benutzt. Sie hatten keine Kraft mehr. Oder war ich das?

Wie groß du warstdas ist der erste Hinweis, dass es eine Szene zwischen Vater und Kind ist, aber er ist sehr dezent, mir ist er erst beim zweiten Mal lesen deutlich geworden. Vielleicht wäre es sinnvoll, ihn zu verstärken, oder einen zweiten einzubauen, damit man nicht dem Irrglauben erliegt, ein Paar würde sich hier gegenüberstehen?. Und wie oft ich dich schon im Stich gelassen hatte. Und wie viel Worte ich dafür gefunden hatte. Wo waren sie nun? Ausflüchte, Rechtfertigungen, Vorwände, Abbitten, Auswege, Finten, Schwindel und Lügen. Wie kann man sich abwenden von einem Kind?

Und all die guten Vorsätze, die Absichten, die Ziele und Wünsche. Die Versprechen. Die Versprechen, von denen du sagtest, sie seien leer gewesen. Leer. Voll. Halbleer. Halbvoll.

So war es nicht. Nicht mit den Gläsern und nicht mit den Versprechen. Das Glas war größer als sein Inhalt. Und das Leben war zu groß für meine Versprechen. Sie gingen einfach darin verloren.

Wenn ich das gesagt hätte, hätte es wieder nach einer Ausrede geklungen. Du hättest gesagt, ich sei einfach immer noch nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber ich war zu klein. Zu klein für dieses Leben.

Ich weiß nicht mehr, ob Worte diese Geschichte überhaupt erzählen können. Ob sie einen Anfang finden können. Nicht als Entschuldigung. Nicht als Erklärung. Nur, um diese Müdigkeit zu beseitigen. Diese Schwere. Nur um einen Moment lang der Schuld und der Scham einen Namen zu geben.

- Es ist ... meine Schuld.

- Ja, sagtest du, heute also wieder diese Leier, ja? Es ist ja alles meine Schuld. Und du zerbrichst unter dieser Last. Wieso? Wieso geht es immer nur um dich? Was ist mit meiner Last? Wie konntest du? Hast du auch mal an uns gedacht? Deine Schuld, dass ich nicht lache.

Ich sagte doch, alles, was meinen Mund verließ, war falsch. Wenn man so lange die falschen Dinge getan und gesagt hat ... wie ... ich weiß nicht ... wie ...

Du wusstest alles. Du wusstest, dass mein Vater Briefträger war. So war er immer schon betrunken, wenn ich aus der Schule kam. Meistens ging er vor mir zu Bett. Der Geruch, die Schläge, wie er der Länge nach hinfiel. Es ist alles so weit weg. So weit.

Auch die Wochen, in denen er sich kolossal zusammenriss, wie er sagte. Wie er dann rauchte. Ernte 23, eine nach der anderen. Wie schlecht er aussah, wie grau seine Haut dann wurde und wie tief die Ringe unter den Augen. Wie er bis Sendeschluss fern sah und wie vorsichtig wir dann immer waren, weil man nicht sagen konnte, wann er wieder anfangen würde, in zwei Tagen, in zwei Wochen oder in drei Monaten. Er war gereizt in dieser Zeit, aber ihm rutschte nie die Hand aus. Er konnte sich ja kolossal zusammenreißen.

Ich habe dich nie geschlagen. Und mein Vater ist nie in die Kneipe gegangen. diese beiden Sätze nacheinander funktionieren für mich nicht wirklich, sie hängen ja nicht unmittelbar zusammen, oder übersehe ich was? den Satz mit dem Schlagen, kann man den hier nicht rausnehmen? braucht es ihn? Nicht mal sonntags zum Frühschoppen, wie er immer gerne tönte.. Man findet immer ein gutes Haar an sich selbst.

Vielleicht hat er auch nur zu Hause getrunken, weil es billiger war. Mutter nörgelte ständig, wie wenig Geld wir hatten, dass er es zu nichts gebracht hatte, dass wir ihr noch die Haare vom Kopf fressen würden, meine Schwestern und ich.

Wenn man draußen nicht fror, saß sie auf dem Balkon, legte die Beine in den Nylonstrumpfhosen hoch und lackierte sich die Fingernägel, während sie rauchte. Sie redete oft mit Passanten, aber ich habe nie mitbekommen, dass sie einen hochholte. Auch wenn Vater sie billige Hure nannte, lange bevor ich verstand, was das hieß. Doch er hat sie nie geschlagen. Es traf immer nur uns Kinder. Und am meisten mich, weil ich der Junge war. Und weil man so lernte, das Leben zu ertragen und sich kolossal zusammenzureißen. vielleicht hier einfügen: Ich habe dich nie geschlagen.

Fängt unsere Geschichte dort an? Was hätte ich dir erzählen können, was du nicht schon wusstest? Dass ich zu früh zu viel getrunken habe? Dass ich an der Hotelrezeption gearbeitet habe, weil ich mit sechzehn zu Hause Wohngeld abgeben musste, und damit ich den Ernst des Lebens sah und kein verweichlichter Bücherwurm wurde? Dass sie mich im Hotel rausgeschmissen haben, weil sie mich zwei Mal schlafend auf der Toilette gefunden haben?

Geschichten, bloß Geschichten, über die du gelacht hättest. Was ging dich das an. Meine Eltern waren schon längst tot. Wer wusste, ob ich das nicht alles erfand, die Worte wiederholte, bis ich sie selbst glaubte. Was zählte es da, dass ich dich nie geschlagen hatte?

Wie hatte ich dich belügen können? Das war, was du nicht verstehen konntest. Wie hatte ich sagen können, dass es nicht lange dauern würde. Fünf Jahre. Eine Ewigkeit für ein Kind.

Ich hatte schon vorher gelogen. Oder geschwiegen.

Wie damals, als deine Mutter mich zur Rede stellte. Was hätte ich sagen können? Dabei war ich damals nicht so müde gewesen wie jetzt. Die Worte lagen noch nicht unter den Jahren, Jahren wie Bleiplatten.

Aber meine Zunge war schwer gewesen. Sie war nicht zu leugnen gewesen, die andere Frau. Aber musste ich deshalb sprechen? Was half es? Ich hatte es versucht. Ich hatte versucht zu sprechen. So wie ich es jetzt auch versuchte. Aber das kann man nicht sehen. Man sieht nur Schweigen. Schweigen. Als könne man aus dem Nichts etwas machen. Aus keinen Wörtern eine Mauer bauen.

Man kann reden, man kann so viel reden, gegen jede Wand. Man kann so viel reden und eine Stimme ist wichtig, wenn man noch nicht zu beschämt ist, um zu erzählen, wie man sich fühlt.

War alles meine Schuld? Das Valium, die Ginflaschen, dass alles zerfiel, auseinanderbrach? War es mein Versagen? Sagt das irgendetwas, Versagen?

Als würdest du versuchen, Sirup eine Form zu geben, so ging es uns. Alles versank in einem klebrigen Brei, in dem man kaum noch atmen konnte, alles klebte, und der Ärger passte sich überall an, er fand einen Weg, wie auch das Wasser und die Einsamkeit immer einen Weg finden. Wir konnten es nicht in Form bringen. Ich konnte es nicht. Es haftete Makel an mir. Er haftet an jedem, den ich getroffen habe. Alle versagen. Dinge sind Dinge, man kann sie nicht geradebiegen, und in jedem Leben laufen sie schief. Mal weniger, mal wie bei uns.

Jemand fuhr mir hinten drauf, das Auto musste in die Werkstatt, am nächsten Tag steckte die U-Bahn im Tunnel fest wäre es nicht besser, all das, das sich vermutlich auf ihn selbst bezieht, auch so zu schreiben: Jemand fährt mir hinten drauf, das Auto muss in die Werkstatt, am nächsten Tag stecke ich …, am dritten Tag warst du krank und deine Mutter steckte in etwas, das später eine Gedächtnislücke sein würde, am vierten Tag war der Wecker kaputt, am fünften biss mich der Köter des Nachbarn in die Wade, am sechsten verhob ich mir auf der Arbeit den Rücken und am siebten Tag konnte ich nur noch liegen.

Aber was würde ich dafür geben, immer wieder und wieder diese Woche zu erleben. Nur diese Woche. Nur nicht alles, was danach geschah. Wenn ich noch einmal hören könnte, wie du an meinem Bett sitzt und singst. Kommt ein Vogel geflogen. Kannst du dich daran erinnern. Immer wieder dasselbe Lied. Alle drei Strophen. Völlig schief.

Mutter hatte dir längst alles erzählt, worüber ich geschwiegen habe. Aber du hast trotzdem an meinem Bett gesessen und gesungen. Völlig schief. Völlig.

Und dann ist Mutter morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Konnte nicht mehr atmen in diesem Sirup aus Verlangen, Kränkungen, Sehnsucht, Festhalten und Vergessenwollen und Nievergessenkönnen.

Ich habe dich belogen. Wie kann ein Vater, der sein Kind so schief singen gehört hat, wie kann er ...

Ich höre es noch, wie du geschrien hast. Ich sehe, wie du strampelst, aber wenn ich aufwache, hört der Alptraum nicht auf. Du hast es geahnt. Ich habe gesagt, es ist nicht für lange, ich habe versprochen, dass ich bald wiederkomme.

Fünf Jahre sind lang. Und ich kenne meine Schwester. Aber wohin sonst hätte ich dich bringen können? Ein Vater, der in Hauseingängen schläft, in denen es zu kalt ist zum Träumen, und der die Wärme einer Nadel braucht.

Und dann diese Verachtung, diese Verachtung in deinen Augen. Ich hatte eine Arbeit, ich hatte eine Wohnung, ich hatte mich aufgerappelt, ich hatte an meinen Vater gedacht, ich hatte mich kolossal zusammengerissen, ich stand auf meinen Füßen, aber als du mich angesehen hast, war ich klein, kleiner als du.

Ich hätte da sein müssen. Ich hätte dich zum Anlass nehmen müssen, da zu sein. Aber es war wie ein großes Gefäß aus Glas. Ich konnte die Menschen draußen nicht berühren. Ich konnte gegen diese Scheibe hämmern, aber niemand sah mich. Niemand hat mich je gesehen. Dabei wollte ich raus, raus und mich beeilen, es richtig zu machen.

Ich habe mich beeilt und bin überall gestolpert und hingefallen, und ehe ich ganz aufstehen konnte, standest du schon da, bereit, mich zu verachten und auszulachen.

Weißt du, manche haben ein Händchen für bestimmte Dinge. Sie können singen zum Beispiel. Andere können üben, wie sie wollen, es wird nie richtig gut werden. Aber das heißt nicht, dass sie die Musik nicht mögen. Verstehst du? Verstehst du, manche haben einfach eine dünne Stimme. Sie trägt nicht. Nichts. Verstehst du? Ich habe dich immer ...

Hättest du es verstanden, wenn ich aufgehört hätte zu schweigen?

 

26 Knochen

Es gab nicht so viele Tage, an denen es passierte. Und sie fing nur an, wenn Tante Margit nicht da war. Dann erzählte Mutter manchmal von früher.

- Früher, sagte sie, da lagen die alle noch selber hier.

Und als wüsste ich es nicht, fragte ich nach.

- Auf Liegen?

- Ja. Damals war unser Laden noch in der Hartwigstraße und wir hatten vier Liegen nebeneinander und manchmal waren alle vier besetzt. Es gab auch noch ein Sofa, auf dem die Leute saßen, bevor sie drankamen. Sie konnten in Zeitschriften blättern und haben Tee bekommen. Ganz früher haben wir auch viel mit den Kunden geredet. Über das Wetter, über das Leben, über die Veränderungen in der Stadt. Oder sie haben gestöhnt vor Wohlbehagen.

- Gestöhnt, sagte ich, weil ich mir das nicht vorstellen konnte.

- Ja, gestöhnt, geseufzt, geschnauft, geschnurrt. Da war das Geschäft manchmal voller Menschen und Geräusche.

Da Mutter nicht mehr weitersprach, fragte ich nach.

- Und sie haben gestöhnt, solange es die Liegen gab?

- Nein, nein. Das wurde schon anders, als sie noch lagen. Irgendwann haben die sich Kopfhörer aufgesetzt oder gelesen oder mit Headset telefoniert. Sie haben auf ihren Taschentelefonen Mails getippt. Sie lagen noch auf den Liegen, aber sie waren nicht mehr wirklich da. Und ihre Sohlen wurden weicher. Früher waren die Sohlen härter, aber die Muskeln weicher, dann wurden die Sohlen weicher, aber die Muskeln härter. Gegen Ende kamen die meisten hier herein, als würden sie Schuhe zum Schuster bringen. Sie hatten sich entfernt von ihren Füßen. Motorisierte Sitzsüchtige, sie sind alle motorisierte Sitzsüchtige geworden.

Ein Fenster ploppte auf und kündigte mit einem Signalton einen Kunden an. Mutter schaute auf den Monitor, dann überspielte sie die Daten des Kunden auf die beiden Silikonfüße, die links neben der Tastatur aus dem Tisch ragten, und begann mit der Arbeit.

Motorisierte Sitzsüchtige, meine Mutter war der einzige Mensch, der das sagte, die anderen sprachen von mobiler Behaglichkeit. Und Mutter hatte auch nicht Recht, die Zeiten, von denen sie sprach, waren vorbei, die Menschen brauchten nicht mehr motorisiert zu sein, sie mussten sich kaum noch bewegen, alles war immer nur wenige Klicks entfernt.

- Früher kannten die Menschen ihre Füße so gut wie ihre Hände, sagte Mutter und verstummte dann, weil Tante Margits Rechner auch ein Signalton von sich gab. Kurz darauf kam Tante Margit durch die Hintertür.

Sie mochte es nicht, wenn Mutter so von früher erzählte. Früher, wenn man Tante Margit zuhörte, hatte es ein ganz anderes Früher gegeben.

Tante Margit setzte sich meiner Mutter gegenüber an ihren Rechner und überspielte die Daten auf das Paar Füße, das auf ihrer Seite aus dem Tisch ragte. Sie begann zu massieren. Die Stille verriet uns.

- Hast du wieder von früher erzählt?, fragte Tante Margit. Du lügst dem Kind eine Vergangenheit zurecht. Jackie, sagte sie und wandte sich an mich, man kann es nicht oft genug sagen, aber so, wie deine Mutter es erzählt, war es nie. Früher kamen die Kunden in unseren Laden, sie haben ihre Schuhe ausgezogen und den Schweißgeruch hast du den ganzen Tag nicht mehr aus der Nase bekommen, egal wie gut du ihnen die Füße gewaschen hast und egal, wie du dir die Nase gespült hast. Man musste ihre Warzen, Schwielen, Hühneraugen berühren, die verwachsenen Zehen. Man hat die eingewachsenen Nägel gesehen, die dicke Hornhaut gespürt, den Pilz zwischen Zehen entdeckt. Wenn ich abends gekocht habe, wollte ich nicht mal mehr das Messer anfassen, geschweige denn das Gemüse. Mit den Händen, mit denen ich massiert habe, habe ich gekocht und gegessen. Und heute? Saubere Silikonfüße. Man lädt Spiegelneuronen drauf, massiert sie und der Kunde kann sich die bearbeiteten Spiegelneuronen in sein System laden. Fortschritt. Runterladen und gleich erholt fühlen. Keine weiten Wege, kein Warten, man muss nicht mehr anwesend sein, aber das waren sie ja auch nicht, als sie noch körperlich hier waren. Und für uns? Kein Gestank, keine Warzen, keine abgefaulten Nägel, kein Waschen, einfach saubere Arbeit. Und genauso gut bezahlt wie damals. Eigentlich sogar besser. Weißt du, was wir damals für den Laden Miete zahlen mussten? Redet deine Mutter je davon? Der Tee, den die Leute getrunken haben, während sie warteten, war ja umsonst. Und was sie für einen Schwachsinn geredet haben. Oder wie sie auf diese kleine Fläche gestarrt haben, die sie da in der Hand hielten. Die Menschen haben ja gar nichts mehr gesehen außer dem Bildschirm ihres Telefons. Aber alle haben geglaubt, sie wüssten etwas von der Welt, weil sie auf dem Bildschirm darüber gelesen haben. Glaub mir, es ist gut, dass wir heute nicht mehr wissen, wem die Füße gehören, da arbeitet man einfach besser. Es ist mir egal, wer da seine Daten überspielt, weil er eine Massage möchte. Ich bediene alle gleich gut, das war früher nicht so. Und ich gehe mit sauberen Händen aus dem Büro. Deine Mutter träumt, Mädchen, lass dir das gesagt sein. Weißt du woran du erkennen kannst, ob jemand alt ist? Daran, dass er dir erzählt, dass früher alles besser war. Man muss manchmal einfach seine Brille absetzen, wenn man klar sehen will.

Tante Margit war nicht wie Mutter, man musste ihr keine Fragen stellen, damit sie weiterredete. Doch nun schwiegen wir alle drei. Tante Margit war schneller fertig als meine Mutter, sie stand auf und ging vorne raus, um eine zu rauchen. Rauchende Menschen in Hauseingängen sah man öfters, aber Tante Margit war von Frühling bis Herbst auch noch barfuß und die Passanten schauten sie oft komisch an.

- Füße sind mehr als nur Spiegelneuronen, auch wenn die Wirksamkeit der Spiegelneuronenmassage wissenschaftlich bewiesen ist, sagte Mutter. Ein Fuß hat 26 Knochen, 107 Bänder und 19 Muskeln. 52 Knochen, 214 Bänder, 38 Muskeln, das ist unser Fundament, das ist, was uns mit der Erde verbindet, das ist, was uns trägt. Durch das Leben. Den ganzen Tag belasten wir die Füße, doch anstatt dankbar zu sein, vernachlässigen wir sie und sperren sie ein. Barfuß laufen, damit die Füße Luft holen können, atmen, das müsste normal sein, doch die Menschen haben Angst vor der Erde, sie haben Angst vor Kontakt. Sie wollen Grenzen, und dieses Internet und die Spiegelneuronen lassen sie glauben, die Grenzen hätten sich aufgelöst, aber dabei sind sie stärker als vorher, nur eben nicht mehr sichtbar. Kontakt. Der Klang eines Stöhnens vor dir, das Gefühl von Haut an Haut, und sei es Hornhaut, der Geruch, allein die Tatsache, dass man im selben Raum ist, das alles lässt sich nicht ersetzen. Genauso wenig die Zeit, die Menschen ihren Füßen widmen.

- Aber das weiß Tante Margit doch auch, oder nicht?, sagte ich an diesem Tag. Deswegen läuft sie doch immer barfuß herum, oder?

- Ja, sagte Mutter, ja, das weiß Tante Margit auch. Alle wissen das. Auch die Kunden. Die Frage ist nur, was man aus diesem Wissen macht. Tante Margit raucht ja auch, obwohl sie weiß, dass es nicht ...

Meine Mutter verstummte, weil die Tür aufging. Tante Margit sah uns an und lächelte.

- Jackie, sagte sie und lachte dann einfach.

Ich fragte mich, wie ich gerne später mal wäre. Lieber wie Mutter oder lieber wie Tante Margit. Ich schaute auf meine nackten Füße, als könnte dort eine Antwort verborgen sein.