10. KAPITEL
Wieder saß ich im Büro von Inspektor Ian Kennedy und Detective Sergeant Cynthia Edwards. Aber diesmal war alles anders als bei unserer ersten Begegnung. Ich war nun ausdrücklich als Zeugin geladen und nicht als Beschuldigte. Das hatte Kennedy mehr als ein Mal betont. Der Kriminalbeamte und seine Assistentin waren sichtlich zerknirscht. Dazu hatten sie auch allen Grund, wie ich fand. Doch fairerweise musste ich zugeben, dass Alices Falle für mich wirklich teuflisch perfekt gewesen war. Sogar ich selbst hatte ja kurzzeitig an meine Schuld geglaubt.
„Dann habe ich also meine Rettung Arthur Elliot zu verdanken?“, vergewisserte ich mich. Der Inspektor nickte und blätterte in seinen Unterlagen.
„Gegen 21.45 Uhr stellte die Notrufzentrale einen Anruf zu mir durch. Arthur Elliot war am Apparat, dieser Bildhauer. Unsere polizeilichen Ermittlungen hatten bereits ergeben, dass er der Onkel von Cameron MacGregor ist. Allerdings war Mr Elliot niemals in Verdacht geraten, Ihnen bei Ihrer Flucht geholfen zu haben. Doch nun gab er indirekt zu, dass er sehr viel über Ihren Verbleib wusste. Und er verriet uns auch den genauen Treffpunkt mit Professor MacLaren in Drumchapel.“
„Wollen Sie ihm daraus im Nachhinein noch einen Strick drehen?“
„Das haben wir nicht vor, Miss Duncan. Sie können mir glauben, dass mir persönlich und der gesamten Polizei von Glasgow die vergangenen Ereignisse sehr unangenehm sind. Jedenfalls hörte sich Mr Elliot für mich sehr überzeugend an. Uns ist natürlich bekannt, dass Drumchapel eine Gegend mit einer sehr hohen Kriminalitätsrate ist. Ich beorderte mehrere Einsatzfahrzeuge dorthin, um die Lage zunächst zu beobachten. Aber dann trat plötzlich diese Straßengang, die Bloody Priests, auf den Plan.“
„Die Bloody Priests wurden von Professor MacLaren bezahlt, um meinen Freund und mich zu beseitigen. Wo ist Cameron überhaupt? Sie sagten vorhin, es ginge ihm gut.“
„Ja, Cameron MacGregor hat nur einige leichte Schürfwunden erlitten, als er über eine Mauer geklettert ist. Er wird zurzeit im Hospital ambulant behandelt und wollte danach sofort hierher zu Ihnen kommen.“
Diese Nachricht erleichterte mich ganz ungeheuer. Aber nun wollte ich wissen, wie es aus Sicht der Cops weitergegangen war. Ich schaute den Inspektor fragend an, und er fuhr fort: „Als Sie und Ihr Freund sich getrennt haben und davonliefen, musste der Einsatzleiter eine Entscheidung treffen. Leider hatten wir zu wenige Beamte vor Ort. Also konzentrierten sich meine Kollegen zunächst auf die Verfolger von Cameron MacGregor. Einige von ihnen sind Wiederholungstäter, die für ihre Brutalität bekannt sind. Wir wollten nicht zulassen, dass der junge Mann ihnen in die Hände fiel. Aber es wurden auch weitere Einsatzkräfte angefordert, um Ihnen beizustehen.“
„Und das ist Ihren Kollegen dann ja auch gelungen“, stellte ich, vor Erleichterung seufzend, fest. „Aber wie haben Sie mich eigentlich gefunden? MacLaren hatte mich doch mehr oder weniger entführt und in seinen Wagen gezerrt.“
„Das ist richtig“, stimmte Cynthia Edwards mir zu. „Aber zum Glück gab es einen Augenzeugen, der den SUV beschreiben konnte. Mithilfe weiterer Streifenwagen haben wir alle Ausfahrtsstraßen von Drumchapel abgesperrt und mit Nagelteppichen versehen. Der Verdächtige muss wohl im entscheidenden Moment nicht bemerkt haben, dass er eine Polizeisperre unmittelbar vor sich hatte. Auf diese Weise gelang es uns, das Fahrzeug zu stoppen. Dann mussten die Kollegen vor Ort nur noch die Frontscheibe einschlagen und den Tatverdächtigen festnehmen.“
„Haben Sie mein Handy schon ausgewertet? Ich habe das gesamte Geständnis von Angus MacLaren als Audio-Datei aufgezeichnet. Er wollte seine Geliebte Alice Wright loswerden und war außerdem von Geldgier getrieben. Die Tote hatte zu Lebzeiten eine Lebensversicherung mit ihm als Begünstigtem abgeschlossen.“
Inspektor Kennedy nickte abermals und blätterte wieder in seinem Schnellhefter.
„Nein, die Auswertung des Handys wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. – Und die Sache mit der Lebensversicherung ist uns auch bekannt. Wir fanden es zunächst etwas merkwürdig, dass eine Studentin eine solche Versicherung zugunsten ihres Professors abschließt. Aber Alice Wright war ein Sonderfall, weil sie ein Waisenkind war und keine näheren Verwandten hatte. Wir sind davon ausgegangen, dass Alice den Professor als eine Art väterlichen Mentor ansah. Deshalb nahmen wir keinen Anstoß an dieser Versicherungsgeschichte und ermittelten nicht weiter in diese Richtung.“
Ich musste mir eine spitze Bemerkung verkneifen. Aber was hätte es genutzt, die Polizei jetzt noch erneut gegen mich aufzubringen? Ich genoss es einfach nur, hier ohne Handschellen im Verhörraum zu sitzen. Sogar für Tee und Sandwiches hatte der weibliche Detective Sergeant gesorgt. Ich griff beherzt zu, denn eine lebensgefährliche Verfolgungsjagd macht hungrig.
„Übrigens haben Ihre Freundinnen schon einige Stunden vor dem Anruf von Arthur Elliot die ursprünglichen Aussagen zurückgezogen“, berichtete der Inspektor. „Allison Westley und Fiona O’Malley haben zugegeben, falsche Angaben zur Tatnacht gemacht zu haben, Miss Duncan. Die jungen Ladys werden sich wegen vorsätzlicher Falschaussage verantworten müssen. Alles in allem lässt sich der dringende Tatverdacht gegen Sie nicht mehr aufrechterhalten, Miss Duncan. Deshalb werden wir Sie nach dieser Befragung auf freien Fuß setzen.“
Ich hatte schon befürchtet, dass ich noch Ärger wegen meiner Flucht aus dem Gefangenentransporter kriegen würde. Aber davon war jetzt keine Rede. Inspektor Kennedy und seine Kollegen hatten gewiss schon genug Schwierigkeiten, weil sie so lange eine völlig falsche Spur verfolgt hatten.
Ich erfuhr, dass die Polizei auch die drei Gang-Chicks Lizzie, Sugar und Ruth verhaftet hatte. Mit etwas Glück konnte man dem Professor nicht nur den Mord an Alice Wright, sondern auch die Anstiftung zum Mordversuch an Cameron und mir nachweisen. Außerdem freute ich mich total darüber, dass Fiona und Allison über ihren Schatten gesprungen waren. Es war eine Sache, sich bei mir zu entschuldigen. Aber bei der Polizei eine Falschaussage zuzugeben – damit hatten mir die beiden bewiesen, wie sehr ihnen die Freundschaft mit mir noch am Herzen lag.
Doch am schönsten war natürlich, dass Cameron seinen Verfolgern entkommen war. Ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Der Inspektor bemerkte es.
„Sie müssen müde sein, Miss Duncan. Es war eine lange Nacht für Sie. Soll ich Sie von einem Streifenwagen nach Hause fahren lassen?“
„Nein danke, Sir. Ich bin sicher, dass mein Freund mich abholt.“
Und so war es auch. Als ich den Verhörraum verließ, erblickte ich Cameron sofort. Er saß vorne im Wachlokal zwischen wartenden Verbrechensopfern auf einer Holzbank. Inzwischen war es fünf Uhr morgens. Aber auch um diese Zeit war auf der Polizeiwache noch jede Menge los. Es stank nach Alkohol, Schweiß und Desinfektionsmitteln. Aus dem Zellentrakt ertönten die Gesänge von Betrunkenen. Aber das alles war mir egal, ich hatte nur noch Augen für meinen Freund. Schnell lief ich auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Cameron hatte ein großes Pflaster am linken Ellenbogen. Aber ansonsten konnte ich keine Verletzung an ihm entdecken.
„Alles in Ordnung bei dir? Ich dachte schon, die Bloody Priests würden dich totschlagen, Cameron.“
„Ich schätze, das hätten sie auch gerne getan. Aber ich habe ziemlich schnell die Biege gemacht. Die Dreckskerle waren natürlich hinter mir her. Ein paarmal sah es fast so aus, als ob sie mich erwischen würden. Aber dann tauchten plötzlich die Cops auf und verhafteten die ganze Bande. Ich habe mich noch nie so gefreut, eine Polizeiuniform zu sehen.“
Ich lachte.
„Das ging mir genauso, als MacLaren festgenommen wurde. Aber jetzt habe ich trotzdem die Nase voll von allem, was mit Gesetzen und Verbrechen zu tun hat. Lass uns so schnell wie möglich von hier verschwinden.“
Cameron nickte lächelnd und legte seinen Arm um meine Schultern. Eng umschlungen verließen wir die Revierwache. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich dank meiner erwiesenen Unschuld plötzlich um 10.000 Pfund reicher geworden war. Und der Studienplatz in Los Angeles wartete ebenfalls auf mich.
„Cameron, warst du eigentlich schon mal in Kalifornien?“
„Nee, für so weite Reisen wurde ich bisher nie gut genug bezahlt. Mehr als drei Tage im Seebad von Blackpool waren für mich noch nie drin.“
Ich legte den Kopf schief und schaute meinen Freund von der Seite an. Dabei versuchte ich, möglichst süß und verführerisch zu wirken.
„Wenn ich für ein Gastsemester in die Staaten gehe, würde ich mich über deine Gesellschaft sehr freuen. Das Flugticket würde ich dir spendieren, weil bei mir ja jetzt der Wohlstand ausgebrochen ist.“
„Wow! Das ist super von dir, Lindsay! Aber – was soll ich dort drüben tun?“
„Da wird dir schon was einfallen. Für den Anfang könntest du ja wieder für meine Aktzeichnungen Modell stehen. Ich will noch mehr in dieser Richtung machen.“
Cameron grinste und zog mich noch näher an sich.
„Das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen. Damit könnten wir sogar gleich anfangen.“
Doch als wir erst in Camerons WG-Zimmer waren und er seine Kleider abgelegt hatte, kam uns noch eine viel bessere Idee. Und die setzten wir sofort voller Leidenschaft in die Tat um.
– ENDE –