Kapitel 5

BONNER BÜHNE

Das »Provisorium« Bundeshauptstadt hatte schon 27 Jahre Bestand, als Helmut Kohl den Wechsel von Mainz nach Bonn vollzog. Die Stadt an beiden Ufern des Rheins im Süden Nordrhein-Westfalens war von 1949 bis 1999 Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Hier fielen in den 50 Jahren wichtige und nachhaltige Entscheidungen, die das politische Leben maßgeblich bestimmten. Die Geschichte der Bundesrepublik ist mit der Stadt Bonn eng verbunden. Daran hatte der neue Oppositionsführer der Union und spätere Bundeskanzler ganz besonderen Anteil.

Während Helmut Kohl um den Fortbestand der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU kämpfte, machte sich Hannelore daran, eine geeignete Bleibe für ihren Mann in der Bundeshauptstadt zu finden. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt, dass die Familie nicht nach Bonn zog, sondern in Ludwigshafen blieb. Hauptgrund waren die Kinder, die nicht aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen werden sollten. Dabei ging es auch um die schulische Kontinuität. Selbst wenn Hannelore für sich selbst einen Umzug nach Bonn akzeptiert hätte, so hätte sie wegen der Söhne Ludwigshafen niemals verlassen. Die Kinder der gierigen Bonner Öffentlichkeit auszusetzen, war ihr absolut zuwider.

Hannelore fand als Zweitwohnsitz ein alleinstehendes Einfamilienhaus in Wachtberg, einer Gemeinde mit 13 Ortschaften und rund 16 000 Einwohnern im Rhein-Sieg-Kreis. Wegen der Nähe zu Bonn hatten hier viele Menschen ihren Wohnsitz, die in den Bundesbehörden und Botschaften tätig waren. Außerdem wohnten hier zahlreiche Politiker wie beispielsweise die damaligen Bundesminister Josef Ertl und Hans-Dietrich Genscher. Das Haus in der Huppenbergstraße 36 des Ortsteils Pech musste vor dem Einzug zunächst renoviert werden. Die erfahrene Bauherrin übernahm auch diesmal wieder die Überwachung der Handwerker und kaufte für die Innenausstattung Möbel und Teppiche ein. Am Ende hatte sie ein komplettes Haus bezugsfertig eingerichtet, das auch die Zustimmung ihres Mannes fand. In diesem nicht besonders hübschen, aber sehr funktionalen Haus hatte nicht nur das Ehepaar Kohl ein eigenes Zimmer. Auch Helmuts Chefsekretärin Juliane Weber und sein Fahrer Ecki Seeber zogen mit ins Haus. Zu dieser Wohngemeinschaft gehörten anfangs auch noch zwei Sicherheitsbeamte. Über die »Kohl-WG« rümpften viele Zeitgenossen ihre Nase, die Boulevardpresse hatte ein neues Thema. Hannelores Zimmer stand meist leer. Nur im äußersten Notfall übernachtete sie in der WG. Es ließe sich an einer Hand abzählen, wie oft sie in der Huppenbergstraße 36 »kampierte«.

Was den Alltag anging, änderte sich auf den ersten Blick wenig für die quasi alleinerziehende Mutter. Doch während ihr Mann in der Mainzer Zeit – wann immer möglich – in Ludwigshafen übernachtete, sahen sich die Eheleute fortan meist nur noch am Wochenende. Hannelore trauerte der Ministerpräsidentenzeit ihres Mannes nach und konnte sich mit dessen Wechsel nach Bonn lange Zeit nicht abfinden. Nur halbherzig unterstützte sie ihren Mann und fand immer wieder gute Argumente, in Ludwigshafen zu bleiben. Sie mochte die Bonner Bühne nicht und die auffallende Geschäftigkeit und demonstrative Wichtigtuerei mancher Politiker stießen sie geradezu ab. Für sie war es zu keiner Zeit eine Option, sich ganz in der Stadt am Rhein niederzulassen. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder einmal die Karriere ihres Mannes zu begleiten. Diesmal allerdings mit spürbarer Distanz und gelegentlich kaum verborgener Abneigung gegen ihre neue Rolle in Bonn.

Was sie in jener Zeit regelrecht bedrückte, war die finanzielle Unsicherheit, die der Wechsel nach Bonn mit sich brachte. Was wäre, wenn ihr Mann als Oppositionsführer scheiterte? Wenn er den Rückhalt in der Bundestagsfraktion der Union verlieren würde? Was wäre, wenn innerparteiliche Konkurrenten ihn von den einflussreichen Parteiämtern verdrängen würden? Hannelore – Finanzministerin im Hause Kohl – kannte die Kontoauszüge und wusste um die monatlichen Belastungen. Ein Großverdiener war Helmut Kohl keineswegs, und die finanziellen Verbindlichkeiten durch den Bungalow-Bau in Oggersheim waren erheblich. Mit Erbschaften war nicht mehr zu rechnen, auch gesundheitlich durfte Helmut als Alleinverdiener nichts passieren. Der Ernstfall hätte Hannelore und ihre beiden Söhne vor große finanzielle Probleme gestellt. Die Abhängigkeit von Wahlen, von Parteitagsdelegierten, von Mitgliedern der CDU-Spitzengremien machte Hannelore zuweilen sehr nachdenklich. Als Mainzer Ministerpräsident wäre ihr Mann finanziell viel besser abgesichert gewesen. Jetzt hatte sich der Politiker in mancherlei Abhängigkeit begeben, agierte ohne Netz und doppelten Boden. Die Diäten als Bundestagsabgeordneter und die finanziellen Zuwendungen als Fraktionsvorsitzender waren längst nicht so üppig wie in manch anderer Branche. Für Hannelore war – allein durch ihre Erfahrungen während der Nachkriegszeit – die Vorstellung von einem möglichen wirtschaftlichen Absturz äußerst bedrohlich. Sie wusste, was es heißt, aus gesicherter Position ins Nichts zu fallen. Sie wusste auch, was es heißt, zu scheitern, Träume aufgeben zu müssen. Helmut Kohl war erst 46 Jahre alt und musste erst lernen, sich auf den verschlungenen Wegen des Bonner Parketts in seiner neuen Position zurechtzufinden.

Wurde er einst als Mainzer Ministerpräsident nicht nur von der Landespresse, sondern auch von den überregionalen Medien als Reformer und erfolgreicher Landespolitiker gefeiert, machten jetzt große Teile des Bonner Pressekorps mobil gegen den »Provinzfürsten«. Dass er es wagte, dem sozialdemokratischen Kanzler zu widersprechen, ihm die Stirn zu bieten, glich einer Majestätsbeleidigung. Längst hatten die SPD-Wahlkampfmanager dem neuen Oppositionsführer ein Etikett angehängt, das Helmut Kohl selbst im Ausland verfolgte. »Der Mann aus Oggersheim« schien vor allem für die einflussreichen Hamburger Magazine und Zeitungen ein gefundenes Fressen zu sein. Der publizistische Gegenwind gleich zu Beginn von Kohls Bonner Oppositionszeit verunsicherte nicht nur den CDU-Vorsitzenden. Hannelore fühlte sich zutiefst verletzt. Sie musste machtlos hinnehmen, wie ihr Mann als »Provinzblödel«, »Eierkopf« und »Birne« verunglimpft wurde. Sie spürte die Phalanx der einflussreichen Presse, die den Oppositionsführer gerne als unfähig, erfolglos, uninspiriert und provinziell darstellte. Auch für die Bonner Karikaturisten war Kohl eine Steilvorlage. Über viele Jahre war er derjenige Politiker, über den am häufigsten Karikaturen in den Printmedien erschienen – größtenteils beleidigend und verletzend. Das alles ging nicht spurlos an Hannelore vorbei. Sie litt unter dem negativen Trommelfeuer, das kein Ende nehmen wollte.

Auch an den Wochenenden in Ludwigshafen ließen sich die Bonner Probleme nicht aussperren: Krisensitzungen, vertrauliche Gespräche mit engsten Mitarbeitern, stundenlange Telefonate. Kohl war auf der Suche nach einer schlüssigen Oppositionspolitik und einem Konzept für eine bessere Presse. Er musste sich anstrengen, die Fäden in der Hand zu behalten, damit seine Position nicht geschwächt wurde. Neben dem harschen Ton der Presse setzte ihm die innerparteiliche Kritik an seinem Führungsstil zu. Der Dauerstreit zwischen ihm und dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß nahm unerträgliche Formen an. Der CSU-Chef lieferte mit seinen Angriffen auf Kohl den Unionsgegnern hinreichend ätzenden Stoff. Im Mittelpunkt stand dabei immer das Verhältnis der Unionsparteien zur FDP. Strauß hätte am liebsten die Liberalen aus dem Bonner Parlament katapultiert, während Kohl nur mit Hilfe der FDP eine Chance sah, die Macht am Rhein zu erobern. Hannelore mochte den Bayern überhaupt nicht, ohne es sich nach außen anmerken zu lassen, und empfahl ihrem Mann, die Freundschaft aufzukündigen und mit ihm zu brechen.

Den Umgang des Bundeskanzlers mit dem Oppositionsführer fand Hannelore gleichermaßen unredlich und eines Spitzenpolitikers eigentlich unwürdig. Der schneidenden Rhetorik Helmut Schmidts und seinem weltmännischen Auftreten stellten die meisten Medien mit besonderer Vorliebe den leicht hölzern wirkenden und hörbar mit pfälzischem Dialekt sprechenden Kohl gegenüber. Verspottet wurde die zweifellos unelegante Figur des Pfälzers, der auch vor den Fernsehkameras immer noch steif und ungelenk wirkte. Jede Filmaufnahme, jede Textzeile, die Kritik und Spott transportierte, verletzte die Kohl-Gattin weit mehr als ihren Mann, der zumindest nach außen hin ein dickes Fell und Gelassenheit demonstrierte. Wie es tatsächlich um ihn bestellt war, durfte Hannelore an den Wochenenden erleben, wenn er sich einmal gehen ließ und seinem Zorn und seiner Verachtung für seine politischen Gegner freien Lauf ließ.

Das bekamen dann auch die Söhne mit, für die der Vater so gut wie keine Zeit hatte. Für sie war er der Gast im Hause, der unentwegt telefonieren, besprechen, verhandeln und entscheiden musste. Ein Familienleben nach bürgerlichen Vorstellungen gab es bei Kohls nicht. Damit hatte sich Hannelore längst abgefunden. Ihr ganzer Ehrgeiz galt daher vor allem der Erziehung ihrer Kinder: Hausaufgabenüberwachung, Engagements im Elternbeirat von Walters Gymnasium und in der Elternschaft von Peters Waldorfschule. Besonders ernst nahm sie die Elternabende. Für einen solchen Termin konnte sie sämtliche Bonner Planungen über den Haufen werfen. Sie kniete sich hinein in die Waldorfpädagogik, studierte die Lehren des Anthroposophen Rudolf Steiner, die mit der Ludwigshafener Lebenswirklichkeit oft genug kollidierten. Gleichwohl schätzte sie diesen Schultyp für ihren Sohn Peter besonders und setzte sich sogar dafür ein, Waldorfschulen staatlich anzuerkennen. Die strenge Mutter, die nur das Allerbeste für ihre beiden Söhne wollte, überließ nichts dem Zufall, überwachte penibel die schulischen Leistungen, erteilte Nachhilfe, wenn es nötig wurde. Ihre sprachlichen Talente erwiesen sich als entscheidender Vorteil, wenn es darum ging, die Kinder in Französisch und Englisch zu unterstützten. Die Planung von Schüleraustauschen entwickelte sich zu ihrem kleinen Hobby. Geschickt wählte sie Austauschfamilien in Frankreich, Belgien und Großbritannien aus, besuchte sie vorab, um sie genauer kennen zu lernen, bevor sich Walter und Peter auf den Weg in die Fremde machten. Natürlich war der Ludwigshafener Bungalow groß genug, um im Gegenzug Austauschschüler aufzunehmen. Von alledem bekam Vater Helmut so gut wie nichts mit, es sei denn, der eine oder andere Austauschschüler wurde einfach mit in den Sommerurlaub nach Sankt Gilgen am Wolfgangsee genommen. Dies geschah nicht immer zur Freude des gestressten Oppositionsführers, der auch vom Urlaubsort aus permanenten Kontakt zu seinem Büro in Bonn und den wichtigsten CDU-Spitzenpolitikern hielt. Ein Verzicht auf ständige Telefon- und Telexverbindung war ausgeschlossen. Dazu gab es keine Alternative. Kein Wunder, dass Hannelore diese seit 1969 gepflegte Urlaubstradition innerlich ablehnte und sie von Jahr zu Jahr mehr hasste. Aber ihm zuliebe gab sie klein bei. Sie war es gewohnt, Unannehmlichkeiten nicht nach außen zu tragen, Ärger herunterzuschlucken, selbst bei der größten Zumutung ihres Mannes nicht zu explodieren. Aus der Haut fahren konnte sie schon; aber selbst dies geschah ohne erhöhte Lautstärke und vor allem ohne Außenstehende. Anders als ihr Mann zeigte sie ganz selten Emotionen, ließ sich nie gehen, war selbst im engsten Familienkreis unfähig, Gefühle offen zu zeigen. Ihr Leben bestand aus permanentem Beherrschen.

Das galt auch hinsichtlich der Gerüchte, die über die WG in Bonn die Runde machten. Hannelore hatte zeitlebens einen besonderen Zugang zu ihrem Mann und nahm einen großen Raum in seinem Herzen ein. Aber natürlich gab es andere Frauen, die für ihn aufgrund ihrer Funktion ebenso unentbehrlich waren. Seit Kohls langjährige Sekretärin und Bürochefin Juliane Weber mit ins Haus im Bonner Vorort gezogen war, wollte das Getuschel über eine Beziehung zwischen den beiden nicht verstummen. Hannelore, die in der Mainzer Zeit mit Juliane Weber bei der Bearbeitung von Petitionen aus der Bevölkerung eng zusammengearbeitet hatte, musste sich damit abfinden. Beide Frauen verband damals eine Freundschaft, die auch gemeinsame Urlaube mit den Kindern möglich machte. Dass die mit einem ZDF-Juristen in Mainz verheiratete Juliane Weber zu den wichtigsten und vertrautesten Mitarbeitern im ganz nahen Umfeld des Oppositionsführers zählte, inspirierte vor allem die Boulevardpresse jahrelang zu fantasievollen Spekulationen und Unterstellungen. Hannelore nahm das alles zur Kenntnis und ging damit gelassen um.

* * *

Für die Familie Kohl wurde das erste Oppositionsjahr 1977 zu einem regelrechten Ausnahmejahr. Die 1970 gegründete Terrororganisation RAF blies zum Angriff auf den Staat, es begann eine Zeit, die als »Deutscher Herbst« in die Geschichte eingehen sollte. Helmut Kohl zählte zum Kreis der am meisten gefährdeten Politiker. Er und seine Familie lebten seit Jahren mit der terroristischen Bedrohung. Nach der bitteren Erfahrung mit der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden und Bürgermeisterkandidaten Peter Lorenz Anfang März 1975, die mit der Freilassung einiger Top-Terroristen endete, hatte sich in Bonn eine neue Linie durchgesetzt. In vergleichbaren Fällen sollte den erpresserischen Forderungen von nun an nicht mehr nachgegeben, eine Freilassung von Gefangenen ausgeschlossen werden. Das war die feste Überzeugung des Oppositionsführers, die er mit vielen führenden Bonner Politikern aller Fraktionen teilte. Auch im Falle seiner eigenen Entführung sollte dies gelten. In Kohls Memoiren ist nachzulesen, dass er eine an Hannelore gerichtete Verfügung niederschrieb, in der unmissverständlich stand, im Falle einer Entführung sei es nicht sein Wunsch, dass den Erpressern nachgegeben würde. Der Staat dürfe nicht erpressbar sein.

Am 7. April 1977 wurde der höchste Ankläger der Bundesrepublik, Generalbundesanwalt Siegfried Buback, von Terroristen in Karlsruhe ermordet. Vier Monate später galt ein tödlicher Anschlag Jürgen Ponto, einem der führenden Männer der deutschen Wirtschafts- und Finanzwelt. Ponto war Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Am 5. September 1977 wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer auf dem Weg in sein Kölner Büro von RAF-Terroristen entführt. Sein Fahrer und drei Sicherheitsbeamte wurden getötet. Dieser Entführungsfall gewann zusätzlich an Dramatik, als am 13. Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine »Landshut« mit 82 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt gekapert wurde. Nach langwierigen Verhandlungen und einer Odyssee über verschiedene Flughäfen gelang der neu gegründeten Anti-Terroreinheit des Bundesgrenzschutzes GSG 9 die Befreiung der Geiseln in Mogadischu. Mit der Entführung hatte ein palästinensisches Terrorkommando die erste Generation der RAF um Baader, Ensslin und Raspe aus dem Gefängnis freipressen wollen. Das Scheitern gilt als Auslöser für die »Blutnacht von Stammheim«, in der sich drei der Inhaftierten das Leben nahmen. Am nächsten Tag gab die RAF die Ermordung Schleyers bekannt. Am 19. Oktober 1977 wurde die Leiche des Arbeitgeberpräsidenten im Kofferraum eines PKWs im elsässischen Mühlhausen gefunden. Mit der erfolgreichen Erstürmung der »Landshut« war das Schicksal Hanns Martin Schleyers endgültig besiegelt worden. Der Bonner Krisenstab, in dem Politiker aller Parteien saßen, hatte die Staatsräson höher bewertet als das Leben des Entführten.

Hannelore, die Hanns Martin Schleyer als engen Freund der Familie schätzte, war verzweifelt. Auch sie vertrat die grundsätzliche Auffassung, Erpressern nicht nachgeben zu dürfen. Aber es war ein großer Unterschied, wenn aus einer abstrakten, theoretischen Überlegung bittere Realität wurde. Im Falle Schleyers entwickelte die Lage eine besondere Dramatik, als der Arbeitgeberpräsident in einer verzweifelten Videobotschaft das Wort an die Regierung richtete. In diesen schweren Tagen stand das Telefon im Hause Kohl nicht still. Während ihr Mann im Bonner Krisenstab fast pausenlos tagte, beknieten Freunde Schleyers Hannelore in Ludwigshafen, auf ihren Mann einzuwirken, um das Leben des geachteten Wirtschaftsführers und Familienvaters zu retten. Diese Hilferufe blieben Hannelore Zeit ihres Lebens unvergessen, musste sie doch ohnmächtig mit ansehen, wie ein Freund aus Gründen der Staatsräson geopfert wurde. Die Witwe Schleyers war fortan nicht mehr in der Lage, mit Helmut Kohl und seiner Frau zu sprechen. Für Hannelore eine bittere, aber verständliche Reaktion. Vermutlich hätte sie in diesem Entführungsdrama genauso gehandelt und alles daran gesetzt, ihren Mann zu retten. Unausgesprochen fand sie die Härte des Bonner Krisenstabes sehr problematisch.

Als Konsequenz aus dem Schleyer-Drama wurden die Sicherheitsvorkehrungen auch für die Familie Kohl noch einmal verschärft. Vor allem Walter und Peter litten sehr unter den nun noch erweiterten Personenschutzmaßnahmen. Klassenkameraden machten einen großen Bogen um Walter und Peter. Eltern empfahlen ihren Kindern, den Kontakt zu den Kohl-Söhnen zu meiden. Waren die beiden Kinder wegen ihres Vaters schon immer Zielscheibe für Hänseleien und Aggressionen gewesen, spürten sie jetzt ihre neue Sonderstellung als gefährdete Kinder eines berühmten Vaters. Hannelore blieb nichts anderes übrig, als bei ihren Kindern um Verständnis für die Gefahrenlage zu werben. Viel zu spät, denn die Söhne hatten längst eine tiefe Abneigung gegen den Beruf ihres Vaters, eine kritische Distanz zur Politik, entwickelt. Hannelore bemühte sich intensiv, ihre Kinder vor weiteren Nachteilen zu schützen, sie möglichst fernzuhalten von den Riesenproblemen, die ihren Mann als Oppositionsführer in Bonn beschäftigten. Noch bekamen sie die zunehmende Kritik an ihrem Vater nicht im vollen Umfang mit. Noch lasen sie nicht Schlagzeilen wie »Kohls Talfahrt« oder »Der Mann ohne Glück«. Wie sehr ihr Mann mit dem Rücken zur Wand stand und um sein Standing als Führer der größten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag zu kämpfen hatte, nahm seine Frau mit großer Sorge wahr. Dabei beschlich sie die ständige Angst, ihr Mann könne sein Bonner Spitzenamt verlieren, gestürzt und abgewählt werden. Ihre Sorge galt der Existenzsicherung, der langfristigen finanziellen Belastung durch den Hausbau und den Kosten der längst ins Auge gefassten Ausbildung ihrer Söhne. Sorgen einer ganz normalen Ehefrau und Mutter. Die schweren Auseinandersetzungen innerhalb der CDU empfand sie als abstoßend, ohne dies nach außen zu zeigen. Im Gegensatz zu Marianne Strauß, Jahrgang 1930 und studierte Volkswirtin, Gattin des Erzrivalen ihres Mannes, verfügte Hannelore über keine politische Kompetenz. Sie besaß auch nicht die kämpferische Natur einer Marianne Strauß, die ihren Mann und dessen Politik öffentlich wie im privaten Kreis wie eine Löwin verteidigte. Im Vergleich zur drei Jahre älteren First Lady von Bayern blieb Hannelore die Politik fremd; sie lehnte es ab, die Mechanismen politischer Abläufe, ihre Zwänge und Widersprüche durchdringen zu wollen. Nicht einmal angesichts der politischen Stürme, die um den Oppositionsführer in Bonn tobten.

Kurz nach der Jahreswende 1978/79 wurde ein vertrauliches »Memorandum« des früheren CDU-Generalsekretärs Kurt Biedenkopf bekannt, in dem er die Trennung von Partei- und Fraktionsführung in der CDU forderte. Nur so sei die Führungskrise der Union zu meistern. Was von den Medien als gefährlich für Kohl dargestellt wurde, münzte der Amtsinhaber in kürzester Zeit in einen Erfolg um. Im CDU-Bundesvorstand gelang es ihm, einen Beschluss herbeizuführen, wonach der Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand bleiben sollte. Damit war Biedenkopfs Intrige gegen den Amtsinhaber gescheitert. Gleichwohl änderte sich wenig am negativen Stimmungsbild. Für eine erneute Kanzlerkandidatur im Wahljahr 1980 sah der Realist aus der Pfalz keine Chance. Niemand kannte wie er die Stimmungslage innerhalb der Unionsparteien, also machte er sich auf die Suche nach einem erfolgreichen Gegenspieler zu Helmut Schmidt. Noch bevor er fündig geworden war, verkündete die bayerische Schwesterpartei, Franz Josef Strauß stehe als Kanzlerkandidat der Unionsparteien zur Verfügung. Damit hatte die CSU Fakten geschaffen, die in weiten Teilen der CDU auf Ablehnung stießen und die vor allem den Liberalen als mögliche Koalitionspartner nicht vermittelbar schienen. Kohl zeigte Stehvermögen und brachte in den CDU-Spitzengremien eine personelle Alternative zu Strauß durch. Er schlug den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht als gemeinsamen Kanzlerkandidaten der Unionsparteien vor. Nach tagelangen heftigen Kämpfen musste sich Kohl allerdings geschlagen geben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kürte in geheimer Abstimmung Franz Josef Strauß zum Kanzlerkandidaten. Hannelore war entsetzt über die persönliche Niederlage ihres Mannes, zumal sie erkannte, dass er nun auch als CDU-Bundesvorsitzender erheblich geschwächt war. Doch der kluge Taktiker unterwarf sich den Realitäten. Er akzeptierte scheinbar selbstverständlich die Mehrheitsentscheidung und schaltete sofort um, indem er den neuen Spitzenmann vorbehaltlos unterstützte. Ein möglicher Sturz war damit abgewendet.

Der Wahlkampf für die Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 war einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Schmidt oder Strauß, der Staatsmann aus Hamburg oder der unberechenbare Wüterich aus Bayern. Helmut Kohl stürzte sich in den Wahlkampf, als sei er selbst der Kanzlerkandidat. Doch weder er noch Hannelore waren davon überzeugt, dass es Strauß schaffen würde – zumal die FDP niemals ein Bündnis mit dem Bayern eingehen würde. Das Ergebnis für die Unionsparteien war denn auch niederschmetternd. Über vier Prozentpunkte verloren die Unionsparteien im Vergleich zur Wahl 1976, sie erhielten nur noch 44,5 Prozent der Stimmen. Die Regierungskoalition aus SPD und FDP wurde klar im Amt bestätigt.

Helmut Kohl wurde für sein faires Verhalten gegenüber Strauß belohnt und fast einstimmig als CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender wieder gewählt. Auch wenn die Zweifel an Kohls Führungsqualitäten in Bonn nicht enden wollten, hatte er die Partei fest im Griff und verfügte über breites Vertrauen in ihren Spitzengremien. Durch personelle Veränderungen in der Fraktion gelang es ihm, seinen Rückhalt weiter zu festigen.

Für Hannelore waren Helmuts Oppositionsjahre die schwierigsten in ihrem bisherigen gemeinsamen Leben. Ihr Verständnis von Politik ließ sich nicht mit innerparteilichen Intrigen, öffentlicher Häme aus dem eigenen Lager oder Verletzungen der persönlichen Würde in Einklang bringen.

Trost fand sie in den schulischen Erfolgen ihrer Kinder, die sich zu wertebewussten jungen Menschen entwickelten. Es gelang ihr weiterhin mit beinahe erdrückender Perfektion, ihre Söhne von der Öffentlichkeit und den gierigen Blicken der Medien fernzuhalten. Ein Status, den sie solange wie eine Tigerin verteidigen musste, bis die Söhne ihr Abitur erreicht hatten und dann zum Studium ins Ausland gehen konnten. Diesen Plan verfolgte sie mit aller Konsequenz. Die enge Bindung der Kinder an ihre Mutter hatte allerdings auch Schattenseiten. Solange sie in Ludwigshafen lebten, überließ die Mutter nichts dem Zufall, wollte über ihr Leben bestimmen, was deren Weg zur Selbstständigkeit nicht leichter machte.

* * *

Hannelore hatte sich inzwischen ein Netz von Freundinnen aufgebaut, zu denen sie engen Kontakt pflegte. Meist ergriff sie die Initiative und überbrückte manche Einsamkeit durch ständige Telefonate und Treffen mit Frauen, denen sie seit Jahren vertraute und mit denen sie sich vor allem in Fragen der Kindererziehung austauschte. Es waren Frauen, die für Hannelore jeweils eine sehr unterschiedliche Bedeutung hatten. Sie pflegte Freundschaften, die in der Leipziger Kinderzeit, auf dem Gymnasium oder in den BASF-Jahren entstanden waren. Darunter befand sich kein einziger Mensch, der mit Politik zu tun hatte. Das Netz der Freundinnen war über die ganze Bundesrepublik verstreut, auch wenn das Zentrum in der Pfalz lag, besonders in und um Ludwigshafen. Dieses Freundschaftsnetz sollte vor allem in Hannelores letzten Lebensjahren eine wichtige Rolle spielen.

Unterstützt wurde sie auch von einigen Freundinnen, als es um die Betreuung der stark kränkelnden Schwiegermutter ging. Schon immer war sie der Überzeugung, ein »Abschieben alter Menschen« – wie sie es nannte – in ein Altersheim verhindern zu müssen. Rührend kümmerte sie sich um Helmuts Mutter Cäcilie. Täglich fuhr sie in die Hohenzollernstraße und gab ihr das sichere Gefühl, gut versorgt zu sein. Hannelore überwachte die medizinische Betreuung und bewies Geduld und hohes Einfühlungsvermögen für die nicht immer leicht zufriedenzustellende Schwiegermutter. Als Cäcilie am 2. April 1979 im Alter von 88 Jahren in den eigenen vier Wänden starb, wusste ihr Sohn, dass es vor allem Hannelore geschuldet war, dass die letzten Wochen und Monate vor dem Tod der Mutter einigermaßen erträglich gestaltet worden waren. Helmut wusste sehr wohl um die Verdienste seiner Frau und war ihr deshalb auch ewig dankbar. Einmal mehr hatte sie sich von ihrer besten Seite gezeigt und mit starker sozialer Kompetenz und medizinischem Sachverstand das langsame Sterben ihrer Schwiegermutter begleitet. Sich kümmern war für Hannelore ein Stück Lebensinhalt. Sich kümmern um den Mann, um die Kinder, um die Schwiegereltern, um Freundinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hatte sie ein Helfersyndrom? Auch wenn man soweit sicher nicht gehen muss, Fakt ist, dass ihr das Zurückstellen eigener Bedürfnisse seit ihrer Jugend in Fleisch und Blut übergegangen war.

Kaum ein Jahr später erkrankte Hannelores Mutter Irene schwer. Im Oggersheimer Bungalow erschien täglich der Hausarzt. Oma »Gogo« musste rund um die Uhr betreut werden. Pflichtbewusst setzte sich auch diesmal wieder Hannelore ein, die eine Einweisung in ein Altenheim kategorisch ablehnte. Bis zur eigenen physischen Erschöpfung pflegte Hannelore ihre Mutter, zu der sie ein Leben lang ein ambivalentes Verhältnis hatte. Zuletzt blieb ein Krankenhausaufenthalt unvermeidlich. Im Alter von 83 Jahren starb Irene Renner am 18. Juli 1980 in einer Ludwigshafener Klinik. Eine Woche später wurde ihre Urne auf dem Friesenheimer Friedhof beigesetzt. Obwohl Irene bis zu ihrem Tod »gottgläubig« und ohne jegliche religiöse Bindung gelebt hatte, konnte Hannelore den evangelischen Krankenhauspfarrer von Ludwigshafen-Oggersheim, Karl Theodor Ellbrück, für die Beerdigung im engsten Familienkreis gewinnen.

Am 12. September 1980 wurde die Urne von Irenes 1952 verstorbenem Mann Wilhelm Renner von Bremen nach Ludwigshafen umgebettet. Das war Hannelores lang gehegter Wunsch, den sie trotz einiger bürokratischer Barrieren nun umsetzte. Fortan besuchte sie häufig das Grab ihrer Eltern, die im Tode wiedervereint waren. Die Grabstätte befindet sich in unmittelbarer Nähe von Helmuts Elterngrab, in dem Hannelore 2001 auch ihre letzte Ruhe fand.

VORLAUF

Das Ehepaar Kohl lebte in verschiedenen Welten. Helmut hatte ohne Wenn und Aber die Oppositionsrolle angenommen. In seinen Doppelämtern waren harte Arbeit und Geduld gefragt. Als Parteivorsitzender und Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion musste er auch die Großen der Welt empfangen, die zu Gast in Bonn weilten. Hannelore, die sich in der provisorischen Hauptstadt zu keiner Zeit wohlfühlte, kam nicht umhin, ihren Mann bei wichtigen Empfängen für Staatsgäste zu begleiten. Wann immer es möglich schien, verzichtete sie auf ihre Präsenz, fand gute Gründe, in Ludwigshafen zu bleiben. Sie hatte eine ausgeprägte Fantasie, wenn es um Ausreden ging. Solange sie für ihre Söhne allein verantwortlich war, begründete sie ihre Abstinenz mit der Fürsorge für ihre Kinder – auch wenn es nur vorgeschoben war. Mitte des Jahres 1982 machte Sohn Walter sein Abitur und erwog, ins Kloster zu gehen und sich der katholischen Theologie zuzuwenden. Die religionslose Hannelore machte aus ihrer Missbilligung keinen Hehl, und es gelang ihr schließlich, Walter zu überzeugen. Den zwei Jahre jüngeren Sohn Peter hatte seine Mutter bei der Organisation mehrmonatiger Aufenthalte in Frankreich und England unterstützt, und damit den Grundstein für Höchstleistungen in den beiden Sprachen Französisch und Englisch gelegt. Nicht zuletzt deshalb machte er im Mai 1985 auf dem Mannheimer Gymnasium ein glänzendes Abitur. Stolz berichtete Hannelore ihren Freundinnen vom herausragenden Notendurchschnitt, an dem sie nicht unbeteiligt gewesen war. Peter folgte seinem Bruder Walter und verpflichtete sich ebenfalls als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Mit großer Anteilnahme begleitete Hannelore Ausbildung und Einsatz der jungen Soldaten, lernte Dienstgrade, Dienstzeiten und Technik kennen, amüsierte sich über Vorschriften für Verpflegung und Regeln des Uniformtragens. Sie kannte sich nach insgesamt vierjähriger Dienstzeit ihrer Söhne in Alltag und Anforderungen der Bundeswehr gut aus. Wann immer sie Gelegenheit hatte, mit dem Bonner Verteidigungsminister zu sprechen, glänzte sie mit Insiderwissen, diskutierte über Schwächen und Stärken der Truppe. Ihre Erfahrungen mit Zeitsoldaten in den Achtzigerjahren, die sie hautnah kennengelernt hatte, flossen nicht selten in kritische Fragen ihres Mannes beim zuständigen Minister ein. Gerne erzählte Helmut Kohl, der selbst nie Soldat gewesen war, wie er später als Bundeskanzler durch Hannelores Hinweise mit sehr praktischen und realistischen Bemerkungen seinen Kabinettskollegen in die Bredouille brachte. Von den Söhnen lernte er, wie altmodisch und überholt Ausbildung und Ausstattung der Bundeswehr teilweise waren.

Doch bevor der Oppositionsführer überhaupt in die Nähe des Kanzleramtes kommen sollte, vergingen quälende Wochen und Monate auf der Bonner Bühne. Zu Beginn des Jahres 1982 spitzte sich der Konflikt in der Bonner Regierungskoalition immer mehr zu. Die anhaltenden Spannungen zwischen den beiden Koalitionsparteien, aber auch innerhalb der SPD wollten nicht enden. Parteitagsbeschlüsse der Sozialdemokraten standen in klarem Widerspruch zur Regierungspolitik Helmut Schmidts. In zentralen Fragen der deutschen Politik wie dem Umgang mit der Kernenergie und dem NATO-Doppelbeschluss – immerhin von Kanzler Schmidt mitinitiiert – blieb die SPD zerstritten. Im Sommer 1982 gab es erste Gerüchte über einen drohenden Koalitionsbruch. Helmut Kohl ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, wenngleich er keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, wer im Ernstfall die Nummer eins der Unionsparteien sein würde. Er war bereit, zu jeder Zeit politische Verantwortung zu übernehmen. Doch noch war die Regierung Schmidt/Genscher im Amt, noch konnten viele Monate vergehen, bis die Opposition zum Handeln aufgefordert war.

Im Sommer 1982 begab sich Familie Kohl wieder einmal in den Sommerurlaub nach Sankt Gilgen. Zum 13. Mal in Folge musste sich Hannelore damit abfinden, nur Randfigur im Begleittross ihres Mannes zu sein – und sich für die gestellten Fotomotive bereitzuhalten, die sie so sehr hasste. Über drei Wochen lang erlebte sie einen Ehemann, der mit allerhöchster Konzentration die Entwicklungen in Bonn verfolgte. Er schien es geradezu zu riechen, dass sich dort größere Eruptionen anbahnten, die ihn schon bald in eine neue Rolle katapultieren könnten. Die Tage waren geprägt von den unvermeidlichen stundenlangen Telefonaten, von endlosen Gesprächen mit Besuchern und hin und wieder einem Spaziergang auf ausgetretenen Pfaden – Urlaubsalltag, wie seit jeher. Hannelore konnte dem Ganzen nichts abgewinnen, kaum etwas bereitete ihr wirklich Freude. Gelegentliche Besuche bei ihrer österreichischen Freundin, einer Heimatdichterin, brachten wenigstens ein bisschen Abwechslung. Ohne Rücksicht auf Hannelores persönliche Interessen zog Helmut sein Programm durch, zu dem es aus seiner Sicht auch diesmal keine Alternative gab. Selten sehnte Hannelore das Ende des Sommerurlaubs so sehr herbei wie diesmal. Gleiches lässt sich von den Söhnen sagen, wenngleich es für Walter und Peter die letzten gemeinsamen Ferien mit den Eltern im ungeliebten Sankt Gilgen am Wolfgangsee sein würden.

Zurück in Bonn herrschte noch immer Ungewissheit über den Fortbestand der Regierungskoalition. Anfang September 1982 ging es dann aber Schlag auf Schlag. Auf Bitten des Kanzlers Helmut Schmidt hatte der damalige FDP-Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ein Papier angefordert, das als »Scheidungspapier« in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen sollte. In diesem Papier hatte ein hoher Beamter des Wirtschaftsministeriums für seinen Minister ein »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« formuliert, das den Kanzler und seine Partei außerordentlich erboste. Schmidt war fest entschlossen, die vier FDP-Minister der Koalition zu entlassen, die ihrem Rauswurf allerdings durch ein eigenes Rücktrittsgesuch zuvorkamen. Damit war der Koalitionsbruch da, die sozial-liberale Scheidung vollzogen. Eine SPD-Minderheitsregierung hatte keine Chance.

Nun suchten der FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher und der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl das direkte Gespräch. Nachdem CDU-Präsidium und -Bundesvorstand am 20. September 1982 einstimmig beschlossen, Helmut Kohl zum Kanzler der neuen Bundesregierung aus Union und FDP vorzuschlagen, einigten sich die beiden Parteien auf ein konstruktives Misstrauensvotum zur Abwahl Helmut Schmidts. Die Entscheidung fiel am 1. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag. Nach hitziger Debatte verkündete der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen kurz nach 15 Uhr das Ergebnis der Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. Von den 495 gültig abgegebenen Stimmen erhielt Kohl 256 Ja-Stimmen. Das waren sieben Stimmen mehr als die 249, die er zur absoluten Mehrheit, die für die Wahl zum Bundeskanzler erforderlich war, benötigte. 235 Abgeordnete stimmten mit Nein, vier enthielten sich. Damit war Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.

Hannelore und die Söhne Walter und Peter waren bereits am Vortag in Bonn angereist. Auf der Diplomatentribüne des Bundestages hatten sie die Debatten und den anschließenden Wahlgang verfolgt. Sie gehörten zu den ersten Gratulanten.

Hannelore war gegen ärztlichen Rat nach Bonn gekommen. Sie litt seit Tagen unter starken Kopfschmerzen und war mit Tabletten vollgepumpt. Bei einer Parteiveranstaltung im Ruhrgebiet war sie einige Wochen zuvor von einem Kameramann versehentlich so schwer an ihrer sensiblen Stelle im Halswirbelbereich verletzt worden, dass sie sich in ärztliche Behandlung hatte begeben müssen. Diesmal hätte es also wirklich gute Gründe gegeben, auf eine Präsenz in Bonn zu verzichten. Doch daran war nicht zu denken. Sie biss die Zähne zusammen und absolvierte täglich schmerzhafte Reha-Übungen, um einigermaßen fit zu werden. Angst hatte sie vor dem nun anstehenden Gratulationsmarathon, bei dem erhebliches Gedränge herrschte. Aber Sicherheitsbeamte und ihre Söhne schützten sie vor unliebsamen Stößen beim Bad in der Menge der Abgeordneten an der Seite des frisch gebackenen Kanzlers. In der Lobby des Bonner Bundeshauses knipste die Presse, wie sich Helmut und Hannelore in den Armen lagen. Auch die Söhne, die sich seit Jahren als Opfer seines Berufes fühlten, gratulierten ihrem Vater überschwänglich. Ungeachtet ihrer grundsätzlichen Skepsis präsentierte sich Hannelore dem Bonner Pressekorps und wich nicht von der Seite ihres Mannes. Nach dem Stress der letzten Monate, Wochen und Tage sah man Hannelore die Erleichterung an. Sie strahlte vor Glück und marschierte erstmals zusammen mit den Söhnen in die Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dort gab es Freudentränen, die stehenden Ovationen der Fraktionsmitglieder wollten nicht enden. Es waren bewegende Augenblicke, die Hannelore ihre Schmerzen beinahe vergessen ließen.

Am Abend dieses für ihren Mann bedeutsamsten Tages in seinem Leben ließ sie sich nicht davon abhalten, im Herrenhaus Buchholz in der Nähe Bonns hoch über dem Rheintal den Erfolg mit Champagner zu feiern. Hannelore zeigte sich ausgelassen, beinahe euphorisch und schien die neue Lage vorbehaltlos zu genießen. Die Opfer, die sie und die Kinder für die Karriere ihres Mannes hatten bringen müssen, waren wenigstens nicht umsonst gewesen. Helmut war am Ziel seiner Wünsche – sie hatte auf ihre Weise dazu beigetragen. Sie ahnte, dass mit diesem Amt einmal mehr neue Pflichten und Verantwortung auch auf sie zukommen würden. Sie hatte sich in ihrer Ehe immer auf Veränderung einstellen müssen, die sie nicht herbeigeführt hatte, also würde es auch diesmal gelingen. Was tatsächlich auf sie zukam, erschloss sich Hannelore am Tag der Kanzlerwahl sicher nicht in vollem Umfang. An der Seite ihres Mannes, der das wichtigste politische Amt übernommen hatte, das die Republik zu vergeben hat, musste sie ganz neue Wege gehen. Doch lange Zeit würde ihr nicht zur Eingewöhnung bleiben.

Für die Übernahme von Aufgaben und Pflichten durch die Frau des Bundeskanzlers sieht das Bonner Grundgesetz keinerlei Regeln vor. Hannelore musste ihre Rolle auf dem Bonner Parkett – wie alle Kanzlergattinnen – erst finden. Gerne hätte sie Ratschläge ihrer Vorgängerin entgegengenommen, wie sie das selbst 1998 beim Kanzler-Wechsel von Kohl zu Schröder dessen Frau Doris Schröder-Köpf anbot. Aber die langjährige gegenseitige Abneigung der beiden Spitzenpolitiker Schmidt und Kohl ließ es offenbar nicht zu, dass Hannelore nach dem Wechsel im Kanzleramt mit Schmidts Gattin ins Gespräch kam. Sie wechselten niemals ein Wort miteinander, was Hannelore oft bedauerte. Loki Schmidt war durch den Sturz ihres Mannes vom Kanzler-Thron vermutlich ebenso verletzt wie ihr Mann, der sich sichtlich überwinden musste, seinen Nachfolger zum neuen Amt zu beglückwünschen. Dass die selbstbewusste Hamburgerin Loki Schmidt nicht mal Hannelore die Hand reichte, stieß bei dieser auf großes Befremden. Die neue Bonner First Lady zeigte sich noch Jahre später enttäuscht über dieses Verhalten, das sie – bei aller politischen Konkurrenz – so gar nicht nachvollziehen konnte.

Auch unter den Kanzlergattinnen der länger zurückliegenden Vergangenheit fand Hannelore kaum Vorbilder, die ihrer Auffassung von diesem »Amt« nahegekommen wären.

Der erste Bundeskanzler nach Gründung der Bundesrepublik war der Witwer Konrad Adenauer. Seine zweite Frau Auguste war 1948 gestorben. Die Rolle als Frau an seiner Seite nahm bei besonders wichtigen repräsentativen Veranstaltungen Adenauers Tochter Lotte wahr.

Die Gattin seines Nachfolgers Ludwig Erhard, Luise, war besonders an der bildenden Kunst, namentlich an der abstrakten Malerei interessiert. Ungerechterweise wurde sie einmal als »deutsches Hausmütterchen« bezeichnet, was sie ungemein ärgerte. Die damalige Kanzler-Gattin war gesundheitlich stark angeschlagen und spielte in der Öffentlichkeit auch deshalb kaum eine Rolle.

Die Frau des Kanzlers der Großen Koalition Kurt Georg Kiesinger, Marie-Luise Kiesinger, fasste ihre Rolle den Sechzigerjahren entsprechend ganz traditionell auf. Sie galt nicht gerade als auffallende Schönheit und trat höchst selten an der Seite ihres Mannes auf.

Rut Brandt, die Gattin des ersten Kanzlers der sozial-liberalen Koalition Willy Brandt, war die erste in der langen Reihe, bei der Hannelore Ähnlichkeiten sah. Rut hatte sich nie allein nur als Kanzlergattin verstanden. Ähnlich wie Hannelore Kohl gab sie der Erziehung der drei gemeinsamen Kinder besonderen Vorrang und glänzte bei unvermeidlichen Repräsentationsverpflichtungen an der Seite ihres Mannes. Diese starke Frau hatte an der Seite des Regierenden Bürgermeisters von Berlin bereits eine herausragende Rolle gespielt, bewegte sich auf internationalem Parkett als Dame von Format und war für ihren Mann eine große Sympathieträgerin. Hannelore schwärmte oft von Rut Brandt und hielt sie für die erfolgreichste und beste Kanzlergattin der Bonner Republik.

Unter den Frauen der deutschen Bundespräsidenten hatte Hannelore einige Begegnungen mit Wilhelmine Lübke. Von der ehemaligen Studienrätin mit herausragenden Sprachtalenten für Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und Russisch war die neue Kanzlergattin einst sehr angetan. Überzeugend auch ihr soziales Engagement, das in der jungen Republik Maßstäbe setzte.

Die deutsche Ärztin Mildred Scheel spielte an der Seite ihres Mannes, des Bundespräsidenten Walter Scheel, eine ganze besondere Rolle durch ihr soziales und gemeinnütziges Handeln. Vor ihrer Lebensleistung, der deutschen Krebshilfe, hatte Hannelore ganz großen Respekt. Gleiches gilt für die Frau des Bundespräsidenten Karl Carstens, Veronica Carstens, die Hannelore von allen Bundespräsidenten-Gattinnen am besten kannte und sehr schätzte. Auch deren eigenständige Rolle an der Seite ihres Mannes als Ärztin mit vielfältigen sozialen Aufgaben fand Hannelores Zustimmung.

Mit Marianne von Weizsäcker indes konnte Hannelore wenig anfangen. Obwohl sie die Bankierstochter von allen Bonner Politikerfrauen am längsten kannte, übertrugen sich vielleicht die späteren Vorbehalte, die Helmut Kohl gegenüber Richard von Weizsäcker hatte, auch auf dessen Frau. Während der zehnjährigen Bundespräsidentenzeit und der damit häufigen gemeinsamen Repräsentationspflichten gab es keine nennenswerte Annäherung, geschweige denn eine freundschaftliche Nähe. Dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Ebenso wenig wie Marianne von Weizsäcker Sympathien Helmut Kohl entgegenbrachte, konnte sich Hannelore für Richard von Weizsäcker erwärmen.

Noch aus der Mainzer Zeit hatte Hannelore Roman Herzog in bester Erinnerung, der damals im Kabinett Kohl eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Hannelore lernte auch Christiane Herzog kennen, eine außerordentlich warmherzige Mutter zweier Söhne. Die gelernte Hauswirtschaftslehrerin aus München gründete 1986 den Förderverein Mukoviszidose-Hilfe und übernahm als Frau des Bundespräsidenten die Schirmherrschaft von mehreren sozialen Hilfsprojekten im In- und Ausland. Hannelore erlebte ein Jahr vor ihrem eigenen Tod mit großer Anteilnahme das langsame Sterben dieser tapferen Frau, die den Kampf gegen ihre schwere Krankheit, Leberkrebs, verloren hatte.

Hannelore hatte so gut wie keine Vorbilder für ihre neue Rolle als Frau an der Seite des Bundeskanzlers. Sie suchte und fand ihren eigenen Weg, der ihr viel Sympathie über Parteigrenzen hinweg einbrachte. Nach anfänglichen Unsicherheiten wirkte sie in den letzten Jahren von Helmut Kohls Kanzlerschaft äußerst souverän. Nicht zuletzt beweisen die vielen Kondolenzschreiben nach ihrem Tod, wie beliebt sie nicht nur bei den Großen der internationalen Politik war, sondern wie sehr sie vom einfachen Volk verehrt und gemocht wurde.

IM RAMPENLICHT

Der Umzug vom Büro des Fraktionsvorsitzenden ins Bundeskanzleramt einen Tag nach der Wahl am 2. Oktober 1982 vollzog sich ohne öffentliches Aufsehen. Während die Bonner Journalisten ihr Wochenende genossen, brachte Helmut Kohl zusammen mit Hannelore, den Söhnen Walter und Peter sowie mit Fahrer Ecki Seeber und dessen Kollegen den Wechsel über die Bühne. Sie wurden kräftig unterstützt von Kohls engsten Mitarbeitern Juliane Weber, Eduard Ackermann, Horst Teltschik und Wolfgang Bergsdorf. Helmut Schmidt hatte sein Büro vollständig räumen lassen, auch das Vorzimmer konnte bereits bezogen werden. Nachdem das Ehepaar Schmidt auch den Kanzlerbungalow verlassen hatte, kündigten die Kohls den Mietvertrag ihres Hauses in Wachtberg-Pech. Dem Umzug in den 1964 fertig gestellten Kanzlerbungalow im Park zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Palais Schaumburg stand nichts mehr im Wege.

Den Bau des Kanzlerbungalows hatte einst der frühere Wirtschaftsminister und spätere Kanzler Ludwig Erhard in Auftrag gegeben. Der Architekt Sep Ruf übernahm die Aufgabe, ein repräsentatives und modernes Gebäude in der Tradition der klassischen Moderne zu errichten. Der Kanzlerbungalow verfügt über einen privaten Wohn- und Schlafbereich und einen großen repräsentativen Teil mit Empfangshalle, Empfangsraum, Speisesaal und Küche. Seit Mitte der Sechzigerjahre stand das Gebäude, das als herausragendes Beispiel westdeutscher Nachkriegsarchitektur gilt, den Bonner Kanzlern zur Verfügung. Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Helmut Schmidt hatten hier gewohnt. Willy Brandt und Gerhard Schröder bewohnten andere Domizile. Die längste Zeit würde das Ehepaar Kohl mit mehr als 16 Jahren dort zubringen. Der Kanzlerbungalow war traditionell der Ort, an dem wichtige politische Entscheidungen getroffen wurden. Hier trafen die Großen der Welt mit dem deutschen Kanzler zusammen. Hier wurden Staats- und Regierungschefs zu Gesprächen von historischer Tragweite empfangen. Von hier aus gingen Bilder um die Welt, die für die Geschichte der Bonner Republik von Bedeutung sind. Im Laufe der Jahre versuchte Hannelore, die oft bemängelte Behaglichkeit zu verbessern, indem sie mehrmals Änderungen bei der Ausstattung vornahm. So wurden beispielsweise die Klinkerwände mit einem Seidenstoff überzogen, dimmbare Leuchten eingebaut und ein großer Perserteppich angeschafft. Doch von Wohlfühlen konnte keine Rede sein. Öffentlich äußerte sie sich dazu nie, weil sie fürchtete, Kritik an der Architektur könne ihr als Arroganz ausgelegt werden. Gleichwohl ließ sie durchblicken, dass manches im Kanzlerbungalow nicht gelungen war, vor allem, was die Funktionalität der Räumlichkeiten anging. Und dass es nicht einmal einen privaten Eingang zum Bungalow gab, konnte sie überhaupt nicht nachvollziehen.

Hannelore pendelte ständig zwischen Ludwigshafen und Bonn. Ihr erster Wohnsitz blieb das Haus in Oggersheim. Mit der Kanzlerschaft ihres Mannes trat sie noch mehr ins Rampenlicht. In der Mainzer Zeit hatte sie bereits erlebt, dass sie auf Schritt und Tritt von den Medien verfolgt wurde, sobald sie sich in die Öffentlichkeit begab. Das in ihren Augen eher miserable Berufsbild der Journalisten war hier begründet worden. An der Seite des Bonner Oppositionsführers hatte sie eine äußerst kritische und aus ihrer Sicht ungerechte Presse erlebt, die ihrem Mann nur schaden wollte und ihn gnadenlos niederschrieb – wodurch dieses Bild zementiert wurde. Jetzt rechnete sie mit einem noch schwierigeren Verhältnis zu den Medien, fühlte sich aber durch ihre Erfahrungen aus der Vergangenheit besser gewappnet, damit umzugehen. Viele Medienvertreter glaubten, der neue Kanzler, der »Mann aus der Provinz«, werde sich kaum halten können und spätestens bei der nächsten Bundestagswahl scheitern. Und die würde schließlich bald ins Haus stehen. Nach den dramatischen Ereignissen der letzten Zeit hatte Hannelore die Ankündigung ihres Mannes vor den Unionsmitgliedern des Deutschen Bundestages, sich in einer vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983 den Bürgern zu stellen, völlig unvorbereitet getroffen. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass ihr Mann so früh auf einer solchen Bestätigung im Amt bestand. Es erschien ihr schlicht überflüssig und unklug.

Während sich ihr Mann in den ersten Tagen nach der Wahl um Handlungsfähigkeit bemühte, ohne in Aktionismus zu verfallen, stimmte sich Hannelore auf die neuen Herausforderungen ein. Mit ihrer ganzen Kraft wollte sie sich für die Absicherung der Macht ihres Mannes einsetzen. Nachdem das komplizierte Verfahren zur Auflösung des Deutschen Bundestages überstanden war, begann ein knapp dreimonatiger Winterwahlkampf, der ihr enorme Ausdauer abverlangte. Aber noch nie war Hannelore derart motiviert, für die Partei und damit für ihren Mann zu werben, um Zustimmung zu kämpfen. Sie war wild entschlossen, ihre Rolle im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu nutzen, um die parlamentarische Mehrheit zu sichern. Sie leistete Schwerstarbeit und wurde nicht nur von den Unionsanhängern bei ihren Auftritten stürmisch gefeiert. Über Parteigrenzen hinweg zollte man Respekt für ihren Einsatz. Als ob sie selbst zur Wahl stehen würde, zog sie mit ihrem Mann im bitterkalten Winter von Wahlveranstaltung zu Wahlveranstaltung. Der einzige Vorteil des Winterwahlkampfs war, dass sich alles in riesigen Hallen und größeren Versammlungsräumen abspielte. Gesundheitlich robust wie selten zuvor, leistete sie für die Unionsparteien einen außergewöhnlichen Wahlkampfbeitrag, der vielleicht größer war als der mancher Prominenter aus dem Parteiestablishment. Sie spürte ihre positive Wirkung auf die Menschen und genoss den Zuspruch. Helmut Kohl, der seit der Wahl zum Bundeskanzler an Selbstvertrauen gewonnen hatte, verzichtete nur noch ungern auf seine Frau. Wenngleich Hannelores Anteil an dem unverhofft hohen Wahlsieg der Regierungskoalition nicht in Stimmanteilen messbar ist, so darf ihre Position als sympathische und schlagfertige Kanzlergattin nicht unterschätzt werden. Weder Loki Schmidt noch Rut Brandt hatten sich in Wahlkämpfen derart engagiert wie Hannelore Kohl. Das war neu, fiel auf – und wurde sogar von der Presse durchweg positiv kommentiert. Selbst Kohls heftigste Kritiker kamen nicht umhin, das Engagement der Kanzlergattin zumindest wahrzunehmen. Innerhalb der Unionsparteien schlugen ihr ohnehin die Sympathien entgegen. Hannelore freute sich über den Zuspruch, bewertete ihn aber auch nicht über. Selbstkritisch, wie sie war, wusste sie, dass sie weiter daran arbeiten musste, Unsicherheiten zu überwinden, eigene Ängste abzubauen und mehr Selbstbewusstsein zu zeigen.

Der Abend des 6. März 1983 brachte ein sensationelles Wahlergebnis: Ganz knapp verfehlten die Unionsparteien die absolute Mehrheit und konnten mit einem Wahlergebnis von 48,8 Prozent an die großen Erfolge der Adenauer-Ära anknüpfen. Die FDP erreichte mit sieben Prozent ein beachtliches Ergebnis. Die Regierungskoalition Kohl/Genscher wurde eindrucksvoll bestätigt. Die Sozialdemokraten mit ihrem Spitzenkandidaten Hans-Jochen Vogel fielen unter die 40-Prozent-Marke. Erstmals übersprangen die Grünen mit 5,6 Prozent die Fünf-Prozent-Hürde und schafften den Einzug ins Bonner Parlament.

Bei der Siegesfeier im Kanzlerbungalow mit den engsten Mitarbeitern zeigte sich Hannelore in bester Feierlaune. Sie freute sich nicht nur über den hohen Wahlsieg und die Bestätigung ihres Mannes an der Spitze der Bundesregierung. Sondern auch darüber, dass ihre Existenzängste – zumindest für die nächsten vier Jahre – nicht weiter genährt wurden. Niemals mehr auf den guten Willen anderer bauen zu müssen, abhängig zu sein: Das waren die prägenden Gefühle seit den entbehrungsreichen Mutterstädter Jahren, die sie immer wieder heimsuchten.

Über solche Gedanken sprach sie mit niemandem. Mit wem auch? Für ihre Freundinnen, für die Nachbarn und vor allem für die Partei stand Hannelore im Rampenlicht und zählte mittlerweile zur Spitze der Bonner Politprominenz. In der Außensicht gibt es in einer solchen Position keine finanziellen Sorgen oder Nöte. Die Fernsehbilder zeigten Hannelore bei Staatsbesuchen in Bonn, bei Reisen in die weite Welt, bei Empfängen auf dem internationalen Parkett. Sie wäre wohl mit Unverständnis und Spott bedacht worden, hätte sie ihre Ängste mitgeteilt. Ängste, die vielen Kriegskindern geläufig sein dürften.

Was die strahlenden Fernsehbilder nicht einfingen, war die Anstrengung, die mit solchen Reisen verbunden war. Es bedurfte intensiver Vorbereitung, nicht nur eine gute Figur zu machen oder für ein wenig Glamour zu sorgen, sondern auch jederzeit voll konzentriert und auf der Höhe des Gesprächs zu sein. Die permanente Beobachtung durch Kamera und Mikrofon, ständig bereit, einen falschen Schritt, eine unpassende Bemerkung zu dokumentieren, verlangte Hannelore alles ab.

Ihre erste Auslandsreise als Kanzlergattin führte Hannelore Ende Mai 1983 ins amerikanische Williamsburg. Beim Treffen der sieben Staats- und Regierungschefs (G-7-Gipfel) nebst ihren Ehefrauen war Hannelore die Jüngste und vor allem der Neuling auf diesem besonderen Parkett. Auch unter den Ehefrauen der Politiker gab es eine Art Rangfolge, die sich an den Amtsjahren des Ehemannes orientierte. Diesmal war es Nancy Reagan, die das Damenprogramm anführte und für das Wohlbefinden der Gäste sorgte. Trotz des großen Altersunterschieds fand Hannelore gleich einen direkten Draht zur Frau des mächtigsten Mannes der westlichen Welt. Hierbei halfen ihr auch die exzellenten Sprachkenntnisse, ihr perfektes Englisch, das sie gerne sprach. Wie Helmut Kohl in seinen Memoiren schreibt, scheute sich Hannelore nicht, Nancy unbefangen um Rat zu fragen, wenn sie ihn brauchte. Als Beispiel seien nur Fragen zum großen Protokoll bei internationalen Veranstaltungen genannt, die oftmals den Wünschen und Bedürfnissen der Politikerfrauen nicht gerecht wurden. Auch im Umgang mit der amerikanischen Presse hörte sie gerne auf ihren Rat.

Ob mit Reagans oder den Mitterrands – Hannelore erwies sich als Kommunikatorin mit Humor und Fingerspitzengefühl. Ihr Mann nannte sie eine »Spitzenkraft« bei Auslandsreisen. Von Kohls erster Gipfelteilnahme lieferten die Radio- und Fernsehkorrespondenten ohne Ausnahme positive Beiträge. Über Hannelores zurückhaltenden, aber jugendlich-frischen Auftritt in Amerika berichtete nicht nur die Boulevardpresse voll des Lobes. Die seriösen Medien vermeldeten Gleiches.

Hannelore war durch und durch Perfektionistin, auch, wenn es um die Vorbereitung von Auslandsreisen ging. Vom Auswärtigen Amt bekam sie die nötigen Unterlagen über Land und Leute, über Geschichte, Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik des Gastlandes. Oftmals hielt sie diese Informationen für unzureichend und bemühte sich im direkten Gespräch mit den Verantwortlichen um zusätzliche Materialien. Vor allem legte sie Wert auf biografische Daten ihrer Gesprächspartner, wollte Persönliches erfahren und Hintergrundinformationen erhalten über jene Menschen, denen sie im Laufe der Reisen begegnen würde.

Das galt auch für die erste Reise des Bundeskanzlers in den Nahen Osten Anfang Oktober 1983. Mit Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien bereiste das Ehepaar Kohl drei arabische Länder mit hoher politischer Bedeutung. Vor allem das jordanische Königspaar, Königin Nur und König Hussein, hatten es Hannelore angetan. Die Bilder zeigten die Gastgeber in prachtvoller königlicher Garderobe und Hannelore in einem ausgefallenen Abendkleid. Als dudelsackpfeifende Ehrengardisten in Beduinen-Uniformen auf dem Flughafen Amman antraten und beim Abschreiten der Ehrenformation Walzerklänge zu hören waren, amüsierte sich die Kanzlergattin derart, dass sie darüber noch Jahre später gerne berichtete. Ob bei der Besichtigung der Pyramiden außerhalb von Kairo oder beim Besuch in der Altstadt halb verschleiert: Hannelore zeigte sich wissbegierig, stellte sachkundige Fragen und interessierte sich für Menschen und ihre Geschichte. Wo immer sie in Erscheinung trat, hinterließ sie einen freundlichen Eindruck. Dabei sah sie ihre Rolle nicht darin, als »nettes« Anhängsel ihres Mannes durch die Welt zu reisen, schöne Kleider zu tragen und Werbung für die Bundesrepublik zu machen. Es wurde bereits in den ersten Kanzlermonaten deutlich, wie sehr sie sich um Eigenständigkeit bemühte. Schon bald hatte sie ihre eigene Rolle gefunden und in der Öffentlichkeit an Profil gewonnen.

Protokollarische Zwänge nahm sie gelassen hin und kam inzwischen auch mit physischen Strapazen gut zurecht. In all den Jahren als Kanzlergattin missachtete sie nie die Regeln des Protokolls, nahm Ratschläge gerne entgegen und war, wie kaum eine andere Kanzlergattin, pünktlich zur Stelle, wenn es von ihr erwartet wurde. Noch heute schwärmen Protokollchefs von Hannelores Disziplin und preußischer Pflichtauffassung, wenn es um die Einhaltung von Absprachen ging. Sicherheitsvorkehrungen nahm sie außerordentlich ernst, während sie mit manch ungewohntem Brauchtum in fernen Ländern gelassen umging. Was ihr allerdings Probleme bereitete, war die Zeitumstellung, die manche Fernreise mit sich brachte. Es wurde erwartet, dass Hannelore auch nach mehrstündiger Flugzeit immer lächelnd vor die Kameras trat. Wie viel Mühe sie das manchmal kostete, konnte man bei Kohls Japanreise mit einer großen Wirtschaftsdelegation Ende Oktober 1983 sehen. Der glanzvolle Empfang bei Kaiser Hirohito blieb Hannelore unvergessen, lieferte aber auch Bilder einer angestrengten Kanzlergattin, die hochkonzentriert darauf achtete, dem außergewöhnlichen Protokoll zu folgen. Die Sorge, einen Fehler zu machen, stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Ihr Lächeln geriet oft zur Maske, vor allem dann, wenn sie sich unbekannten Regeln unterwerfen musste. Aber je häufiger sie sich im Ausland bewegte, umso selbstbewusster und gelöster meisterte sie auch solche Situationen.

Ob totalitäre Regime in Asien oder Lateinamerika, ob kommunistische Diktaturen in Osteuropa oder China: Hannelore lernte sie im Laufe der Jahre alle kennen. Den offiziellen Damenprogrammen, deren Schwerpunkt auf der Besichtigung kultureller Einrichtungen lag, konnte sie hingegen immer weniger abgewinnen. Mit der Zeit mischte sie sich schon im Vorfeld interessanter Reisen ein und nahm Einfluss auf die Planungen, die für ihren Aufenthalt vorgesehen waren. Sie scheute sich nicht, Vorschläge deutscher Botschafter in Gastländern abzulehnen oder stark zu ändern. Je erfahrener und sicherer sie wurde, umso selbstbewusster organisierte sie ihr Damenprogramm nach ihrem Geschmack. Nachdem Hannelore ihr soziales Engagement als Präsidentin des Kuratoriums für Verletzte mit Schäden des Zentralen Nervensystems (ZNS) 1983 aufgenommen hatte, legte sie besonders großen Wert auf Besuche medizinischer Einrichtungen dieser Art im Ausland.

Diese Eigenständigkeit brachte ihr bei den Gastgebern auf der ganzen Welt großen Respekt und Anerkennung ein. Zumal sie stets penibel darauf achtete, übergeordnete Wünsche des Protokolls zu erfüllen, wenn es dem Ansehen von Gastgebern oder Gästen diente. Auf was sie gerne verzichtet hätte, waren die stundenlangen Galadiners, bei denen politische Reden gehalten wurden, die Hannelore oft langweilten. Wenig konnte sie auch mit den sich ewig wiederholenden Toasts und launigen Trinksprüchen anfangen. Doch Pflichtbewusstsein und Disziplin – zwei ihrer hervorstechendsten Eigenschaften – verboten ihr auszuscheren.

Nach anstrengenden Auslandsreisen brauchte Hannelore Erholung. Sie schlief ausgiebig und entspannte sich mit Freundinnen, mit denen sie shoppen oder essen ging. Das geschah meist unter der Woche. Wenn Helmut am Wochenende nach Ludwigshafen kam, war sie ganz auf ihn konzentriert, sorgte für gute Stimmung, für gutes Essen und Trinken. Zweisamkeit und Ruhe waren trotzdem nur selten angesagt. Hannelore musste jederzeit auf Gäste vorbereitet sein.