Kapitel 7

SYMPATHIETRÄGERIN

Die Bilanz der ersten Legislaturperiode fiel aus der Sicht des amtierenden Kanzlers durchaus positiv aus. Die Preise waren stabil, die Wirtschaft wuchs, die Realeinkommen stiegen und die Zahl der Beschäftigten nahm zu. In Kohls Memoiren wird belegt, dass rund 600 000 Arbeitsplätze neu geschaffen wurden und die Zahl der Kurzarbeiter drastisch abnahm. Dennoch sparten Kohls Herausforderer Johannes Rau und seine SPD nicht an Kritik. Der Wahlkampf war geprägt von Themen wie den explodierenden Kosten im Gesundheitswesen und sozialer Gerechtigkeit. Während Anfang Januar 1987 weite Teile der Bevölkerung bei Umfragen für eine Abwahl der Regierung Kohl plädierten, gelang es dem engagierten Wahlkämpfer, auf der Zielgeraden seine Anhänger zu mobilisieren. Auch diesmal unterstützte die Kanzlergattin die Bemühungen ihres Mannes. Vor allem durch ihr soziales Engagement brachte sie den Unionsparteien viel Sympathie ein. Und ihre öffentlichen Auftritte an der Seite ihres Mannes zählten zu den Highlights des CDU-Wahlkampfs. In den letzten Wahlkampfwochen mischte sie sich richtig ein, gab Interviews und vertrat ihren Mann auf mehreren Veranstaltungen. Dabei bediente sie sich eines gelungenen Schachzugs. Sie überbrachte als allererstes die besten Grüße und Wünsche ihres Mannes und erntete mit diesem Einstieg starken Applaus. Grundsätzlich ließ sie ihrem Mann den Vortritt und sei es auch nur mit einer verbalen Geste.

Das Ergebnis der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 war zwar nicht überwältigend, doch die Regierung Kohl/Genscher erhielt für die nächsten vier Jahre einen klaren Wählerauftrag. Die Union verlor vier Prozentpunkte und kam auf 44,3 Prozent der Stimmen, während die FDP um zwei Punkte zulegte und 9,1 Prozent erzielte. Die SPD musste leichte Verluste hinnehmen, während die Grünen einen gewaltigen Sprung auf einen Stimmenanteil von 8,3 Prozent machten. Kohls Herausforderer Johannes Rau zog sich aus der Bundespolitik zurück und konzentrierte sich wieder auf das Amt des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen.

Nach dem hart geführten Wahlkampf kehrte wieder Ruhe in den Arbeitsalltag ein. Hannelore Kohl pendelte zwischen dem »Büro« im Bonner Konrad-Adenauer-Haus in der Friedrich-Ebert-Allee und dem Sitz des Kuratoriums ZNS in der Humboldtstraße. Je nach Aufgabe wechselte sie die Schreibtische. Sie zeigte Präsenz in Bonn, wirkte entspannter und offener als früher bei Fernsehauftritten. Sie trat mehrfach bei Thomas Gottschalk im ZDF auf, ließ sich von einer Journalistin bei RTL porträtieren, sprach zur Eröffnung der Bonner Opern-Gala und eröffnete in Ludwigshafen in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik das Symposium »Computer helfen heilen«. Aus Anlass des fünfjährigen Bestehens des Kuratoriums ZNS stellte sie sich im Bonner Presseclub den Journalisten und feierte mit Bild-Bonn das Sommerfest zugunsten von ZNS. Zum Abschluss des Jahres 1987 folgte ein Auftritt in der beliebten ZDF-Sendung Und die Musik spielt dazu, in der eine Benefizschallplatte vorgestellt wurde, deren Einnahmen in die Spendenkasse flossen. Unermüdlich warb die Kanzlergattin Gelder ein. Es waren Hannelores engagierteste und erfolgreichste Bonner Jahre, in denen sie sich fast wie eine hauptamtliche Präsidentin in den Dienst ihres Kuratoriums stellte.

Zwischendurch absolvierte sie immer wieder Auftritte als Frau an seiner Seite. Am 12. Juni 1987 erlebte sie zusammen mit ihrem Mann und dem Ehepaar Ronald und Nancy Reagan einen besonderen Berlin-Aufenthalt. Der amerikanische Präsident hatte vor dem Brandenburger Tor einen großen Auftritt. In seiner historischen Ansprache sagte er unter anderem: »Generalsekretär Gorbatschow, wenn Sie nach Frieden streben, wenn Sie Wohlstand für die Sowjetunion und die Völker Osteuropas wünschen, wenn Sie die Liberalisierung wollen, dann kommen Sie hierher zu diesem Tor! Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder.« Das waren Sätze ganz nach dem Geschmack Hannelore Kohls, die sich zwar gerne als unpolitische Zeitgenossin gerierte, aber wenn es um die deutsch-deutschen Beziehungen ging, war sie politisch hellwach.

Ende Juni 1987 erhielt sie in Washington für ihre Verdienste um die in Rheinland-Pfalz stationierten amerikanischen Soldaten als erste Deutsche den »International Service Award«, den »Oscar der Hilfsbereitschaft«. Diese Auszeichnung nahm sie für ihr Engagement als frühere Landesmutter von Rheinland-Pfalz entgegen; jahrelang hatte sie sich um US-Soldaten und deren Familien gekümmert. Bei der Verleihung des Preises im Rahmen eines festlichen Gala-Diners hatte Hannelore einen triumphalen Auftritt. Ihre Dankesrede in blendendem Englisch sorgte für Aufsehen. In ihrer Ansprache lobte sie die Leistungen Amerikas für die Sicherheit der Bundesrepublik und hob als Mutter von zwei Söhnen, die in der Bundeswehr gedient hatten, die Bedeutung der Soldaten für die Verteidigung der Freiheit hervor. Auch bei diesem Auftritt glänzte Hannelore nicht nur mit sprachlicher Brillanz und Souveränität, sondern sparte nicht an Witz und Humor. Das kam beim amerikanischen Publikum an, das ihre sympathische, charmante und positive Ausstrahlung mit lang anhaltendem Applaus bedachte.

Als Sympathieträgerin für ihren Mann und seine Politik reiste sie um die ganze Welt, war bereits zweimal in China. Private Reisen führten sie nach Nordafrika: nach Ägypten, Tunesien und Marokko bis an die algerische Grenze, wovon sie lange zehrte und schwärmte. Die leidenschaftliche Autofahrerin steuerte sogar bei einer Safari einen Jeep durch die Sahara, was sie hinreißend fand. Hannelore besuchte in ihrem Leben viele Länder privat oder dienstlich an der Seite ihres Mannes. Allerdings verzichtete sie grundsätzlich auf Reisen in Länder, in denen Impfzwang herrschte. Sie vertrug Impfungen nur sehr schlecht und lag einmal nach einer harmlosen Grippe-Schutzimpfung über acht Wochen lang mit einer schweren Lungenentzündung krank darnieder. Danach hatten ihr die Ärzte striktes Impfverbot erteilt, egal für was. Daher musste sie auf sämtliche Reisen, die etwa in Malaria-, Gelbfieber- oder Choleragebiete führten, verzichten.

Bei einem offiziellen Besuch des Kanzlers im Juli 1987 in Nepal, Tibet und China war Hannelore hingegen dabei. Diese Reise gehörte zu den eindrücklichsten und folgenreichsten ihres Lebens. Denn in Nepals Hauptstadt Katmandu kam es zu einem Zwischenfall. Nach der Fahrt vom Flughafen zum Hotel in einem Rolls-Royce-Oldtimer passierte es: Gerade als ein Sicherheitsoffizier des nepalesischen Protokolls Hannelore die Wagentür geöffnet hatte, rollte die Limousine noch einmal unvermittelt an. Das rechte Bein bereits auf dem Boden, verfing sich Hannelores linker Fuß im Fonds des Rolls-Royce. Die Folge war eine Zerrung, die zunächst recht harmlos erschien. Kurz darauf schwoll das Bein allerdings stark an. Jetzt konnte nur noch kaltes Wasser oder Eis helfen. Im Hotel gab es indes keine Eiswürfel, sondern nur sogenanntes Splittereis, dessen scharfe Kanten nach mehrmaliger Anwendung Hannelores Haut aufritzten. Das offensichtlich mit Keimen infizierte Eis löste eine Blutvergiftung aus, die dramatische Folgen hatte. Hannelores Bein, das mittlerweile stark eiterte, wurde – nur lokal betäubt – alle vier bis fünf Stunden aufgeschnitten, damit der Eiter abfließen konnte. Die Wunde durfte sich keinesfalls schließen und zuwachsen. Trotz starker Medikamente und ärztlicher Erstversorgung war es Hannelore kaum möglich, am Besuchsprogramm teilzunehmen. Sie war gerade noch fähig, sich eine halbe Stunde am abendlichen Empfang zu beteiligen. Die Folgen der schweren Blutvergiftung quälten sie noch Wochen nach der Reise.

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Im September 1987 besuchte der Generalsekretär der SED und DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker die Bundesrepublik. Hannelore sah dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie mochte den Mann einfach nicht, der seine Landsleute mit Waffengewalt in der DDR hielt. Dass er und seine SED die Meinungsfreiheit, die Presse- und Reisefreiheit tagtäglich verletzten und Honecker sich dann als Friedensengel in der Bundesrepublik präsentieren wollte, trieb der ehemaligen Leipzigerin die Zornesröte ins Gesicht. Wenngleich ihr Mann den Honecker-Besuch geschickt nutzte, um über beide Fernsehstationen in der Bundesrepublik und der DDR live Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, für größere Reisefreiheit zu plädieren und den Wiedervereinigungsgedanken klar zu formulieren, blieb sie unversöhnlich. Tatsächlich stimmte die DDR nach dem Besuch Erleichterungen im innerdeutschen Reise- und Postverkehr zu – was aber weniger an politischer Einsicht gelegen haben dürfte, als an der prekären wirtschaftlichen Situation im Osten.

Wie wenig die Bürger der DDR davon profitierten, erlebten die Kohls bei der einzigen Privatreise, die sie während Helmuts Kanzlerschaft absolvierten. In den Jahren zwischen 1974 und 1976 war die Familie zusammen mit wenigen engen Mitarbeitern zu Kurzbesuchen in die DDR gereist. Der jüngste Kohl-Sohn Peter hatte zudem mit einer Jugendgruppe 1984 eine Woche lang die DDR besucht. Er gehörte ebenso zum Tross des Bundeskanzlers und seiner Ehefrau Hannelore wie die Regierungssprecher Friedhelm Ost und Ministerialdirektor Wolfgang Bergsdorf, als diese Ende Mai 1988 zu einer neuen Privatreise hinter den Eisernen Vorhang aufbrachen. Besichtigt wurden die Städte Eisenach, Erfurt, Gotha und Weimar mit einer Übernachtung im berühmten Hotel »Elefant«. Weiter standen Leipzig und Dresden auf dem Programm.

Für den Kanzler war ein Höhepunkt der Reise der Besuch des Oberligafußballspiels »Dynamo Dresden« gegen »Carl Zeiss Jena« in der Elbmetropole, auf das Hannelore gerne verzichtete. Als kulturelles Highlight hatte sie sich eine Vorstellung in der Semperoper gewünscht. Auf dem Programm stand Richard Wagners Oper Der Tannhäuser. Als besonderer Fan klassischer Musik in der Familie genoss sie die wunderbare Vorstellung mit einer herausragenden Inszenierung. Bei der Ouvertüre und dem Pilgerchor summte sie sogar leise mit. In ihrem blauen Abendkleid war sie zweifellos für jedermann eine Augenweide, eine auffallende Schönheit. Später berichtete sie mit großem Enthusiasmus von diesem Kunstgenuss und erzählte vom spürbaren Raunen im Opernhaus, als die Kohl-Familie und ihre Begleitung auf dem großen Balkon Platz nahm. Ein rundum gelungener Abend, der von der Situation im Land hätte ablenken können – wären nicht der Kohl-Delegation beim Verlassen des Musentempels klammheimlich manche Zettel zugesteckt worden. Diese kurzen Notizen waren zum Teil dramatische Appelle, Kohl möge etwas unternehmen, Bürgern bei der Ausreise helfen oder etwas gegen die fortwährende Unterdrückung im Oststaat tun.

Diese erste und einzige Privatreise eines deutschen Bundeskanzlers in der Geschichte der beiden deutschen Staaten beschloss ein Gottesdienstbesuch in der katholischen Kathedrale von Dresden. Die Gläubigen verharrten solange in ihren Bänken, bis das Ehepaar Kohl die Kirche durch den Mittelgang verlassen hatte. Vor dem Bischofssitz spielten sich bemerkenswerte Szenen ab. Trotz der nicht erkennbaren, aber anwesenden Stasi-Aufpasser wurden Hannelore und Helmut immer wieder von Bürgern fotografiert, und mehrere hundert Menschen spendeten Beifall. Für das Kanzlerpaar war dieser DDR-Aufenthalt nach eigenen Worten eine der bewegendsten Reisen in ihrem Leben. Vielleicht gerade weil ihnen klar war, dass sie – in vornehmer Distanz – auf Schritt und Tritt von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit begleitet wurden. Die Überwachung machte auf unangenehm bedrückende Weise greifbar, was man ohnehin wusste. Dass Helmut Kohl in all seinen politischen Führungspositionen und besonders als Bundeskanzler, aber selbst seine Familie, unter Telefonkontrolle der DDR-Auslandsspionage stand, davon konnte sich der Pfälzer nach Öffnung der Stasi-Akten persönlich überzeugen. In weiser Voraussicht führte er bis 1989 ganz wichtige Telefonate grundsätzlich aus einer der berühmten gelben Telefonzellen der Deutschen Bundespost. Seine Annahme, sich damit der Telefonkontrolle des DDR-Geheimdienstes entziehen zu können, erwies sich allerdings als trügerisch. Auch diese Gespräche wurden über den Empfänger des Telefonats in der Regel abgehört und mitgeschnitten. Diese im Stasi-Jargon »Zielkontrollaufträge« genannten Mitschnitte betrafen auch die Telefonate von Helmut Kohl mit seiner Ehefrau. Die Privatanschlüsse in Ludwigshafen und in Bonn waren der DDR-Auslandsspionage ebenso vertraut wie die dienstlichen Telefonnummern des CDU-Bundesvorsitzenden, des CDU/CSU-Oppositionsführers und Bundeskanzlers, die in Ost-Berlin gespeichert waren und rund um die Uhr angezapft wurden.

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Hannelore und Helmut Kohl befanden sich gerade auf einer Indonesien-Reise, als sie am 3. Oktober 1988 über den Tod des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß informiert wurden. Gefühle der Trauer hielten sich in Grenzen. Hannelore mochte den bayerischen Trouble-Maker nicht. Was hatte er ihrem Mann nicht alles angetan! Niemals konnte sie vergessen, wie verletzend seine öffentlichen Äußerungen über Helmut Kohl all die Jahre gewesen waren, welche Charaktereigenschaften er ihrem Mann abgesprochen und mit wie viel Häme er den Pfälzer immer wieder überzogen hatte. Durch solche persönlichen Verunglimpfungen ihres Mannes fühlte sie sich gleichsam mit in Sippenhaft genommen. Den Trauerfeierlichkeiten mit dem Requiem, das Kardinal Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., zelebrierte, und dem Staatsakt im Münchner Herkulessaal wäre Hannelore am liebsten ferngeblieben. Diesem Menschen die letzte Ehre zu erweisen, empfand sie im Grunde ihres Herzens als kaum zu ertragende Zumutung. Doch auch diesmal gestattete sie sich nicht, sich von Gefühlen leiten zu lassen. In einem unserer Gespräche gestand sie, für einen Augenblick ernsthaft überlegt zu haben, einen grippalen Infekt vorzuschieben, um dieser Veranstaltung fernbleiben zu können. Am Ende siegten ihre preußische Pflichtauffassung und die Zwänge des Protokolls. An der Seite ihres Mannes mischte sie sich unter die trauernde Prominenz und lauschte den zum Teil fast heuchlerischen Nachrufen, auch seitens ihres Mannes. Hannelore kannte seine Einstellung zu Franz Josef Strauß und erlebte nun, wie Helmut seinen »übergeordneten Pflichten« als Kanzler der Bundesrepublik und Vorsitzender der CDU Deutschland nachkam und Sätze vortrug, die wohl kaum seiner wahren Haltung und inneren Überzeugung entsprachen. Natürlich wusste sie, dass er kaum anders handeln konnte, aber die Scheinheiligkeit der politischen Kaste, die im Nachgang der Trauerfeierlichkeiten für den mächtigen Bayer durchschien, förderte einmal mehr ihre Vorbehalte und ihr Misstrauen gegenüber Politikern.

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Um die lange Eiszeit zwischen Bonn und Moskau zu beenden, reisten der Bundeskanzler und seine Gattin mit großer Delegation Ende Oktober 1988 in die sowjetische Hauptstadt. In einem Interview hatte Kohl den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow zwei Jahre zuvor mit dem NS-Propagandaminister Josef Goebbels verglichen. Beide seien »Experten für Public Relations«. Der Kreml hatte umgehend reagiert und den Besuch einer Delegation um Forschungsminister Riesenhuber abgesagt. Seitdem war das Verhältnis angespannt gewesen und noch im Frühjahr 1988 hatte es ernsthafte Unstimmigkeiten gegeben, weil sich die Terminkoordination als äußerst schwierig erwies.

Der Besuch in Moskau läutete eine neue Phase zwischen den Staatslenkern Kohl und Gorbatschow ein, die entscheidend zur späteren Wiedervereinigung beitrug. Hannelore hingegen blieb sehr reserviert. Daran änderte auch ein gemeinsamer Konzertbesuch der beiden Ehepaare nichts. Hannelore absolvierte das übliche Damenprogramm und lauschte ein wenig gelangweilt den oft langatmigen Ansprachen beim abendlichen Diner im Kreml. Für sie war der Besuch des Kanzlerehepaares beim sowjetischen Kernphysiker, Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow und dessen Frau Jelena Bonner weit interessanter. Das Gespräch mit den beiden mutigen Dissidenten, die Hungerstreik und Verbannung hatten erleben müssen und vom sowjetischen Geheimdienst systematisch gequält und gefoltert worden waren, gehörte zu den Höhepunkten des Moskau-Aufenthalts. Hannelore schien sich zwar auch mit Raissa Gorbatschowa ganz gut zu verstehen, innerlich ging sie aber auf deutliche Distanz, ohne es sich anmerken zu lassen. Seit ihrer traumatischen Erfahrung 1945 sah sie sich nicht in der Lage, den Menschen des großen sowjetischen Imperiums wirklich näherzukommen. Mit jedem Kontakt zur Sowjetunion, ihren Menschen, ihrer Sprache, ihrer Politik und Kultur wurde sie an die brutale Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten erinnert. Eine leichte Besserung stellte sich erst ein, als die sowjetischen Besatzungstruppen 1994 das geeinte Deutschland verließen. Bis zu diesem Zeitpunkt kam Hannelore mit aufgesetztem Lächeln ihrem Auftrag als Kanzlergattin nach, auch in dem Bewusstsein, wie bedeutsam die deutsch-sowjetischen Beziehungen für die Wiedervereinigung gewesen waren. Während Helmut Kohl alles daran setzte, mit den russischen Machthabern verlässliche Beziehungen zu begründen und Abmachungen zu treffen, ging Hannelore – von Außenstehenden niemals zu spüren – auf Distanz. Darüber verlor sie bis zu einem Gespräch mit mir kurz vor ihrem Tod kein Wort.

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Im Jahr 1989 standen nicht nur eine ganze Reihe von Jubiläen an, sondern auch die wichtigen Besuche der beiden mächtigsten Männer der Welt. Der neue amerikanische Präsident George Bush hatte sein Kommen ebenso angekündigt, wie KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow. Hannelore wusste um die Besonderheit der deutsch-amerikanischen Beziehungen und unterstützte das Bemühen ihres Mannes, mit dem neuen Chef des Weißen Hauses eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu erreichen. Dass Bush seine wichtige Rede ausgerechnet in Mainz hielt und dabei für Deutschland und Amerika eine »Partnerschaft in der Führung« forderte, freute die Kanzlergattin ebenfalls. Die Bilder von der Rheintour der beiden Ehepaare zeigen eine völlig entspannte Hannelore in ständigem Gespräch mit Barbara Bush, zu der sich im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft entwickelte. Zu keiner anderen Frau eines Staatsmannes hatte Hannelore ein so inniges Verhältnis wie zu Barbara Bush, die sie nicht nur wegen ihrer Herzlichkeit mochte. Die acht Jahre ältere Präsidentengattin mit ihrer Lebenserfahrung, Lebensweisheit und ihrer unverkrampften Empathie schätzte Hannelore sehr. Sie bewunderte ihre Gelassenheit und Unaufgeregtheit und sah in ihr das Idealbild einer Politikergattin.

Das Verhältnis zu Raissa Gorbatschowa indes, die nur ein Jahr jünger als Hannelore war, das teilte sie mir mit, stand für Hannelore immer unter dem Eindruck der schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit. Daran änderte auch der offizielle Gegenbesuch der Gorbatschows Mitte Juni 1989 nichts. Raissa hatte nach ihrem Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie als Lehrerin gearbeitet und nach der Geburt ihrer Tochter Irina mit einer Arbeit über Lebensbedingungen auf Kollektivfarmen promoviert. Raissas praxisnahe Dissertation prangerte vor allem überkommene Vorstellungen über die soziale Rolle der Frau in der Provinz an. Die sozial und kulturell engagierte Raissa, die unter anderem die Schirmherrschaft für eine internationale Kinderhilfsorganisation innehatte, hätte eine interessante Gesprächspartnerin sein können. Aber Hannelore konnte nicht über ihren Schatten springen. Sie wahrte Haltung, war freundlich und charmant und bewegte sich immer im Rahmen des Protokolls – zu übertrieben persönlicher Nähe sah sie auch beim Abendessen im kleinen Kreis im Kanzlerbungalow keinen Anlass. Wenngleich sie dort maßgeblich für eine entspannte Atmosphäre sorgte, von der auch die hochpolitischen Gespräche der Ehemänner profitierten.

Beim Rundgang auf dem Bonner Rathausplatz ereigneten sich unvergessliche Szenen. Gorbatschow schlugen Wogen von Sympathie- und Freundschaftsbekundungen entgegen, die sich in eine wahre »Gorbimanie« steigerten. Das spätere Vier-Augen-Gespräch Helmut Kohls mit dem sowjetischen Gast im Park des Bundeskanzleramtes mit Blick auf den Rhein wurde zum Schlüsselerlebnis für beide Männer.

Das Damenprogramm führte Hannelore und Raissa unterdessen auch auf den größten russischen Soldatenfriedhof der Bundesrepublik im westfälischen Stukenbrock. Ein außergewöhnlicher Programmpunkt, der Hannelore alles abverlangte. Sie bewahrte Haltung, ließ sich nicht anmerken, was sich in ihrem Inneren abspielte. Dass sie ausgerechnet diesem Vorschlag des Protokolls folgen musste, belastete sie sehr. Doch eine Änderung des Damenprogramms wäre nur schwerlich möglich gewesen und hätte nur zu Irritationen geführt. Niemand konnte ahnen, welche Erinnerungen bei der Kanzlergattin hochkommen würden. Allenfalls ihr Mann hätte ahnen können, dass der Besuch eines sowjetischen Soldatenfriedhofs für seine Frau unzumutbar war. Dem Bundeskanzler fehlte vielleicht die Sensibilität oder auch das Interesse. Der Besuch auf dem Friedhof ließ das alte Trauma wieder aufleben, die Erinnerung an Ohnmacht und Ausgeliefertsein, an den Beginn seelischer Verletzungen großen Ausmaßes. Die Kraft, die Hannelore aufbringen musste, um weiter zu funktionieren und das Restprogramm abzuspulen, war enorm. Entgegen allen Bekundungen des Memoirenschreibers Helmut Kohl war gerade der Besuch des Ehepaars Gorbatschow in Bonn 1989 eine schwere Belastung für Hannelore. Sie durfte sich – wie immer – nichts anmerken lassen, musste wegstecken, verdrängen und dafür äußerste Disziplin aufwenden.

UMBRÜCHE

Während des Sommerurlaubs im österreichischen Sankt Gilgen lief das übliche Programm ab. Ständige Telefonate mit dem Bonner Kanzleramt, politische Gespräche mit angereisten Gästen, Interviews mit Journalisten von ARD und ZDF, Fototermine, bei denen die heile Welt der Vorzeigefamilie Kohl dokumentiert werden sollte. Haltung bewahren, lautete die Devise, das Lächeln aufsetzen, damit die Kameraleute und Fotografen die gewünschten Bilder erhielten. Dabei wäre Hannelore am liebsten weggelaufen, hätte gerne alles hinter sich gelassen und sich lieber an den Sonnenstränden der Welt vergnügt. Das Einzige, was ihr wirklich Abwechslung brachte, waren Treffen mit einer befreundeten Heimatdichterin und gemeinsame Shopping-Touren mit ihr in Salzburg. Ausspannen, erholen, auftanken, Kräfte sammeln: Davon hatte sie eigentlich andere Vorstellungen. Doch es half nichts. Drei Wochen lang wurde ein Programm abgespult, dem Hannelore nichts, aber auch gar nichts abgewinnen konnte. Doch niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dagegen zu opponieren, sich den Vorstellungen ihres Mannes entgegenzustellen.

In die Langeweile der Sommerferien des Jahres 1989 platzten die Fernsehbilder von geflohenen DDR-Bürgern, die zu Tausenden in die Botschaften der Bundesrepublik in Ungarn und Tschechien strömten. Diese Bilder schreckten auch Hannelore auf. Die bange Frage war, wie sich Moskau bei all diesen Umwälzungen verhalten würde. Eine Frage, die nicht nur die Menschen auf privater Ebene beschäftigte, sondern auf höchster politischer Ebene die Staats- und Regierungschefs in Europa und weltweit. Unvergessen die Bilder aus dem Kalten Krieg, als Moskau mit Panzern auf Aufstände in Ostberlin und später in Prag reagiert hatte.

In dieser angespannten Situation erlebte Hannelore ihren Mann von einer ganz neuen Seite. Über parteiinterne Querelen, über politische Auseinandersetzungen, denen ihr Mann beinahe tagtäglich ausgesetzt war, sprachen die Eheleute Kohl so gut wie nie. Hannelore informierte sich umfassend durch Zeitung, Rundfunk und Fernsehen. Im Herbst 1989 trat insofern eine Änderung ein, als der Kanzler seiner Frau Einblicke in sein Seelenleben gewährte, wie selten zuvor. Es war nur noch wenig von seiner bekannten Gelassenheit zu spüren. Neben den dramatischen Umwälzungen in der DDR musste er sich innenpolitisch mit Gerüchten über einen Putschversuch auseinandersetzen. Er ließ Hannelore wissen, wie sehr ihn die Absicht einiger Parteifreunde bewegte und kränkte, ihn auf dem Bremer Parteitag Anfang September zu stürzen. Hinzu kam eine Prostata-Erkrankung, die Helmuts politisches Agieren stark beeinträchtigte. Ärzte rieten zur sofortigen Operation, die angesichts des unmittelbar bevorstehenden Parteitages aus der Sicht des Patienten völlig ausgeschlossen war. Einem Ärzteteam gelang es, den Kanzler medizinisch soweit zu versorgen, dass die Operation auf einen Tag nach dem Parteitag verschoben werden konnte. Hannelore machte sich große Sorgen und fand diese Lösung alles andere als dem Krankheitsbild angemessen. Doch auch hier setzte sich der allmächtige Gatte durch und wischte Hannelores Bedenken vom Tisch. Wie in Kohls Memoiren in allen Facetten nachzulesen ist, überstand er mit Hilfe seines Leibarztes den Bremer Parteitag. Für den CDU-Vorsitzenden noch wichtiger war das Scheitern der Putschisten. Der Aufstand der Kohl-Kritiker ging ins Leere. Die Feigheit der Akteure und die Treue seiner Anhänger, der Kohlianer, verhalfen dem alten und neuen Parteichef zu einem triumphalen Wahlergebnis und einem Sieg über seine Gegenspieler. Dass der Kanzler und Parteichef am Vorabend des Parteitages die Grenzöffnung durch Ungarn verkünden konnte, war ein Geschenk des Himmels und für den Amtsinhaber ein einziger Triumph. Hannelore, die in dieser schwierigen innerparteilichen Gemengelage ihrem Mann ganz nahe stand, genoss den Erfolg in Bremen. Die Bilder vom Parteitag zeigen eine Hannelore Kohl, die geradezu enthusiastisch den innerparteilichen Sieg ihres Mannes über die Späths, Süssmuths, Geißlers, Biedenkopfs und viele andere »Parteifreunde« feierte. Ihre Genugtuung bemerkten nicht nur die engsten Mitarbeiter. Hannelore zeigte nach außen demonstrative Zufriedenheit, die man bei der sonst so kontrollierten Kanzlergattin höchst selten erlebte.

Nach dem Bremer Parteitag überschlugen sich die Ereignisse in Deutschland. Die Fluchtwelle der DDR-Bürger schwoll von Woche zu Woche an, die Bilder aus den deutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest gingen um die Welt. Hannelore war zutiefst beeindruckt vom Mut der DDR-Bürger, von ihrem unstillbaren Willen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

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Als die Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989 fiel, hielt sich Hannelore ganz alleine zu Hause in Ludwigshafen auf. Eine Freundin hatte sie angerufen und aufgeregt gebeten, den Fernseher einzuschalten. Helmut Kohl war am Vormittag zu einem von langer Hand vorbereiteten politisch wichtigen und zugleich schwierigen Besuch nach Warschau geflogen. Während er an einem Abendessen teilnahm, wurde in Ost-Berlin Geschichte geschrieben. Vor der versammelten Presse verlas SED-Chef Günter Schabowski eine Erklärung, nach der die Bürger der DDR Reisefreiheit erhalten sollten. Es folgte der legendäre Satz: »Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.« Sofort strömten Zehntausende zu den Grenzübergängen, die um 22 Uhr geöffnet wurden. In Berlin tanzten die Menschen vor dem Brandenburger Tor und kletterten auf die Mauer. Hannelore saß vor dem Fernseher, traute ihren Augen nicht und weinte vor Freude. Ihr Telefon stand nach den ersten Meldungen über die Maueröffnung nicht mehr still. Nur der Kontakt zu ihrem Mann in Polen kam nicht zustande, was sie sehr bedauerte. Zu gerne hätte sie in dieser historischen Stunde ihre überschwängliche Freude mit ihm geteilt.

Kohl hatte die Nachricht von den dramatischen Ereignissen über das Kanzleramt erhalten. Am nächsten Tag unterbrach er seine Polenreise und machte sich auf den Weg nach Berlin. Hannelore, die immer wieder versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen, erfuhr von seinem Büro lediglich, dass er seine Reisepläne geändert habe. Am Abend des 10. November 1989 sah sie im Fernsehen eine Liveübertragung aus Berlin. Vom Balkon des Schöneberger Rathauses sprachen Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Walter Momper, regierender Bürgermeister von West-Berlin. Als der Kanzler zu seiner Rede ansetzte, wurde er ausgebuht und ausgepfiffen. Die Störungen waren derart massiv, dass sie ihn kaum verstand. Immer wieder versuchten Brandt und Momper die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Hannelore war sprachlos und erschüttert über die Feindseligkeit, die ihrem Mann in diesem Augenblick entgegenschlug. Diese Fernsehbilder konnte sie ihre Leben lang nie mehr vergessen.

Vierzehn Tage nach Schabowskis »Versprecher« wurden im Bonner Kanzlerbungalow die Grundlagen des »Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit« diskutiert, Horst Teltschik sollte einen ersten Entwurf ausarbeiten. In der Nacht vom 27. auf den 28. November 1989 diktierte Helmut Kohl seiner Frau die Endfassung in deren alte Reiseschreibmaschine. Inhaltlich ging es um einen Weg von der »Vertragsgemeinschaft« der beiden deutschen Staaten über die »Konföderation« bis zum Ziel »Föderation«.

Am folgenden Tag wollte der Kanzler das »Zehn-Punkte-Programm«, über das bis dahin strengstes Stillschweigen verhängt worden war, während einer Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag vortragen. Die Reaktionen waren unterschiedlich, was Kohl aber nicht aus der Ruhe brachte. Entscheidend für den Kanzler war, sich die Initiative in Sachen Deutsche Einheit nicht mehr aus der Hand nehmen zu lassen.

Hannelores Anteil an diesem Papier war nicht nur, es getippt zu haben. Sie nutzte ihr im Vergleich zu ihrem Mann bedeutend besser ausgeprägtes Sprachgefühl und sorgte für einen lesbaren, flüssigen Text, der in die Geschichte der Bonner Republik einging.

In den folgenden Wochen und Monaten stand sie ihrem Mann in nie gekannter Häufigkeit zur Seite. Sie erlebte seinen Stress nach Marathonsitzungen, unendlichen Telefonaten mit den Regierungschefs der deutschen Nachbarländer. In dieser Ausnahmesituation fühlte sie sich besonders in die Pflicht genommen und leistete ihrem Mann jedwede Unterstützung. Sie spürte, dass Politik nun absoluten Vorrang hatte und das Privatleben völlig zweitrangig geworden war. Hannelore ließ sich von ihrem Mann umfassend über die Umwälzungen in der DDR und die Umbrüche in anderen osteuropäischen Staaten informieren. Der Flüchtlingsstrom und seine Bewältigung waren ein Dauerthema. Als Hannelore ihren Mann am 19. Dezember 1989 im Fernsehen sah, wie er vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche umgeben von einem wogenden Meer schwarz-rot-goldener Fahnen eine vielbeachtete Rede hielt, empfand sie ungeheuren Stolz. Sie sah, wie groß die Begeisterung der Menschen war, als ihr Mann von freien Wahlen sprach, die alsbald in der DDR abgehalten werden sollten. Die Fernsehbilder zeigten ihren Mann wie einen Heilsbringer, und der aufbrandende Beifall wollte nicht enden. Hannelore war ergriffen wie noch nie bei einer Ansprache ihres Mannes. Diesmal wäre sie gerne an seiner Seite gewesen, diesmal hätte sie gerne in die Augen der begeisterten und hoffnungsvollen Menschen geschaut.

Drei Tage nach diesem mit großem Geschick und Einfühlungsvermögen absolvierten Dresdner Auftritt erlebte Deutschland die Öffnung des Brandenburger Tores, wie es der Kanzler mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow verabredet hatte. Zusammen mit den Bürgermeistern von Ost- und West-Berlin durchschritten Modrow und Kohl das Brandenburger Tor von West nach Ost. Die Begeisterung kannte keine Grenzen, und die Personenschützer hatten alle Mühe, die Spitzenpolitiker davor zu bewahren, erdrückt zu werden. Hannelore verfolgte die Live-Übertragung im Fernsehen und konnte sich der Tränen nicht erwehren. Tage später feierten hunderttausende Menschen Silvester am Brandenburger Tor und lieferten Fernsehbilder zum Jahreswechsel in Deutschland, wie es sie noch nie gegeben hatte. Selten zuvor hatte das Ehepaar Kohl so viel Zeit vor dem Fernseher gesessen wie in der Silvesternacht 1989/90. Hannelore und Helmut lagen sich weinend in den Armen, als die Glocken das neue Jahr einläuteten. So nahe waren sich die beiden schon lange nicht mehr gewesen. Hannelore hatte das Gefühl, als ob auch für sie ganz persönlich eine neue Zeitrechnung beginnen würde.

GLÜCKSMOMENTE

Die gute Stimmung hielt auch im neuen Jahr an. Hannelore weitete nach den politischen Umwälzungen in Osteuropa und der rasanten Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen ihr Engagement an der Seite ihres Mannes erheblich aus. Neben ihrem unermüdlichen Einsatz als Präsidentin des ZNS-Kuratoriums galt ihr besonderes Interesse den politischen Aktivitäten ihres Mannes bei der Anbahnung der deutschen Einheit. Wo immer sich Helmut Kohl auf nationalem oder internationalem Parkett bewegte, zumindest telefonisch war die Kanzlergattin immer dabei. Der Kanzler hatte sich in den letzten Monaten angewöhnt, nach wichtigen Gesprächen den Kontakt zu seiner Frau zu suchen, ihr detailliert über die Inhalte zu berichten und sie nach ihrer persönlichen Einschätzung zu fragen. In dieser Zeit gab es kaum jemanden, der so umfassend über die einzelnen Schritte zur deutschen Einheit, über Helmut Kohls Ringen mit den Mächtigen in Ost und West informiert war, wie sie. Im Gegensatz zu früher wurde sie nun unmittelbar eingebunden in Höhen und Tiefen des politischen Geschäfts. Sie hörte aufmerksam zu und gab spontan Kommentare ab, die dem gesunden Menschenverstand entsprangen und mit einer guten Portion Pragmatismus für Bodenhaftung sorgten. Hannelores Einschätzungen waren dem Kanzler wichtig, gerade weil sie nicht aus dem Mund eines professionellen politischen Analysten kamen, sondern geprägt waren von einer an der Lebenswirklichkeit orientierten Sichtweise. Hannelore erlebte in dieser Phase des engen Miteinanders Glücksmomente, wie sie sie zuvor kaum erlebt hatte.

In den ersten Wochen des Jahres hielten Begegnungen mit François Mitterrand und Michail Gorbatschow den deutschen Kanzler in Atem. Ende Februar 1990 folgte dann das historisch wichtige Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten auf dessen Landsitz in Camp David. Diesmal hatte Hannelore darauf gedrängt, mitzukommen. Sie wusste um die Bedeutung des Treffens und freute sich außerdem auf ein Wiedersehen mit Barbara Bush. Während die Herren über schwierige politische Fragen verhandelten und sich über das weitere Vorgehen verständigten, kreisten die Themen der beiden Frauen um Familie und Erziehung. Die lebenserfahrene Barbara Bush kannte sich in der europäischen Kultur aus, empfand für die Deutschen große Sympathien und sorgte für eine wunderbar entspannte Atmosphäre. So wie Hannelore die Seele ihrer Familie war, galt Barbara Bush als unentbehrliches Herzstück des Bush-Clans. Hannelore schwärmte noch Jahre später von dieser warmherzigen Frau, die sich auch durch ihren bemerkenswerten Humor auszeichnete. Nach langen Spaziergängen der Ehepaare, bei denen Hannelore und Barbara unzertrennlich schienen, folgte ein überaus herzlicher Abschied. Helmut Kohl hatte die Marschroute für die nächsten Schritte zur deutschen Einheit mit den Amerikanern fest verabredet und Hannelore ihre ungewöhnliche Freundschaft mit Barbara Bush gefestigt. Für Helmut waren die beiden ein Herz und eine Seele.

Unmittelbar nach der Rückkehr aus Amerika stürzte sich der CDU-Bundesvorsitzende und Kanzler in den Wahlkampf zu den ersten freien Wahlen in der DDR. Auf sechs Großkundgebungen wurde das Kanzlerpaar herzlich empfangen und frenetisch gefeiert. Bei der Abschlussveranstaltung in Leipzig am 14. März 1990 auf dem Augustusplatz schüttelte auch Hannelore unzählige Hände und musste sich durch die Menschenmassen kämpfen. Für sie war das ein besonders denkwürdiger Tag. Sie war zurück in der Stadt ihrer Kindheit. Über diesen Platz war sie unzählige Male gelaufen, wenn sie mit ihren Eltern in die Oper ging. Erinnerungen wurden wach an die wunderbaren Jahre des Verwöhntwerdens und des Überflusses. Aber auch an die Bombennächte, an die brennenden Häuser, an das Leben im Bunker und an die Angst, sterben zu müssen.

Jetzt stand sie wieder auf dem größten Platz der Stadt, diesmal als Frau des deutschen Bundeskanzlers. Wann immer ihr Mann bei seiner Rede das Wort Deutschland in den Mund nahm, jubelten und klatschten die Massen. Für Hannelore, die die Schmähungen während seines Auftritts in Berlin-Schöneberg noch in bester Erinnerung hatte, ein versöhnliches und unvergessliches Erlebnis. Als dann aus den Kehlen Zehntausender die Nationalhymne erklang und die Abenddämmerung den Platz in eine besondere Stimmung tauchte, lief es Hannelore eiskalt über den Rücken. Als sie in die ergriffenen Gesichter der Menschen vor ihr blickte, gab es auch für sie kein Halten mehr. Sie war zutiefst gerührt und weinte vor Freude.

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Der Wahlabend am 18. März 1990 – eine Woche nach Hannelores 57. Geburtstag – brachte eine kleine Sensation. Die CDU mit ihrer »Allianz für Deutschland« errang auf Anhieb eine Mehrheit von 47,7 Prozent der Stimmen. Hannelore, die den Wahlausgang mit ihrem Mann in Ludwigshafen vor dem Fernsehgerät verfolgte, war völlig aus dem Häuschen. Die Mehrheit der Wähler in der DDR hatte ein klares Signal für die Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes gegeben. Darauf war der Kanzler, der seine Politik damit bestätigt sah, mit Recht stolz. Zu Hause in Oggersheim genehmigte sich seine Frau erst einmal ein großes Glas Wein, um auf den Erfolg anzustoßen.

Mit großem Interesse verfolgte sie das weitere aufregende politische Geschehen: die Vereidigung der ersten frei gewählten Regierung in der Geschichte der DDR, die Unterzeichnung des deutsch-deutschen Staatsvertrages, das Inkrafttreten der Währungsunion und die Unterzeichnung des Einigungsvertrages und schließlich den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages, der die außenpolitische Absicherung der Wiedervereinigung zum Ziel hatte. Dann der Höhepunkt des Jahres: Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990.

Es gibt kein deutsches Geschichtsbuch ohne das weltbekannte Foto vom Balkon des Berliner Reichstags während der Feier zur Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt eine überaus glücklich lächelnde Hannelore Kohl neben ihrem Mann, Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt auf der einen und Richard von Weizsäcker, Gerhard Stoltenberg und Lothar de Maizière auf der anderen Seite. Dieses Foto entstand kurz vor Mitternacht, als 14 Mädchen und Jungen mit einem riesigen Fahnentuch die Treppen des Reichstags herunterschritten. Am Schöneberger Rathaus ertönte die Freiheitsglocke, dann wurde die schwarz-rot-goldene Fahne gehisst. Der Jubel der Menschen war unbeschreiblich. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte in einer kurzen Ansprache: »In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgabe sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.«

Als Hunderttausende in die deutsche Nationalhymne einstimmten, sang Hannelore das Lied der Deutschen aus voller Kehle mit. Sie erzählte mir später, in diesem Augenblick seien die letzten Jahre wie im Zeitraffer vor ihrem geistigen Auge abgelaufen. Ihr Leben als Frau des Ministerpräsidenten, des Bonner Oppositionsführers, des CDU-Bundesvorsitzenden mit allen Höhen und Tiefen, Intrigen, gewonnenen und verlorenen Wahlen. Die Bilder vom erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Schmidt 1982, von der riskanten Parlamentsauflösung bis zu den Neuwahlen 1983, Momentaufnahmen vom Bremer Putsch-Parteitag, von der Maueröffnung und der friedlichen Revolution, von all den mutigen Menschen, die monatelang für ihre Freiheit demonstriert hatten.

Im Rausch der Einheitsfeiern wurde für sie die Lebensleistung ihres Mannes überdeutlich. Für alle Welt sichtbar, umarmte Hannelore mit großer Herzlichkeit ihren Mann. Schlänglein – wie Helmut seine Frau liebevoll nannte – drückte ihn fest an sich. Die Kanzlergattin war sich auch in diesem Moment der Bedeutung ihrer Rolle an seiner Seite voll bewusst. Ohne ihre aufopfernde Bereitschaft, ihr Leben hinter seine politischen Ambitionen zu stellen, hätte Helmut Kohl nicht alle Hürden genommen und sich so lange im Amt des Bundeskanzlers gehalten. Darauf hat Kohl in den drei umfangreichen Bänden seiner Memoiren immer wieder hingewiesen und seine Bewunderung für die Leistungen seiner Frau ausgedrückt.

Irgendwann ging der offizielle Teil dieser Nacht der Nächte zu Ende. Bis zum frühen Morgen wurde im Reichstag im kleinen Kreis mit den wichtigsten Mitarbeitern weitergefeiert. Nie zuvor hatten die Kohl-Getreuen eine so glückliche Kanzlergattin erlebt, die in ihrer Feierlaune kaum zu stoppen war.

Grund zum Feiern gab es acht Wochen später schon wieder. Die Bürger im wiedervereinten Deutschland waren am 2. Dezember 1990 zum ersten Mal seit 58 Jahren aufgerufen, ein gemeinsames Parlament zu wählen. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP errang einen überwältigenden Sieg. Helmut Kohls Herausforderer Oskar Lafontaine und seine SPD verloren dramatisch. CDU/CSU erzielten zusammen 43,8 Prozent der Stimmen, die FDP kam auf 11 Prozent und die SPD schaffte es auf 33,5 Prozent. Erstaunlich war das Abschneiden der SED-Nachfolgepartei PDS, die mit 17 Parlamentariern in den Bundestag einzog. Hannelore empfand das Wahlergebnis der Regierungskoalition als einen großen Vertrauensvorschuss – auch für ihren Mann. Die Wähler hatten Helmut Kohl und seiner Regierungsmannschaft die politische Verantwortung für die nächsten vier Jahre übertragen und verbanden damit große Erwartungen, die kaum zu erfüllen waren. Hannelore hegte im tiefsten Inneren die persönliche Hoffnung, dass dies die letzte Legislaturperiode ihres Mannes als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein würde. Die vergangenen Jahre hatten viel Kraft gekostet, das, was nun vor ihm lag, war eine gewaltige Aufgabe. Die Wunden der Teilung mussten geschlossen, die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West musste in Angriff genommen werden. Ein riesiges Arbeitsprogramm war zu bewältigen und die Regierung Kohl/Genscher zum Erfolg verdammt. Hannelore träumte insgeheim von einem Leben ohne Wahlkampfstress, ohne aufreibende Staatsbesuche im In- und Ausland und ohne den ewigen Kampf um CDU-Mehrheiten in Bund, Ländern und Gemeinden. Sie ahnte, dass die Anforderungen der kommenden Jahre vieles in den Schatten stellen würden. Die Erwartungen der Menschen, die auch Helmut Kohl befeuert hatte, waren riesengroß, die Opposition und parteiinterne Widersacher lauerten nur auf ihre Chance. Hannelore war diese kräftezehrenden Ränkespiele leid, die falschen Parteifreunde und die vermeintlich zu kurz gekommenen Mitstreiter, die sich für besser, kompetenter, durchsetzungsfähiger und intelligenter hielten, als den amtierenden Kanzler.

In seiner Neujahrsansprache, die Hannelore wie immer redigiert und abgetippt hatte, erinnerte der Kanzler der Einheit an die historische Leistung, die das deutsche Volk mit der Wiedervereinigung vollbracht hatte und bezeichnete das Jahr 1990 als eines der glücklichsten in der deutschen Geschichte. Nachdem die Sendeanstalten von ARD und ZDF, anders als beim Jahreswechsel 1985/86 die richtige Ansprache ausgestrahlt hatten, konnten die privaten Feierlichkeiten im Hause Kohl beginnen. Wie in all den Jahren weilten die beiden Theologen und Brüder Ramstetter im trauten Familienkreis. Hilde Seeber sorgte für einen rustikalen Silvesterschmaus. Noch nie war die Stimmung so gut gewesen, noch nie hatten alle Zeichen so sehr auf Glück gestanden, wie in jener Silvesternacht des Jahres 1990/91.