Kapitel 9

SPENDENAFFÄRE

Die ehemalige Kanzlergattin hatte die Abwahl ihres Mannes noch längst nicht verarbeitet, als sie sich trotz ihrer gesundheitlichen Probleme und der damit verbundenen Einschränkungen mit ganzer Kraft weiter ihrer Stiftungsarbeit widmete. Als ob der Absturz ihres Mannes keinerlei Auswirkungen auf ihr Gemüt hätte, glänzte sie im Oktober 1998 als Moderatorin beim »Ball der Sterne« im Mannheimer Rosengarten. Anders bei der Goldberg-Gala im gleichen Jahr in Berlin: Erstmals musste Hannelore aus gesundheitlichen Gründen auf eine Anwesenheit bei dieser wichtigen Veranstaltung verzichten.

Ende Januar 1999 präsentierte sie sich in scheinbar guter körperlicher Verfassung bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten. Roman Herzog, ein alter Bekannter und wirklich guter Freund ihres Mannes, überreichte der Präsidentin des Kuratoriums ZNS das »Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland«. In einem maßgeschneiderten schwarzen Kostüm nahm sie den Orden entgegen, der ihr in Anerkennung ihres Einsatzes für Unfallopfer mit Verletzungen des zentralen Nervensystems verliehen wurde. In ihrer Dankesrede hob sie den Einsatz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervor und machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie sich über die Auszeichnung freute. Diese sei ihr ein Ansporn, sich auch weiterhin mit aller Kraft für die Arbeit des Kuratoriums einzusetzen. Und das tat sie: Bei der Vergabe des Förderpreises der Hannelore-Kohl-Stiftung und des Kuratoriums ZNS im März in Hamburg war sie ganz in ihrem Element, ebenso bei der ARD-Talkshow Fünf Jahre Fliege und bei der ZDF-Sendung 30 Jahre Dieter Thomas Heck im Baden-Badener Kurhaus. Auch beim Mannheimer »Ball der Sterne« 1999, diesem längst zur Tradition gewordenen Treffen von Stars und Sternchen, trat Hannelore Kohl auf – gemeinsam mit ihrem Mann. Niemand konnte ahnen, dass es das letzte Mal sein würde.

* * *

Schon seit langem träumte Hannelore von einer eigenen Wohnung in Berlin. In ihrer Geburtsstadt fühlte sie sich seit jeher sehr wohl, selbst zu Zeiten des geteilten Deutschlands, als die Mauer gerade die Bürger Berlins täglich an diese schmerzliche Teilung erinnerte. Jetzt waren beide deutschen Staaten vereint, jetzt blühte die Stadt wie nie zuvor auf – und Hannelore wollte dabei sein. Wie gehabt überließ Helmut Kohl seiner Frau die Suche nach einer geeigneten Berliner Bleibe. Hannelore war froh um dieses neue Projekt, das sie vorübergehend von ihren Handicaps ablenkte und in dem sie völlig aufging. Nach dem Kauf von zwei Etagenwohnungen in einem Altbau im Berliner Stadtteil Wilmersdorf steuerte sie kompetent die Renovierungsarbeiten in den Wohnungen, die zu einem 220 Quadratmeter großen Domizil zusammengelegt worden waren. Auch diesmal mussten zwingende Sicherheitsvorgaben beachtet und sämtliche Fenster sowie die Wohnungstür entsprechend umgerüstet werden. Trotz ihrer zunehmenden gesundheitlichen Probleme überwachte sie sachkundig sämtliche Baumaßnahmen, die Anfang Oktober 1999 abgeschlossen werden konnten. Für Hannelore war es die allerbeste Investition zur rechten Zeit, am richtigen Ort und ganz nach ihrem Geschmack. Zügig kümmerte sie sich um die Inneneinrichtung, ließ einige Möbel und Geschirr aus Ludwigshafen nach Berlin transportieren und kaufte den Rest in der deutschen Hauptstadt dazu. Mit dem Bezug ihrer Zweitwohnung in der Caspar-Theysz-Straße 20 erfüllte sich Hannelore einen lang gehegten Traum. Sie liebte die Berliner Großstadtatmosphäre und genoss das quirlige Leben in der Hauptstadt.

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Wenige Wochen vor seiner Abwahl bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 schrieb ich dem Bundeskanzler einen Brief. Darin erläuterte ich ihm meine Absicht, anlässlich seines 70. Geburtstags im Jahr 2000 ein Buch über ihn zu schreiben und bat um ausführliche Gespräche. Kohl reagierte umgehend und lud mich zu einem ersten Treffen ein. Weitere Gespräche sollten nach der Bundestagswahl folgen. Bei dieser Begegnung hatte ich ihn ermuntert, eines Tages selbst seine Memoiren zu schreiben.

Nach der schweren Wahlniederlage hatte sich die Lage verändert. Der Altkanzler entschied sich sehr rasch, seine Erinnerungen aufzuschreiben und bat mich, ihn gemeinsam mit einem kleinen Team von Wissenschaftlern und Publizisten dabei zu unterstützen. Ab Mitte 1999 fuhr ich an so manchem Wochenende nach Ludwigshafen oder traf mich mit ihm und seinen Mitarbeitern in Berlin.

Nach dem Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin-Mitte im Juli 1999 wurden dem Altkanzler großzügige Büroräume in der vierten Etage eines generalrenovierten Gebäudes zugewiesen, in dem früher einmal Volksbildungsministerin Margot Honecker residiert hatte. Kohls Vertraute Juliane Weber kam ebenso mit nach Berlin wie Büroleiter Michael Roik. Außerdem gesellte sich ein zweiter Mann hinzu, der sich seine Sporen bei der Konrad-Adenauer-Stiftung erworben hatte. Der Politologe Lutz Stroppe wurde nach kurzer Einarbeitung zu einem unentbehrlichen Helfer.

Der mittlerweile zum parlamentarischen Hinterbänkler mutierte Kanzler der Einheit behielt in Berlin die Fäden in der Hand und genoss seinen Status als einfacher Bundestagsabgeordneter. Sein Terminkalender war prall gefüllt, Politik war und blieb sein Lebenselixier. Kohl empfing regelmäßig Weggefährten aus Bund und Ländern und nahm die vielen nationalen und internationalen Auszeichnungen, die ihm für seine Verdienste verliehen wurden, stolz entgegen. Der CDU-Ehrenvorsitzende zeigte wenig Präsenz in den Spitzengremien seiner Partei und meldete sich auch in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion höchst selten zu Wort. Aber bei Wahlkampfauftritten war er wieder ganz in seinem Element. So warb er in altbekannter Manier für die Politik der CDU bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen und bei den Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus. Als ob es den Rücktritt vom Parteivorsitz nicht gegeben hätte, gab er wie in alten Zeiten die Wahllokomotive der CDU/CSU. Er brauchte offensichtlich die große politische Bühne, um zu Bestform aufzulaufen – auch wenn Hannelore gesundheitsbedingt nicht mehr an seiner Seite war.

Als Michail Gorbatschows todkranke Frau Raissa sich in der Universitätsklinik in Münster aufhielt, kümmerte sich der Altkanzler um sie. Nachdem sie mit 67 Jahren an den Folgen einer schweren Leukämie gestorben war, reiste er ohne Hannelore zu Raissas Beisetzung nach Moskau und würdigte die Verstorbene in einer kurzen Ansprache am offenen Sarg.

Der »Elder Statesman« zelebrierte hochrangige Treffen am Regierungssitz Berlin und empfing nach wie vor die Großen der Welt, unternahm Reisen unter anderem nach China und Israel. Einen Tag nach seiner Rückkehr aus dem Nahen Osten meldeten die Nachrichtenagenturen, das Amtsgericht Augsburg habe Haftbefehl gegen den ehemaligen CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep erlassen. Er werde verdächtigt, 1991 eine Million D-Mark an Spendengeldern von Karlheinz Schreiber, einem umstrittenen Waffenhändler, erhalten und nicht versteuert zu haben. Hannelore, die gerade ihre Ludwigshafener Freundin Annelie Wiß in Berlin zu Besuch hatte, erfuhr beim gemeinsamen Frühstück in der neuen Wohnung vom Haftbefehl gegen den CDU-Spitzenpolitiker. Ihr Fahrer Josef Rink hatte die schlechte Nachricht überbracht. Die Gattin des Altkanzlers war geschockt. Als ZNS-Präsidentin wusste sie nur zu genau, wie wichtig es war, Spendengelder ordnungsgemäß zu verbuchen. Sie erzählte mir, dass ihr sofort die Frage durch den Kopf geschossen sei, in welcher Weise ihr Mann in den Vorfall involviert sein könnte. Sie wusste, dass er als langjähriger CDU-Bundesvorsitzender über alle Ein- und Ausgaben der Partei im Bilde war und – wenn er wollte – jederzeit persönlich Einblick in sämtliche Finanztransaktionen des CDU-Schatzmeisters nehmen konnte. Höchst angespannt wartete Hannelore auf ihren Mann, der zu mitternächtlicher Stunde tief bestürzt nach Hause kam. Noch am Abend hatte er in einer ersten Stellungnahme erklärt, keinerlei Kenntnis von der Spende Schreibers an Walther Leisler Kiep gehabt zu haben. Wie sich anderntags herausstellte, wurde der Haftbefehl gegen Leisler Kiep gegen Zahlung einer Kaution über 500 000 D-Mark außer Vollzug gesetzt. Zuvor hatte der gewiefte Finanzmanager erläutert, dass der Millionenbetrag, den ihm Schreiber in der Schweiz übergeben habe, als Parteispende an die CDU gegangen sei. Auch davon hatte Helmut Kohl keinerlei Kenntnis. Allerdings erinnerte er sich an einen Vorfall aus dem Jahr 1997. Damals hatte er erfahren, dass Wolfgang Schäuble eine 100 000-D-Mark-Spende von jenem Karlheinz Schreiber erhalten hatte.

Hannelore, die von all dem nichts wusste, war zutiefst beunruhigt. Schlaflose Nächte waren vorprogrammiert.

Am Vortag des zehnten Jahrestags des Falls der Berliner Mauer traf das Ehepaar Kohl mit Barbara und George Bush sowie Michail Gorbatschow, der von seiner Tochter Irina begleitet wurde, im Berliner Rathaus zusammen. Anlässlich der feierlichen Verleihung der Ehrenbürgerwürde Berlins an den früheren amerikanischen Präsidenten hielt Helmut Kohl die Laudatio. Während ihr Mann die politischen Leistungen beider Staatsmänner würdigte und sie die »entscheidenden Baumeister der deutschen Einheit« nannte, wollte Hannelores Nachdenken über die Millionenspende nicht enden. Auch das »Gipfelgespräch zehn Jahre Mauerfall: Wie es wirklich war« im Axel-Springer-Verlagshaus lenkte sie kaum ab. Nur das wunderbare Solo des russischen Cellisten und Dirigenten Mstislav Rostropovich ließ Hannelore für kurze Zeit gedanklich abschweifen.

Eine gute Woche später berichtete die Süddeutsche Zeitung, Helmut Kohl sei als Parteivorsitzender aus schwarzen Kassen unterstützt worden. Ein CDU-Finanzexperte habe unter dem Haushaltstitel »Sonstige Einnahmen« einen versteckten Nebenhaushalt für den Parteivorsitzenden geführt. Außerdem sei die Bundesregierung unter Kohl gegen Zahlung von Schmiergeldern bereit gewesen, zur Jahreswende 1989/90 Bundeswehrspürpanzer nach Saudi-Arabien zu liefern. Im Hause Kohl herrschte blankes Entsetzen.

Hannelore las in der Welt am Sonntag vom 21. November 1999 ein ausführliches Interview ihres Mannes, in dem er sich erstmals nach der Kiep-Affäre zu Wort meldete und die Vorwürfe, seine Regierung sei bestechlich gewesen, als völlig abwegig zurückwies. An diesem grauen Novembersonntag stand das Telefon in Ludwigshafen nicht still. Das Ehepaar Kohl fühlte sich zutiefst verletzt, empfand die Unterstellungen als bösartige Verleumdungskampagne. Und diese setzte vor allem Hannelore erheblich zu. Sie glaubte fest an die Unschuld ihres Mannes und verfluchte die Medien, die nun versuchten, die Reputation ihres Mannes nach fünfundzwanzigjähriger Amtszeit als Parteivorsitzender zu zerstören.

Tags darauf setzte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Opposition, also auch der CDU/CSU, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. Dieses Gremium sollte den Vorwurf der Käuflichkeit von Regierungsentscheidungen während Kohls Kanzlerschaft untersuchen. Im Mittelpunkt standen dabei das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien, die Privatisierung der Leuna-Raffinerie, Airbus-Lieferungen nach Kanada und Thailand und die Lieferung von Hubschraubern an die kanadische Küstenwache. Wie ihr Mann empfand Hannelore die Arbeit des Untersuchungsausschusses in Berlin als eindeutigen Versuch, die Regierungsarbeit des ehemaligen Kanzlers zu kriminalisieren.

Im Verfahren gegen CDU-Schatzmeister Kiep wurden ständig neue Details über das Finanzgebaren der Partei bekannt. So sollen zum Beispiel Spenden jahrelang auf Vorkonten geparkt worden sein. Auch davon hatte der Parteichef nach eigenen Worten keine Kenntnis. Nie zuvor verfolgte Hannelore die Berichterstattung in den Medien so gründlich wie in diesen Tagen und Wochen. Die Hiobsbotschaften wollten nicht enden. In der Presse bestimmten Fragen wie: »Affäre Kiep jetzt der Fall Kohl?« die Schlagzeilen. Hannelore entging nicht, dass der ungeheure Vorwurf der Bestechlichkeit im Amt ihren Mann unglaublich traf. Kohls Nachfolger als CDU-Bundesvorsitzender Wolfgang Schäuble und CDU-Generalsekretärin Angela Merkel forderten seit Tagen eine lückenlose Aufklärung der Spendenaffäre ohne Rücksicht auf Ansehen von Personen. Hannelore fühlte mit, wie sich der Ehrenvorsitzende der CDU einerseits in der eigenen Partei behaupten musste, andererseits gegenüber der Presse ständig gebetsmühlenartig dementierte, Kenntnis über ein solches Finanzgebaren gehabt zu haben.

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Bei meinen Wochenendtrips im Spätherbst 1999 nach Ludwigshafen traf ich auf eine Hannelore Kohl, die ich so nicht kannte. Sie wirkte bedrückt, schien eine schwere Last zu tragen, berichtete über kaum zu ertragende Schmerzen und flüchtete bei unseren Gesprächen in Sarkasmus. Als Vertreter eines von ihr gehassten Berufsstandes ließ ich mich nicht ein auf Kollegenschelte, verteidigte die Funktion des Journalismus, Kritik und Kontrolle auszuüben. Als am 13. Dezember 1999 berichtet wurde, gegen Helmut Kohl käme ein Anfangsverdacht wegen Betrugs und Geldwäsche in Betracht und es würden bereits zehn Anzeigen gegen ihn vorliegen, rief sie mich empört an und wollte meine Meinung dazu wissen. Der Altkanzler dementierte zum gleichen Zeitpunkt die neuerliche Unterstellung, wonach beim Kauf der Leuna-Raffinerie durch die französische Elf-Aquitaine-Gruppe Schmiergelder in Höhe von 85 Millionen D-Mark gezahlt worden seien.

Hannelore litt unter den schlimmen Verdächtigungen und der Hetzjagd, die kaum noch Privatsphäre zuließen. Zahllose Fernsehteams standen Tag für Tag vor dem Haus in Ludwigshafen und belagerten die Wohnung in Berlin. Es brodelte in der Partei, erste Rückzugsforderungen aus den eigenen Reihen wurden laut. Hannelore verstand die Welt nicht mehr und riet ihrem Mann, in die Offensive zu gehen. Auch das Berliner Büro unterstützte Kohls Absicht, sich vor einem Millionenpublikum zu verteidigen und dringend Aufklärung zu leisten. Am Abend des 16. Dezember 1999 räumte Helmut Kohl vor den Fernsehkameras des ZDF erstmals öffentlich ein, zwischen 1993 und 1998 Spenden in Höhe von 1,5 bis 2 Millionen D-Mark entgegengenommen zu haben. Gleichzeitig weigerte er sich, die Namen der Spender zu nennen, »weil sie mich ausdrücklich darum gebeten haben, nicht genannt zu werden. Dafür habe ich mich verbürgt und ihnen mein Ehrenwort gegeben«. Hannelore verfolgte in heller Aufregung die ZDF-Sendung, hörte aufmerksam zu und vernahm, wie ihr Mann sich für seine Fehler, die Spendenbeiträge am Rechenwerk der CDU-Schatzmeisterei vorbei in die Parteiarbeit gesteckt zu haben, entschuldigte. Sie war erleichtert und fand es gut, wie er seine persönliche Integrität unterstrich und deutlich machte, dass er nicht käuflich gewesen sei. Hannelore registrierte mit Genugtuung, dass ihr Ehemann den Vorwurf mit aller Entschiedenheit zurückwies, seine Entscheidungen als Bundeskanzler aufgrund von Schmiergeldzahlungen getroffen zu haben. Sowohl bei der Lieferung der Spürpanzer nach Saudi-Arabien als auch beim Verkauf der Leuna-Raffinerie an Elf-Aquitaine habe er ausschließlich im Interesse des Landes gehandelt. Hannelore nahm ihm das ab. Allerdings überkamen sie erstmals seit Beginn der Spendenaffäre leise Zweifel am Handeln ihres Mannes. Sie hegte Bedenken vor allem wegen seiner kategorischen Haltung, was die Preisgabe der Namen der Spender anging. Dass deren Anonymität die entscheidende Voraussetzung für eine Spende gewesen sein sollte, wie ihr Mann in verschiedenen Variationen immer wieder betonte, wollte ihr nicht einleuchten. Darüber zu diskutieren, ließ Helmut Kohl nicht zu, wie er überhaupt auf Hannelores Rat in dieser Spendenaffäre weitgehend verzichtete. Der Altkanzler blieb stur bei seinem eingeschlagenen Kurs und war keinesfalls bereit, sein gegebenes Wort zu brechen und die Namen der Spender zu nennen. Diese Haltung erläuterte er jedem, der es hören wollte. So auch der neuen CDU-Parteispitze um Wolfgang Schäuble und Angela Merkel.

Was dann zwei Tage vor Heiligabend des Jahres 1999 geschah, verschlug nicht nur Hannelore die Sprache. In einem Meinungsartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung distanzierte sich die CDU-Generalsekretärin Angela Merkel von ihrem langjährigen Förderer Helmut Kohl. Die Partei müsse laufen lernen, so die Autorin, müsse sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich selbst oft gerne genannt habe, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen … Vielleicht sei es nach einem so langen politischen Leben, wie Helmut Kohl es geführt habe, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen.

Diesen Frontalangriff hat Helmut Kohl bis heute nicht überwunden. Gleiches galt zu Lebzeiten für Hannelore Kohl. Sie konnte den Bruch zwischen ihrem Mann und der politischen Aufsteigerin aus der früheren DDR nicht nachvollziehen. Für Hannelore stand außer Zweifel, dass hinter der ganzen Aktion Kohls Nachfolger an der Spitze der CDU, Wolfgang Schäuble, stand. Auf einer Sondersitzung des CDU-Präsidiums wurde der Ehrenvorsitzende Kohl kurz darauf einstimmig aufgefordert, die Namen derjenigen zu offenbaren, die ihm Spenden für die CDU gegeben hatten.

Bei meinem Besuch am 29. Dezember 1999 im Hause Kohl traf ich auf eine zutiefst deprimierte Hannelore. Sie kannte ihren Mann zu gut und wusste, dass er niemals einlenken und die Namen der Spender nennen würde. Doch jetzt war guter Rat teuer. Wie sollte er reagieren, wie konnte der endgültige Bruch mit der CDU-Führung verhindert werden? Die Bereitschaft des schwer angegriffenen und zutiefst enttäuschten Helmut Kohl einzulenken, schien gegen Null zu tendieren. Reagieren musste er aber, die Frage war nur, wie. Beim gemeinsamen Abendessen entstand die Idee, ein Tagebuch zu schreiben, das den Zeitraum von der Wahlniederlage im September 1998 bis zum Ende des kommenden Jahres umfassen sollte. Sinn und Zweck eines solchen Unternehmens konnte nur der Versuch sein, Fehler einzugestehen und einleuchtend zu erklären, warum Helmut Kohl so und nicht anders gehandelt hatte. Gleichzeitig mussten die unsäglichen Verdächtigungen und bösartigen Unterstellungen zurückgewiesen werden und aus Kohls Perspektive widerlegt werden.

Der Altkanzler stand der Idee zunächst skeptisch gegenüber. Er fragte sich, wer eine solche Streitschrift in Form eines Tagebuchs lesen würde. Anders Hannelore. Sie fand die Idee geradezu genial und war fest davon überzeugt, dass die Argumente, die in einem solchen Tagebuch vorgebracht werden könnten, nicht nur die Unionsmitglieder überzeugen, sondern vor allem die erbitterten Gegner der Lüge überführen würden. Davon ließ sich auch Kohl am Ende überzeugen.

Mit den Vorarbeiten zur Rekonstruktion und Überarbeitung wichtiger Tagebuchaufzeichnungen wurde umgehend begonnen. Im November 2000 schließlich präsentierte der Altkanzler das 350 Seiten umfassende Werk mit dem Titel Mein Tagebuch, das als Verteidigungs- und Rechtfertigungsschrift Schlagzeilen machte.

Auf der Rückreise von Ludwigshafen nach Köln erfuhr ich aus dem Radio, dass die Bonner Staatsanwaltschaft gegen den früheren CDU-Bundesvorsitzenden und Bundeskanzler ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue einleiten werde. Helle Aufregung im Berliner Kohl-Büro ebenso wie im Ludwigshafener Bungalow, als der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität eintraf.

Silvester 1999 war ein Jahreswechsel der besonderen Art. Am Vormittag erfolgte in Moskau der Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin. In einem ausführlichen Brief würdigte der Altkanzler die Leistungen seines Freundes Jelzin für die deutsch-sowjetischen Beziehungen und für sein Land. Am Abend traf das Ehepaar Kohl in Berlin ein und folgte der Einladung von Freunden zum Silvesterfest in einem großen Zelt neben dem Reichstag. Bewusst hatte Helmut Kohl mit der langjährigen Tradition gebrochen, im engsten Freundeskreis in Ludwigshafen den Jahreswechsel zu begehen. Gezielt mischte er sich unter das Volk, zeigte sich Weggefährten und treuen Freunden und demonstrierte nach außen hin seine ungebrochene Haltung. Die Frau an seiner Seite hätte sich am liebsten in ihrer Wohnung verkrochen, die Öffentlichkeit gemieden und über die kommenden Schritte zur Verteidigung ihres Mannes nachgedacht. Hier aber wurde sie jetzt stürmisch gefeiert, die Ovationen im Festzelt wollten nicht enden. Hannelore vermied alles, was ihre tatsächliche körperliche und seelische Verfassung hätte verraten können. Mit freundlichem Lächeln und äußerlich entspannt, präsentierte sie sich am Ende eines der schlimmsten Jahre ihrer über vierzigjährigen Ehe. Als die Berliner Glocken das neue Jahr einläuteten und die Silvesterraketen den Himmel erleuchteten, schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie fürchtete sich vor dem, was die Zukunft bringen könnte. Daran änderten in diesem Moment auch die Liebesbezeugungen ihres Mannes nichts, wie er sie in seinem Tagebuch beschrieb.

ZUSPITZUNG

Das neue Jahr begann mit einem Schock: Am 3. Januar 2000 eröffnete die Bonner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Helmut Kohl. Er wurde der Untreue zum Nachteil der CDU verdächtigt. Für Hannelore, für die Söhne und ihre Familien eine schwere Belastung. Der Kanzler der Einheit stand nun so richtig am Pranger – und die ganze Familie gleich mit. Hannelore bekniete in totaler Verzweiflung ihren Mann, die Namen der Spender endlich preiszugeben, um weiteren Schaden von sich und den Seinen abzuwenden. So wenig, wie Hannelore die Sturheit ihres Mannes verstand, so wenig konnten große Teile der CDU-Mitglieder und -Anhänger, selbst eingefleischte Kohl-Fans, nachvollziehen, warum er die Namen der Spender noch immer nicht herausrückte. Nach fünfundzwanzigjähriger Amtszeit als Parteivorsitzender, auf zwölf Parteitagen in geheimer Wahl mit meist überwältigender Mehrheit gewählt, spürte Kohl zwar, wie kalt ihm der Wind ins Gesicht blies. Auch die Gefahr, dass die Partei in zwei Gruppen zu zerfallen drohte – die Aufklärer und die Kohlianer –, war ihm durchaus bewusst. Die Situation konnte für die CDU zu einer dramatischen Zerreißprobe werden. An seinem Willen, die eingeschlagene Linie beizubehalten, änderte das jedoch nichts.

Während er Nervenstärke demonstrierte, lag Hannelore fast am Boden. Parallel zu den ungeheuerlichen Vorgängen in der Spendenaffäre hatte sich ihr Gesundheitszustand zusehends verschlechtert. Die Lichtempfindlichkeit nahm Formen an, die ein normales Leben fast unmöglich machten. Während Helmut ständig in Berlin präsent sein musste, zog sie sich immer mehr in ihren Ludwigshafener Bungalow zurück. Sie versuchte, ihrer anhaltenden Einsamkeit dadurch zu begegnen, dass sie ihre engsten Freundinnen einzeln zu sich bat und mit ihnen weit nach Sonnenuntergang Spaziergänge durch die nähere Umgebung unternahm. Aber auch vor ihnen verbarg sie das Ausmaß ihres Schmerzes, ihres Leids, ihrer unendlichen Traurigkeit. Obwohl sie kaum noch mit ihrer Situation zurechtkam, gewährte sie niemandem Einblick in ihre verletzte Seele.

Besuche von Ärzten in ihrem Haus häuften sich, neue Medikamente wurden ausprobiert, Hannelore griff händeringend nach jedem medizinischen Strohhalm, der Hilfe versprach. Als dann auch noch zwei Fernsehjournalisten sie und ihre Stiftung in die Spendenaffäre ihres Mannes hineinziehen wollten, war das Maß des Erträglichen erreicht. Ein Redakteur aus dem ARD-Studio in Brüssel hatte angeblich konkrete Hinweise aus Paris erhalten, Millionen-Spenden an die Hannelore-Kohl-Stiftung seien nicht ordnungsgemäß verbucht worden. Bei seiner telefonischen Anfrage an die Präsidentin des Kuratoriums beschied ihm Hannelore Kohl, die Stiftung werde sich seiner Fragen umgehend annehmen. Etwa im gleichen Zeitraum wandte sich ein anderer Redakteur an die Bonner ZNS-Zentrale und wollte von Hannelore Kohls engster Mitarbeiterin Amalie Barzen in forderndem Ton wissen, ob die Stiftung in den Spendenskandal involviert sei und entsprechende Gelder in die Stiftung geflossen seien. Der Redakteur aus dem Studio Brüssel, so berichtet Peter Kohl, soll damit gedroht haben, über die Verwicklung von Hannelore Kohl in die Spendenaffäre zu berichten, falls er nicht innerhalb von 24 Stunden schlüssige und belegbare Antworten auf seine Fragen bekommen würde.

Allein die Unterstellung, ihre Stiftung könne Spendengelder nicht korrekt verbucht haben, brachte Hannelore an den Rand der Verzweiflung. Sie rief den ZNS-Geschäftsführer Rolf Wiechers aus dem Urlaub zurück, der die schlimmen Unterstellungen leicht ausräumen konnte. Gleichzeitig bemühten sich ZNS-Anwälte mit geringem Erfolg herauszufinden, was an den angeblichen Hinweisen aus der französischen Hauptstadt dran war und was dahinter stecken könnte.

Am 21. März 2000 ging in der ZNS-Zentrale ein Fax des WDR ein, in dem mitgeteilt wurde, die Recherchen für ein Filmprojekt über »Stiftungen in Deutschland« seien eingestellt worden. In einer Mail bestätigte ein Redakteur mir gegenüber, dass die Recherchen »damals in der Tat im Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre und Kohls Weigerung, seine Spender zu nennen«, gestanden hätten. Nach Beratungen mit der Abteilungsleiterin, der Chefredakteurin und dem Justiziar habe man die Recherchen abgebrochen, »weil die Verbindung von mutmaßlichen Kohl-Spendern zur Hannelore-Kohl-Stiftung letztendlich nicht beweisbar war«.

Die Mittel und Methoden der Fernsehleute fand nicht nur Hannelore Kohl äußerst fragwürdig. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bonner ZNS-Zentrale waren entsetzt und zutiefst irritiert. Die beiden Herren Redakteure taten alles zur Verunsicherung, operierten nach Erinnerungen der Beteiligten mit Drohungen und Warnungen, wollten Hannelore Kohl in den Sumpf der CDU-Spendenaffäre tief hineinziehen. Diese mehrwöchigen WDR-Recherchen setzten Hannelore Kohl erheblich zu und führten bei ihr zu großer Unruhe, weil sie ihr Lebenswerk ernsthaft bedroht sah. Sie kämpfte im Jahr 2000 an mehreren Fronten gleichzeitig, was massiv an ihren Kräften zehrte. Sie fühlte sich mehr und mehr überfordert, zumal eine Hiobsbotschaft die andere jagte.

Bereits am 18. Januar 2000 war es zu einem großen Knall gekommen: Unmittelbar vor einer Sondersitzung des CDU-Bundesvorstandes war der amtierende Partei- und Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble in Helmut Kohls Berliner Büro erschienen. In seinen Memoiren berichtet der Altkanzler über einen zornigen und ungehaltenen Mann, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Schäuble drohte mit seinem Rücktritt, wenn Kohl nicht endlich die Namen der Spender nannte. Er verstieg sich zu der Feststellung, der Altkanzler habe in Wahrheit überhaupt keine Spender und könne sie aus diesem Grund auch gar nicht namentlich nennen. In dieser heftigen Auseinandersetzung schleuderte Kohl Schäuble entgegen, so wie er, Schäuble, von Karlheinz Schreiber persönlich eine Spende über 100 000 D-Mark bekommen habe, so seien auch ihm gleichermaßen Spendengelder übergeben worden. Wie Kohl in seinem Tagebuch aus dem Jahr 2000 vermerkt, habe Wolfgang Schäuble äußerst aufgewühlt Kohls Zimmer verlassen und ihm noch zugerufen: »Dieses Büro werde ich in meinem Leben nie wieder betreten.«

In der darauf folgenden Sondersitzung des CDU-Präsidiums wurde mit großer Mehrheit beschlossen, Kohl seine Rechte als Ehrenvorsitzender abzuerkennen, falls er weiterhin nicht bereit sei, sein Schweigen zu brechen und die Namen der Spender offenzulegen.

Hannelore wusste von all diesen Vorgängen nichts. Erst aus der Tagesschau erfuhr sie, dass ihr Mann sich nach dem Ergebnis der Bundesvorstandssitzung entschlossen habe, den 1998 übertragenen Ehrenvorsitz der CDU Deutschlands niederzulegen. Er sehe sich außerstande, sein Versprechen, das er einigen Persönlichkeiten gegeben habe, die seine Arbeit in der CDU finanziell unterstützt hätten, zu brechen. Kohl betonte, er gehöre der Christlich-Demokratischen-Union seit nunmehr fünfzig Jahren an, sie sei und bleibe seine politische Heimat.

Was der Rücktritt vom Amt des Ehrenvorsitzenden für ihren Mann tatsächlich bedeutete, konnte nur Hannelore ermessen. Die Partei war seine Familie, sein Leben. Jetzt war alles abhandengekommen, wofür er seit Jahrzehnten gekämpft, gelebt, gesiegt und auch verloren hatte. Hannelore wusste, dass das Schlimmste eingetreten war, was sie sich vorstellen konnte. Der Super-Gau für den Altkanzler, der schwerstmögliche Schlag, mit dem auch sie zunächst nicht umzugehen wusste.

Vier Tage später meldete die Tagesschau, Paris habe im Zusammenhang mit dem Verkauf der Leuna-Raffinerie an den französischen Staatskonzern Elf-Aquitaine im Jahr 1992 rund 30 Millionen D-Mark für den Wahlkampf der CDU und ihren Vorsitzenden Helmut Kohl gespendet. Kohls Dementi und der Hinweis, dies alles sei frei erfunden und erlogen, konnten Hannelore nicht beruhigen. Sie schaltete das Fernsehgerät ab und ließ ihren Tränen freien Lauf. Selbst wenn alles erlogen wäre, so würde doch vieles an ihrem Mann und der ganzen Familie Kohl hängen bleiben. Hinzu kam, dass sich viele Weggenossen vom Altkanzler und seiner Frau abwendeten und dies auch demonstrativ zeigten. Die Familie Kohl kam sich vor, als ob sie von einer ansteckenden Krankheit befallen und deshalb zu meiden wäre.

Ende Januar 2000 wurde klar, dass für die von Helmut Kohl nicht gemeldeten Parteispenden – die etwas über zwei Millionen D-Mark betrugen – nach dem geltenden Parteiengesetz rund 6,3 Millionen D-Mark als Strafe von der CDU zu zahlen waren. Um den Schaden für die CDU möglichst gering zu halten, hatte Hannelore die Idee, die Millionensumme mit Hilfe von Spendern einzuwerben. Schweren Herzens schloss sich Helmut Kohl dem Vorschlag seiner Frau an. Peter Kohl beschreibt es in seinem Buch etwas anders: »Während des letzten Januarwochenendes trifft sich die Familie Kohl in Oggersheim, um über die schwierige Lage, in der sich Helmut Kohl befindet, und mögliche Gegenmaßnahmen zu sprechen. […] Nach diesem Gespräch wird beschlossen, von einer Reihe von Persönlichkeiten Spenden für die CDU in Höhe dieses Betrages zu sammeln.« Wer auch immer die Urheberschaft an der Idee hat, Hannelore alleine oder die Familie, damit begann eine einmalige Aktion, die Hannelore fast alleine »durchzog«. Tagelang telefonierte sie von Ludwigshafen aus mit potenziellen Helfern, Gönnern und Spendern. Obwohl es ihr unendlich schwerfiel und ihr Gesundheitszustand ihr unglaublich zu schaffen machte, bat sie um Geld, bettelte um Spenden. Es kostete sie riesengroße Überwindung, Menschen telefonisch zu beknien, Gelder locker zu machen. Denn diesmal ging es nicht um Spenden für ihre Stiftung, sondern darum, den Schaden wiedergutzumachen, den ihr Ehemann eindeutig allein verschuldet hatte. Sie schämte sich wie in den Jahren nach dem Krieg dafür, von der Hilfe anderer abhängig zu sein. Hannelore musste Absagen herunterschlucken, Weigerungen zur Kenntnis nehmen und Enttäuschungen verarbeiten. Ihr Mann bekam unter der Woche überhaupt nicht mit, was sich Hannelore bei den Bettelgesprächen anhören musste, wie negativ vermeintliche Freunde reagierten und sie selbst immer wieder mit den Tränen kämpfen musste. Hannelore bemühte sich tapfer, ihre Schamgefühle zu unterdrücken und weiterzumachen, bis die Wiedergutmachungsaktion erfolgreich abgeschlossen war. Am Ende ihres Einsatzes waren tatsächlich 6,3 Million D-Mark zusammengekommen, die Anfang März 2000 an den Schatzmeister der CDU überwiesen werden konnten. 700 000 D-Mark hatten die Kohls aus privaten Mitteln beigesteuert, indem sie den Ludwigshafener Bungalow mit einer Hypothek in Höhe von 500 000 D-Mark belasteten und den Rest aus Ersparnissen beisteuerten.

Als nach der Veröffentlichung der Liste mit diesen Spendern einige großzügige Helfer mit harscher Kritik überzogen wurden, verschlug es Hannelore die Sprache. Es war ihr unbegreiflich, warum die Geldgeber wegen der Überweisung versteuerter Spendengelder in aller Öffentlichkeit diffamiert wurden. Dass Menschen deshalb geradezu gehasst wurden und auf starke Ablehnung stießen, konnte sie nicht nachvollziehen, die Situation versetzte sie in tiefe Traurigkeit.

Am 8. Februar 2000 berichtete das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel in einer Vorabmeldung, dass die Bonner Staatsanwaltschaft eine Durchsuchung der Kohl-Wohnungen in Ludwigshafen und Berlin sowie der Wohnungen von Juliane Weber und Ecki Seeber beabsichtige. Diese Hiobsbotschaft erreichte das Ehepaar Kohl in Ludwigshafen und brachte Hannelore an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Für sie war die angekündigte Hausdurchsuchung besonders demütigend. Jahrelang hatte sie sich als Frau des Ministerpräsidenten, als Frau des Bundeskanzlers in den Dienst des Landes gestellt, das offenbar keinerlei Interesse daran hatte, der Demontage des Altkanzlers und seiner Familie etwas entgegenzusetzen. Befreit und dankbar nahm sie schließlich die Ankündigung der Bonner Staatsanwaltschaft zur Kenntnis, auf die Hausdurchsuchung verzichten zu wollen, weil Der Spiegel vorab darüber berichtet hatte.

* * *

Eigentlich hatte man Helmut Kohls 70. Geburtstag ordentlich feiern wollen. Die Planungen dafür waren jedoch frühzeitig in Berlin und Ludwigshafen eingestellt worden. Die Spendenaffäre schloss eine große Feier aus. Hannelore spürte tagtäglich, wie tief die Familie Kohl im Ansehen gesunken war, was die Spendenaffäre für ihren Mann, für die Kinder und vor allem für sie selbst angerichtet hatte. In wenigen Monaten war der Kanzler der Einheit in seiner Popularität auf einen Tiefpunkt gesunken und von einer wichtigen Person der Zeitgeschichte zur Unperson geworden. Am 3. April 2000 belagerten zahlreiche Fernsehteams und Zeitungsreporter das Haus in Oggersheim. Mit hoher Geschwindigkeit und zugezogenen Vorhängen verließ der Dienst-Mercedes die Garage, gefolgt von Kamerateams. Gemeinsam mit Fritz und Erich Ramstetter fuhren die Kohls ins elsässische Restaurant »Au Cheval Blanc« in Niedersteinbach zu Madame Zink. Hannelore stand der Sinn überhaupt nicht nach Feiern. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen unterdrücken, das festliche französische Menü blieb ihr fast im Hals stecken. Dieser 70. Geburtstag ihres Mannes markierte für sie wie kaum ein anderer Tag ihres Lebens einen unglücklichen Wendepunkt. Von manchen Freunden im Stich gelassen und vergessen, von Gegnern verhöhnt, verachtet und gehasst, war es einsam um den Pfälzer geworden. Seine Lebensleistung war durch die Spendenaffäre beschmutzt, seine Verdienste waren geschmälert – und Hannelores eigener Einsatz an der Seite ihres Mannes spielte ohnehin keine Rolle mehr. Die ganze Situation war ein einziges Debakel, das ihr nicht nur psychisch immer mehr zusetzte. Ihre Krankheit bekam einen neuen Schub, die Folgen nahmen ein kaum noch erträgliches Ausmaß an.

Und die Spendenaffäre wollte kein Ende nehmen. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss in Berlin kam kontinuierlich zusammen, die Zeugenvernehmungen bestimmten die Schlagzeilen der Presse. Anfang Juni wurde Helmut Kohls Vertraute Juliane Weber ebenso vor den Ausschuss zitiert wie Büroleiter Michael Roik. Durch eine direkte Intervention beim damaligen Kanzleramtsminister konnte gerade noch verhindert werden, dass Kohls Chauffeur Ecki Seeber von den Ausschussmitgliedern zur CDU-Spendenaffäre befragt wurde.

Die Bilder, die in Nachrichten und Sondersendungen ins abgedunkelte Wohnzimmer in Ludwigshafen flimmerten, taten Hannelore weh. Ohnmächtig verfolgte sie von Woche zu Woche den Fortgang der Ausschussarbeit und fieberte dem Auftritt ihres Mannes entgegen. Sieben Monate nach Beginn der Spendenaffäre konnte der Altkanzler vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erstmals zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung nehmen. Es sollten noch viele Befragungen folgen.

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Von Ende Juli bis Mitte August 2000 machten die Kohls wieder einmal Urlaub im österreichischen Sankt Gilgen. Anders als früher mussten nicht nur die notwendigen Utensilien für Helmut Kohl ins kleine Ferienhaus am Wolfgangsee transportiert werden. Wegen Hannelores Lichtempfindlichkeit waren diesmal weitreichendere Maßnahmen notwendig. Während selbst der Privatwagen des Ehepaars längst mit speziell getönten Scheiben ausgestattet war, die zusätzlich mit doppelt genähten Vorhängen verdunkelt werden konnten, war das Ferienhaus natürlich nicht entsprechend gerüstet. Sämtliche Fenster des Hauses mussten mit schwarzen Folien ausgelegt und sämtliche Glühbirnen gegen solche mit einer ganz niedrigen Ohmzahl ausgetauscht werden. Hannelore öffnete schon seit Monaten die Rollläden im Ludwigshafener Bungalow nicht mehr, sie konnte nur noch in abgedunkelten Räumen leben. Hätte man das Ferienhaus nicht entsprechend umrüsten können, hätte sie nicht mitkommen können.

Der Urlaub war für alle Beteiligten geprägt von schweren Belastungen, an Entspannung war nicht nur wegen der Spendenaffäre kaum zu denken. Hannelore mied die Öffentlichkeit und verließ nur nach Einbruch der Dunkelheit das Haus. Das Einzige, was sie sich nicht nehmen ließ, waren abendliche Ausflüge zum Schwimmen. Die begeisterte Schwimmerin hatte vorgesorgt und trug beim Baden einen Neoprenanzug, der sie vor Lichtstrahlen schützte. Die geliebte Urlaubszeit wurde auch für Helmut Kohl unter den obwaltenden Umständen zu einer schweren Belastung. Er mied tagsüber die Innenräume des Ferienhauses, war ständig unterwegs, als ob er auf der Flucht sei. Ein Urlaub unter diesen Umständen war eine einzige Katastrophe, und das für alle Beteiligten. Ich selbst machte bei mehreren Besuchen in Sankt Gilgen die Erfahrung, dass unter diesen Umständen selbst für einen gesunden Menschen das Leben nicht mehr lebenswert war.

In Berlin wurden unterdessen neue Vorwürfe gegen den Altkanzler bekannt. Angeblich seien Akten verschwunden und Daten im Bundeskanzleramt gelöscht worden. Jahre sollten vergehen, bis diese Unterstellungen entkräftet, diese Missverständnisse aufgeklärt waren. Die Gerüchte hielten sich hartnäckig und es war schwierig, sie als Lügen zu entlarven. Das alles nagte an Hannelores Selbstwertgefühl und belastete sie erheblich.

Im Spätherbst 2000 konnte Kohls Tagebuch abgeschlossen werden. Parallel zu seiner ständigen Präsenz in Berlin nutzte er jede freie Minute zur Fertigstellung des Buchmanuskriptes. Seine Tagebuchaufzeichnungen mussten überprüft, ergänzt und erweitert werden. Dabei spielte das Berliner Büro eine herausragende Rolle. Vor allem Michael Roik und Lutz Stroppe leisteten dem Altkanzler vorzügliche Zuarbeit. Als das Manuskript druckreif vorlag, schaltete sich Hannelore Kohl ein und behielt sich nach Einwilligung ihres Mannes vor, Satz für Satz zu überprüfen. Das geschah in den abgedunkelten Räumen des Ludwigshafener Bungalows und wurde für alle zu einer mehrwöchigen Tortur. Hannelore arbeitete Tag für Tag und nicht selten Nacht für Nacht an den einzelnen Kapiteln. Stundenlang saß sie über den Texten, korrigierte, redigierte und nahm Einfluss bis auf die Interpunktion. Zuletzt saß das Ehepaar Kohl gemeinsam mit den Helfern zusammen und ging noch einmal jede einzelne Zeile gemeinsam durch. Sie las vor, formulierte hier und da neu oder forderte an manchen Stellen Veränderungen. Vor allem wünschte sie sich Abschwächungen bei Beschreibungen von Personen, die vom Tagebuchautor äußerst kritisch bis extrem negativ dargestellt worden waren. Hannelore wollte in manche Passagen eine versöhnliche Ebene einziehen und kämpfte für Formulierungen, die ihr Mann oft nicht akzeptierte. Nicht selten kam es zu heftigem Streit zwischen den beiden und nicht selten befand sich Hannelore auf der Verliererseite. In den meisten Fällen setzte sich der Tagebuchautor mit seinen Vorstellungen durch. Manchmal zog sich Hannelore daraufhin empört zurück. Versöhnliche Gesten ihres Gatten ermöglichten schließlich die Weiterarbeit, an deren Ende jenes Werk stand, das zu Weihnachten 2000 in den Buchhandlungen lag und schnell die Bestsellerlisten eroberte. Darauf war Hannelore, die sich insgeheim als Co-Autorin fühlte, sehr stolz. Auch wenn es sie in Anbetracht ihrer schweren Krankheit unglaubliche Kraft gekostet haben muss, hatte sie diese für sie so selten gewordene geistige Auseinandersetzung und Ablenkung, die das Buchprojekt mit sich gebracht hatte, sehr genossen.

FREUNDSCHAFTSNETZ

Wie sehr ihr die CDU-Spendenaffäre zu schaffen machte, ist kaum in Worte zu fassen. Ihre Freundinnen erinnern sich daran, dass Hannelore seit Beginn der Affäre von immer heftigeren Schmerzattacken geplagt wurde. Mit jeder neuen Wendung der Spendenaffäre-Spirale verschlechterte sich ihr Allgemeinzustand. Die Ärzte hatten Hannelore Kohl eine Licht- oder Fotoallergie mit einer chronifizierten und fortschreitenden somatoformen Störung bescheinigt. Darunter versteht man Somatisierungsstörungen, die mit multiplen, wiederholt auftretenden und auch wechselnden Körperbeschwerden einhergehen. Sie können jedes Organ oder jedes Körpersystem betreffen. Am häufigsten sind gastrointestinale Beschwerden und abnorme Hautempfindungen. Der Verlauf ist aus medizinischer Sicht ohne eine geeignete Psychotherapie chronisch fluktuierend und schließlich fortschreitend.

Im Verlauf des Frühjahrs 2000 wurden Hannelores Schmerzen bei Lichteinfall immer stärker. Als sie zu Ostern wieder einmal am Tegernsee weilte, folgte sie dem ärztlichen Rat und unterzog sich einer sogenannten Desensibilisierung, vor der sie lange Zeit große Angst hatte. Sie sträubte sich mit Händen und Füßen, ließ sich am Ende aber doch von der Notwendigkeit überzeugen. Doch dann ging alles schief. Während der Therapie wurde Hannelore gezielt und in langsam ansteigenden Dosen den schädlichen Lichtreizen ausgesetzt. Die Folgen waren desaströs, sie musste die Therapie abbrechen und fühlte sich fortan noch schlechter. Jede Form von Licht – ob Sonnen-, Tages- oder künstliches Licht –, bereitete ihr starke Schmerzen in den Schleimhäuten und im Zahnfleisch. Schnell war ein Sündenbock gefunden. Diesmal war es jener Arzt der Klinik, der ihr zur Desensibilisierung geraten hatte. Für Hannelore war dieses Ereignis an Ostern 2000 vergleichbar mit jenem vom Februar 1993, als mit dem penicillinhaltigen Medikament ihre Lichtempfindlichkeit begann. Das Scheitern der Desensibilisierung war vermutlich ein weiterer niederschmetternder Markstein auf ihrem Krankheitsweg.

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Die wenigen Sitzungen des Kuratoriums ZNS in Bonn, an denen sie nun noch teilnahm, fanden in einem Tagungsraum des Hotels »Maritim« statt, der Hannelores Bedürfnissen entsprechend umgerüstet wurde: die Fenster verdunkelt, Kerzen als Lichtquellen, die Klimaanlage auf äußerste Kälte eingestellt. Hannelores letzter öffentlicher Auftritt für ihre Stiftung war am 5. Mai 2000 auf Schloss Ahrensburg in der Nähe von Hannover. Das Benefizkonzert war ein letzter großer Erfolg für Hannelore und ihr soziales Engagement. Danach wurde sie nie mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Nur noch selten verließ sie ihr Haus in Ludwigshafen. Und wenn sie sich doch einmal schwachem Licht aussetzte, trug sie selbst zur Sommerzeit meist langärmelige Kleidung – kein Millimeter ihrer Haut durfte mit Licht in Berührung kommen. Wenn es doch einmal aus Versehen geschah, spürte sie inneres Brennen. Mit starker Sonnenbrille und starkem Make-up unternahm sie nächtliche Spaziergänge. Einige Male lud sie mich dazu ein. Schnellen Schrittes bewegte sie sich in zünftiger Wanderkluft durch die Nacht. Dabei schilderte sie mir Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Zum wiederholten Male berichtete sie mir bei diesen Spaziergängen über ihre Kindheit in Leipzig und über die Dramatik ihrer Flucht vor den Soldaten der sowjetischen Armee im Jahr 1945. Traumatischen Erfahrungen, die sie nie verarbeitet hatte. Damals gab es keine Hilfe, kannte man noch keine Traumatherapeuten, die Betroffene bei der Aufarbeitung unterstützt hätten. Völlig alleingelassen musste Hannelore als junges Mädchen mit Panikattacken und Weinkrämpfen zurechtkommen. Auf meine Frage, wie es zu diesen schrecklichen seelischen Verletzungen gekommen sei, beschrieb sie die schlimmsten Momente ihres Lebens, die Stunden und Tage auf der Flucht von Döbeln nach Leipzig. Das Wort Vergewaltigung kam ihr nicht über die Lippen. Erst auf meine konkrete Frage, ob sie wie tausend andere Mädchen, Frauen und Greisinnen vergewaltigt worden sei, antwortete sie nach längerer Pause mit »Ja«. Wochen später sprachen wir erneut über die sexuellen Übergriffe, denen sie während der Flucht ausgesetzt war. Bei vielen Fragen wich sie aus, unterstrich aber erneut, wie sehr sie mit den Folgen dieser körperlichen Gewalterfahrung alleingelassen worden war. Nicht einmal bei ihrer Mutter, so klagte sie mir gegenüber, konnte sie liebevolle Zuwendung finden. Was blieb, war der Rückzug in sich selbst, eine Form der Einsamkeit, an der sie seit Jahrzehnten litt. Hinzu kam das faktische Alleinsein. In all den Jahren ihrer Ehe hatte sie sich mit der häufigen Abwesenheit ihres Mannes arrangieren müssen. Daran hatte sich selbst jetzt so gut wie nichts geändert. Ihr Mann flog montags nach Berlin und kam meist freitags zurück. Die Spendenaffäre nahm ihn voll in Anspruch. In mehreren vertrauten Kreisen bereitete er sich auf seine Vernehmungen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss vor. Er konnte sich auf sein Berliner Büro verlassen und hielt auch enge Kontakte zu ehemaligen Ministern, Staatsministern und Staatssekretären, deren Rat er besonders schätzte. Ganz wichtig für ihn wurden jetzt Rechtsanwälte, mit denen er ständig telefonierte und sich eng abstimmte. Im Mittelpunkt der Bemühungen stand dabei, eine Vorbestrafung des Altkanzlers zu verhindern. Das gelang denn auch mit riesigem Kraftaufwand – die Zahlung des bereits erwähnten beträchtlichen Bußgelds war die einzige »Strafe«. Für Helmut Kohl gab es also genügend gute Gründe, seine Zeit hauptsächlich in Berlin zuzubringen.

Die beiden Söhne arbeiteten und lebten nicht mehr in der Nähe ihres Elternhauses. Persönliche Besuche bei der kranken Mutter in Ludwigshafen waren nicht immer möglich. Kontakte erfolgten aber regelmäßig telefonisch, bei denen sich Hannelore generell zurücknahm und Weinerlichkeit vermied, aber die Söhne wussten auch so, wie es der Mutter ging. In dieser äußerst schwierigen Lebensphase gewann ihr Freundeskreis an Bedeutung. Auch wenn Hannelore den Freundinnen gegenüber die Dramatik der Erkrankung lange heruntergespielt hatte, war diesen längst klar, wie verzweifelt sie war und wie sie von Woche zu Woche mehr litt.

Hannelores Freundeskreis bestand aus Frauen, die, was Herkunft, Bildung und Beruf anging, unterschiedlicher nicht sein konnten. Seit Jahren zählten sie zu ihren verlässlichsten Stützen. Schon früh hatte Hannelore lernen müssen, mit Einsamkeit zurechtzukommen, Mittel und Wege zu finden, um ihr Alleinsein zumindest zu lindern. Das gelang ihr, indem sie alte Freundschaften wieder aufleben ließ, neue initiierte. So war es, wie schon erwähnt, Hannelore Kohl gewesen, die Klassentreffen vortrefflich organisierte, egal ob im Kanzlerbungalow oder an anderen Orten. Zum engmaschigen Netz ihrer Freundinnen gehörten zwei Mitabiturientinnen, mit denen sie seit der Gymnasialzeit eng verbunden war, auch wenn es Phasen von Unterbrechungen gab. Annegret Helling ist eine der beiden. Die Eltern der Textilingenieurin und Mutter von drei Kindern stammten aus Sachsen und waren bei Hannelore allein schon wegen ihres souverän beherrschten sächsischen Dialektes außerordentlich beliebt. Schon als Schülerin in Ludwigshafen war sie gern gesehener Gast in Annegrets Elternhaus. Jetzt spielte Annegret bis wenige Tage vor Hannelores Tod eine wichtige Rolle. Sie kam häufig nach Ludwigshafen und tröstete ihre frühere Mitschülerin in ihrem tiefen Schmerz wegen der Lichtallergie. Gleiches gilt für Ursel Schönig aus Bruchsal, die wie Hannelore einst zu den Jüngsten in der Gymnasialklasse gezählt hatte. Auf die studierte Übersetzerin für Englisch und Französisch, verheiratet mit einem Zahnarzt und Mutter von zwei Söhnen, war Verlass. Auch sie ließ Hannelore in ihrer schwersten Lebensphase nicht im Stich. Auch sie zählte zu jenen Freundinnen, die ihr bis zum Schluss beistanden.

Zu Hannelores Freundschaftsnetz, das sie vor vielen Jahren zu flechten begonnen hatte und Jahrzehnte liebevoll pflegte, zählte auch die Leipzigerin Rena Krebs. Die beiden Kriegskinder aus Leipzig verband seit Kindertagen eine besonders innige Freundschaft. Rena, mit einem Arzt verheiratet und selbst psychologisch geschult, war Hannelore eine wichtige Stütze. Sie kannte eine Reihe namhafter Ärzte, die immer wieder konsultiert wurden, und war in medizinischen Fragen eine kompetente Ansprechpartnerin. Für Hannelore war sie unverzichtbar.

Ursula Fischer aus Speyer, Dolmetscherin mit internationalen Erfahrungen bei der BASF, spielte im Netz der Freundinnen ebenfalls eine herausragende Rolle. Als ehemalige Arbeitskollegin kannte sie Hannelores Lebensweg seit den Fünfzigerjahren, hatte nie den Kontakt zu ihr verloren und begleitete sie auch in den letzten Monaten vor ihrem Tod in vorbildlicher Weise.

Ganz in Hannelores Nähe lebte Anneliese Wiß und war allein deshalb zu jeder Zeit abrufbar. Die Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter war seit vielen Jahren verwitwet und wusste selbst, was es bedeutet, allein zu sein. Sie gehörte zu den entscheidenden Stützen und war die letzte Besucherin, die Hannelore vor ihrem Tod gehabt hatte. Freundin Anneliese war immer dann zur Stelle, wenn sie dringend gebraucht wurde, wenn Hannelore Hilferufe aussandte und ihre Verzweiflung schlimme Formen annahm.

Helga Massa, selbstständige Immobilienkauffrau aus Frankenthal, war die Jüngste in Hannelores Freundschaftsnetz. Die außerordentlich hübsche, sehr gepflegte und erfolgreiche Unternehmerin, die im März 2011 verstarb, hatte Hannelore vor langer Zeit überredet, Mitglied im Ludwigshafener »Zonta Club« zu werden, der weltweit gezielt Projekte finanziell und ideell unterstützt. In diesem internationalen Frauenclub, der damals rund fünfzig Mitglieder allein in Ludwigshafen zählte und sich die Verbesserung der Lebensqualität von Frauen zur Aufgabe gemacht hat, fühlte sich Hannelore Kohl außerordentlich wohl. Wann immer sie konnte, kam sie jeden dritten Dienstag im Monat zum gemeinsamen Treffen ins »Europa Hotel«. Aber auch privat sahen sich die beiden Frauen häufig. In der Wohnung des Ehepaars Massa konnte Hannelore entspannen, sich gehen lassen und frei von der Leber weg reden. Freundin Helga überbrückte durch ihre Gegenbesuche im Bungalow manche langen Stunden der Einsamkeit. Auch auf diese Freundin war hundertprozentig Verlass, als es Hannelore in ihrer letzten Lebensphase fürchterlich schlecht ging.

Eine weitere enge Bezugsperson war Irene Ludwig, ein ehemaliges Model und bis zu ihrer Pensionierung in der Modebranche selbstständig tätig. Seit Ende der Sechzigerjahre kannten sich die beiden Frauen, aus einer Urlaubsbegegnung wurde Freundschaft. Später begleitete die inzwischen verwitwete Irene Hannelore regelmäßig in die Privatklinik am Tegernsee. Irene Ludwig schätzte die Charakterstärke der Freundin, ihre Disziplin, ihr hohes Maß an Intelligenz und ihren Mut. Mut, sich für andere einzusetzen, sich in den Dienst einer Sache zu stellen.

Während eines gemeinsamen Kuraufenthaltes hatte es einmal eine akute Bedrohungssituation gegeben. Die Kanzlergattin gehörte zu den Prominenten, die hier Ruhe und Erholung suchten und von fachlich versierten Ärzten und kompetentem Pflegepersonal betreut wurden. Zu den langjährigen Gästen gehörten unter anderem Berthold Beitz, Zarah Leander, der frühere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, Ruth Leuwerik, Peter Frankenfeld, Walter Scheel und Peter Alexander. An jenem Tag mussten Patienten und Personal das Haus verlassen. Hannelore folgte der Aufforderung nicht. Sie schnappte sich einen Polizeihund, raste mit ihm durch das gesamte Gebäude, setzte sich anschließend ganz allein mit dem Hund in den Speisesaal und meinte gegenüber der Polizei, jetzt könne die Bombe losgehen. In diesem Vorfall kommt ein gewisser Fatalismus, eine gewisse Lebensmüdigkeit zum Ausdruck.

Die Düsseldorferin war jene Freundin, die Hannelore bis drei Tage vor ihrem Selbstmord in Ludwigshafen besucht hatte. Noch heute macht sie sich Vorwürfe, nicht länger bei ihr geblieben zu sein. Irene Ludwig gehört zu den zwanzig Empfängern, denen Hannelore einen Abschiedsbrief schrieb. Unter dem Datum »heute« steht zu lesen: »Liebe Irene, es ist sehr schwer, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Ich danke Dir für Deine Freundschaft und Deine Hilfe, für gute Worte und Vertrauen in guten wie in schlechten Tagen. Behalte mich in Deinem Herzen. Deine Hannelore.«

Hannelore brachte ihre Freundinnen nie zusammen, sie pflegte Individualfreundschaften. Jede Freundin hatte ihren eigenen, ganz besonderen Draht zu Hannelore. Erst aus Anlass ihrer Beisetzung lernten sie sich flüchtig kennen.

Auch deshalb kannte so gut wie niemand Christine Esswein, wohl die Einflussreichste im Netz von Hannelores Freundinnen. Die Witwe eines erfolgreichen Karlsruher Bauunternehmers war eine zentrale Figur im Leben der Hannelore Kohl. Die sieben Jahre ältere Christine Esswein soll eine der schönsten Frauen Deutschlands gewesen sein und über gesellschaftliche Kontakte verfügt haben, die weit über die Bonner Parteigrenzen hinausgingen. Als ihr Ehemann 1971 starb, führte sie das Bauunternehmen weiter, das damals zu den führenden mittelständischen Unternehmen seiner Art in Baden-Württemberg gehörte. Die seit 1988 als Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutschland im Fürstentum Monaco wirkende Unternehmerin engagierte sich im künstlerischen, wissenschaftlichen und sozialen Bereich. Hannelores Freundin saß in mehreren Stiftungen und wurde für ihr Engagement mit höchsten Orden ausgezeichnet. Seit 1973 verfügte sie über einen Zweitwohnsitz in Monaco, und nach Gründung des »Internationalen Deutschen Clubs des Fürstentums Monaco« wurde sie schon bald seine Präsidentin. Hannelore Kohl war von dieser Frau begeistert, von ihrer Lebensweise, ihrer Art und ganzen Attitüde. Viele Male verbrachte die Kanzlergattin Zeit mit ihr in Monaco, reiste mit ihr und genoss die gemeinsamen Unternehmungen. Untadelig in Auftreten und Stil, gehörte Christine Esswein zu den ganz wenigen Menschen, deren Rat Hannelore blind vertraute. Eine gewisse Ähnlichkeit in den Lebensstrukturen verband sie besonders. Mit niemandem sonst tauschte sich Hannelore so intensiv und so häufig aus wie mit der erfolgreichen Unternehmerin, deren Eigenständigkeit die Freundin faszinierte. Die sehr vermögende Christine Esswein behauptete sich erfolgreich im Beruf und pflegte einen Lebensstil, den Hannelore bewunderte, mochte und an dem sie mit Genuss und Freude teilhatte, wenn sich die beiden sahen. Die Frauen tauschten sich intensiv über alle Fragen und Probleme aus, die Hannelore beschäftigten. Die Freundin aus Karlsruhe war sicher auch Beraterin in Geschmacksfragen, in denen Hannelore zeitweise etwas festgefahren war. Bei Christine, die über große Menschenkenntnis verfügte, konnte Hannelore ihr Inneres öffnen, sich ausweinen und klagen, was sie sonst nicht tat. Im Hause Esswein hatte sie das Gefühl, aus sich herausgehen und endlich mal sie selbst sein zu können. Sie konnte Spaß haben ohne Ende und viel lachen, was ihr sonst nicht immer leichtfiel. Die gemeinsame Zeit mit Christine Esswein war für Hannelore jedes Mal wie ein Jungbrunnen, von dem sie lange zehrte. Wenige Tage nach ihrem 70. Geburtstag, zu dem die gesamte Familie Kohl erschienen war und zu dem die Großen der Republik aus Kunst und Wissenschaft, aus Wirtschaft und Industrie nach Karlsruhe geeilt waren, erlitt Hannelores lebenslustige Freundin überraschend einen Schlaganfall, von dem sie sich nie mehr erholte.

Eine enge Freundin von Christine Esswein, die ihr bis zum Tode ganz nahe stand und sie als eine der ganz Wenigen oft in der Privatklinik am Tegernsee besuchte, war die Sopranistin Edda Moser. Hannelore hatte die große Sängerin und namhafte Mozart-Interpretin Ende der Achtzigerjahre im Hause Esswein kennengelernt. Hannelore bewunderte Edda Moser, die mit Können und Disziplin eine bemerkenswerte Karriere durchlaufen hatte. Neugierde auf beiden Seiten und Edda Mosers Verehrung für den Kanzler der Republik legten den Grundstein für eine Freundschaft. Wenn Hannelore einmal einen Menschen in ihr Herz geschlossen hatte, dann war sie eine treue Seele. Es war stets Hannelore, die sich regelmäßig telefonisch bei der in Berlin geborenen Künstlerin meldete und Verabredungen traf. Die einst von Hans-Werner Henze und Herbert von Karajan entdeckte Sopranistin erzählte Hannelore gerne von ihrem bewegten Künstlerleben, das diese außerordentlich faszinierte. Auf großes Interesse stieß auch Edda Mosers Tätigkeit als Professorin für Gesang an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln sowie als Leiterin internationaler Meisterkurse. Würde Hannelore noch leben, wäre sie sicherlich ständiger Gast des »Festspiels der deutschen Sprache« im historischen Goethe-Theater von Bad Lauchstädt, das Edda Moser im Jahr 2006 initiierte. Die bekannte Künstlerin gehörte zwar nicht zum harten Kern in Hannelores Freundschaftsnetz. Gleichwohl bedeutete ihr die Ausnahmekünstlerin eine ganze Menge; sie schätzte neben Mosers künstlerischer Virtuosität vor allem ihre menschlichen Qualitäten und ihre große Fürsorglichkeit.

Von anderer Qualität war die enge freundschaftliche Beziehung zu der Österreicherin Adele Sungler. Die beliebte Heimatdichterin und viel gelesene Autorin historischer Werke war nicht nur zur Urlaubszeit in Sankt Gilgen eine beliebte Gesprächspartnerin und Begleiterin für unzählige Unternehmungen in der Region Salzburg. Mit Adele ging Hannelore shoppen, ins Theater, in Konzerte. Die um viele Jahre ältere Freundin erhielt vor allem während der ungeliebten Urlaubswochen Einblick in vieles, was Hannelore überhaupt nicht passte, wozu sie sich gezwungen fühlte und was sie hasste wie die Pest. Dazu zählten an erster Stelle die zahllosen Fototermine des Ehepaars Kohl. Für die Presse musste Hannelore liebevoll Tiere streicheln und die zufriedene Ehefrau mimen. Dabei konnte von einer glücklichen Familienidylle längst keine Rede mehr sein.

Zu erwähnen ist schließlich noch die in Frankreich lebende Deutsche Anke de Scitivaux, die viele Jahre als Producerin und rechte Hand von Peter Scholl-Latour im ZDF-Studio Paris arbeitete. Zu ihrer Zeit als First Lady von Rheinland-Pfalz war Hannelore ihr gern gesehener Gast. Die beiden Frauen pflegten eine Freundschaft, die auch zu gemeinsamen Urlauben führte. In einer Mail begründete Anke de Scitivaux ihre Absage, mir als Zeitzeugin für ein Interview zur Verfügung zu stehen. Gleichwohl war sie bereit, einige Zeilen über Hannelore zu formulieren: »In ihrer Doppelrolle für Außenstehende vielleicht nicht immer erkennbar, war sie in ihrer Freundschaft von außerordentlicher Präsenz, Treue und großer Fürsorge. Sie war eine kluge Frau, die es verstand, mit Worten Wunden zu heilen, die leise Töne liebte und das Warten-Können beherrschte, die sich mit kritischen Situationen arrangieren und emotionale Krisen relativieren konnte, die stets – obwohl selbst sehr verwundbar – Stärke zeigte. Ich habe sie bewundert, ich habe sie geliebt. Es war ein großes Glück, sie zu kennen und sie wird mir unvergesslich bleiben.«

In den Monaten vor ihrem Tod setzte Hannelore fast nur noch auf ihr Freundschaftsnetz. Sie organisierte generalstabsmäßig Besuche einzelner Freundinnen in Ludwigshafen oder fuhr spontan und sehr kurzfristig spätabends oder in der Nacht zu ihnen. Dank ihres großen Organisationstalents war sie in den schweren Wochen und Monaten ihres gesundheitlichen Angeschlagenenseins praktisch kaum noch allein. Größere Reisen waren zwar nicht mehr möglich, aber Kurztrips zur nächtlichen Stunde vor allem in den Umkreis waren bei Hannelore sehr beliebt. Geschickt nutzte sie die Freizeit und die Mobilität ihrer Freundinnen. Sie bat regelmäßig, ja sie bettelte um Besuche in Oggersheim. Das Telefon war ihr wichtigstes Kommunikationsmittel in diesen schweren Monaten und der unverzichtbare Zugang zur Außenwelt. Tag für Tag, oft mehrere Tage an einem Stück, hielten sich Freundinnen abwechselnd in Ludwigshafen auf, erlebten die abgedunkelten Räume, die abgesenkten Raumtemperaturen. Diese bedrückenden Umstände waren oftmals kaum auszuhalten – aber für alle eine Herausforderung, die klaglos bewältigt werden musste. Die Freundinnen berichten übereinstimmend über stundenlange Spaziergänge im Dunkeln, über nächtliches Schaufenstergucken in Mannheim oder Heidelberg. Dort gab es auch zwei Restaurants, die die Frauen hin und wieder besuchten, da die Tische dort nur mit schwachem oder indirektem Licht beleuchtet wurden. Eine Reservierung sicherte einen verträglichen Platz zum späten Abendessen. Diskutiert wurde niemals über Politik, niemals über den Mann an ihrer Seite und schon gar nicht über dessen Verfehlungen in der Spendenaffäre. Darüber schwieg sich Hannelore ebenso beharrlich aus, wie über die anderen Dinge, die ihre Seele belasteten. Für alle offensichtlich war indes, wie es gesundheitlich um sie bestellt war. Die Freundinnen erlebten hautnah, wie sehr Hannelore durch die Krankheit in ihrem Leben eingeschränkt war, wie viele Tabletten sie schlucken musste, um ihre Schmerzen zu lindern.

Zur Überraschung ihrer Freundinnen las Hannelore bei den gemeinsamen Treffen oftmals Gedichte vor, die aus ihrer Feder stammten und die sie seit Jahren aufschrieb. Es waren Gedanken und Erinnerungen, Alltagsgeschichten über Menschen, die sie gut kannte, über Freundinnen und Freunde. Stundenlang konnte Hannelore aus diesem kleinen, von einem Gummiband zusammengehaltenen Buch rezitieren. Viele ihrer Freundinnen waren verblüfft, dass sie solch schriftstellerische Talente besaß und sprachlich so versiert war. Ihre Verzweiflung indes, ihre Schmerzen, ihre Einsamkeit, ihre Traurigkeit und auch ihre starke Eifersucht thematisierte sie nie – weder schriftlich noch mündlich. Lieber lenkte sie sich beim gemeinsamen Kartenspiel ab, dem sie stundenlang leidenschaftlich frönen konnte. Dabei entwickelte sie einen enormen Ehrgeiz, den sie offenbar von ihrer Mutter geerbt hatte. Hannelore war keine gute Verliererin, spielte auf Risiko und wurde in der Regel dafür belohnt. Auch die gewieftesten Kartenspielerinnen unter ihren Freundinnen hatten so gut wie keine Chance gegen sie.