Steine legen

- Wer lebt, verliert, sagte die Frau.

Ich drehte den Kopf und sah sie an. Sie hatte sich näher zu mir gesetzt als man das normalerweise tat. Die Bank neben uns war frei. Und was sie sagte, war nicht das, was ich hören wollte. Ich hatte verloren. Zwei Mal. Doch das konnte sie mir ja kaum ansehen.

Ich deutete ein Lächeln an, nickte und sah dann wieder auf den Fluss.

- Ja, sagte sie, als hätte sie das Lächeln als Aufforderung verstanden. Wer lebt, verliert. Meist ganz beiläufig, Schuppen, Haare, Flüssigkeit, aber auch Büroklammern und Feuerzeuge, Kugelschreiber, Socken, Münzen. Man verliert Milchzähne, die Fassung oder die Unschuld. Wer lebt, verliert. Am Ende das Leben. Und dann gibt es nichts mehr zu verlieren.

Wenn sie nur gewusst hätte, wie nah sie mit den beiden letzten Sätzen an meiner Wahrheit war und wie falsch sie trotzdem lag. Es gab noch mehr zu verlieren als ein Leben.

Wieder drehte ich den Kopf, doch dieses Mal ließ ich die Höflichkeit weg, ich machte ein Gesicht, das verdeutlichte, dass ich allein sein wollte. Ich hoffte, ich machte dieses Gesicht.

Mein Blick fiel auf ihre Hand. Ihr fehlten Mittel-und Ringfinger der linken Hand. Verloren. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und blickte wieder auf den Fluss. Ein Teil meiner Aufmerksamkeit war dennoch bei ihr. Ich war genervt, obwohl sie möglicherweise nichts dafür konnte dafür, dass er genervt ist, kann sie wohl in jedem Fall was, oder? Wäre nicht besser: obwohl sie es möglicherweise nicht darauf anlegte?. Immerhin hielt sie nun den Mund. Ungefähr zwei Minuten lang.

- Einer der häufigsten Gründe, warum Menschen sich allein fühlen, ist, dass sie allein sein wollen, sagte sie.

Ein drittes Mal drehte ich den Kopf und sah sie an. Sie mochte Anfang vierzig sein, ihr kinnlanges Haar war von einem stumpfen Blond und brauchte dringend einen neuen Schnitt. Sie war ungeschminkt, trug eine braune Strickjacke, blaue Jeans und flache Lederhalbschuhe, die vorne leicht spitz waren, in einem Braun, das nicht ganz zu ihrer Jacke passte. Ich hätte sie als spießig, langweilig oder uninteressant eingeordnet, wenn dieser Blick nicht gewesen wäre. Ihre Augen waren blassblau und nicht besonders eindrucksvoll, aber ihr Blick war offen wie ein Meer.

Ich sah nach vorne. Es war wie eine Szene aus einem zweifelhaften amerikanischen Blockbuster. Junge Frau sitzt allein am Fluss, augenscheinlich traurig. Ältere Frau setzt sich neben sie und spricht mit ihr. Einige simple Weisheiten verändern die Perspektive der jungen Frau und geben ihr Kraft und Hoffnung.

Nicht, dass ich das nicht gebraucht hätte. Doch das hier war kein Film. Es fehlte die Musik. Doch die fehlte mir schon lange.

Was dann geschah, erschien mir surreal anbesser: erschien mir surreal. Die Frau kippte nach vorne, bis ihr Oberkörper auf ihren Schenkel war, gab die flachen Hände auf den Boden, hob das Gesäß, ihre Beine grätschten sich, verließen den Boden und hoben sich Richtung Himmel, bis sie im Handstand war. Oben gab sie die Beine zusammen, und nach drei, vier Sekunden ging es auf demselben Weg zurück. Sie setzte sich und legte ihre Hände auf ihren Bauch.

Sie wirkte weder stolz, noch cool, noch bescheiden. Hätte man es nicht gesehen, hätte man nicht geglaubt, dass sie gerade noch im Handstand gewesen war. Nicht mal ihr Atem ging schwerer.

Es dauerte einige Momente, bis ich mich wieder hatte. Na und? Dann gab es halt bieder aussehende Frauen, denen zwei Finger fehlten und die sich in den Handstand drücken konnten. Was änderte das? Was änderte das daran, dass ich mich fühlte, als würde jeden Tag jemand einen neuen Stein in mein Herz legen? Dass ich nicht wusste, wie ich all diese Steine bis zum Ende der drei Monate tragen sollte?

Es gab Frauen, für die sich das erste verlorene Leben schon wie eine Katastrophe anfühlte. Ein Leben, das nicht in dir wachsen will. Es passierte häufiger, als darüber gesprochen wurde. Das tröstete ein wenig. Denn das war es ja, was man suchte, Trost.

Beim zweiten Mal weißt du, dass mit jeder Fehlgeburt das Risiko einer weiteren Fehlgeburt steigt. Spätestens beim zweiten Mal fängst du an zu glauben, dass etwas mit dir nicht stimmt. Mit deinem Körper. Mit deiner Ernährung. Mit deinem Kopf. Mit deinem Leben. Beim zweiten Mal hilft der erste Trost schon nicht mehr. Trost ist meist nur Einweg-Trost.

Beim zweiten Mal geht die Trauer dir an die Kehle, schnürt sie zu, rüttelt an deinen Grundfesten und versucht dich vollständig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dein Mann, falls du einen hast, steht hilflos daneben, hilflos, sprachlos, trostlos. Dann geht er mit seinen Freunden ins Kino. Das ist seine Art, mit Problemen umzugehen. Weg und abschalten.

Abschalten. Wenn ich nur auch einmal abschalten könnte.

Wenn das Leben in dir zum zweiten Mal einfach aufhört und dein Körper es nicht abstößt, musst du womöglich ins Krankenhaus. Zur Ausschabung. Sie klären dich darüber auf, dass deine Gebärmutter Schaden nehmen kann, dass du unter Umständen nie Kinder bekommen wirst. Unterschreiben Sie hier.

Das wünscht man niemandem.

Beim dritten Mal weißt du nicht, wie du ein drittes Mal ertragen sollst. Beim dritten Mal ist es, als würde jemand die Namen der Sorgen auf Steine schreiben und dann in dein Herz legen.

- Das geht anderen auch so, sagte die Frau.

- Bitte?

- Das geht anderen auch so. Sie ist die Brille, durch die man seinen Nachbarn betrachtet, sie ist es, die einem Seile und Ketten gibt, Klebestreifen und Stacheldraht, damit man seine Liebsten nicht verliert. Sie füllt die Vorratskammern, sie treibt einen von einer Sprosse zur nächsten, sie lässt einen überhaupt erst in Sprossen denken, sie vergrößert die Augen, sie schärft die Aufmerksamkeit. Sie lässt die Menschen wagemutig erscheinen. Sie gibt Kraft, Hindernisse zu überwinden. Sie das Feuer unter dem Arsch der Menschheit.

- Was geht anderen auch so? Wovon reden Sie?

- Wovon wohl?

Sie lächelte mich an, herzlich. Was wollte sie von mir? Warum konnte ich nicht in Ruhe am Fluss sitzen? Warum zog ich solche Menschen an? Was war nur falsch mit mir?

- Ich bin nicht verrückt, sagte die Frau nun. Ich bin ganz gerade. Doch wenn man gerade Sachen sagt, dann denken die Leute, man wäre verrückt. Wovon rede ich? Sie versteckt sich hinter jedem Kuss, jedem Tanz, jedem Rausch. Man verwechselt sie mit Einsamkeit oder Sehnsucht, und weil sie immer bei einem bleibt, glaubt man irgendwann, sie wäre ein fester Grund.

Ich hätte ihr am liebsten meine Geschichte ins Gesicht geschmissen und wäre gegangen. Was stellte sie mir hier für Rätselfragen?

- Von der Angst rede ich, sagte sie. Man glaubt, man hinge an einem Seil und unter einem in der Grube warten schon die Löwen. Und oben nagt eine Maus an dem Seil. Dabei weiß man nicht, ob es eine Maus gibt. Eine Grube. Löwen. Man weiß nicht mal, ob das Seil, an das man sich klammert, das einzige ist, oder ob man noch von anderen gehalten wird, ohne dass man es merkt. Aber wie soll man es auch merken, wenn man sich mit beiden Hände an ein einzelnes Seil klammert? Es ist genauso sinnvoll, als würde man fürchten, morgens aufzuwachen und die Hände und Füße wären verschwunden.

Was weißt du denn schon?, hätte ich sie am liebsten angeschrien. Hier geht es nicht um Hände und Füße. Hier geht es um ein Leben.

- Vertrauen, sagte sie, man vertraut darauf, dass man morgens aufwacht und die Hände und Füße sind noch da. Vertrauen ist das Gegenteil von Angst. Und nicht etwa Mut. Man vertraut darauf, dass die Atmung weitergeht, auch wenn man nicht darauf achtet, man vertraut darauf, dass genug Luft da ist. Und es ist immer Luft da. Wie in einer Flöte. Es ist Luft drin, auch wenn sie gerade nicht gespielt wird. Man muss vertrauen. Jeden Abend, bevor man einschläft. Viele tun das, ohne es zu wissen. Sie vertrauen. Aber es ist für alle interessanter, sich an einem Seil festzuhalten. Oder sich davor zu fürchten, dass die Flöte leer ist. Es ist genug da. Auch, wenn du das nicht glaubst.

Sie duzte mich. Es war ein wenig, als wäre ich in einem Traum, wo sich die Dinge plötzlich und ohne Logik ändern. Meine Wut war auf einmal verschwunden und ich suchte in mir nach den Resten. Mir war, als hätte ich die Frau schon einmal irgendwo gesehen. Doch wo hätte das sein sollen?

Ihre Worte waren bloß Worte, aber die Ruhe, mit der sie sie sprach ... Sie kamen vielleicht aus einem Vertrauen. So wie ihr Blick. Ich fühlte mich gegen meinen Willen getröstet. Auf eine Weise, die mir vertraut erschien, die ich aber nicht einordnen konnte.

- Du kannst dich nicht an mich erinnern, stellte die Frau fest. Ich bin nicht verrückt. Ich spreche nicht einfach so Menschen an und versuche einen Kontakt herzustellen. Ich bin Krankenschwester. Ich habe dich gesehen, als du auf dem Gang aus der Narkose aufgewacht bist. Und als ich dich hier sitzen sah, mit diesem Gesicht, da konnte ich mir leicht ausrechnen, was los war. Ich bin nicht verrückt, aber ...

Sie steckte ihre Hand in die Tasche ihrer Strickjacke und holte eine kleine Holzdose hervor, auf deren Deckel eine Schildkröte war.

- Nimm diese Dose, sagte sie. Sie wird dir helfen, auch wenn du nicht daran glaubst. Du darfst aber nicht reinschauen, bevor die drei Monate vergangen sind. Es ist nur eine Dose und ich bin weder verrückt, noch abergläubisch, aber sie wird dir helfen. Glaub mir.

Sie legte die Dose in meine Hand und schloss meine Finger darum. Ich konnte mich nicht erinnern, in einem Gang aufgewacht zu sein. Ich war erst im Zimmer zu mir gekommen.

- Warum ... Warum hast du einen Handstand gemacht?

Man stellt nicht die Fragen, die man stellen möchte.

- Man wird getragen, sagte sie.

In ihrer Jackentasche klingelte ein Mobiltelefon. Ohne dranzugehen stand sie auf und gab mir die Hand.

- Ich muss ..., sagte sie. Gott segne dich.

Ich sah ihr hinterher, wie sie die Treppe zur Straße hochstieg und dabei den Anruf entgegennahm.

Ich hätte ein Wunder gebraucht. Nicht eine Frau wie aus einem Film oder einem Traum. Ich hätte ein Wunder gebraucht und ich wusste nicht, warum mir die Tränen in die Augen traten.

Ein Wunder. Wie die Empfängnis. Ein Wunder. Sie hatte mit acht Finger, einen Handstand gemacht. Sie hatte gewusst, was mit mir los war. Ein Wunder.

Man aß, man schlief, man hatte Sex, man saß am Fluss, man redete, man staunte, lehnte ab, kategorisierte die Dinge im Kopf, man war beeindruckt, vor allem von den eigenen Sorgen, aber auch ein wenig von den Bewegungen des Wassers. Man hatte Angst vor Mäusen und Löwen. Doch ich hatte sie ja schon gesehen, die Mäuse und Löwen. Nun wusste ich nicht, ob sie nicht schon wieder da waren. Vertrauen. Das war so leicht gesagt. Ich brauchte ein Wunder. Ein richtiges, nicht eines wie Licht, wie Luft, wie die Töne aus der Flöte.

Ich steckte die Dose ein, ohne sie zu öffnen, und ging nach Hause.

Nichts wurde leichter, immer noch legte mir die Angst Steine ins Herz, immer noch schaute ich jedes Mal, wenn ich auf die Toilette ging, ob Blut in der Hose war. Ich hatte Angst vor Gruben, vor Löwen, vor Mäusen. Es gab keinen Wendepunkt. Es war kein Film. Aber irgendetwas war anders nach dieser Begegnung.

Allein diese Worte schienen einen Unterschied zu machen. Dass Vertrauen das Gegenteil von Angst war.

Es war nicht mehr so, als lernte man eine neue Sprache und fürchtete, sich ständig in den fremden Wörtern zu verheddern, bis man nicht mehr hinausfand. Es war so, als gäbe es einen sicheren Grund. Als würde wenige Wörter schon reichen, wenn man nur die Hände und Füße dazu nahm. Man musste sich nur trauen. Vertrauen.

Irgendetwas war anders. Man könnte glauben, dass es die Hormone waren. Doch das war es nicht. Irgendetwas war anders. Als würde man dort schwimmen, wo man den Grund nicht mal ahnen kann. Man ging nicht unter. Das war in ihrem Blick gewesen. Man ging nicht unter. So war es nicht beschaffen, das Wasser, man selbst, das Leben.

Als ich schließlich die Dose aufmachte, war nichts darin. Ich musste lachen. Die Dose war leer. Was hatte ich auch erwartet?