Stimmt

Wach auf, sagt eine Stimme. Wach auf. Sie sagt es leise und beim Aufwachen glaube ich noch, es könnte der Rest aus einem Traum sein. Steh auf, geh ins Bad, sagt die Stimme, du hast heute Großes vor.

Es ist Samstag, ich habe frei.

Während ich mich dusche, ist alles ganz normal, doch als ich meinen Kaffee trinke, höre ich erneut diese Stimme. Sie kommt nicht von außen, sie ist in meinem Kopf. Jahrelang habe ich mit Menschen zu tun gehabt, die Stimmen hören, ich war Pfleger in einer geschlossenen Anstalt, bevor ich ins Kinderkrankenhaus gewechselt bin.

Auch gesunde Menschen können Stimmen hören, wenn sie müde sind oder gestresst, nach Trauerfällen oder wenn man zu lange allein ist. Nichts davon trifft auf mich zu. Es war eine Männerstimme, die so klang, als würde sie aus einem Ofen kommen, der schon rot glühte. Besser kann ich es nicht beschreiben.

Als ich meinen Kaffee trinke, sagt die Stimme: Sie ist böse. Jahrelang hat sie dich getriezt, hat dir die Hölle heiß gemacht, wenn du nur ein Bier zuviel getrunken hast, hat sie dich gequält mit ihrer krankhaften Eifersucht und mit ihrem Geiz. Sie hasst nicht nur dich, sie hasst alle Männer.

Wie gesagt, die Stimme ist leise, aber ich kann sie gut verstehen. Sie spricht in ganzen Sätzen und redet eindringlich. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, dass ich nicht verrückt bin. Wenn es eine Zeit gab, in der ich hätte verrückt werden können, dann als ich noch in der Geschlossenen gearbeitet habe.

Schizophrenie, Depressionen, Borderline-Störungen, Psychosen, Manien, ich habe alles schon gesehen, aber ich bin gesund da raus gekommen, ich arbeite seit fünf Jahren schon nicht mehr dort. Ich bin gesund.

Reiß die Arme hoch, sagt die Stimme, atme tief ein und aus.

Ich bleibe unbewegt sitzen. Mag sein, dass da eine Stimme in meinem Kopf ist, aber ich gehorche ihr nicht. So einfach ist das. Diese Stimme ist nicht echt. Ich bilde sie mir nur ein. Niemand anders außer mir kann sie hören, also hat sie keine Realität. Außerdem ist sie leise. Sobald ich das Radio anmache, wird sie wahrscheinlich verschwinden.

Doch ich kann mich nicht auf die Nachrichten konzentrieren, die Stimme beansprucht Raum in meinem Kopf.

Sie ist böse, raunt sie mir zu, sie ist vom Bösen besessen. Sie hat ihre eigene Mutter in den Tod getrieben mit ihren ständigen Vorwürfen, dass sie als Kind immer vernachlässigt worden ist. Sie macht jedem, dem sie begegnet ein schlechtes Gewissen. Niemand fühlt sich wohl in ihrer Gegenwart. Du befreist nicht nur dich selber, du befreist die ganze Welt. Stell dir nur ihre Schüler vor. Sie hassen sie. Sie hassen sie alle. Nicht ein Schüler, der traurig wäre, wenn sie nicht mehr käme.

Ich beschließe ein wenig spazieren zu gehen, vielleicht wird die frische Luft mir gut tun. Ich schaue noch mal ins Schlafzimmer, Elena schläft noch. Vor zehn wird sie kaum aufwachen.

Es scheint, als würde die Stimme draußen leiser werden, doch sie ist noch da, wenn auch nur noch als Gemurmel, ich kann nicht mehr jedes Wort verstehen. Sie sagt, es würde wie ein Unfall aussehen, ich bräuchte keine Angst zu haben.

Ich kaufe Croissants, Brötchen und eine Zeitung, ich kaufe auch noch Mozzarella und Tomaten, ich kann alle alltäglichen Aufgaben problemlos erledigen, niemand merkt mir an, dass da diese Stimme in meinem Kopf ist, die mit jedem Schritt, den ich Richtung zu Hause mache, lauter wird.

Ich helfe dir, sagt sie, du kannst mir vertrauen. Ich werde dich nie im Stich lassen. Ich bin nicht wie sie.

Zurück in der Küche setzte ich mir Kopfhörer auf und mache Kaffee. Die Kopfhörer helfen ein wenig.

Ich höre nicht, wie Elena in die Küche kommt. Sie umarmt mich von hinten, ich nehme die Kopfhörer ab und gebe ihr einen Kuss.

- Hm, Tomate-Mozzarella, sagt sie.

Sie muss sterben, sagt die Stimme.

Ich kann Elena nicht von der Stimme erzählen. Und morgen ist sie wahrscheinlich sowieso wieder weg. Ich werde nicht verrückt.

Während wir frühstücken, kann ich die Stimme weitgehend ignorieren. Auch wenn sie in der Wohnung lauter ist, als sie draußen war. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich stärker beeinflussen könnte, wenn sie noch lauter wäre. Aber sie wird nicht lauter, sie ist gleichbleibend und ich höre nicht auf sie. Ich höre Elena zu. Wir reden über diesen Überfall auf die Sparkasse von dem in der Zeitung berichtet wird. Ich bin nicht komisch oder auch nur unkonzentriert. Da ist heute nur eine Stimme in meinem Kopf, die ich mir einbilde. Davon lasse ich mich nicht verrückt mache. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus.

Morgen wird sie tot sein, sagt die Stimme. Morgen wird die Welt anders aussehen. Morgen wirds es ein Übel weniger geben. Vertrau mir. Niemand wird dich verdächtigen.

- Was ist los mit dir?, fragt Elena. Du bist ein wenig abwesend heute.

- Ich weiß nicht, vielleicht bekomme ich eine Erkältung oder so.

Lass ihr ein Bad ein, sagt die Stimme. Ein Schaumbad. Sei nett zu ihr. Sei unterwürfig. Ich werde dir helfen. Vertrau mir.

- Ich gehe duschen, sagt Elena.

Als sie im Bad ist, höre ich der Stimme zu, mit wachsender Faszination, wie ich zugeben muss. Sie hat etwas Beschwörendes, Hypnotisierendes, dem man sich nur schwer entziehen kann.

So, sagt sie, jetzt brauchst du ihr nur aus dem Bademantel zu helfen, der alten Vettel.

Ich stehe auf, gehe in den Flur bleibe vor dem Bad stehen. Ich weiß auch nicht warum.

Du wirst ihr einen Stoß geben, sagt die Stimme, ich werde dafür sorgen, dass sie mit dem Kopf auf den Wannenrand knallt. Jetzt hat sie einen Fuß in die Wanne gesetzt, jetzt den anderen und ... Jetzt.

Gut gemacht, sagt sie nach einer Pause.

Schweiß steht mir auf der Stirn. Doch die Stimme ist verstummt.

Elena ist längst aus dem Bad als die Stimme eine Viertelstunde später sagt: Geh, klingle bei deinem Nachbar, sage: Es ist etwas Schreckliches passiert. Meine Frau muss in der Wanne ausgerutscht sein. Sie ist ertrunken.

Es klingelt an der Tür. Elena macht auf. Es ist unser Nachbar.

- Es ist etwas Schreckliches passiert, sagt er.