Welcher Käfig

Die Bilder, fast nur die Bilder blieben später übrig. Die Bilder und die Erinnerung an die feuchte, heiße Luft, die sich auf ihren Körper legte, als wollte sie noch etwas anderes als Schweiß aus ihr herauspressen.

An die Angst konnte sie sich nicht mehr richtig erinnern. Sie wusste, sie war da gewesen, eine albtraumhafte Angst, aber die Person, die diese Angst erlebt hatte, schien ihr weit weg. Es war jemand, von dem sie sich in den vergangenen fünf Jahren weit entfernt hatte.

Dabei dachte sie gerne an die Zeit, die sie als Entwicklungshelferin im bolivianischen Tiefland verbracht hatte, in Rurrenabaque, einem kleinen Dorf, das viele Touristen als Ausgangspunkt für Dschungeltouren nutzten.

Sie war schon vorher in Südamerika gewesen, sie konnte leidlich Spanisch, sie mochte das tropische Klima des Tieflandes, ihr gefiel die Vorstellung, ein ganzes Jahr dort zu verbringen, umgeben von Palmen, von Bananen-, Mango-, und Brotfruchtbäumen.

Wenn sie auf die Hügel stieg, stillte das satte Grün den Hunger ihrer Augen. Sie hatte Samen mitgebracht, Basilikum, Rucola, Rosmarin und Thymian, alles keimte und wuchs dann beeindruckend schnell, auch der Jiaogulan trieb aus, das war ihr zu Hause nicht geglückt. Sie war frei von den Zwängen der Heimat, sie war weit weg von Verkehrslärm, Beton und Konsumterror. Es gab nicht mal immer Milch in dem kleinen Supermarkt.

Sie teilte sich ein Haus mit einer Mitarbeiterin des Entwicklungsdienstes, die schon länger in Bolivien war als sie. In den ersten Tagen empfand sie alle Geräusche als irritierend. Sie wusste nie, ob ein Laut von drinnen oder von draußen kam. Da die Fenster keine Scheiben hatten, schien der Schall aus dem Nebenzimmer durch das eine Fenster nach draußen und von dort über das andere Fenster wieder nach innen zu dringen.

Keines der Häuser im Ort hatte Fensterscheiben, es gab häufig Moskitonetze und manchmal zusätzlich noch Eisengitter, um sich vor Einbrechern zu schützen, doch niemand brauchte in diesem Klima Glas. Das Haus der beiden war mit Eisenstäben vergittert, die unten bauchig gebogen waren und oben in Spitzen endeten.

In den ersten Wochen wachte sie häufig nachts auf, weil der Nachbar betrunken nach Hause kam und dann seine Frau anschrie. Schlaftrunken, wie sie war, verließ ihr Spanisch sie dann, sie konnte nur wenige der verwaschenen Wörter verstehen. Dann gewöhnte sie es sich an, mit Ohrstöpseln zu schlafen. Ohrstöpsel, Slip und ein dünnes Laken, so legte sie sich abends ins Bett. So schwitzte sie jede Nacht.

Sie las in der Anfangszeit manchmal in dem Buch über Tropenkrankheiten, das man ihr mitgegeben hatte, sie las von den Würmer, die sich in die Fußsohlen fraßen, und von denen, die an beliebigen Körperstellen unter der Haut lebten und deutlich als Beulen sichtbar waren, sie las, dass es normal war, dass Haare und Nägel schneller wuchsen. Auch mit den Hormonen schien etwas zu geschehen in diesem Klima, doch darüber stand nichts im Buch. Sie war leise, wenn sie abends die Feuchtigkeit der Luft mit ihrer eigenen vermählte. Sie hatte das Gefühl zu bersten, weil sie alle Laute in sich hineinsaugte, und sogar das leichte Schmatzen, das ihre Finger manchmal verursachten, kam ihr ohrenbetäubend vor, bis sich schließlich alles in stillen Wellen entlud.

Mit den Scheiben fehlte auch ein Stück Privatsphäre, vor den Blicken wurde sie durch Vorhänge geschützt, vor fremden Ohren gab es keinen Schutz.

Sie gewöhnte sich an den Anblick von Kakerlaken und Vogelspinnen, sie gewöhnte sich daran, dass sie nachts aufwachte, weil ein Insekt auf ihrer Haut krabbelte.

Es war am Ende ihres zweiten Monats in Rurre, wie die Einheimischen den Ort nannten, als sie eines Nachts wieder glaubte, ein Insekt auf ihr zu spüren. Als sie mit der Hand danach tastete, begriff sie noch halb im Schlaf, dass das kein Insekt sein konnte. Das dünne Laken war ihre Beinen hinabgerutscht, und was sie für ein Tier gehalten hatte, war ein Stock. Sie fuhr hoch. Der Stock fiel zu Boden und sie erkannte durch das Fenstergitter noch den Rücken und die Arme eines Jungen. Ihr Herz schlug schnell. Viel zu schnell. Sie fragte sich hinterher, warum sie nicht geschrien hatte. So laut sie konnte.

Sie bedeckte sich mit dem Laken, griff nach der Wasserflasche neben ihrem Bett und sah, dass ihre Hände zitterten. Sie trank, holte die Stöpsel aus den Ohren, zog sich ein T-Shirt an und weckte ihre Mitbewohnerin, um ihr zu erzählen, was geschehen war. Wenn sie heute daran dachte, musste sie lächeln, doch damals hatte sie fast geweint.

Diese Angst. Die Angst, die sie wochenlang nicht mehr ruhig schlafen ließ, obwohl sie ihr Bett so weit wie möglich vom Fenster weggerückt hatte, diese Angst, ausgeliefert zu sein, diese Angst, dass sie nie wieder würde beide Augen gleichzeitig schließen können, dass von nun an eines immer wach bleiben musste.

Das war weit weg, aber das Bild war geblieben. Das Bild eines Käfigs. Die Gitter hatten den Raum in einen Käfig verwandelt, einen Käfig, in dem sie dem Betrachter ausgeliefert gewesen war.

Und der Junge, vierzehn, höchstens vierzehn Jahre alt, auch er war gefangen gewesen, gefangen in einem Körper, der sich so schnell veränderte besser vielleicht: der sich schneller veränderte als seine Seel? oder: der sich so schnell veränderte, dass er mit ihm nicht mithalten konnte; rasend schnell verändert sich der Körper ja nicht, nur zu schnell für den Charakter, dass er kaum mithalten konnte. Er war überwältigt gewesen von Neugier und Lust, die ihn einfach vor das Fenster gezogen hatten.

Fünf Jahre später saß sie in Hameln und dachte über Rurrenabaque nach, über die vergitterten Fenster und die Luft zum Atmen, die man sich teilen musste. Hier hingegen konnte jeder seine eigene beanspruchen. Man machte einfach die Fenster zu.

Sie war sicher gewesen, auch wenn sie sich nicht so gefühlt hatte. Der Junge hätte nicht in ihr Zimmer eindringen können. Der Käfig hatte sie beide beschützt. Eine Fensterscheibe dagegen konnte man einschmeißen, man konnte sich verletzen an den Scherben. Sie war sicher gewesen in jener Nacht. Was gab es schon zu sehen? Die Brüste einer weißen Frau.

würde ich streichen – das wiederholt nur, was oben steht, und sagt dabei irgendwie nichts neuesHeute stellte sie sich vor, wie es hätte sein können. Wie sie sich hätte schlafend stellen können. Wie sie ihn aus kaum geöffneten Lidern beobachtet hätte. Hätte der Junge angefangen, dort die Laute in sich hineinzusaugen, wie sie es abends manchmal getan hatte?

Eine Phantasie. Nur eine Phantasie. Es gab auch ein Leben draußen und dort hätte sie ihm nicht begegnen mögen.

Ein Käfig, das was man Privatsphäre nannte, war ein Käfig, das wurde ihr nun klar. Man brauchte nur das Glas durch Gitter zu ersetzen, schon konnte man klarer sehen. Doch man geriet ins Wanken, wenn man verstehen wollte, wer eingesperrt und wer ausgesperrt war. Man geriet ins Wanken, wenn man verstehen wollte, in welche Richtung sich das Verlangen bewegte und in welche Richtung die Sehnsucht.

Man wollte Sicherheit, man wollte die Türen und Fenster hinter sich schließen können, man wollte die Welt verkleinern, auf die eigene Behausung reduzieren können. Doch da war die Sehnsucht, die einen raustrieb und andere zu einem hinein. Da war die Sehnsucht, die immer wieder an der Scheibe abprallte. Doch auf welcher Seite?

Wozu all die Schaufenster, wenn nicht um die Sehnsucht anzustacheln, um zu zeigen, was einem zum Glück fehlte. Wozu die Schaufenster, wenn nicht um zu zeigen, dass das Leben ein Mangel war, ein Mangel an Eigentum, ein Mangel an Liebe, ein Mangel an Sicherheit.

Jede Scheibe, die sie nun sah, war etwas, womit man sich selbst verletzen konnte, solange sie noch nicht gebrochen war. Gebrochen wie Eis.

Die Angst, die Angst hatte sie vergessen, und sie sehnte sich danach, wieder ohne Scheiben zu leben, warm, mit wenig Waren in den Regalen und der Möglichkeit, Menschen zu berühren irgendwo im Grünen, die gleiche Luft zu atmen wie alle anderen.

Kontakt, die Gitter standen auch für Kontakt. Dass sie Angst gehabt hatte, schien ihr nun fast unverständlich. Angst vor Nähe. Jede Scheibe, die sie nun sah, kam ihr vor, als sei sie aus Angst gemacht worden.