Kapitel 8

HÖHEN UND TIEFEN

Zu Beginn der neuen Legislaturperiode wurde das übliche Ritual der Koalitionsverhandlungen über ein zukunftsorientiertes Regierungsprogramm abgespult. Kanzlerwahl und Kabinettsvereidigung – das beobachtete und begleitete die Kanzlergattin zum dritten Mal mit abnehmendem Interesse. Staatsbesuche im Ausland, Staatsgäste in der Bundesrepublik, für Hannelore war das Meiste inzwischen Routine. Sie kannte die amtierenden Staats- und Regierungschefs, freute sich auf manche Besuche, sah anderen kritisch entgegen. Kohls Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei, seine Liebe zu den sogenannten Kohlianern und seine Abneigung gegenüber den Kohl-Gegnern innerhalb und außerhalb des CDU/CSU-Milieus teilte Hannelore in gleicher Weise. Gelegentliche Abweichungen führten zu anstrengenden Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Aber im Grunde blieb alles beim Alten: Hannelore stellte sich weiterhin komplett in den Dienst ihres Mannes.

Einen guten Teil ihres Selbstverständnisses zog sie aus ihrem nicht nachlassenden Engagement als Präsidentin des Kuratoriums ZNS. Die längst schon traditionellen Benefizkonzerte mit Sandra Schwarzhaupt in Köln oder »Up with People« in Bonn, die dortige Opern-Gala und die Goldberg-Gala in Berlin gingen weiter. Der Berliner Juwelier David Goldberg veranstaltete für das Kuratorium ZNS seit 1987 bis Ende der Neunzigerjahre an verschiedenen Orten Berlins Bälle, deren Einnahmen dem Kuratorium zuflossen. Dieser Mäzen sorgte nicht nur für ein gesellschaftliches Ereignis, sondern gehörte zu den eifrigsten Spendern und Spendeneintreibern. Im Mannheimer Rosengarten fand der alljährliche »Ball der Sterne« mit vielen Stars und viel politischer Prominenz statt. Auf dieser Veranstaltung präsentierte sich eine schlagfertige, witzige und unterhaltsame ZNS-Präsidentin. Ohne den Hauch von Lampenfieber war sie ganz in ihrem Element und warb mit neuen Ideen und Überzeugungskraft Spenden ein. Auftritte wie diese waren Highlights in ihrem Leben, Höhen in einem oft grauen Alltag.

Mit tiefer Zufriedenheit reagierte sie auch auf die Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 20. Juli 1991, der mit 338 gegen 320 Stimmen für Berlin als künftigen Sitz von Regierung und Bundestag votiert hatte. Bis zuletzt hatte sich das Ehepaar Kohl mit Äußerungen zu dieser wichtigen Entscheidung zurückgehalten. Dass der Kanzler schließlich mit Herz, Verstand und großer Leidenschaft für den Berlin-Beschluss votierte, entsprach ganz und gar der Überzeugung seiner Frau. Niemals hätte Hannelore ihrem Mann verziehen, wenn er wie Norbert Blüm, Johannes Rau und viele andere prominente West-Politiker für Bonn als Regierungssitz plädiert hätte.

* * *

Bei aller Distanz zur Sowjetunion und auch zum Ehepaar Gorbatschow berührte der Abschiedsbrief des zurückgetretenen Präsidenten im Dezember 1991 Hannelore sehr. Die Kanzlergattin wusste von ihrem Mann, dass Raissa sich am Ende der Ära Gorbatschow notwendigen Änderungen in der kommunistischen Partei verschlossen hatte. Raissa Gorbatschowa war dann für ihren Mann in dieser schwierigen Zeit eine miserable Ratgeberin. Gleichwohl wusste die Kanzlergattin die Verdienste Gorbatschows um die deutsche Einheit zu würdigen. Er hatte die Dankbarkeit aller Deutschen verdient. Der Abschiedsbrief, der zu ihrer Überraschung auch an sie gerichtet war, rührte sie zu Tränen. In den Memoiren von Helmut Kohl wird dieser Brief so zitiert: »Ich trete als Präsident der UdSSR zurück. … In diesem für mich nicht einfachen Moment denke ich daran, was wir gemeinsam mit Dir geleistet haben. Die Vereinigung Deutschlands – das ist ein großes Ereignis der Weltgeschichte und der neuen Weltpolitik. Und dass wir mehr als andere dazu beigetragen haben, bleibt, so hoffe ich, im Gedächtnis der Völker. Ich möchte, dass die deutsch-sowjetischen Beziehungen sich auf dem Fundament des großen Vertrages gut entwickeln. Raissa und ich wünschen Dir und Hannelore, Deiner ganzen Familie, Gesundheit, Wohlergehen und Glück. Dein Michail.«

Neben dem Abschied dieses wichtigen Mannes und späten Freundes brachten die folgenden Monate eine weiter Zäsur. Hannelore horchte auf, als Bundesaußenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher um seine Entlassung aus dem Bundeskabinett bat. Der Duzfreund ihres Mannes hatte in ihren Augen den richtigen Zeitpunkt für seinen Abgang gewählt, und Hannelore hoffte, ihr Mann würde es ihm über kurz oder lang gleichtun. Das Gegenteil war der Fall. Am Wochenende musste sie zur Kenntnis nehmen, dass ihr Mann über Genschers Schritt alles andere als glücklich war und im Hinblick auf die Bundestagswahl 1994 sein Unverständnis äußerte. Damit war für sie klar, ohne dass er es ausdrücklich erwähnte, dass ihr Mann nicht im Traum daran dachte, auf eine erneute Wiederwahl zu verzichten. In diesem Augenblick zerplatzte die Illusion von einem Leben ohne Politik.

* * *

Im Februar 1993 war es zu einer dramatischen Wende im Leben der Hannelore Kohl gekommen. Nach ersten Anzeichen einer beginnenden Erkältung ließ sie sich ein Medikament verschreiben, das zu einer Penicillingruppe gehörte. Nichts ahnend, so die Version der Familie in der Peter Kohl-Biografie, schluckte sie die Tabletten, obwohl bekannt war, dass sie kein Penicillin vertrug. Fortan litt sie nicht nur unter der Empfindlichkeit gegen Licht, sondern auch an Atemnot.

Seit Ausbruch ihrer schweren Krankheit – über die noch eingehend zu berichten sein wird –, nahm Hannelore erstmals wieder an einem Empfang in Bonn teil. Diesmal galt er dem neuen Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin und dessen Frau Naina, die zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik weilten. Hannelore ging es miserabel, sie litt unter Atemnot, konnte kaum sprechen und war so geschwächt, dass sie ein Krankenhaus in Bonn aufsuchen musste. Am nächsten Tag hatte sie sich immerhin so weit erholt, dass sie am weiteren Besuchsprogramm teilnehmen konnte: Mittagessen im pfälzischen »Deidesheimer Hof«, Besichtigung des Doms zu Speyer mit anschließendem Orgelkonzert. Am Nachmittag gab es im Privathaus in Ludwigshafen Kaffee und Kuchen für das Ehepaar aus Moskau. Im Gegensatz zu Raissa Gorbatschowa mochte Hannelore die promovierte Mathematikerin Naina Jelzina. Doch mit dem robusten und oftmals derben Kremlchef wurde Hannelore nicht warm. Russische Männer jedweden Alters waren ihr verständlicherweise schon aus Prinzip suspekt. Daran änderte sich auch diesmal nichts.

Zwei Monate später kam der amerikanische Präsident Bill Clinton zu einem offiziellen Staatsbesuch in die Bundesrepublik. Nach dem Bonner Begrüßungszeremoniell, den festlichen Veranstaltungen auf dem Petersberg, an denen auch Hannelore teilnahm, begleiteten die Kohls das Präsidentenpaar zusammen nach Berlin. Gemeinsam schritten sie in gehobener Stimmung durch das Brandenburger Tor. Bei wunderbarem Sommerwetter entstanden prächtige Fernsehbilder vom amerikanischen Staatsoberhaupt, dem Einheitskanzler und den beiden Ehefrauen. Der Staatsbesuch endete mit einem Essen im Ludwigshafener Bungalow. Hannelore respektierte zwar die zwölf Jahre jüngere Hillary, fand allerdings deren Einmischung in das politische Tagesgeschäft unangemessen. Die Amerikanerin verfügte über kein politisches Mandat und entwickelte dennoch großen Ehrgeiz, sich politisch zu exponieren. Hannelore empfand Hillarys Art als arrogant, das in ihren Augen übersteigert zur Schau gestellte Selbstbewusstsein war ihr fremd und stieß sie ab. Hannelores immerwährendes Lächeln bei den gemeinsamen Auftritten verriet indes nichts über ihre wahre Seelenlage. Sie beherrschte ihre Rolle formvollendet.

Hannelores körperliche Verfassung war damals alles andere als gut. Sie fühlte sich geschwächt und nicht wirklich in der Lage, in der Öffentlichkeit an der Seite ihres Mannes aufzutreten. Doch die Teilnahme an einem Termin wollte sie sich keinesfalls nehmen lassen – die offiziellen Feierlichkeiten zur Verabschiedung der Westgruppe der russischen Streitkräfte in Berlin am 31. August 1994. Wieder stattete der Präsident der Russischen Föderation gemeinsam mit seiner Frau der Bundesrepublik einen Besuch ab. Militärisches Zeremoniell, Festakt im Berliner Schauspielhaus mit großen Reden, Danksagungen und Freundschaftsbekundungen – politische Rituale, die auf die Kanzlergattin wenig Eindruck machten. Was für sie zählte, war etwas anderes. Dass es ihrem Mann nach jahrelangen schwierigsten Verhandlungen gelungen war, den Abzug der in der DDR so verhassten letzten sowjetischen Truppen zu erwirken, wertete sie als eine der größten politischen Leistungen ihres Mannes. Für Hannelore selbst war der endgültige Abzug der sowjetischen Soldaten eines der wichtigsten Ereignisse im Nachkriegsdeutschland. Der 31. August 1994 markierte für sie das eigentliche Ende des Kalten Krieges und der deutschen Teilung. Dieses Datum blieb ihr ins Gedächtnis eingemeißelt und schien ihr sogar wichtiger als der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. In seinen Memoiren mag Helmut Kohl noch so pathetisch über Hannelores Mitgefühl für die materiellen und menschlichen Probleme der heimkehrenden Soldaten schreiben. In Wahrheit erinnerte sie jeder russische Soldat in Deutschland an die traumatischen Erfahrungen während der Flucht 1945. ihre massive Abneigung trug sie wie eine Monstranz vor sich her bis zu ihrem Tod.

* * *

Das »Superwahljahr« 1994 konfrontierte Hannelore mit all den Dingen, die sie so gerne aus ihrem Leben verbannt hätte. Die Wahlkämpfe, die Unterstellungen der politischen Gegner, ihre Anklagen, die Besserwisserei, das angebliche Besserkönnen, den Kampf um Macht und Einfluss. Die Europawahl, acht Landtags- und neun Kommunalwahlen standen auf dem Programm. Und am Ende des ungeheuren Wahl-Marathons folgte die Bundestagswahl am 16. Oktober. Über 60 Millionen Bundesbürger waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Mehr als früher hatten Kohls Wahlkampfstrategen auf die Unterstützung durch Hannelore gesetzt, die sich aber aus gesundheitlichen Gründen nur auf die Teilnahme an den größten Wahlkampfauftritten ihres Mannes konzentrierte. Dennoch waren die Auftritte für sie psychisch und physisch wegen ihrer Krankheit extrem belastend. Mit preußischem Pflichtgefühl und unbändigem Durchhaltewillen leistete sie diese Kärrnerarbeit.

Die zweite gesamtdeutsche Bundestagswahl nach der Wiedervereinigung brachte erneut eine Bestätigung für die christlich-liberale Regierungskoalition. Dabei hatte die Opposition dem »Dauerkanzler« und »Dauerparteivorsitzenden« nichts mehr zugetraut. Auch diesmal musste die Kanzlergattin schlimme Diffamierungen ihres Mannes ertragen und Herabwürdigungen hinnehmen, die sie selbst nach Jahrzehnten im Politikbetrieb immer noch verletzten.

Mit der knappsten aller Mehrheiten schaffte es Kohl gerade noch einmal so. Bei der Wiederwahl zum Kanzler hatten mindestens drei Abgeordnete aus dem Regierungslager von CDU/CSU und FDP gegen ihn gestimmt. Hannelore und ihre Söhne, die das Geschehen von der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages verfolgten, zeigten sich erleichtert. Heute weiß man, dass Helmut Kohl abgewählt worden wäre, hätten nicht zwei sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete für ihn votiert. Ohne sie wäre er gescheitert.

Erneut in Amt und Würden, versprach Helmut seiner Hannelore, nicht mehr die ganze Legislaturperiode über im Amt zu bleiben. Er stellte ihr in Aussicht, nach der Hälfte der Zeit zurücktreten zu wollen. Hannelore nahm diese Äußerung mit Skepsis auf und hoffte dennoch auf das Einlösen dieses Versprechens. Sie setzte auf diese neue Zeit, ohne Stress und einen Sechzehnstundentag, eine Zeit mit mehr Entspannung, Genuss und Zweisamkeit. Die Chance auf eine Veränderung schien greifbar, zumal der Kanzler keinen Zweifel daran ließ, dass er in Wolfgang Schäuble seinen Nachfolger sah. Noch vor der Wahl 1994 hatte er im vertrauten Kreis Rückzugsgedanken geäußert und seinem Mitstreiter und Vertrauten, Bundesfinanzminister Theo Waigel, signalisiert, nach zwei Jahren seinem Nachfolger Platz machen zu wollen. Aber noch war Kohl im Amt – und Hannelore wie immer an seiner Seite.

Das erste Halbjahr 1995 stand ganz im Zeichen der Erinnerungen an das Jahr 1945, an das Ende des Krieges. Die beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehstationen ARD und ZDF strahlten herausragende Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg und sein Ende aus. In den Printmedien wurde gleichermaßen an die düsterste Zeit der deutschen Geschichte erinnert. Für Hannelore bedeuteten die Bilder von brennenden Häusern, flächendeckender Bombardierung und vom Flüchtlingselend die Erinnerung an die schlimmste Zeit ihres Lebens. Gerne hätte sie auf diese Art der medialen Erinnerungsarbeit verzichtet. Doch sie konnte sich den Augenzeugenberichten und persönlichen Rückblicken nicht entziehen. Die Dokumentationen über die entsetzlichen Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Hitler entfesselten Krieges ließen all das mühsam Verdrängte nach oben schwappen. Wieder und wieder wurde sie daran erinnert, dass der 8. Mai 1945 nicht nur für sie ein einschneidendes Datum war, sondern für Millionen von Menschen. Die einen erlebten ihn als Tag der Befreiung, die anderen als Tag der Niederlage und des Verlustes der Heimat. Auch nach fünfzig Jahren konnte es keinen Schlussstrich geben. Die deutsche Vergangenheit war Gegenwart, die Grausamkeiten des Krieges und die Verbrechen an den europäischen Juden gestatteten kein Vergessen. Dessen, und der besonderen Rolle, die Deutschland seitdem innehatte, war sich auch Hannelore bewusst. Gleichzeitig verhehlte sie nicht, wie groß ihre Sehnsucht war, unter die eigene Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen zu können. Doch an einer wirklichen »Bewältigung« scheiterte sie wie wohl viele Menschen der Kriegsgeneration. Bis zu ihrem Tod quälten sie Erinnerungen und Bilder der traumatischen Erlebnisse.

Am Abend des 8. Mai hatte Bundespräsident Roman Herzog ins Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin zu einem Staatsakt eingeladen. Die nach wie vor gesundheitlich stark angeschlagene Hannelore und ihr Mann begrüßten die politischen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland, die Vertreter der vier Siegermächte sowie zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland. Nach Beethovens Ouvertüre zu »Coriolan« sprach Roman Herzog. Er beschrieb die Schreckensszenarien des Krieges, nannte die Täter beim Namen und sprach von der besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber den Menschen gerade auch in Osteuropa und in Israel. Und dann sagte er wörtlich: »Millionen waren zu Krüppeln geschossen. Hunderttausende von Frauen wurden vergewaltigt. Der Geruch der Krematorien und der schwelenden Ruinen lastete über Europa.« Einen solchen Satz über vergewaltigte Frauen hatte man bislang noch nie aus dem Munde eines Spitzenpolitikers gehört. Ob ihr Mann neben ihr ahnte, was in diesem Moment im Inneren seiner Frau vor sich ging?

Höhepunkt des Festakts war die Abschiedsrede von François Mitterrand. Vom Krebs gezeichnet, bleich und zerbrechlich, berichtete er von seinen ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen mit den Deutschen und zeichnete eine Vision von Europa, die als Vermächtnis in die europäische Geschichte einging. Hannelore war ebenso wie ihr Mann derart berührt, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

* * *

Im Vorfeld des CDU-Bundesparteitages Mitte Oktober 1995 in Karlsruhe regte sich Unmut in der Partei. Das Politikmanagement des Kanzlers wurde kritisiert, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Heiner Geißler warnte die Partei, ausschließlich auf Helmut Kohls Popularität zu setzen. Seine Kritik gipfelte in der Bemerkung, die CDU dürfe keine »führerkultische Partei« werden, die sich nur an eine Person klammere. Ein Politiker aus der saarländischen Provinz forderte einen »umfassenden Erneuerungsprozess der Bundespartei«. Die CDU leide unter einem deutlichen Wähler- und Mitgliederschwund, ihr drohe die Vergreisung. Die Angriffe trafen nicht nur den Kanzler, sondern auch in besonderer Weise die immer dünnhäutiger werdende Hannelore. Gierig griff die Presse die Kohl-Kritik auf und sorgte für entsprechende negative Schlagzeilen über den Parteivorsitzenden. Als dann noch der amtierende Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Kurt Biedenkopf, mit einer Denkschrift unter dem Titel »Anmerkungen zur politischen Lage« an die Öffentlichkeit trat, fühlte sich Hannelore regelrecht beleidigt. Drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl sprach er sich offen gegen einen allein auf den Kanzler ausgerichteten Wahlkampf aus. Die Frage, ob Kohl überhaupt noch einmal antreten solle, wurde heftig diskutiert. Hannelore verfolgte wie selten zuvor die innerparteilichen Auseinandersetzungen und hoffte, dass ihr Mann die Signale erkennen würde und zur rechten Zeit seine Nachfolge klären würde. Im Hause Kohl wurde darüber allerdings ebenso wenig gesprochen, wie in der Runde des Kanzlers mit seinen engsten Mitstreitern und Beratern in Bonn.

ENTTÄUSCHUNGEN

Helmut Kohl war keineswegs beratungsresistent. In politischen Sachfragen zog er gerne Experten zurate und ließ sich von nachvollziehbaren Argumenten auch umstimmen. Der Kanzler war durchaus in der Lage, seine vorgefasste Meinung zu ändern und anderen Überzeugungen zu folgen. In Personalfragen allerdings überließ er engsten Mitarbeitern und Beratern nur dort das Feld, wenn sie aus seiner Sicht zweitrangig oder gar nebensächlich waren. Wenn es um hohe politische Ämter ging, um Machtabsicherung und Machterhalt, vertraute er nur seinen eigenen Gefühlen, seinem Instinkt, seinem Bauch. und wenn es um ihn selbst ging, kannte er keine Berater. Aus seinem unmittelbaren Umfeld kamen daher von vornherein keine Ratschläge mehr, die seine Person betrafen.

Was Helmut Kohl in der Mitte der Legislaturperiode tatsächlich zu tun beabsichtigte, bleibt sein Geheimnis. Ob und wann er vom Amt des Bundeskanzlers zurücktreten würde, welcher Zeitpunkt für Partei und Land aus seiner Sicht der richtige sein könnte, war für niemanden zu erkennen. Hannelore tappte genauso im Dunkeln wie alle aus dem verschworenen Kreis seiner engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hannelore wagte es auch nicht, ihren Mann darauf anzusprechen. Sie wusste genau, dass sie keine Chance hatte, seine Zukunftspläne zu ergründen, und schon gar nicht, diese mit ihm zu besprechen. In vergleichbaren Situationen hatte sie wichtige Karriereentscheidungen ihres Mannes aus Rundfunk, Presse und Fernsehen erfahren. Nur einige Male war sie wenige Minuten vor Bekanntgabe telefonisch von ihm über wegweisende Pläne und Entscheidungen informiert worden. Damit mussten sich Hannelore und ihre Kinder einfach abfinden. Helmut Kohls neuerliche Geheimniskrämerei über seine politische Zukunft – ob er bald einem Nachfolger Platz machen oder tatsächlich zur Bundestagswahl 1998 noch einmal antreten würde – war für Hannelore kaum zu ertragen. Sie hatte auf das Versprechen ihres Mannes gesetzt und mit seinem Abgang als Kanzler spätestens 1997, also ein gutes Jahr vor der Bundestagswahl, gerechnet. Die Unsicherheit, wie es weitergehen würde, belastete sie und war ihrer Gesundheit wenig zuträglich.

Am 3. April 1997 feierte der Pfälzer seinen 67. Geburtstag. Allein mit seinem Vertrauten, Butler und Fahrer Ecki Seeber beging er den Tag in jener Kurklinik in Bad Gastein, die er alljährlich aufsuchte, um sein Gewicht zu reduzieren. Öffentlich hatte er sich seit der Bundestagswahl 1994 nie mit einem klaren Ja oder Nein zur Frage einer erneuten Kanzlerkandidatur geäußert. Gegenüber Hannelore hatte er den Verzicht auf eine weitere Kandidatur zwar unmissverständlich formuliert, fortan aber eisern geschwiegen. Auch im Februar 1997 bereitete er dem Rätselraten um seine Absichten kein Ende, als er erklärte, er werde rechtzeitig zu einem Zeitpunkt, den er für richtig halte, seine Entscheidung, ob er 1998 wieder für das Amt des Bundeskanzlers kandidiere, bekannt geben. Mit fast 15 Jahren im Amt, hatte er länger als jeder andere Kanzler vor ihm das Land regiert. Alle Beobachter rechneten fest damit, dass er den Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur bald bekannt geben würde.

Doch dann kam alles anders. Es war genau an jenem 3. April, seinem Geburtstag, als er sein monatelanges Schweigen brach und seine erneute Kandidatur für die Bundestagswahl im Oktober 1998 ankündigte. Hannelore erfuhr die Neuigkeit aus den Fernsehnachrichten. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich auf einem Kuraufenthalt in einer Privatklinik am Tegernsee. In einem Fernsehinterview der ARD, das an Kohls langjährigem Kurort im österreichischen Bad Hofgastein aufgezeichnet worden war, antwortete ihr Mann auf die Frage, ob er auch eine fünfte Legislaturperiode anstrebe: »Ganz klares Ja, unter der Voraussetzung, dass meine eigene Partei und meine politischen Freunde dies so wollen.« Es sei ja keine einsame Entscheidung auf dem Olymp. Er habe sich das sehr genau überlegt, fügte er hinzu und unterstrich, mit seiner Familie alles abgesprochen zu haben. Eine glatte Lüge. Hannelore bekam einen seltenen Wutausbruch. Sie hatte fest mit einer anderen Entscheidung gerechnet und nun das. Dass ihr Mann vor laufender Kamera und ohne rot zu werden eine schlicht unwahre Behauptung in die Welt setzte, fand sie in höchstem Maße respektlos und kaum entschuldbar. Sie hörte schon gar nicht mehr hin, als er von der Verpflichtung sprach, die anstehenden Reformen im Steuer-, Renten- und Gesundheitsbereich durchsetzen zu wollen; überdies sehe er sich bei der Osterweiterung der NATO und auch bei den Verhandlungen um die Einführung des Euro in einer »Schlüsselposition«. Hannelore verstand die Welt nicht mehr. Noch am Vormittag hatte sie mit ihrem Mann telefoniert, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Spätestens an dieser Stelle hätte er seine Frau informieren, zumindest vorwarnen müssen. Es bleibt wohl Helmut Kohls Geheimnis, warum er nicht nur seiner Frau seine Absichten vorenthielt, sondern auch den hoch geachteten »Kronprinzen« Wolfgang Schäuble nicht vorab in Kenntnis setzte. Schäuble, für den sich damit alle Hoffnungen und Erwartungen zerschlugen, empfand jenen 3. April 1997 als Tag der Niederlage und Demütigung. Zwischen Kohl und ihm begann ein schleichender Entfremdungsprozess, der im Jahr 2000 zum völligen Zerwürfnis führte.

Was damals in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, was Helmut Kohl aber zur Begründung für sein Handeln später seinen engsten Mitstreitern, vor allem aber seiner Frau erläuterte, war folgendes: Einen Wechsel im Amt des Bundeskanzlers während einer Legislaturperiode konnten nur die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in geheimer Wahl vollziehen. Durch die äußerst knappen Mehrheitsverhältnisse war nicht gesichert, dass der Nachfolger auch ins Amt kommen würde. Kohl, der offenbar im Vorfeld sondiert hatte, hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass Wolfgang Schäuble bei einer solchen Wahl nicht alle Stimmen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP bekommen würde. Vor allem in der FDP hatten einflussreiche Politiker Kohl schon länger gedrängt, 1998 erneut anzutreten. In ihren Reihen gab es erhebliche Vorbehalte gegen einen Kanzlerwechsel während der laufenden Legislaturperiode. Außerdem gab es von liberaler Seite konkrete Warnungen an den Kanzler, dass einige FDP-Parlamentarier Wolfgang Schäuble auf keinen Fall wählen würden. Als Gründe wurden dessen konservative Überzeugungen in gesellschafts- und rechtspolitischen Fragen angegeben. Auch aus den Reihen der CSU hatte Kohl deutliche Signale gegen eine Schäuble-Wahl erhalten, bei denen vergleichbare Argumente ins Feld geführt wurden. Hinter vorgehaltener Hand gab es aus Kreis- und Ortsverbänden von CDU/CSU, aber auch von Mitgliedern der Parteispitzen Vorbehalte, ob Schäuble wegen seiner Behinderung dem Amt gewachsen war. »Ein Krüppel als Kanzler«, so die zynische Formulierung, das schien für manchen Unionsanhänger undenkbar. Helmut Kohl konnte sich darüber furchtbar aufregen. Für ihn war Schäuble ein brillanter Stratege und begnadeter Politiker, der eine eiserne Disziplin besaß, wenn es um die Erfüllung seiner Aufgaben ging. Den Mann im Rollstuhl hielt er für seinen einzig würdigen Nachfolger.

Über diese Probleme konnte der Amtsinhaber öffentlich nicht sprechen, er vermied es auch, mit seinem Kronprinzen unter vier Augen zu reden. Traute er nicht einmal seiner Frau absolutes Stillschweigen zu, oder warum sonst hätte er sie wohl so lange im Unklaren gelassen? Jetzt waren die Würfel gefallen, jetzt musste sich auch Hannelore auf eine neue Schlacht einstellen.

Es ist schmerzlich, dass bei all den berechtigten oder unberechtigten Überlegungen des Kanzlers zum möglichen Amtswechsel seine Frau keine Rolle spielte. Weit mehr als Privates, gar die Rücksichtnahme auf die von ihrer Lichtallergie deutlich gezeichnete Ehefrau, zählte Kohls Angst, sein politisches Vermächtnis könne Schaden nehmen. Er fürchtete vor allem um die geplante Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung. Der Familie blieb nichts anderes, als sich zu fügen. Nach der ersten Wut und Enttäuschung erkannte Hannelore, dass es zu der Entscheidung ihres Mannes zu dieser Zeit keine echte Alternative gab. Ähnliches galt für die Söhne. Einen solchen Vater zu haben, war eben etwas Außergewöhnliches, mit einem solchen Mann verheiratet zu sein, forderte beständiges Zurückstecken, weitestgehender Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben und nahezu eine gewisse Opferbereitschaft.

Wolfgang Schäuble hingegen wollte sich mit Kohls »selbstherrlicher« Entscheidung nicht abfinden und entschied sich zum Angriff. Die Umfragewerte der Unionsparteien konnten kaum schlechter sein, und viele in der Union sahen in Kohl den Schuldigen. Doch niemand hatte den Mut, den Kanzler offensiv von einer erneuten Kandidatur abzubringen. Überliefert ist, dass Schäuble, der nicht als Königsmörder dastehen wollte, Kohl in einem Vieraugengespräch mitteilte, er glaube nicht, dass die Bundestagswahl unter diesen Voraussetzungen noch zu gewinnen sei. Das würden alle Umfragen seit geraumer Zeit stützen. Daraufhin soll Kohl entgegnet haben, er sei da ganz anderer Meinung. Damit war die Diskussion beendet und der Bruch zwischen diesen beiden so erfolgreichen Bundespolitikern der Union besiegelt. Und es sollte noch schlimmer kommen.

Im Mittelpunkt der Wahlkampagne von CDU/CSU stand Kohl als »Staatsmann mit Führungskompetenz und Regierungserfahrung in Zeiten des Wandels«. SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder und seine Partei setzten ganz darauf, dass die Bevölkerung des »Dauerkanzlers« überdrüssig sei. Sie stellten Kohl als »Mann von gestern«, als »ewigen Kanzler« hin, dessen Zeit ebenso wie die seiner Regierung abgelaufen sei. »16 Jahre sind genug« war eine zündende Wahlkampfparole der Kohl-Gegner. Sechs Wochen vor der Wahl kündigte Kohl an, für den Fall einer Niederlage den CDU-Parteivorsitz abgeben zu wollen. Es schien, als hielte auch er einen Wahlsieg für kaum noch möglich. Trotzdem kämpften er und die Koalitionsparteien unverdrossen für den Erhalt der politischen Macht und hofften lange Zeit, noch einmal genügend Rückhalt von den Wählern zu bekommen.

Wie in allen Wahlkämpfen zuvor trug Kohl die größte Last der Kampagne. Und wie bei allen fünf Bundestagswahlkämpfen zuvor, engagierte sich die Frau an seiner Seite. Ohne Rücksicht auf ihr immer schlechter werdendes Befinden trat sie bei Großveranstaltungen auf, um für die Politik ihres Mannes zu werben. Ein letztes Mal spürte sie die Sympathie der Unionsanhänger und ihre positive Wirkung beim Wahlvolk. Dabei gab sie sich keinerlei Illusionen über den Wahlausgang hin. Die Wahlprognosen waren zuletzt derart ernüchternd ausgefallen, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, ihren Mann zum Rückzug zu überreden und Schäuble das Feld zu überlassen. Hannelore wollte die drohende Abwahl ihres Mannes verhindern. Doch warum sollte sie gerade jetzt auf ihn Einfluss haben, wenn er in den vergangenen Jahrzehnten doch alle Bitten und durchdachten Empfehlungen seiner Frau ignoriert hatte. Nach reiflicher Überlegung ließ Hannelore den Dingen ihren Lauf

Am 27. September 1998 votierten nur noch 35,1 Prozent der Wähler für die Unionsparteien. Eine Regierungsmehrheit zusammen mit der FDP kam nicht mehr zustande. Die Bundestagswahl brachte eine klare Mehrheit für die SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Helmut Kohl übernahm die Verantwortung für die schwere Niederlage seiner Partei und kündigte noch am Wahlabend seinen Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzenden an. Wolfgang Schäuble wurde sein Nachfolger. Selbst Kohl-Kritiker und ärgste Feinde bescheinigten dem Pfälzer einen würdevollen Abgang, einen staatsmännischen Rücktritt. Hannelore und die beiden Söhne mit ihren Partnerinnen waren in der schweren Stunde der Niederlage in Bonn. Die Stimmung war schlecht, für alle war es trotz der schlechten Prognosen eine schwere Enttäuschung. Hannelore, die Niederlagen ihres Mannes generell nur schwer verdauen konnte, hätte ihn nur zu gern vor diesem Wahldesaster bewahrt. Der Abschied von der Macht fiel Helmut Kohl sichtlich schwer. Bei der Amtsübergabe an seinen Herausforderer und Wahlgewinner Gerhard Schröder konnte er seine Tränen nicht verbergen. Helmut Kohl war nicht mehr Kanzler, nicht mehr Parteivorsitzender, aber wenigstens noch Ehrenvorsitzender der CDU. Er blieb Bundestagsabgeordneter und richtete sich auf ein neues Leben ein. Hannelore machte sich keine Illusionen darüber, dass dieses neue Leben ein Leben ohne Politik sein würde. Ihre angeblich durch die Penicillineinnahme hervorgerufene Lichtallergie bekam nach der verlorenen Bundestagswahl einen neuen Schub. Hannelore gab sich viel Mühe, nach außen hin ihr tatsächliches Leiden zu verschleiern. Ihre Arztbesuche nahmen zu, ebenso die Verzweiflung, weil sie für absehbare Zeit keine Verbesserung ihrer Lage erkennen konnte.

KRANKENAKTE

Seit ihrer Geburt hatte Hannelore Kohl gesundheitlich immer wieder kritische Phasen überstehen müssen und war nicht nur einmal dem Tod nahe. Da waren zunächst die unkalkulierbaren Risiken ihrer Frühgeburt gewesen, später der Kampf gegen Untergewicht und Mangelernährung. Bombenkrieg, Evakuierung und Flucht veränderten ihr Leben wie das Millionen anderer Menschen in dieser Zeit. Mit der mehrfachen Vergewaltigung und der damit offenbar verbundenen Verletzung des Halswirbels begannen für Hannelore Jahre seelischer und körperlicher Qualen, die bis zu ihrem Tod nicht enden wollten. Überliefert sind zahlreiche Krankheitsgeschichten seit Mitte der Sechzigerjahre. Nach einer harmlosen bakteriellen Infektion reagierte sie nach Einnahme von Penicillintabletten heftig allergisch. Helmut Kohl beschrieb diese Situation als hoch dramatisch: Hautrötungen am ganzen Körper, Ausschlag, Juckreiz und sogar Atemnot. Zum ersten Mal musste der damalige Ministerpräsident damit leben, dass seine Frau schwer angeschlagen über Wochen das Bett hütete. Fortan war ihre Penicillinallergie eine ganz wichtige, geradezu existenzielle Tatsache, die es bis zu ihrem Tod zu beachten galt. Von nun an verinnerlichten vor allem die Hausärzte Lösel und Gillmann das strikte Verbot, penicillinhaltige Medikamente jeglicher Art zu verschreiben. Alle Krankenhausärzte wurden vergattert, auf Hannelores Penicillinallergie zu achten

Hannelore war alles andere als ein Hypochonder. Ein Blick in ihre äußerst umfangreiche Krankenakte würde belegen, wie sehr sie sich immer wieder durch Unvorsichtigkeiten anderer Verletzungen und Schmerzen zuzog. Während Helmut Kohls Kanzlerschaft hatte sie immer wieder gute Gründe, wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen manche eigentlich zwingende Verpflichtung nicht wahrzunehmen. Nichts war simuliert, nichts erfunden, sondern entsprach den Fakten. Selbst die wenigen wirklichen Insider rätselten oft, warum sie ausfiel, warum sie Bonn fernblieb, warum sie fehlte. Es blieb ihr Geheimnis.

Am 17. Februar 1993 widerfuhr Hannelore Kohl ein Unglück, das sie für Jahre gesundheitlich beeinträchtigte und als dramatische Wende in ihrem Leben betrachtet werden muss. Bei den Vorbereitungen für eine gemeinsame Asienreise mit ihrem Mann spürte sie Anzeichen einer fiebrigen Erkältung. Als ein Tag vor dem Start der bisher längsten Auslandsreise des deutschen Kanzlers das Fieber eine kritische Grenze überschritt, musste sie handeln. Überliefert ist, dass sie ein Antibiotikum gegen eine bakterielle Infektion einnahm, das bei ihr eine schlimme körperliche Reaktion auslöste. Kohl-Sohn Peter beschreibt in seinem Buch detailliert, was dann passierte. Ausführlich beschäftigte sich auch Helmut Kohl in seinen Memoiren mit dieser nun beginnenden Tragödie. Die Kanzlergattin sah sich nach der Einnahme des Medikaments außerstande, ihren Mann auf der wichtigen Auslandsreise nach Indien, Singapur, Indonesien, Japan und Südkorea zu begleiten und bekniete ihn, auf keinen Fall ihretwegen die Reise abzusagen. Nachdem Helmut Kohl mit schlechtem Gewissen am 18. Februar 1993 nach Indien aufgebrochen war, wurde Hannelore zwei Tage später mit lebensbedrohlichen Symptomen in das Sankt-Marien-Krankenhaus in Ludwigshafen eingeliefert. Die allergischen Reaktionen auf das Medikament waren derart stark geworden, dass ihre Haut am ganzen Körper dunkelblau angelaufen war. Hannelore konnte kaum noch laufen und litt unter schrecklichen Schmerzen. Schon die kleinste Berührung sei ihr unerträglich gewesen. Vier Tage lang schwebte Hannelore zwischen Leben und Tod. Die behandelnden Ärzte und die rund um die Uhr aktiven Schwestern hatten nach übereinstimmenden Berichten den Glauben an ein Überleben ihrer Patientin verloren. Erst nach einer Woche, so die Erinnerung des Kanzlers, sei es langsam aufwärts gegangen. Laut Diagnose hatte Hannelore einen »lebensbedrohenden anaphylaktischen Schock mit nachfolgendem Lyell-Syndrom (Epidermolysis acuta toxica) durch das Antibiotikum Amoxicillin« erlitten. In der Folge kam es »fluktuierend zu geringer Hautsymptomatik, verbunden mit Glottisödem, Asthmaanfall und mannigfachen Körperbeschwerden bei Sonnenlichtexposition, später auch bei Kunstlicht und Wärme«.

Als Helmut Kohl vierzehn Tage später nach dem Ende seiner Asienreise ins Ludwigshafener Krankenhaus kam, war er entsetzt. Nach wie vor litt Hannelore unter extremen Hautproblemen, durch den Allergieschub hatte sie sämtliche Nägel und vor allem ihr blondes Haar verloren. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt und anschließender Kur zeigten sich weitere Auswirkungen der fatalen Medikamenteneinnahme. Sonnenlicht – später auch andere Lichtquellen – wurde für sie immer unverträglicher, ihre Haut reagierte mit Rötungen, Quaddelbildung und Juckreiz. Die Kanzlergattin war in ihrem Aktionsradius erheblich eingeschränkt, und diese Beeinträchtigungen zeigten sich vor allem bei Reisen im In- und Ausland. Von all diesen Handicaps erfuhr die Öffentlichkeit so gut wie nichts. Hannelores preußische Pflichtauffassung, ihre eiserne Disziplin und ihr ewiges Lächeln, selbst wenn es ihr alles andere als gut ging, überdeckten ihre angeschlagene Gesundheit.

Bis heute ist ungeklärt, wie es zu diesem Drama kommen konnte. Hannelore selbst hatte anfangs erzählt, sie habe einen befreundeten Apotheker gebeten, ihr entsprechende Medikamente gegen ihren grippalen Effekt vorbeizubringen. Kurz darauf kursierte jedoch eine andere Version, die den Hausarzt der Familie Kohl schwer belastete und von der Hannelores Mann und die beiden Söhne bis heute überzeugt sind. Demnach habe Dr. med. Heinz Lösel angeblich einen unverzeihlichen Fehler begangen. Obwohl gerade er seit Jahren von Hannelores Penicillin-Unverträglichkeit wusste und jeden Krankenhausarzt darüber aufklärte, soll er der Kanzlergattin aus Versehen ein Medikament verabreicht haben, das zur Penicillingruppe gehörte. Auch von einer Spritze des Hausarztes ist die Rede, die möglicherweise zu dem Drama geführt habe. Bis heute verweist Lösel auf seine ärztliche Schweigepflicht und lehnt jeden Kommentar zu diesem schlimmem Vorwurf ab. Im Gespräch gewinnt man aber den Eindruck, dass er sich absolut unschuldig fühlt. Nichtsdestotrotz stand für Hannelore wie für die ganze Familie fest, dass Heinz Lösel –natürlich nicht absichtlich – jene Tragödie verursacht hatte, die das Leben der Kanzlergattin nachhaltig veränderte und erheblich belastete. Das Drama führte zu Einschränkungen ihrer Lebensqualität und verhinderte eine Gesundung bis zu ihrem Selbstmord 2001.

Unmittelbar nach Helmut Kohls Rückkehr aus Asien wurde die Beziehung zum Hausarzt Lösel abrupt beendet. Der heute Dreiundneunzigjährige hat die aus seiner Sicht unwürdige Trennung nie überwunden und leidet seitdem stark unter dem Vorwurf, der Sündenbock zu sein.

Neueste Recherchen ergaben indes, dass nicht auszuschließen ist, dass der Arzt mit der Tragödie des Jahres 1993 tatsächlich nichts zu tun hatte. Fakt ist, dass Dr. Lösel viele Jahre zuvor eine Liste erstellt hatte, auf der präzise all jene Medikamente und Impfstoffe verzeichnet waren, die der Kanzlergattin wegen ihrer Penicillinallergie auf keinen Fall verabreicht werden durften. Exemplare dieser »Giftliste« waren im Hause Kohl ebenso deponiert wie in den Dienstwagen. Beide Chauffeure waren darüber informiert und wussten im Ernstfall, zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall, die Liste sofort zu präsentieren und jedem Arzt zu übergeben. Insider halten deshalb die Darstellung der Kohl-Familie für die nicht einzig denkbare. Dass sich nach dem vermeintlichen Kunstfehler des Dr. Lösel das Verhältnis zwischen ihm und Professor Gillmann, der die Familienversion stützt und weiterhin Kohl-Arzt blieb, nicht verbesserte, darf angenommen werden. Die Familie Kohl schloss sich jedenfalls der Überzeugung von Professor Gillmann an und trennte sich von ihrem jahrelang geschätzten Mediziner.

Nicht erst seit Hannelores Selbstmord 2001 gab es eine Reihe von Vermutungen, sie habe sich bereits 1993 etwas angetan. Sie habe sich das penicillinhaltige Medikament bewusst beigebracht, dies sei ihr erster Selbstmordversuch gewesen, so die Spekulationen. Diese wurden bei Freundinnen genährt, die sich zu erinnern glauben, den Satz gehört zu haben

»Ich tue mir etwas an, ich will nicht verreisen!« Lösel wurde umgehend ersetzt durch Professor Dr. Walter Möbius, Jahrgang 1937 und damals Chefarzt der Inneren Abteilung des Bonner Johanniterkrankenhauses. Er hatte den Kanzler im Vorfeld des berühmten Bremer CDU-Parteitags wegen seines Prostataleidens erfolgreich betreut. Von nun an kümmerte er sich auch um das neue Leiden der Kanzlergattin, in enger Abstimmung mit dem zweiten Hausarzt der Kohls, Professor Gillmann. Möbius sah von Anfang an einen Zusammenhang zwischen der allergischen Reaktion aus dem Jahr 1993 und der jahrelangen Lichtempfindlichkeit, die immer stärker wurde. In seinem 2008 erschienenen Buch »Menschlichkeit ist die beste Medizin. Ein Wegweiser für Patienten und Ärzte« heißt es wörtlich über seine prominente Patientin: »Auf jegliches Licht reagierte sie mittlerweile mit brennenden Schmerzen auf der Haut, Schmerzen im Brustbereich, Herzrasen und Asthmabeschwerden. Die Symptome ließen sich mit entsprechender Therapie zumindest zeitweise beheben, doch sie konnte sich in den folgenden Jahren draußen nur noch im Schatten dichter Bäume und in der Dämmerung aufhalten. Dieser Zustand, der sich in den letzten beiden Jahren ihres Lebens noch verstärkte, trieb sie in zunehmende Isolation. Niemand war in der Lage, Hannelore Kohl wirklich zu helfen, und sie begab sich auf Anraten ihres Hausarztes in eine Klinik am Tegernsee. Dort sollte eine Art Lichtdesensibilisierung durchgeführt werden. Eine Heilung konnte jedoch auch hier nicht erzielt werden.«

Von Hannelores tatsächlicher gesundheitlicher Lage erfuhr so gut wie niemand. Selbst enge Freundinnen hatten zunächst keine Ahnung. Die Kanzlergattin verwandte ungeheuere Disziplin darauf, ihre Probleme zu verbergen, zu klagen war ihr fremd. Sie setzte alles daran, ihre Krankheit zu verschweigen, sich selbst unter Stress und enormem Druck nichts anmerken zu lassen. Tatsächlich verließ sie immer häufiger nur noch in der Dämmerung das Haus, mied – soweit es ging –, das Tageslicht und führte zum Schutz gegen die Sonne einen Schirm mit sich.

Die in meinem Vorwort erwähnten Experten Reddemann und von dem Stein sehen in dieser dramatischen Wende im Leben der Hannelore Kohl eine Retraumatisierung. Wenn Körper und Psyche durch ein Urtrauma wie eine Vergewaltigung derart in Mitleidenschaft gezogen werden, sind psychosomatische Beschwerden irgendwann unvermeidbar. Auch namhafte Dermatologen bezweifeln heute die Diagnose des behandelnden Arztes Walter Möbius. Die schwere Arzneimittelreaktion, die in der Tat mit klassischen allergischen Reaktionen wie Blasenbildungen und vielem mehr einhergehe, erkläre allerdings nicht die späteren Beschwerden, die auch nicht als Reaktion auf den Vorfall des Jahres 1993 zurückgeführt werden könnten. Unverdrossen kämpfte Hannelore Kohl gegen die Auswirkungen ihrer Lichtallergie, verlegte ihre gesamten Aktivitäten auf den späten Abend oder in abgedunkelte Räume. Sie konsultierte eine ganze Reihe von Ärzten, verließ sich aber am liebsten auf die Empfehlungen der ihr vertrauten Mediziner Gillmann und Möbius. Befunde anderer Ärzte nahmen die beiden Mediziner zur Kenntnis, bewerteten sie und sprachen Empfehlungen aus, denen Hannelore in der Regel ohne weiteres Nachfragen folgte. Es gibt kritische Stimmen, die glauben, dass Hannelore Kohl auch deshalb an den beiden Ärzten festhielt, weil sie ihre Selbstdiagnose »Lichtallergie« stützten und nicht alles unternahmen, die Lichtallergie und ihre Folgen wirklich infrage zu stellen. Gillmann und Möbius wurden schon damals von mehreren namhaften Fachärzten, die Hannelore Kohl immer wieder aufs Neue konsultierte, darüber informiert, dass nach ihrem Befund die Krankheit, wenn sie denn eine Lichtallergie sein sollte, nicht mit letzter Sicherheit eine Folge der Tragödie aus dem Jahr 1993 sein könnte. Doch Hannelore und ihre beiden vertrauten ärztlichen Ratgeber überzeugten die Gegenargumente nicht und hielten sozusagen im Dreierpack an der einmal gestellten Diagnose fest: Lichtallergie.