9. KAPITEL
Einen Moment lang, der mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, war ich sprachlos. Während ich das Handy einschaltete, das in meiner Tasche steckte, versuchte ich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich konnte nur hoffen, dass MacLaren das Gerät nicht finden würde. Über seine Absichten machte ich mir keinerlei Illusionen. Er hatte die Bloody Priests dafür bezahlt, dass sie mich töten sollten. Und da sie versagt hatten, würde er diese Aufgabe nun gewiss selber übernehmen.
Es war, als ob er meine Gedanken gelesen hätte.
„Sie sollten keinen Fluchtversuch unternehmen, Miss Duncan. Wie Sie sehen, lässt sich die Beifahrertür nicht von innen öffnen. Dafür habe ich gesorgt.“
Meine Augen wurden feucht vor Hoffnungslosigkeit. Aber ich wollte diesem Verbrecher nicht den Triumph gönnen, mich weinen zu sehen. Also riss ich mich zusammen und öffnete die Lippen.
„Sie haben wirklich an alles gedacht, Professor. Bei Ihrem Organisationstalent können Sie später gewiss einen Posten in der Gefängnisbücherei ergattern.“
MacLaren lachte.
„Sie sind ja wirklich humorvoll, Miss Duncan. Das erstaunt mich, ehrlich gesagt. Nicht, dass Ihnen Ihre Ironie noch etwas nützen würde. Sterben werden Sie in jedem Fall. Aber ich muss gestehen, dass ich neugierig auf Sie geworden bin. Darum werde ich noch etwas mit Ihnen plaudern, bevor Sie Ihre Reise ohne Wiederkehr antreten.“
Wir fuhren durch menschenleere Straßen. Hier und da sah ich das bläuliche Licht eines Fernsehers hinter einem Fenster flimmern. MacLaren schien sich in dieser ärmlichen Gegend gut auszukennen. Jedenfalls vermied er breite Durchfahrtsstraßen, wo man an einer roten Ampel hätte anhalten müssen. Er wollte um keinen Preis Aufmerksamkeit erregen. Der SUV kam mir vor wie ein Raumschiff, das durch eine Galaxie glitt, die mir fremd war. Und ich fühlte mich unendlich ausgeliefert und verloren. Gegen dieses Gefühl anzukämpfen, war momentan das Allerwichtigste. Sonst hatte der Mörder nämlich schon gewonnen.
„So, Sie wollen also plaudern. Und worüber? Werden Sie mir erzählen, warum Sie Alice Wright getötet haben?“
Ich blickte den Professor von der Seite an. Unwillig musste ich mir eingestehen, dass er wirklich nicht schlecht aussah. Natürlich konnte man MacLaren nicht mit Cameron vergleichen, und dieser feige Verbrecher ließ ganz gewiss nicht mein Herz höher schlagen. Außerdem stehe ich nun wirklich nicht auf ältere Herren. Aber MacLaren hatte sich gut gehalten. Er musste ja schon zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein. Doch sein Körper in den Jeans und dem schwarzen Rollkragenpullover wirkte durchtrainiert und muskulös. Während andere Herren in seiner Altersklasse einen Bierbauch vor sich herschoben, ging MacLaren anscheinend regelmäßig ins Fitnessstudio. An seinem silbrig grauen Haar und seiner faltigen Gesichtshaut konnte man trotzdem erkennen, dass er nicht mehr jung war. Für einen Moment verstand ich, warum Alice auf ihn hereingefallen war.
Aber das war nur ein sehr kurzer Moment.
„Dazu muss ich etwas weiter ausholen, Miss Duncan. Hoffentlich haben Sie heute Nacht nicht noch etwas Wichtiges vor.“
„Nein, ich hänge wie gebannt an Ihren Lippen. So, wie Sie sich das von Ihren Studentinnen wünschen.“
Der Mörder lächelte erneut.
„Sie haben wirklich eine spitze Zunge, Miss Duncan. Sie gefallen mir immer besser. Schade, dass wir uns nicht unter erfreulicheren Umständen begegnet sind. Vielleicht hätte es ja zwischen uns beiden gefunkt.“
„Damit ich so ende wie Alice Wright?“
„Ihr unrühmliches Ende hat sich diese kleine Intrigantin selbst zuzuschreiben. – Aber ich hatte Ihnen ja versprochen, die Geschichte vom Anfang bis zum Ende zu erzählen. Im Grunde genommen sind ja sogar Sie selbst der Auslöser für die dramatischen Ereignisse gewesen.“
„Ich? Wie meinen Sie das, Professor?“
„Ganz einfach. Ich sitze in der Kommission, die über das jährliche Francis-Cadell-Stipendium entscheidet. Wir wollten diese Prämie Ihnen zukommen lassen, Miss Duncan. Meinen Glückwunsch übrigens. Es ist wirklich schade, dass Sie von Ihren 10.000 Pfund nichts mehr haben werden.“
„Den Sarkasmus können Sie sich sparen, MacLaren. Ich verstehe immer noch nicht, warum das zum Mord an Alice geführt haben soll.“
„Zum Mord zunächst noch nicht. Aber meine liebe Alice ist vor Eifersucht fast geplatzt, als ich ihr davon erzählt habe, dass wir Ihnen das Stipendium verleihen wollen, Miss Duncan. Alice flehte mich an, das zu verhindern. Aber ich konnte und wollte es nicht. Zugegeben, Sie sind die begabteste Kandidatin gewesen. Aber Sie und Alice sind sich ja spinnefeind, das wusste die ganze Kunsthochschule. Und so entstand Alices teuflischer Plan: Sie wollte ihren eigenen Tod vortäuschen und Sie als die Mörderin dastehen lassen.“
Ich brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit zu verdauen. Eigentlich hatte ich es ja schon eine ganze Zeit lang vermutet. Aber nun hörte ich die Wahrheit aus dem Mund des Mannes, der seine Geliebte ermordet hatte. Jedenfalls ging ich davon aus, dass MacLaren in diesem Moment die Wahrheit sagte.
„Aber was hatte Alice davon, Professor? Ich meine, wenn Alice für tot gehalten wird, hätte sie selbst doch niemals die 10.000 Pfund bekommen.“
„Das stimmt. Unter uns gesagt, war Alice für das Stipendium sowieso nicht begabt genug. Doch sie hat mir versichert, dass es ihr darauf nicht ankam. Es ging ihr nur darum, Sie zu vernichten, Miss Duncan. Und außerdem sind die 10.000 Pfund doch eher eine bescheidene Summe. Jedenfalls im Vergleich zu der halben Million Pfund, die Alice nach ihrem Tod kassieren wollte.“
Eine halbe Million Pfund? Davon hörte ich zum ersten Mal. Ich muss ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt haben, jedenfalls lachte der Mörder erneut und schlug gut gelaunt mit der flachen Hand auf das Lenkrad.
„Ich kann gut verstehen, dass Sie erstaunt sind, Miss Duncan. Glauben Sie mir, anfangs war ich genauso verblüfft. Aber Alices Plan war ebenso einfach wie genial. Sie wollte ihre eigene Ermordung inszenieren und Sie als Mörderin dastehen lassen. Alice hatte schon vor längerer Zeit eine Lebensversicherung über eine halbe Million Pfund abgeschlossen, bei der ich als einziger Begünstigter eingetragen war. Sobald Alice offiziell für tot erklärt worden wäre, hätten Alice und ich uns diese Summe teilen können.“
„Und das soll ein genialer Plan sein? Die Polizei ist nicht dumm. Es ist doch höchst verdächtig, wenn eine kleine Studentin ihren Professor als Begünstigten für eine Lebensversicherung einsetzt.“
„Normalerweise schon. Aber Alice war ja nicht nur eine Studentin, sondern meine Assistentin. Außerdem war sie ein Waisenkind, und ich war eine Art Mentor oder väterlicher Freund für sie. Ich finde, daran ist nichts verdächtig. Vor allem dann nicht, wenn die Polizei eine sehr überzeugende Täterin auf dem Silbertablett serviert bekommt – nämlich Sie, Miss Duncan.“
Mir kam die Intrige trotzdem hirnrissig vor. Allerdings musste ich zugeben, dass die Cops nach wie vor nur gegen mich ermittelten. Warum hätte auch nur der Schatten eines Verdachts auf MacLaren fallen sollen, wenn auf der Mordwaffe sogar meine Fingerabdrücke waren?
„Wenn Alice nur untergetaucht wäre, hätte man doch logischerweise ihre Leiche nicht gefunden, oder? Wäre sie dann überhaupt für tot erklärt worden?“
„Sie denken mit, Miss Duncan, das gefällt mir. In Großbritannien kann man drei Monate nach dem Verschwinden einer Person vor Gericht beantragen, sie für tot erklären zu lassen. Ob das dann wirklich geschieht, liegt im Ermessen des zuständigen Richters. Aber wie Sie wissen, ist Alice ja wirklich tot. Von daher hat sich dieser Punkt von selbst erledigt.“
Die eiskalte Ruhe des Verbrechers machte mich wütend.
„Wann hatten Sie eigentlich beschlossen, Ihre Geliebte loszuwerden, MacLaren? Alice war doch Ihre Freundin, oder?“
„Ja, das war sie. Alices ursprünglicher Plan sah vor, dass sie und ich mit dem Geld untertauchen und in der Südsee ein neues Leben beginnen würden. Aber dazu hätte ich meine Frau verlassen müssen. Und das hatte ich, ehrlich gesagt, niemals vor. Leider hat Alice einmal in meinem Haus ein Gespräch zwischen meiner Frau und mir belauscht. Danach hat sie wohl begriffen, dass ich meine Ehe niemals wegen ihr aufs Spiel setzen würde. Alice wurde fuchsteufelswild. Als wir allein waren, führte sie sich wie eine Furie auf. Sie drohte damit, meiner Frau alles zu erzählen. Ich begriff, dass Alice völlig unberechenbar war. Und ich beschloss, sie zu beseitigen.“
„Und die halbe Million Pfund spielte dabei wohl keine Rolle, wie?“, höhnte ich.
„Darüber können Sie denken, was Sie wollen, Miss Duncan. Mir ist meine Ehe wichtig. Es ist mir egal, ob Sie mir das glauben oder nicht. – Jedenfalls hat Alice es mir sehr leicht gemacht, sie für immer zu beseitigen. Ich habe das Arbeitsmesser aus Ihrem Modellierkurs besorgt. Wissen Sie, Alice hatte diese Tagebucheintragungen gemacht. Daraus geht hervor, dass sie sich von Ihnen verfolgt und bedroht fühlte. Diese Aufzeichnungen sollten später unbedingt von der Polizei gefunden werden. Ich nehme an, das ist wohl auch geschehen. Alice hat Fiona O’Malley und Allison Westley unter Druck gesetzt, damit Ihre Freundinnen Ihnen kein Alibi für die Tatnacht gaben. Wir hatten in Erfahrung gebracht, dass Sie an diesem Abend ausgehen wollten. Ihre Freundin Fiona ist manchmal in der Öffentlichkeit sehr redselig. Es war also alles perfekt geplant. Allerdings hatte Alice keine Ahnung, dass sie wirklich sterben sollte.“
Mir schwirrte der Kopf. Hatte MacLaren wirklich geglaubt, er könnte mit diesem Verbrechen durchkommen? Und dann wurde mir klar, dass den Professor praktisch nichts stoppen konnte. Wenn Cameron und ich erst tot waren, würde er unsere Leichen spurlos beseitigen lassen. Die Polizei würde weiterhin nach mir fahnden, ohne mich jemals zu finden. Und am Ende wartete eine halbe Million an Versicherungsgeldern auf den skrupellosen Mörder.
Sollte ich mich wirklich kampflos in mein Schicksal fügen? Das entsprach nicht meiner Natur. Plötzlich klingelte MacLarens Handy. Er griff mit der linken Hand in seine Hosentasche.
„Ah, das werden diese Gangtypen sein. Wahrscheinlich haben sie Ihren Freund erwischt, Miss Duncan. Ich weiß gar nicht, wer dieser junge Mann ist. Oder, besser gesagt, war.“
Die Vorstellung, dass Cameron tot sein könnte, ließ bei mir endgültig die Sicherungen durchbrennen. MacLaren nahm das Gespräch an, aber es war niemand am Apparat. Ich sprang ihn von der Seite an und drosch mit besinnungsloser Wut auf ihn ein. Der Professor fluchte und verriss das Lenkrad. Es war so eng, dass ihm seine körperliche Überlegenheit nichts brachte. Und dann plötzlich flammte unmittelbar vor uns ein unglaublich helles Licht auf. Gleich darauf ertönte eine Stimme durch ein Megafon:
„Hier spricht die Polizei! Stoppen Sie das Fahrzeug und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“
MacLaren dachte gar nicht daran. Stattdessen trat er aufs Gas. Doch im nächsten Moment geriet der SUV ins Schlingern und wurde langsamer. Wie ich später erfuhr, war er über einen Nagelteppich der Polizei gefahren.
Dann schlug jemand die Windschutzscheibe ein. Instinktiv riss ich meinen Unterarm hoch und schützte damit meine Augen. Ich wurde von behandschuhten Händen gepackt und unsanft aus dem Auto gezerrt. Aber das störte mich nicht. Denn als ich wieder hinsah, erblickte ich den Professor. Auch MacLaren war von vermummten Spezialeinheiten überwältigt und zu Boden gedrückt worden. Es war ein herrlicher Anblick, die Handschellen an seinen Gelenken zu sehen.