4. KAPITEL
Ich fühlte mich, als hätte man mich in eine Kältekammer gesperrt. Schlagartig konnte ich keinen Finger mehr rühren. Cameron legte einen Arm um meine Schultern.
„Hey, du bist ja plötzlich totenbleich geworden. Ist alles okay mit dir?“
„Du traust dich ja was“, meinte ich und lachte bitter. „Du sitzt direkt neben einer gefährlichen Mörderin, ist dir das eigentlich klar?“
„Für eine Killerin siehst du immer noch ziemlich harmlos aus, finde ich. Und hübsch dazu.“
War das ein unbeholfenes Kompliment? Doch so richtig konnte ich mich darüber nicht freuen. Ich fragte mich, wie viele Passanten sich an die Begegnung mit mir erinnern würden. Wahrscheinlich war in den Fernsehnachrichten bald auch mein Foto zu sehen. Dann konnte es nicht mehr lange dauern, bis mich jemand entdecken und verraten würde.
Es war, als hätte Elliot meine Gedanken gelesen.
„Mach dich nicht verrückt, Lindsay. Wir brauchen jetzt einen Plan. Für mich steht fest, dass der wahre Mörder an der Kunsthochschule zu suchen ist. Das ist die einzige Möglichkeit. Der Killer muss sowohl Alice als auch dich kennen. Also wird er ein Student, ein Professor oder ein Angestellter sein.“
Elliots Ruhe färbte ein wenig auf mich ab. Und sicher trug auch die körperliche Nähe zu Cameron dazu bei, dass es mir schon bald wieder etwas besser ging. Doch es blieb die nüchterne Erkenntnis, dass ich momentan für die Polizei offenbar die einzige Verdächtige in dem Mordfall war.
„Ich bin zwar nicht als Student eingeschrieben, aber ich kenne eine Menge Leute an der Uni“, sagte Cameron. „Ich kann mich ja mal unauffällig umhören. Niemand weiß, dass wir uns kennen, wenn man mal von der kurzen Begegnung im Aktzeichenkurs absieht. Also wird sich niemand etwas dabei denken, wenn ich ein bisschen rumfrage. Vielleicht finde ich ja heraus, wer etwas gegen dich und diese Alice hatte.“
„Und ich werde mit einigen Professoren und Leuten aus der Verwaltung reden“, kündigte Elliot an. „Schließlich war ich mal Gastdozent für Bildhauerei an der Glasgow School of Art. Ich werde so tun, als wollte ich mich wieder bewerben. Und bei der Gelegenheit werde ich meine Nase in die Gerüchteküche stecken. Denn bekanntlich wird an Universitäten unheimlich gerne getratscht. So wie überall, wo sich viele Menschen zusammenfinden.“
„Was kann ich selbst denn tun?“, fragte ich. „Ich will hier nicht so nutzlos herumsitzen, sonst kriege ich noch die Krise.“
Es war total toll, dass Elliot und Cameron sich so für mich einsetzten. Vor allem der alte Bildhauer riskierte einiges, indem er mich versteckte. Wenn mich die Polizei in seinem Atelier fand, würde man ihn wegen Beihilfe oder Ähnlichem anklagen. Da machte ich mir keine Illusionen. Und gerade deshalb wollte ich ihm irgendwie meine Dankbarkeit zeigen.
Elliot stand auf.
„Für dich ist es momentan am besten, wenn du dich hier in der Hütte verschanzt, Lindsay. Wenn du Lust hast, kannst du ein bisschen für Ordnung sorgen. Du wirst sicher schon bemerkt haben, dass in meinen heiligen Hallen die weibliche Hand fehlt. Ansonsten denkst du vielleicht noch mal intensiv darüber nach, wer dir etwas Böses antun würde. Aber wenn du dich einfach nur ausruhen willst, ist das für mich auch okay. Ich kann mir vorstellen, dass du nach den Aufregungen der letzten Zeit ziemlich erschöpft bist. Cameron und ich werden so schnell wie möglich zurück sein. – Ach ja, und wenn es klopft, darfst du auf keinen Fall öffnen.“
Das war mir natürlich auch klar. Der alte Künstler und sein athletischer Neffe nickten mir freundlich zu, dann waren sie verschwunden. Und ich war plötzlich wieder allein.
Doch nun waren die Karten neu gemischt worden. Hier fühlte ich mich zum Glück nicht mehr einsam und verlassen wie in der Arrestzelle im Polizeipräsidium. Ganz im Gegenteil, Elliots Atelier war für mich eine sehr angenehme Umgebung. Vielleicht lag es daran, dass ich hier schon mehrere Monate zugebracht hatte, um mein Praktikum zu machen. In der Zeit hatten der Alte und ich mit vereinten Kräften ein tolles Kunstwerk geschaffen: eine Sphinx aus verrosteten Zahnrädern und Metallverstrebungen. Die Räume waren mir vertraut, und das liebenswerte Chaos hatte für mich überhaupt nichts Erschreckendes an sich.
Dennoch begann ich, wenigstens den Abwasch zu erledigen und die Regale und Böden zu säubern. Ich musste jetzt einfach etwas tun, zum stumpfen Herumsitzen hatte ich im Präsidium mehr als genug Zeit gehabt. Außerdem wollte ich Elliot meine Dankbarkeit beweisen. Er sollte nicht glauben, dass ich seine Unterstützung für selbstverständlich hielt.
Und Cameron?
Er kannte mich ja noch viel weniger als sein alter Onkel. Wir hatten zwar einige Stunden im selben Raum an der Kunstakademie verbracht. Aber da war er das Aktmodell und ich die Künstlerin gewesen. Wir hatten überhaupt nicht miteinander geredet. Beschämt erinnerte ich mich daran, wie ich später mit den anderen Mädels aus dem Aktzeichenkurs blöde Witze über die Modelle gerissen hatte. So nach dem Motto: Wer so muskulös ist und so gut aussieht, der kann doch nichts in der Birne haben. Und nun war ausgerechnet einer dieser Schönlinge unterwegs, um mir völlig uneigennützig zu helfen.
Ich glaubte nämlich nicht, dass Cameron etwas von mir wollte. Ich bin nämlich nicht gerade ein Topmodel. Okay, wenn ich mich richtig ausgiebig style, dann kann ich auch eine Hübsche sein. Aber das würde sicher nicht ausreichen, um einen Typen wie Cameron zu beeindrucken. Wer so aussah wie er, konnte doch praktisch jedes Mädel haben. Und dazu war er noch ein aufregender Typ, den immer eine Aura von Abenteuer umgab.
Während ich heißes Wasser ins Becken laufen ließ, Handspülmittel zufügte und riesige Schaumberge produzierte, musste ich über mich selbst schmunzeln. Kaum war ich der unmittelbaren Gefahr entronnen, hatte ich nichts anderes als einen gut gebauten Adonis im Kopf. Aber vielleicht war es einfach nur gesund, an etwas Schönes zu denken. Denn wenn ich mir über meine Zukunftsaussichten allzu sehr den Kopf zerbrochen hätte, wären die Depressionen vorprogrammiert gewesen. Im Moment war mein Leben nämlich in eine Sackgasse geraten.
Was würde geschehen, wenn ich meine Unschuld nicht beweisen konnte? Sollte ich ins Ausland fliehen? Aber ich hatte ja noch nicht mal einen Reisepass und erst recht kein Geld. Auch meine Eltern waren alles andere als wohlhabend. Außerdem würde mich die Polizei sofort kassieren, wenn ich mit ihnen Kontakt aufnahm. Das war vollkommen klar.
Egal, wie sehr ich es versuchte – so ganz konnte ich meine trüben Gedanken nicht verdrängen. Aber wenigstens erinnerte ich mich inzwischen immer mehr an Details aus der Tatnacht. Ich war hundertprozentig sicher, dass ich noch nie in der Pension in Easterhouse gewesen war. Als ich mit meinem Studium begonnen hatte, waren die anderen „Frischlinge“ und ich in der Einführungswoche vor bestimmten Glasgower Stadtteilen gewarnt worden. Easterhouse war eine richtige No-go-Area, in die man vor allem nachts keinen Fuß setzen sollte. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, mich dort herumzutreiben. Es gab dort nämlich nichts – keine Kinos, keine Discos, keine angesagten Bars. Der einzige Grund, nach Easterhouse zu fahren, wären Drogen gewesen. Die konnte man dort kaufen. Und von dem Zeug ließ ich die Finger. Aber warum hatte sich Alice Wright in dieser üblen Gegend eingenistet? Das ergab für mich einfach keinen Sinn. Soweit ich wusste, lebte sie normalerweise nämlich in einem sehr schönen Apartment in der Nähe der Kunsthochschule. Sie hatte einen Nebenjob als Kellnerin in einer Cocktailbar, in der die Trinkgelder so üppig waren, dass sie sich diese Bleibe leisten konnte. Bei ihrem umwerfenden Aussehen hatte Alice nicht schlecht verdient. Von zu Hause hatte sie keine Unterstützung erwarten können, denn sie war ein Waisenkind.
Warum war Alice plötzlich in diese Bruchbude im Slum gezogen? Ob einer der Gäste aus der Cocktailbar ihr Komplize war? Aber warum dann der Wechsel in das Elendsviertel? Das ergab für mich alles keinen Sinn. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Und ich war sehr dankbar, als nach einigen Stunden zumindest Elliot wieder auftauchte. Der Alte blinzelte mir lächelnd zu.
„Hast du Neuigkeiten, Onkel Arthur?“
„Ich will noch nicht zu viel verraten. Zuerst möchte ich einen Tee, wenn es recht ist. Meine Zunge ist zu ausgetrocknet, um längere Reden zu schwingen.“
Ich hätte die Wände hochgehen können, so ungeduldig war ich. Aber ich wusste noch aus meiner Praktikumszeit, dass Elliot es gerne spannend machte. Wenn ich jetzt nachbohrte, würde ich überhaupt nichts erreichen. Also ergab ich mich seufzend in mein Schicksal und kochte eine frische Kanne Tee.
Als ich dem Bildhauer die erste Tasse eingegossen hatte, fiel er plötzlich vor mir auf die Knie. Damit konnte ich nun überhaupt nicht umgehen. Aber wenigstens schaffte ich es, halbwegs schlagfertig zu reagieren.
„Was soll das denn, Onkel Arthur? Bist du verrückt geworden? Oder willst du auf deine alten Tage noch heiraten?“
„Weder noch, liebe Lindsay. Mit meinem Kniefall wollte ich meine Ehrerbietung ausdrücken, denn schließlich habe ich die Gewinnerin des Francis-Cadell-Stipendiums vor mir. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch!“
Zuerst glaubte ich, Elliot wollte mich auf den Arm nehmen. Doch er sah mich weiter ernst an. Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Förderung bekommen sollte. Das Francis-Cadell-Stipendium ist nach einem berühmten schottischen Maler benannt. Es wird jedes Jahr an eine besonders begabte Kunststudentin vergeben. Man bekommt 10.000 Pfund und darf außerdem ein Semester lang kostenlos an unserer Partner-Uni in Los Angeles studieren! Das bedeutet Unterricht bei einigen der besten Kunstprofs der Welt, und das unter der kalifornischen Sonne.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
„Meine Bilder sind nicht übel, aber nie im Leben kriege ich dieses Stipendium, Onkel Arthur.“
„Doch. Ich habe mit meinem alten Freund Lucas Thompson von der Uni-Verwaltung gesprochen. Offiziell solltest du erst nächste Woche benachrichtigt werden. Ich fürchte nur, dass die Kunsthochschule ihre Meinung ändert, wenn sie von der Mordanklage gegen dich erfährt. – Das Stipendium ist übrigens ein erstklassiges Motiv, um dich aus dem Weg räumen zu wollen. Du weißt doch, wozu Menschen aus purem Neid fähig sind. Du kennst doch bestimmt auch die Redensart: Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen.“
So weit hatte ich in diesem Moment noch gar nicht gedacht, doch Elliot hatte natürlich recht. Beschämt musste ich mir eingestehen, dass ich auch schon über andere Studentinnen gelästert hatte, wenn sie besser benotet worden waren als ich. Nein, gegen Missgunst war auch ich nicht immun.
„Aber es war doch noch gar nicht allgemein bekannt, dass ich diese Studienförderung bekommen sollte. Das hast du gerade selbst gesagt.“
„Nein, aber ungefähr ein Dutzend Leute in der Uni-Verwaltung wussten natürlich schon jetzt davon. Die Professoren aus der Vergabekommission, außerdem Lucas Thompson und noch ein paar andere Verwaltungsleute. Wenn auch nur einer von ihnen seinen Mund nicht halten konnte, dann hat die falsche Person davon erfahren.“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
„Dann wollte mich also jemand aus dem Weg räumen, weil er mir den Erfolg nicht gegönnt hat?“
Der Bildhauer nickte.
„So etwas gibt es öfter, als man denkt. Neid und Missgunst kennen keine Grenzen, lass dir das von einem alten Mann gesagt sein.“
„Okay, das wäre also ein Motiv, das sich gegen mich richtet. Aber was ist mit Alice Wright? War sie vielleicht auch in der engeren Auswahl für das Francis-Cadell-Stipendium?“
Elliot hob die Schultern.
„Soweit ich weiß, nicht. Außerdem gibt es keine Nachrückerliste oder so etwas. Wenn du als Kandidatin ausscheidest, setzt sich die Kommission neu zusammen. Und dann gibt es keine Garantie dafür, dass die Wahl auf einen bestimmten Studenten fällt.“
Nachdenklich drehte ich meinen Teebecher in den Händen hin und her. Irgendwie konnte ich mich gar nicht über die großzügige Studienförderung freuen, obwohl 10.000 Pfund für eine arme Kunststudentin ein kleines Vermögen darstellten. Aber momentan sah es nicht danach aus, dass ich auch nur einen Penny von diesem Geld sehen würde. Die Anzahl der Mordverdächtigen war ja nicht gerade kleiner geworden. Elliot hatte recht: Es musste nur eine einzige falsche Person Wind von meinem Stipendium bekommen haben, um mich ins Unglück zu stürzen.
Nun kehrte auch Cameron zurück. Ich war so in meine Überlegungen vertieft gewesen, dass ich ihn gar nicht hatte kommen hören. Aber ihm war anzusehen, dass auch er etwas herausgefunden hatte. Und im Gegensatz zu seinem Onkel kam er sofort zur Sache.
„Lindsay, sagt dir der Name Robert Cincade etwas?“
„Sicher, das ist doch der Freund von Alice Wright. Also, ich kenne ihn eigentlich nur vom Sehen. Er studiert auch Kunst, belegt aber ganz andere Kurse als ich. Da ich Alice nicht ausstehen konnte, war er mir auch nicht besonders sympathisch. Obwohl ich zugeben muss, dass er mir nie etwas getan hat. Allerdings weiß ich natürlich nicht, ob er nicht hinter meinem Rücken über mich gelästert hat.“
Cameron lächelte. Aber dieses Lächeln war irgendwie seltsam.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe nämlich ausführlich mit einigen Studenten Kaffee getrunken, die ich schon seit Jahren kenne. Und sie alle meinten, dass Robert Cincade heimlich in dich verschossen sei, Lindsay.“
Ich fiel aus allen Wolken. Nahmen denn die Überraschungen gar kein Ende mehr?
„Alices Freund soll in mich verknallt sein? Ach, komm – das glaubst du doch wohl selbst nicht. Die Typen haben dich verschaukelt, Cameron.“
„Nein, haben sie nicht. Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich normalerweise verlassen. Außerdem – warum sollte sich dieser Robert Cincade nicht für dich interessieren? Findest du es so abwegig, dass ein Typ dich hübsch findet? Hast du so wenig Selbstbewusstsein?“
„Äh …“
Mir stockte der Atem. Ich fühlte, dass ich rote Ohren bekam. Cameron hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. Aber das lag vor allem daran, dass ich ihm gerne gefallen hätte. Und nicht diesem Robert Cincade, der mir herzlich egal war. Aber das konnte ich Cameron doch unmöglich sagen. Er würde sonst denken, dass ich mich ihm an den Hals werfen wollte. Und mein Leben war momentan sowieso schon kompliziert genug. Jedenfalls verabscheute ich mich selbst dafür, dass mir so einfach die Sprache wegblieb. Wo war meine Schlagfertigkeit geblieben, auf die ich sonst so stolz war? Es dauerte einen unendlich langen Moment, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte.
„Um mein Selbstbewusstsein geht es hier gar nicht, Cameron. Kapierst du eigentlich, was du da gerade gesagt hast? Wenn dieser Robert Cincade wirklich in mich verschossen ist, dann muss doch Alice gedacht haben, ich wollte ihr ihren Freund ausspannen. Wir waren sowieso schon Feindinnen, aber das muss in ihren Augen die Krönung gewesen sein. Vielleicht wollte sie ihren eigenen Tod inszenieren, um mich als Mörderin hinzustellen und endgültig aus dem Weg zu räumen.“
„Das wäre möglich“, gab Cameron zu. „Aber so ein Plan würde nur funktionieren, wenn Alice nie wieder als lebendige Frau irgendwo auftaucht. Womöglich hatte sie vorgehabt, unter falschem Namen an einem anderen Ort völlig neu anzufangen.“
Ich wurde immer aufgeregter, und das lag nicht nur daran, dass Cameron so nah war. Die Lösung des Rätsels war plötzlich zum Greifen nahe. Natürlich, warum war ich nicht schon längst darauf gekommen?
„Ja, und der wahre Mörder hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn nun Robert Cincade der Täter gewesen ist? Er könnte seine Freundin im Streit erstochen haben, weil sie eine Beziehung zwischen ihm und mir verhindern wollte. Obwohl – dazu passt wiederum die Tatwaffe mit meinen Fingerabdrücken nicht. Und auch nicht das fingierte Tagebuch. Aber vielleicht gibt es dafür eine andere Erklärung.“
Nun mischte sich auch Elliot in den Wortwechsel zwischen Cameron und mir ein.
„Jedenfalls sind Robert Cincades Gefühle für Lindsay ein überzeugendes Motiv, genauso wie das 10.000-Pfund-Stipendium. Cameron, du solltest dir diesen Robert Cincade mal unauffällig zur Brust nehmen.“
„Das ist eine super Idee!“, rief ich spontan. „Und ich begleite dich, Cameron.“
Der alte Bildhauer schüttelte den Kopf.
„Nein, Lindsay, das ist viel zu riskant für dich. Jeder Polizist in Glasgow hält nach dir Ausschau, außerdem wird auch schon über die Medien nach dir gefahndet. Am sichersten ist es, wenn du in meinem Atelier bleibst.“
„Aber hier fällt mir die Decke auf den Kopf!“, rief ich verzweifelt. „Ich muss selbst etwas tun, um meine Unschuld zu beweisen. Bitte, Onkel Arthur! Ich drehe schon völlig am Rad!“
Elliot hob abwehrend die Hände und lächelte.
„Schon gut, du bist hier schließlich keine Gefangene. Du kannst gehen, wohin du willst. Aber ich rate dir, dich zu verkleiden. Schließlich haben die Cops deine Personenbeschreibung schon an die Radiostationen weitergegeben. Und morgen früh wird garantiert auch ein Fahndungsfoto von dir in der Zeitung sein. Und im schottischen Lokal-TV wahrscheinlich schon heute Abend. Du musst außerdem damit rechnen, dass die Cops in den sozialen Netzwerken nach dir fahnden. Dein Gesicht wird mehr Leuten bekannt sein, als du dir vorstellen kannst.“
„Ich besorge dir neue Klamotten“, bot Cameron an.
„Aber du kennst doch meine Größe gar nicht. Und du weißt auch nicht, worauf ich stehe.“
Der Traumtyp grinste frech.
„Deine Figur habe ich mir eingeprägt. Sie kann sich sehen lassen, und die Sachen werden dir schon passen. Aber die Auswahl überlässt du besser mir. Wenn du selbst etwas kaufst, wird es deinem eigenen Geschmack entsprechen. Dann ist die Gefahr viel größer, dass du wiedererkannt wirst. Logisch, oder?“
Insgeheim fühlte ich mich geschmeichelt, weil Cameron etwas Nettes über meine Erscheinung gesagt hatte. Jedenfalls war es bei mir so angekommen. Trotzdem protestierte ich immer noch, obwohl ich mir dabei albern vorkam. Aber mein Stolz ließ mir keine andere Möglichkeit.
„Ich habe überhaupt kein Geld für ein neues Outfit.“
Elliot stand auf und holte ein paar Pfundnoten aus einer Zuckerdose.
„Hier, Cameron. Das wird reichen.“
Das ehemalige Aktmodell nickte, blinzelte mir freundlich zu und machte sich mit dem Geld davon. Jetzt war ich wirklich beschämt, denn ich wusste, dass der Bildhauer selbst nicht gerade ein reicher Mann war. Aber Elliot schien zu ahnen, was in mir vorging. Wieder klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter.
„Zerbrich dir wegen der paar Kröten nicht dein hübsches Köpfchen, Lindsay. Wenn du erst mal dein Stipendium eingestrichen hast, kannst du mir ja das Geld zurückzahlen. Ich finde es übrigens gut, dass du ausgewählt wurdest. Ich wusste schon immer, dass du Talent hast. Unsere Sphinx war doch der Hammer, oder? Stell dir vor: Ich konnte sie vor ein paar Monaten für 500 Pfund verkaufen.“
Ob das stimmte? Oder flunkerte Elliot mich an, um mich zu beruhigen? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Außerdem war die Metallskulptur fort, also musste er sie wohl wirklich losgeworden sein. Allerdings bezweifelte ich, dass er 500 Pfund dafür bekommen hatte.
„Ich erstatte dir deine Auslagen ganz bestimmt zurück, Onkel Arthur.“
„Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? – Und du kannst Cameron getrost vertrauen. Er wird dir schon kein Vogelscheuchen-Outfit besorgen.“
Ich musste grinsen.
„Das will ich auch nicht hoffen.“
„Ernsthaft, Cameron ist ein guter Junge. Und das sage ich nicht nur, weil er mein Neffe ist. Er probiert gerne neue Sachen aus, hat seinen Weg noch nicht gefunden. Er ist ein ruheloser Geist. Deshalb war er schon in den unterschiedlichsten Jobs tätig: als Leichenwäscher, Aktmodell, Kurierfahrer, Türsteher, Kinokartenabreißer und Eisverkäufer. Aber eines Tages wird er seine Berufung finden, da bin ich mir sicher. Es kann ja nicht jeder so ein Naturtalent sein wie du, Lindsay.“
Elliots Lob machte mich ganz verlegen. Doch es tat natürlich gut, vor allem in meiner jetzigen Lage. Und ich hatte wirklich nie etwas anderes werden wollen als Künstlerin. Meine Eltern waren davon nicht begeistert gewesen, aber ich konnte mich durchsetzen. Sie würden sicher sehr stolz sein, wenn sie von dem Stipendium erfuhren. Momentan mussten sie ja glauben, dass ihre einzige Tochter eine Mörderin war.
Dieser Gedanke tat mir weh. Vielleicht konnte ich Mom und Dad später von einer Telefonzelle aus anrufen. Die Polizei hatte garantiert schon mit ihnen Kontakt aufgenommen und hörte ihr Telefon ab. Jedenfalls war das in den Fernsehkrimis immer so.
Wahrscheinlich spürte Elliot, dass ich Trübsal blies. Jedenfalls schleifte er mich von der Küche hinüber in sein Atelier und zeigte mir seine neuesten Metallskulpturen, um mich abzulenken. Ich staunte immer wieder, was er aus altem Schrott so alles machen konnte. Das hatte mich schon in meinem Praktikum beeindruckt. Der alte Bildhauer schaffte es wirklich, mich etwas aufzuheitern. Als Cameron von seinem Shopping-Trip zurückkam, ging es mir schon etwas besser.
Camerons Ausbeute bestand aus einem giftgrünen Secondhand-Minikleid, einer schwarzen blickdichten Strumpfhose, Tennisschuhen in der gleichen Farbe, einer sandfarbenen Kunstlederjacke und als Krönung eine tomatenrote Perücke.
„Toll“, sagte ich mit verhaltener Begeisterung. „Damit bin ich aber nicht gerade unauffällig.“
„Ich weiß“, gab Cameron unbeeindruckt zurück. „Aber solange du auf der Flucht bist, musst du deinen unscheinbaren Style vergessen. Ich wette, dein Kleiderschrank ist voll von Sachen, die einer grauen Maus alle Ehre machen würden. Die Bullen rechnen damit, dass du weiterhin so gekleidet bist, also musst du das genaue Gegenteil machen. – Außerdem gefällst du mir viel besser, wenn du dich ein bisschen mehr aufbrezelst.“
Hatte Cameron mir gerade durch die Blume zu verstehen gegeben, dass er mich für eine graue Maus hielt? Ich wusste nicht, ob ich mich über seine Bemerkung ärgern sollte. Doch eigentlich tat ich das nicht, und zwar hauptsächlich wegen seines letzten Satzes.
Außerdem gefällst du mir viel besser, wenn du dich etwas mehr aufbrezelst. Natürlich wollte ich Cameron beeindrucken!
Also verschwand ich mit den neuen Klamotten in Elliots Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Wenig später kam ich wieder heraus und trat vor den großen Wandspiegel im Atelier, den der Bildhauer mal auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Eine fremde junge Frau blickte mir entgegen. Okay, das Kleid stand mir wirklich gut. Es betonte meine schlanke Figur und meine Beine, die in der schwarzen Strumpfhose noch länger wirkten. Die knallrote Perücke war natürlich wirklich schrill – ich sah damit aus wie ein Manga-Fan auf dem Weg zu einer Science-Fiction-Convention. Aber ich musste zugeben, dass ich mir selbst überhaupt nicht mehr ähnelte. Selbst Inspektor Kennedy und Detective Sergeant Cynthia Edwards würden mich in meiner neuen Aufmachung wahrscheinlich nicht wiedererkennen.
„Was sagt ihr?“, fragte ich, als ich den beiden Männern wieder unter die Augen trat. Elliot applaudierte einfach nur, und es kam mir vor, als sähe ich in Camerons Augen großes Interesse aufblitzen. Oder war das nur Wunschdenken von mir?
„Dein Outfit ist spitze“, sagte Cameron. „Und jetzt lass uns losfahren. Wer weiß, ob Robert Cincade heute Abend noch auf die Piste will. Wir müssen ihn erwischen, bevor er das Haus verlässt.“
Ich nickte. Eigentlich fürchtete ich mich davor, dem mutmaßlichen wahren Mörder gegenüberzutreten. Aber ich hatte ja unbedingt selbst an der Killerjagd teilnehmen wollen. Jetzt musste ich da durch.
Zum Glück hatte ich ja Cameron an meiner Seite.