5. KAPITEL
Vor Elliots Atelier parkte ein zerschrammter alter Vauxhall. Ich hatte Cameron noch nicht mal zugetraut, dass er sich eine solche Schrottkarre leisten könnte. Aber natürlich wusste ich es zu schätzen, durch die Gegend gefahren zu werden. In vielen Gegenden von Glasgow sollte man nachts nicht allein zu Fuß unterwegs sein, schon gar nicht als Frau.
Er schloss die Beifahrertür für mich auf, und ich ließ mich auf den Sitz neben ihm fallen.
„Das ist echt ein cooler Retro-Schlitten, Cameron.“
„Danke für die Blumen, aber er gehört nicht mir. Ich habe mir das Auto von meinem Kumpel Ernie geliehen. Eigentlich ist es das Auto von seinem Granddad, aber der alte Herr ist einundneunzig Jahre alt und setzt sich nicht mehr ans Steuer.“
Ich erwiderte nichts, sondern genoss einfach nur. Mit Cameron allein im Wagen zu sitzen war ein magischer Moment. Es war dunkel, nur der Tacho und die anderen Instrumente des Armaturenbretts leuchteten grünlich. Fast hätte ich mir gewünscht, dass Cameron nicht losfahren möge. Es fühlte sich einfach gut und richtig an, so nah bei ihm zu sein.
Als er seine Hand auf die Kupplung legte, griff ich spontan nach seiner Hand.
„Warum tust du das alles für mich, Cameron?“
Er lachte leise. Aber es klang nicht so, als würde er sich über mich lustig machen. Und auch seine folgenden Worte sollten mich nicht veralbern. Jedenfalls fasste ich sie nicht so auf.
„Ich bin ein edler Ritter in einer schimmernden Rüstung. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Und wenn eine holde Jungfrau in Bedrängnis ist, dann schwinge ich mich in den Sattel meines Streitrosses.“
„Bist du dir so sicher, dass ich eine Jungfrau bin?“, gab ich frech zurück. Da war sie wieder, meine große Klappe. Wie in meinen besten Zeiten. Eigentlich war mir ja mehr nach romantischer Zweisamkeit zumute als nach einem coolen Wortgeplänkel. Aber nachdem Cameron mich schon wegen meiner unauffälligen Klamotten unter Graue-Maus-Verdacht gestellt hatte, wollte ich lässig und selbstbewusst rüberkommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so ein Mädel ihm gefiel. Also sollte er möglichst bald kapieren, dass ich nicht so war.
„Weiß nicht.“ Cameron ließ den Motor an. „Auf jeden Fall gibt es bestimmt eine Menge Typen, die auf dich stehen. Und das, obwohl du dich so unnahbar gibst.“
Er fuhr los, und wieder einmal fehlten mir die Worte. Machte ich wirklich so einen merkwürdigen Eindruck auf Typen? Vielleicht lag es ja daran, dass ich schlechte Erfahrungen mit meinem Ex gesammelt hatte. Sicher, ich ging oft mit meinen Freundinnen weg und machte gern Party. Aber wenn sich ein Mann für mich interessierte, zog ist meistens schnell die Notbremse. Ich redete mir dann immer ein, er wäre ja sowieso nicht der Richtige. Argumente, warum ein Typ nicht infrage kam, fanden sich immer erstaunlich schnell. Doch meistens ließ ich den Verehrer gar nicht nahe genug an mich heran, um ihn besser kennenzulernen.
Und nun war plötzlich Cameron in mein Leben getreten, und bei ihm war alles anders. Ich wollte mich ihm gegenüber öffnen. Und das nicht nur, weil ich ihn schon nackt gesehen hatte.
Während ich mich schweigend mit meinem Gefühlswirrwarr beschäftigte, lenkte Cameron den Vauxhall durch das nächtliche Glasgow. Er fuhr nicht zu schnell, sodass wir sicher nicht wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei angehalten werden würden. Außerdem hatte Cameron es nicht nötig, den Formel-1-Fahrer zu spielen, um eine Frau zu beeindrucken. Ich hatte völlig die Orientierung verloren, besonders gut kannte ich mich in Glasgow immer noch nicht aus. Aber Cameron wusste anscheinend, wohin er wollte. Immerhin war er Kurierfahrer gewesen, fiel mir gerade wieder ein. Er bog in eine stille Straße ein, die Water Row hieß. Sie befand sich in der Nähe des Flusses. Am anderen Ufer stand das imposante Gebäude des Riverside Museums, das nachts angeleuchtet wurde. Aber für Architektur hatte ich in diesem Moment keinen Sinn. Cameron stellte den Motor ab und deutete auf eines der restaurierten Reihenhäuser.
„Dort lebt Alices Freund. Und es sieht ganz so aus, als ob er daheim wäre.“
Ja, in mehreren Räumen brannte Licht. Falls Robert Cincade nicht die Beleuchtung angelassen hatte, als er gegangen war, musste er wirklich zu Hause sein. Nun wurde es ernst. Zum ersten Mal in meinem Leben trat ich einem Mörder entgegen. Jedenfalls hielt ich Robert Cincade dafür.
„Er wird ganz schön überrascht sein, wenn ich ihm jetzt auf die Pelle rücke“, sagte ich. Dabei klang ich hoffentlich mutiger, als ich es in Wirklichkeit war. Aber ehrlich gesagt, wollte ich nicht nur den Mörder finden, sondern auch Cameron beeindrucken. Außerdem – falls dieser Robert Cincade wirklich in mich verknallt war, würde er mich nicht ebenfalls umbringen. Jedenfalls hoffte ich das.
„Du willst wirklich zu ihm gehen? Und was willst du ihm sagen?“
Ich glaubte, in Camerons Stimme Bewunderung zu hören. Und das tat mir unwahrscheinlich gut. Ich öffnete die Beifahrertür.
„Das wird sich zeigen. Ich werde improvisieren.“
„Okay, aber ich bleibe in deiner Nähe, falls der Typ Ärger macht.“
Insgeheim hatte ich darauf gehofft, dass Cameron so etwas in der Art sagen würde. Schnell stieg ich aus, bevor ich Angst vor meinem eigenen Mut bekam. Trotzdem wurden meine Knie weich wie Pudding, während ich auf die Haustür zuging. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Immerhin hatte Cameron seine Ankündigung wahr gemacht und hielt sich dicht in meiner Nähe.
Als ich meine Hand zur Faust ballte und damit gegen das Holz der Tür klopfte, zitterte sie. Einen Moment lang hoffte ich, dass niemand öffnen würde. Aber dann hörte ich Schritte im Haus, außerdem war nun leise Musik zu vernehmen. Gleich darauf stand Robert Cincade vor mir.
Ich hatte ihn bisher nur aus größerer Entfernung erblickt. Eigentlich sah er wirklich nicht übel aus, obwohl mir Cameron natürlich viel besser gefiel. Trotz seines schottischen Namens wirkte Robert Cincade ein wenig italienisch, er war vom Typ Latin Lover. Alice Wrights Freund hatte ein markantes Gesicht, seine Augen waren schön und sehr ausdrucksvoll, und sein Körper erinnerte an einen Leistungsturner. Eigentlich hätte ich mich geschmeichelt fühlen sollen, dass so ein Mann auf mich stand. Allerdings schien er mich in diesem Moment nicht zu erkennen. Das war immerhin ein Beweis dafür, dass meine Verkleidung ziemlich gut sein musste.
„Jaaa?“
Robert Cincade dehnte das Wort. Er blickte erst mich, dann Cameron an. Wahrscheinlich überlegte er, was wir von ihm wollten. Mir kam es nicht so vor, als ginge eine Gefahr von ihm aus, aber das konnte natürlich auch täuschen. Seine Körpersprache drückte weder Anspannung noch Aggression aus. Und das war doch auch schon mal etwas.
„Ich bin Lindsay Duncan.“
„Lindsay.“
Alices Freund wiederholte meinen Namen. Aber es klang nicht gerade so, als ob ich der Traum seiner schlaflosen Nächte wäre. Eher ein wenig überrascht und irritiert. Ob die Gerüchte darüber, dass er in mich verliebt war, doch nur Cafeteria-Tratsch waren? Allerdings sah er mich auch längst nicht so widerwillig an, wie Alice das immer getan hatte. Robert Cincade machte eher einen gleichgültigen Eindruck. Oder stand er unter Medikamenten? Schließlich war seine Freundin vor Kurzem erstochen worden. Wenn nicht er selbst die Tat begangen hatte, trauerte er gewiss um sie. Auf einmal schämte ich mich fast dafür, dass ich Cameron so auf die Pelle rückte. Aber wir mussten doch die Wahrheit erfahren. Sonst würde ich meine Unschuld niemals beweisen können.
Ich zögerte, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Da ergriff Cameron die Initiative.
„Ja, sie ist Lindsay. Und ich bin ihr Freund Cameron. Lässt du uns herein, Robert? Wir müssen mit dir reden. Es geht um Alice Wright.“
„Ihr seid wegen Alice hier? Das hätte ich mir denken können. Okay, kommt herein.“
Wir folgten Robert Cincade. Im Moment wusste ich nicht, was ich von Cameron halten sollte. Einerseits fand ich es gut, dass er mich begleitete. Andererseits war es ziemlich dreist von ihm, sich einfach zu meinem Freund zu ernennen. Ich meine, dazu gehören immer noch zwei, oder? Ich mochte ihn ja total gern, aber jetzt fühlte ich mich doch überfahren. Jedenfalls wurde es höchste Zeit, dass ich die Dinge in die Hand nahm. Schließlich ging es hier um meine Zukunft.
Robert Cincades Wohnzimmer war modern und stylish eingerichtet. Er besaß eine Hi-Fi-Anlage einer dänischen Kultmarke, die allein schon mehrere Tausend Pfund kostet. Ich machte mir bewusst, dass er auch nur Student war. Aber offenbar hatte er, im Gegensatz zu mir, reiche Eltern.
„Die Bullen suchen dich, Lindsay. Sie waren hier.“
Alices Freund wirkte ganz ruhig, als er das sagte. Eigentlich hätte mich diese Information nicht erstaunen sollen. Aber trotzdem schaute ich mich unwillkürlich im Wohnzimmer um. So, als würde jeden Moment eine Polizeimütze hinter dem Sofa auftauchen.
„Auch wenn mir jemand die Schuld in die Schuhe schieben will: Ich habe Alice nicht umgebracht. Robert, ich glaube, dass du deine Freundin auf dem Gewissen hast.“
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, um diese Sätze auszusprechen. Hoffentlich zitterte meine Stimme nicht allzu sehr. Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich erwartete. Am liebsten wäre es mir wohl gewesen, wenn Robert Cincade auf die Knie gefallen wäre und alles gestanden hätte. Doch er schüttelte nur den Kopf, als ob er es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun hätte.
„Nein, ich habe Alice nicht umgebracht. Es tut mir leid, dass sie tot ist. Aber wir sind schon seit ein paar Wochen nicht mehr zusammen. Alice und ich hatten uns nichts mehr zu sagen. Doch das ist noch kein Grund, um sie zu töten.“
Nun ergriff Cameron das Wort.
„Robert, ich glaube dir nicht, dass dich Alices Tod so kaltlässt. An der Uni giltst du als ein temperamentvoller Typ. Aber auf mich wirkst du momentan fast gelangweilt. Bist du sicher, dass du nichts eingeworfen hast?“
Robert Cincade grinste.
„Denkst du an Drogen? Nee, aber trotzdem hast du irgendwie recht, Cameron. Ich bin wirklich ziemlich benebelt. Aber vor Liebe, verstehst du? Ich bin verknallt, wie ich es noch nie zuvor gewesen bin. Das ist wohl auch der wahre Grund, warum mich Alices Ende so kaltlässt. Es gibt da eine andere Frau, die mich total durcheinandergebracht hat.“
Alices Freund schaute erst Cameron, dann mich an. Ich wusste, dass ich nun die entscheidende Frage stellen musste.
„Wir haben gehört, dass du in mich verliebt bist.“
Robert Cincade hob die Augenbrauen. Er wirkte jetzt ehrlich überrascht.
„Nein, das bin ich nicht. Außerdem ergibt das doch gar keinen Sinn. Wenn ich in dich verliebt wäre, würde ich dir den Mord bestimmt nicht in die Schuhe schieben wollen.“
„Es könnte ja auch anders gewesen sein: Alice wollte ihren eigenen Tod inszenieren, um mich zu belasten. Aber bevor sie ihren Plan vollenden konnte, habt ihr euch gestritten, und du hast sie umgebracht. Und zwar im Affekt, ohne über die Folgen nachzudenken. Es war sicher nicht deine Absicht, mich als Mörderin dastehen zu lassen. Aber Alice wollte mir diese Rolle zuschieben.“
„Ich habe Alice nicht getötet“, beharrte ihr Freund. „Aber trotzdem liegt ihr gar nicht so falsch mit eurem Verdacht. Alice wollte nämlich auf Nimmerwiedersehen aus Schottland verschwinden, das weiß ich. Ich war ihr lästig, sie hat mich schon lange nicht mehr geliebt. Alice hatte Geheimnisse vor mir. Es gab einen Grund dafür, dass sie sich absetzen wollte. Diesen Grund kenne ich aber nicht. Sie hat immer so getan, als ob nichts wäre. Sie hat mir eine heile Welt vorgegaukelt. Doch ich habe sie durchschaut.“
„Ich glaube dir kein Wort“, sagte ich. „Warum hast du dich nicht schon längst von Alice getrennt, wenn ihr euch so fremd geworden seid? Und woher willst du wissen, dass deine Freundin wirklich etwas vor dir verheimlicht hat? Soweit ich weiß, war Alice sehr eifersüchtig. Sie hätte dich niemals gehen lassen, wenn du in eine andere Frau verliebt warst. Wo soll diese andere Frau überhaupt sein? Oder existiert sie nur in deiner Einbildung?“
Robert Cincade machte eine hilflose Handbewegung. Doch bevor er etwas erwidern konnte, geschah etwas Unerwartetes.
„Nein, sie ist hier.“
Cameron und ich zuckten zusammen, denn diese Worte waren nicht von Robert Cincades Lippen gekommen. Wir hatten nicht bemerkt, dass die Tür zum Nebenzimmer geöffnet worden war.
Nun kam eine schlanke Frau in meinem Alter herein. Sie hatte lockiges blauschwarzes Haar, das fast bis zum Po reichte. Ihre Augen waren mit schwarzem Kajalstift geschminkt, während ihr Lippenstift blutrot war. Ich musste zugeben, dass sie verdammt gut aussah. Sowieso wären den meisten Typen bei ihrem Anblick die Augen aus dem Kopf gefallen, denn sie trug nur einen schwarzen Slip und ein hauchdünnes Negligé. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Katzenhaftes. Und von dieser Frau ging eine unbestimmte Gefahr aus, obwohl sie keine drohende Haltung annahm. Aber sie hatte irgendwie etwas Ungutes an sich, anders kann ich das nicht nennen. Plötzlich hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl in der Magengegend.
„Hallo, Nelly“, sagte Cameron. Ich blinzelte überrascht und schaute meinen Begleiter an.
„Du kennst sie?“
„Kennen ist zu viel gesagt. Das ist Nelly Perkins. Sie war auch mal Aktmodell an der Kunsthochschule, mehr weiß ich nicht über sie. Und sie ist auf dem Esoterik-Trip. Nicht wahr, Nelly?“
„Du kannst dich ruhig über die Kräfte des Kosmos lustig machen, Cameron“, zischte diese Nelly. „Aber die Tarotkarten lügen nicht. Sie haben mir verraten, dass Alice ein düsteres Geheimnis hatte. Und die Karten wussten auch, dass Robert und ich füreinander bestimmt sind.“
Ich musste erst mal die Tatsache verdauen, dass Cameron dieses sexy Biest kannte. Immerhin schien sie in einer Hinsicht die Wahrheit gesagt zu haben: Die Blicke, die Robert Cincade Nelly zuwarf, waren wirklich die eines Verliebten. Aber machte ihn das nicht noch verdächtiger? Hatte er wirklich Alice beseitigt, damit er ungestört mit Nelly zusammen sein konnte? War dieses Geheimnis, das Alice angeblich gehabt hatte, nur frei erfunden?
Nelly wandte sich mir zu. Ihre Stimme war eiskalt.
„Du musst Lindsay Duncan sein, nach der die Polizei sucht. Ich habe dich noch nie gesehen, aber deine Aura gefällt mir nicht. Du lässt besser meinen Freund in Ruhe, er hat Alice nicht umgebracht.“
„Das wird sich zeigen“, erwiderte ich. „Und ich möchte auch gern wissen, was du mit dieser ganzen Sache zu schaffen hast.“
„Robert war mit mir zusammen, während Alice erstochen wurde. Das haben wir auch den Kriminalbeamten gesagt, als sie uns vernommen haben. – Und ihr beide werdet auch bald Gelegenheit haben, mit den Cops zu sprechen. Ich habe mir nämlich erlaubt, die Polizei zu rufen.“
Erst jetzt bemerkte ich das Mobiltelefon in Nellys Hand. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie musste den Notruf betätigt haben, nachdem Cameron und ich hereingekommen waren. Wahrscheinlich hatte sie vom Nebenzimmer aus den Wortwechsel zwischen Robert Cincade, Cameron und mir belauscht. Wir waren ja zuerst davon ausgegangen, dass er allein war. Oder bluffte sie nur?
Nein, denn nun hörte man deutlich das Wimmern von den Sirenen eines Streifenwagens. Und das Geräusch kam schnell näher.
„Los, Abflug!“, rief Cameron und packte mich am Arm. Es war gar nicht nötig, dass er mich drängte. Ich wollte mich nämlich auf gar keinen Fall noch einmal verhaften lassen. Nelly lachte höhnisch, während wir nach draußen rannten. Am liebsten hätte ich dieser falschen Schlange den Hals umgedreht. Aber was sollte das bringen? Ich hatte mich selbst dafür entschieden, Robert Cincade auf die Pelle zu rücken. Es war meine eigene Dummheit gewesen, hier aufzukreuzen. Nun musste ich die Suppe auch auslöffeln, die ich mir eingebrockt hatte.
Cameron und ich stürzten uns in den geparkten Vauxhall. Gerade als der Motor ansprang, bogen zwei Streifenwagen in die schmale Straße ein. Cameron fluchte leise und jagte die altersschwache Karre im Rückwärtsgang los. Der Weg, auf dem wir gekommen waren, war von Polizeifahrzeugen versperrt.
Natürlich merkten die Beamten sofort, dass wir abhauen wollten. Die Streifenwagen beschleunigten. Cameron kurbelte wie ein Wahnsinniger am Lenkrad, um unseren Vauxhall zu wenden. Dann trat er das Gaspedal bis zum Wagenboden durch.
„Halt dich fest, Lindsay!“
Das musste er mir eigentlich gar nicht sagen. Ich klammerte mich ohnehin schon instinktiv an das Armaturenbrett. Angeschnallt war ich außerdem noch. Trotzdem wurde ich hin und her geschleudert wie ein Crashtest-Dummy bei einem Beschleunigungstest.
Cameron gab sich wirklich Mühe, unsere Verfolger abzuhängen. Er fuhr wie James Bond – nur leider konnte unser Gefährt nicht mit den Schlitten konkurrieren, die 007 benutzt. Der Vauxhall war mindestens dreißig Jahre alt und entsprechend langsam. Die Polizeiautos konnten jedenfalls fixer beschleunigen als wir. Das merkte ich, weil ich immer wieder ängstliche Blicke nach hinten warf. Unsere Verfolger holten deutlich auf. Und das war nicht das einzige Problem.
„Die Cops werden Verstärkung anfordern und alle großen Durchgangsstraßen abriegeln“, knurrte Cameron. „Ich schätze, wir müssen uns bald von unserer Karre trennen.“
Ob wir unseren Verfolgern zu Fuß entkommen konnten? Ich hatte meine Zweifel. Aber jetzt war der falsche Zeitpunkt, um mit dem Diskutieren anzufangen. Cameron musste sich völlig auf das Fahren konzentrieren. Wieder überquerten wir die Brücke, diesmal in nördlicher Richtung. Die Cops setzten zum Überholen an, fast wäre die Verfolgungsjagd schon zu Ende gewesen. Aber plötzlich stieg Cameron auf die Bremse. Damit hatten die Officers nicht gerechnet – und ich auch nicht.
„Neeiinn!“
Erschrocken schrie ich auf, denn für einen Moment geriet unsere altersschwache Karre ins Schleudern. Ich fürchtete schon, dass wir durch das Brückengeländer brechen und im Fluss verschwinden würden, dessen Wasser in der Dunkelheit fast schwarz aussah.
Aber Cameron schaffte es, den Vauxhall wieder in den Griff zu bekommen. Doch nun befanden wir uns auf der Gegenfahrbahn! Ein riesiger Truck kam uns entgegen. Der Fahrer hupte erschrocken. Cameron riss das Lenkrad herum. Um Haaresbreite schrammten wir an dem Koloss vorbei. Mir lief der Angstschweiß in Strömen über den Rücken. Aber ich musste zugeben, dass sich der Abstand zu den Streifenwagen etwas vergrößert hatte. Doch die Cops gaben die Verfolgung nicht auf. Die lauten Polizeisirenen zerrten an meinen Nerven. Cameron holte alles aus dem betagten Fahrzeug heraus. Wir jagten durch die Wellington Street, am Hauptbahnhof vorbei, Richtung Kunsthochschule.
Doch nun bestätigte sich Camerons Befürchtung. Vor uns tauchten noch mehr Streifenwagen auf. Die Polizeifahrzeuge kamen aus der George Street und aus der Regent Street. Deutlich konnten wir die rotierenden Warnlichter auf den Autodächern sehen. An den Absichten der Cops gab es keinen Zweifel. Sie wollten uns den Weg abschneiden.
„Gut, dass ich dir keine Pumps gekauft habe“, witzelte Cameron düster. „Denn nun wirst du ziemlich schnell laufen müssen.“
Gleich darauf zeigte sich, was er mit seinen Worten meinte. Cameron stieg in die Eisen, machte eine Vollbremsung. Der Vauxhall brach mit dem Heck aus, kam mitten auf der Fahrbahn zum Stehen. Mein Begleiter stieß die Fahrertür auf.
„Los, schwing die Hufe! Die sollen uns nicht erwischen!“
Plötzlich wurde mir klar, dass Cameron einiges wegen mir riskierte. Soweit ich wusste, war er noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, bis heute. Aber momentan verhalf er einer polizeilich gesuchten Strafgefangenen zur Flucht. Ich bin keine Juristin, aber das war doch sicher Beihilfe oder so was. War das nicht der beste Beweis dafür, dass ich ihm etwas bedeutete?
Für romantische Gefühle würde später hoffentlich immer noch genug Zeit sein. Jetzt mussten wir erst mal den kleinen Vorsprung ausnutzen, den wir immer noch hatten. Auch ich verließ das Auto und rannte hinter Cameron her. Er bog in die West Regent Street ein, was mir ziemlich unsinnig erschien. Dort, vor uns, stand doch ein quer gestellter Streifenwagen. Die Beamten konnten uns den Weg abschneiden und uns einfach verhaften.
Doch er lief nicht lange auf die Cops zu.
Plötzlich schlug Cameron einen Haken und stieß die Tür zu einem Sandwich-Shop auf, der so spätabends noch geöffnet hatte. Obwohl wir gar nicht bewaffnet waren, brach Panik unter den Gästen aus. Aber durch die großen Panoramascheiben war das massive Polizeiaufgebot nicht zu übersehen. Vermutlich hielt man uns für sehr gefährlich, aber in diesem Moment konnte uns das nur recht sein. Jedenfalls stellte sich uns niemand in den Weg.
Cameron vergewisserte sich durch einen kurzen Blick über die Schulter, dass ich noch direkt hinter ihm war. Dann flankte er über die Verkaufstheke. Die Bedienungen sprangen kreischend zur Seite. Ich folgte seinem Beispiel und war nun froh, dass ich das Minikleid und die blickdichte Strumpfhose trug. Eine bessere Kleidung für eine schnelle Flucht vor der Polizei konnte man sich kaum vorstellen. Obwohl ich, abgesehen vom Volleyballtraining einmal pro Woche, eigentlich keinen Sport trieb, war ich recht fit. Oder verlieh mir der Stress, den die Flucht bedeutete, ungeahnte Kräfte?
Ich wusste es nicht. Jedenfalls folgte ich jetzt Cameron durch einen schmalen Gang. Anscheinend kannte er sich hier aus, jedenfalls war er sicher nicht zufällig in diesen Sandwich-Shop gelaufen. Hinter dem Gebäude gab es einen kleinen Hof, der von einer hohen Mauer umrahmt wurde. Cameron ging in die Knie und stemmte sich gegen die Wand.
„Los, klettere auf meine Schulter und spring dann über die Mauer.“
„Und du?“
„Ich komme hinterher.“
Jetzt war keine Zeit für lange Debatten, also stieg ich auf Camerons Schultern. Im letzten Moment bemerkte ich, dass die Mauerkrone mit zerbrochenen Glasflaschen gespickt war, wahrscheinlich als Schutz gegen Einbrecher. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich sprang hinüber, ohne die Steine oder das Glas zu berühren. Auf der anderen Seite war eine finstere Gasse. Meine Knochen wurden bei der Landung kräftig durchgerüttelt, aber ich hatte mir nichts gebrochen.
Gleich darauf landete auch Cameron neben mir. Er nahm mich schweigend bei der Hand und lief schon wieder los. Anscheinend hatte er das Orientierungsvermögen einer Fledermaus. Ich jedenfalls hatte überhaupt keine Ahnung, wo wir uns momentan befanden.
Das Wimmern der Polizeisirenen hörte sich mal beängstigend nahe, mal weit entfernt an. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Als wir kurz darauf die Ranfrew Street überquerten, sah ich sogar das Heck eines Einsatzwagens, das vorbeiraste. Aber offenbar schauten die Officers nicht in den Rückspiegel, denn wir kamen unbemerkt davon. Cameron lotste mich durch stille Gassen und Höfe, wir entfernten uns immer weiter vom Stadtzentrum. Einmal sah ich aus weiter Entfernung die Kirchturmspitze von St. Andrews. Aber ansonsten wusste ich nicht, wo wir waren. Glasgow hat immerhin über eine halbe Million Einwohner, und in vielen Gegenden der Stadt war ich noch nie gewesen.
„Ich schätze, wir haben die Cops abgeschüttelt.“
Mit diesen Worten führte Cameron mich in ein finsteres Abbruchhaus in der Nähe des Ufers. Beim Anblick der finsteren Ruine runzelte ich die Stirn.
„Wollen wir nicht versuchen, den Weg zurück zu Onkel Arthur zu finden?“
Cameron seufzte.
„Das ist leider keine gute Idee. Sieh mal, die Cops sind nicht blöd. Sie haben inzwischen den Vauxhall sichergestellt, davon kannst du ausgehen. Das Auto ist auf meinen Freund Ernie zugelassen. Die Polizei wird ihn schon aus dem Bett geklingelt haben. Ernie ist kein Held, er wird für mich nicht lügen. Also werden die Cops von ihm erfahren, dass ich sein Auto ausgeliehen habe. Der nächste Schritt wird die Ermittler also in meine WG führen. Ich lebe dort mit drei Typen zusammen. Sie heißen Micky, David und Ruben. Meine Mitbewohner wissen alle, dass ich oft bei Onkel Arthur abhänge. Sie sind okay, aber so richtig eng befreundet bin ich mit keinem von ihnen. Sie würden wegen mir keinen Ärger mit der Polizei riskieren. Wenn nur einer von ihnen nicht dichthält, stehen die Bullen schon heute Nacht in Onkel Arthurs Atelier auf der Matte. Dorthin können wir also auf keinen Fall. Ich hoffe nur, dass Onkel Arthur inzwischen deine alte Kleidung und die Handschellen beseitigt hat. Sonst kriegt er nämlich den Ärger des Jahrhunderts. Ich werde ihn gleich mal anrufen und warnen.“
Cameron griff zu seinem Handy, gab aber nach mehreren Versuchen entnervt auf.
„Ich bekomme hier kein Netz. Aber wir hoffen einfach mal, dass Onkel Arthur schon alle Spuren beseitigt hat. Er ist ziemlich clever. Sonst hätte er es wohl nicht geschafft, schon so viele Jahre von seiner Bildhauerei zu leben. Er wird nichts aufbewahrt haben, was dich belasten könnte.“
Ernüchtert nickte ich. So vorausschauend hatte ich gar nicht gedacht. Ob Cameron schon öfter Ärger mit der Polizei gehabt hatte? Jedenfalls schien er sich auszukennen. Aber vielleicht las er auch nur oft genug einen Thriller. Da soll noch mal jemand behaupten, das Lesen würde nichts bringen.
Mir wurde klar, dass wir auf jeden Fall den Rest der Nacht in dem Abbruchhaus verbringen mussten.