Kapitel 6

PRÄSIDENTIN

Nach der vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983, die der Bonner Regierungskoalition eine komfortable Mehrheit beschert hatte, sah Hannelore Kohl Handlungsbedarf. Für sie war nun die Zeit gekommen, sich neben den Repräsentationspflichten verstärkt sozial zu engagieren. Längst hatte sie sich insgeheim dafür entschieden, Hirnverletzte zu unterstützen und ihnen zu besseren Heilungschancen zu verhelfen. Eigene Erfahrungen im engsten Familien- und Freundeskreis und vor allem ihre Tätigkeit als Schirmherrin des Fördervereins der Walter-Poppelreuther-Unfallklinik des Bundes Deutscher Hirngeschädigter in Vallendar bei Koblenz, die sie seit 1971 ausübte, hatten sie in ihrem Entschluss bestärkt. In ihrer Rolle als Frau des damaligen Ministerpräsidenten hatte sie diese Neurologische Rehabilitationsklinik durch ihre Unterstützung über die Grenzen des Landes Rheinland-Pfalz hinaus bekannt gemacht. Durch ihr Engagement hatte sie erfahren, dass Verletzungen des zentralen Nervensystems vor allem durch Unfälle im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz, im Haushalt oder beim Sport hervorgerufen wurden. Von den rund 270 000 Betroffenen waren im Jahr 2010 knapp die Hälfte unter 25 Jahren, darunter 35 000 Kinder unter fünf Jahren.

Wenige Tage nach der Wahl 1983 ergriff Hannelore die Initiative, um eine bundesweite Organisation zur Unterstützung Hirngeschädigter ins Leben zu rufen. Wie immer überließ sie dabei nichts dem Zufall. Sie brauchte die besten Experten der Republik, musste Menschen finden, die bereit waren, ihren Sachverstand für eine völlig neue Initiative einzusetzen. Sie holte sich vor allem Rat beim Ärztlichen Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Ludwigshafen, Dr. med. Werner Arens, den sie seit Jahren kannte und dessen Urteil sie sehr schätzte. Arens riet ihr, Professor Dr. Dr. Klaus Mayer, den Ärztlichen Direktor der Neuropsychologischen Abteilung und Neurologischen Poliklinik der Universität Tübingen in ihr Vorhaben einzubinden. Mayer gehörte damals zu den wenigen Forschern, die sich wissenschaftlich mit den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas und möglichen Reha-Maßnahmen beschäftigten. Der gebürtige Düsseldorfer hatte dazu zwei Memoranden abgefasst, in deren Mittelpunkt die Verbesserung der neurologischen Rehabilitation der Patienten stand. Genau in diese Richtung sollte auch Hannelores Initiative zielen. Die Kanzlergattin beließ es nicht bei Telefonaten, sondern vereinbarte einen baldigen Besuch bei dem prominenten Mediziner in Tübingen, an dessen Ende die Zusage des Forschers stand, Hannelores Bemühungen mit allen Kräften zu unterstützen. Aber bis die engagierte Kanzlergattin eine erlauchte Runde von Gründungsmitgliedern um sich versammeln konnte, sollten noch einige Monate vergehen. Am 21. Dezember 1983 wurde das »Kuratorium ZNS für Unfallverletzte mit Schäden des Zentralen Nervensystems« im Bonner Kanzlerbungalow gegründet. Neben Arens und Mayer hatte Hannelore den Bundesvorsitzenden des Bundes Deutscher Hirnbeschädigter (BDH), Karl Dahmen, für ihr Vorhaben gewonnen. Außerdem hatte sie den Schatzmeister und Justitiar des BDH von einer Mitarbeit überzeugen können. Zu den Gründungsmitgliedern zählte auch Robert Visarius, Leitender Direktor der Neurologischen Klinik in Vallendar. Schließlich konnte die Initiatorin den Kanzleramtsmitarbeiter Michael Wettengel überzeugen, als juristischer Berater das Kuratorium ZNS mit aus der Taufe zu heben. Gründungsmitglied ohne Funktion im Vorstand wurde Hannelores langjährige Kollegin und Freundin aus der gemeinsamen BASF-Zeit Maria Fischer. Auf der Gründungsversammlung wurde Hannelore Kohl zur Präsidentin des »Kuratoriums ZNS« ernannt. Der Anfang war gemacht, die Satzung verabschiedet, nun mussten Taten folgen.

Als Hannelore ihre Initiative der kritischen Bonner Presse vorstellte, reagierten die meisten Medienvertreter überrascht. Ihre Vorgängerin Loki Schmidt hatte sich mit ihrem »Kuratorium zum Schutz gefährdeter Pflanzen« einen Namen gemacht und damit bis zu ihrem Tod 2010 große Erfolge erzielt. Hannelore ging einen anderen Weg. Sich für »Bekloppte« – wie Betroffene oft abwertend betitelt wurden – einzusetzen, war lobenswert, aber nicht sonderlich populär. Dass sich das mit den Jahren änderte, war maßgeblich der Verdienst Hannelore Kohls. Als sie 2001 starb, verzeichnete die Buchführung rund 30 Millionen D-Mark Spendengelder auf dem Konto ihres Lebenswerkes für Unfallverletzte mit Schäden des zentralen Nervensystems.

Die frisch gebackene Präsidentin sah es nach der Gründung 1983 als ihre wesentliche Aufgabe an, um Spendengelder zu werben und mit ihrer Prominenz das lange Zeit tabuisierte Thema »Hirnverletzung« in die Öffentlichkeit zu tragen. Nachdem die Gründung des Kuratoriums reibungslos vonstattengegangen war, mussten nun noch weiteres Personal und vor allem Räumlichkeiten gefunden werden, um einen langfristigen Erfolg zu sichern. Hannelore ließ in der Bonner Regionalpresse eine Anzeige schalten, in der eine Büroangestellte für eine neu gegründete Organisation gesucht wurde. Die Bewerberinnen erfuhren erst bei ihrer Vorstellung beim Schatzmeister des Kuratoriums, um was es eigentlich ging. Eine Duisburgerin aus dem Rhein-Sieg-Kreis, Amalie Barzen, Mutter von vier Kindern, machte das Rennen. Seit März 1984 verfügte das Kuratorium auch über eine eigene Geschäftsstelle in der Bonner Humboldtstraße 30. In der ersten Etage eines wunderbaren Altbaus, der dem Bund Deutscher Hirngeschädigter (BDH) gehörte, mietete das Kuratorium eine 80 Quadratmeter große Wohnung an, die aus zwei Räumen und einer zusätzlichen Dachkammer bestand. Wenig später konnten zwei weitere Bürokräfte eingestellt werden. Für alle galt es zunächst, sich eine vollkommen fremde Welt zu erschließen und sich nach den Vorgaben der Gründungsmitglieder einzuarbeiten.

Die Präsidentin und ihre wichtigste Stütze Amalie Barzen begegneten sich von Anfang an »auf Augenhöhe«. Für das Kuratorium war sie ein großer Gewinn und fast 17 Jahre lang Teil eines äußerst erfolgreichen Teams, das getragen war von Loyalität und gegenseitiger Achtung. Hannelore verstand es außerordentlich gut, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren, ihnen Freiräume zu lassen und gleichzeitig hohe Anforderungen zu stellen.

Für den Aufbau des Kuratoriums ZNS war die Bestallung eines hauptamtlichen Geschäftsführers nach anfänglichen weniger guten Erfahrungen mit ehrenamtlichen Mitarbeitern unumgänglich. Der Präsidentin schwebte für diese wichtige Position ein pensionierter General vor. In einem Gespräch mit dem damals amtierenden Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner erfuhr sie, dass zwar kein General zur Verfügung stand, aber drei Oberstleutnants zur Auswahl empfohlen werden konnten. Hannelore war klug genug, diese wichtige Personalentscheidung nicht alleine zu fällen, sondern einige Gründungsmitglieder zu den Bewerbungsgesprächen hinzuzuziehen. Am Ende entschied man sich für Oberstleutnant Rolf Wiechers, der sich schon bald als ausgezeichneter Generalist erwies. Im Februar 1985 nahm der neue Mann, der bei der Bundeswehr unter anderem Chef einer Instandsetzungskompanie gewesen war und sich um die Entwicklung eines neuen Kampfpanzers gekümmert hatte, den Aufbau der Geschäftsstelle in Angriff. Hannelore und dem neuen Geschäftsführer ging es von Anfang an darum, neue Initiativen zur Langzeitbetreuung von Hirngeschädigten zu fördern. Zwar wurden viele Unfallopfer medizinisch gut erstversorgt, doch die zwingend notwendige spätere intensive Betreuung war kaum gewährleistet. Es gab so gut wie keine Reha-Kliniken. Hier Änderungen herbeizuführen, den Menschen, die oftmals aufgegeben wurden und für die kaum Aussicht auf Heilung bestand, wieder Hoffnung zu geben, das war der Auftrag. Es fehlte allenthalben an diagnostisch und therapeutisch geeigneten Geräten, es gab auch keine Informations- oder Auskunftsstelle, über die Hirnverletzten ein Reha-Platz vermittelt werden konnte. Deshalb wurde die ZNS-Geschäftsstelle in Bonn schon bald zur Vermittlungszentrale ausgebaut. In der Bonner Humboldtstraße gingen von Jahr zu Jahr mehr Anfragen ein, die bewältigt werden mussten, egal, ob es sich um Probleme mit Versicherungen handelte oder um Arbeitsplatzbeschaffung, um Rente und Ansprüche, die nicht anerkannt worden waren. Das Kuratorium war aber nicht nur zentrale Auskunfts- und Servicestation für die Betroffenen und deren Angehörige. Auf Hannelores Betreiben wurde ein Pilotprojekt mit der Firma Nixdorf unter dem Motto »Computer helfen heilen« gestartet. Die Kanzlergattin hatte den erfolgreichen Unternehmer Heinz Nixdorf als Mitglied einer Wirtschaftsdelegation auf einer Auslandsreise ihres Mannes kennengelernt. Wie so oft in ihrem Leben nutzte sie die Zufallsbekanntschaft, um für ihr Lebenswerk zu werben. Die an Innovationen äußerst interessierte Präsidentin, die technische Neuerungen nicht als Jobkiller betrachtete, sondern darin auch eine mögliche Stütze für Menschen mit Behinderung sah, setzte ihren ganzen Charme ein, um den Pionier der dezentralen elektronischen Datenverarbeitung für ihr Projekt zu gewinnen. Sie konnte ihn dafür begeistern, mit seinen Mitarbeitern eine behindertengerechte Soft- und Hardware zu entwickeln. Tatsächlich gelang es den Nixdorf-Technikern, eine extra große Spezialtastatur zu kreieren. Außerdem wurde die Monitorschrift bis zu zehnmal vergrößert. Die Nixdorf-Entwickler konzipierten eine Software mit einem Lern- und Konzentrationsprogramm, das von einfachen Rechenaufgaben über Grammatikschulungen bis hin zu Anleitungen für kaufmännische Arbeiten ein breites Spektrum abdeckte. Auf mehreren Spezialmessen präsentierte das Paderborner Unternehmen die neuen Erfindungen. Das Interesse – nicht nur von Krankenhäusern oder Reha-Zentren – war überwältigend.

Hannelore war beseelt von diesen ersten Erfolgen und stürzte sich geradezu besessen in ihre Arbeit. Sie wurde nicht müde, die Bedeutung des Gehirns als wichtigstes Steuerungssystem des Menschen hervorzuheben. Es steuert nicht nur unsere Fähigkeit des Sprechens, der Bewegung und des Denkens, sondern auch unsere Emotionen. Die neue Technologie ermöglichte schwer Hirnverletzten, neue Aktivitäten für sich zu entdecken. Die am PC arbeitenden Patienten, die in ihrer Feinmotorik gestört und zum Teil durch Lähmungen erheblich eingeschränkt waren, erhielten durch Langzeittrainings Sicherheit zurück, wurden gefördert und motiviert und konnten so ihr Schicksal besser verarbeiten.

Eine der wichtigsten Aufgaben bestand für Hannelore darin, Ärzten das Potenzial zu vermitteln, das in computergestützten Reha-Maßnahmen lag. Heute werden Computer gezielt im neurologisch-pädagogischen Bereich eingesetzt, damals war das etwas völlig Neues. Durch zahlreiche Symposien gelang es dem Kuratorium ZNS, diese Computertherapie bundesweit publik zu machen. Für Hannelore war die Förderung der Unfallverletzten oberstes Prinzip – eine Förderung durch Fordern. Das war ihr immer wiederkehrendes Schlagwort, das war der wichtigste Slogan für sie und ihre Mitarbeiter. Auch nach dem Tod des Unternehmensgründers Heinz Nixdorf 1986 wurde das Programm »Computer helfen heilen« erfolgreich fortgesetzt und von den Nachfolgern in Nixdorfs Sinne weiter ausgebaut.

Die Präsidentin zog aus ihrem unermüdlichen Engagement eine große Befriedigung. Die Kinder waren längst aus dem Haus und studierten inzwischen im Ausland, sodass sie ihre ganze Kraft auf das Projekt ZNS konzentrieren konnte. Was sie für das Kuratorium leistete, war sichtbar, überprüfbar und allenthalben spürbar. Sie besuchte Kliniken, spendete Betroffenen Trost und bemühte sich, auch mit Angehörigen von Hirnverletzten ins Gespräch zu kommen. Ihnen wollte sie Orientierungshilfen für die neue, fordernde Lebenssituation geben. Solche Begegnungen mit Angehörigen konnten oftmals wichtiger sein als der Händedruck mit einem Schwerverletzten, der seinen Zustand noch gar nicht begriffen hatte. Die Eltern, die Familie, die Freunde müssen mit völlig neuen Belastungen umgehen lernen, die sie in der Regel überfordern. Diesen Menschen Hilfe anzubieten, ihnen Zuversicht zu vermitteln, das war Hannelores Sache. Dabei entwickelte sie eine sehr hohe Sensibilität, fand die richtigen Worte. Aber das Wichtigste war – und das wurde zu ihrem Markenzeichen – ihre Fähigkeit, geduldig zuhören zu können.

Mit den ZNS-Gründungsmitgliedern verfügte sie über einen hoch qualifizierten Beraterstab, deren Meinungen und Ansichten sie sehr schätzte. Niemals entschied sie selbstherrlich über Fördergelder, niemals unterstützte sie Reha-Kliniken im Alleingang. Nie machte sie Förderungsprojekte abhängig von politischen Überzeugungen oder gar parteipolitischen Überlegungen. Dennoch kam ihr die Stellung als Gattin des amtierenden Bundeskanzlers natürlich zugute. Ihre Popularität bei den Mächtigen in Wirtschaft und Industrie, bei Gönnern aus der Mitte der Gesellschaft verhalf ihrem Kuratorium maßgeblich zum Erfolg. Geschickt spielte sie mit den Medien und setzte sie gezielt ein, um ihre Arbeit für Hirnverletzte einer breiten Öffentlichkeit publik zu machen. Sie gewann bekannte Künstler für Benefizveranstaltungen und scheute sich nicht, auch bei gesellschaftlich hochrangigen Veranstaltungen Menschen anzusprechen und zuweilen überfallartig mit ihrem Ansinnen zu »belästigen«. Wer sich in ihre Nähe begab, musste damit rechnen, für ihre gute Sache eingespannt zu werden. Manchmal schien es ihrem unmittelbaren Umfeld beinahe peinlich zu sein, wie sie unerbittlich um Geld warb und nicht locker ließ, bis sie die Zusage für eine ansehnliche Spende erhalten hatte.

Hannelore und ihr Geschäftsführer Rolf Wiechers wussten, dass die Ziele des Kuratoriums ohne ausreichende Spendengelder nicht zu verwirklichen waren. Mitte der Achtzigerjahre hatte die Zahl der Betroffenen die Marke von 200 000 überschritten. Um effektiv helfen zu können, musste der Kreis der Förderer ständig erweitert werden. Für eine erste Benefizveranstaltung im Februar 1985 konnte Hannelore die international bekannte deutsche Sopranistin Edda Moser gewinnen. Die glänzende Sängerin, die in Salzburg unter Herbert von Karajan in Wagners Ring des Nibelungen mitgewirkt hatte, später an der Wiener Staatsoper, der Metropolitan Opera in New York und im Ensemble der Oper Frankfurt gesungen hatte, war die richtige Wahl für einen vollendeten Musikabend in Karlsruhe. Mit ihrer Verpflichtung hatte Hannelore einen Coup gelandet.

Um die breite Bevölkerung für ihr Anliegen zu interessieren, war das Fernsehen ein unverzichtbares Medium. Mit Auftritten bei verschiedenen Sendungen in ARD, ZDF und den Dritten Programmen erreichte Hannelore das größtmögliche Publikum. Dabei überließ sie nichts dem Zufall, spielte Interviewfragen und deren Beantwortung mit ihrem Geschäftsführer durch und bestand darauf, nur zu ihrem sozialen Engagement Stellung zu beziehen. Politische Fragen lehnte sie ebenso ab wie solche, die ihr Privatleben betrafen. Wer sich nicht an diese Absprachen hielt, musste damit rechnen, von Hannelore vor laufender Kamera energisch zurechtgewiesen zu werden. Sie scheute sich nicht, sich mit Journalisten anzulegen, wenn sie den Eindruck hatte, dass sie vom eigentlichen Thema abweichen wollten. Wer die von ihr vorgegebenen Regeln nicht einhielt, hatte es sich mit ihr für allezeit verdorben.

Im Laufe der Jahre wurden ihre Fernsehauftritte immer souveräner, sie fand sogar Gefallen an großen Unterhaltungssendungen. Die Moderatoren Dieter Thomas Heck, Thomas Gottschalk und viele andere luden die Kanzlergattin zu ihren quotenstarken Samstagabendsendungen ein, in denen die Präsidentin des ZNS vor einem Millionenpublikum für ihre Sache werben konnte. Die Spendeneinnahmen sprudelten, mit den Geldern wurden vor allem medizinische Geräte für Reha-Kliniken angeschafft. Hinzu kamen Talksendungen bei den öffentlich-rechtlichen wie privaten Fernsehstationen. Es folgten längere Filmporträts, Beiträge in Gesundheitsmagazinen und jede Menge Zeitungsinterviews, in denen die ZNS-Präsidentin mit großem Erfolg für die Arbeit des Kuratoriums werben konnte. Hannelore beteiligte sich an Benefizschallplatten und gab zwei Kochbücher heraus, die hohe Auflagenzahlen erzielten. Alle Einnahmen flossen in die Kasse des Kuratoriums, das damit auch mehrere Symposien finanzierte. Schließlich gab es noch verschiedene Gala-Veranstaltungen, wobei die Bonner Opern-Gala besonders beliebt war und ordentliche Überschüsse einbrachte. Die Benefizkonzerte mit Justus Frantz in Aachen oder mit Sandra Schwarzhaupt in Köln kamen beim Publikum ebenfalls sehr gut an und sorgten für hohe Spendensummen für das ZNS-Kuratorium. Nicht zu vergessen der Mannheimer »Ball der Sterne« eines privaten Radiosenders, bei dem die Präsidentin ihren großen Auftritt hatte, und mit einer launigen Rede zu Spenden aufrief. Das Kuratorium präsentierte sich auch auf dem jährlichen Unfallchirurgenkongress in Berlin, bei dem sie ein Symposion etwa über die »Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Frührehabilitation« abhielt. Gleiches galt für die alljährlich in Düsseldorf stattfindende Reha-Messe, an der das ZNS-Kuratorium mit einer kleinen Standfläche vertreten war. Hannelore selbst legte großen Wert darauf, bei diesen Veranstaltungen dabei zu sein. Wenn sie sich auf dem Messestand zeigte, bildeten sich Menschentrauben. Die Präsidentin verstand es in besonderer Weise, Fachpublikum anzusprechen und Reha-Kliniken von der Effektivität der Arbeit des Kuratoriums zu überzeugen. In den ersten Jahren nach der Gründung nutzte sie auch CDU-Bundesparteitage, um mit einem Infostand die Arbeit ihres Kuratoriums bekanntzumachen und vor allem den politischen Journalisten Rede und Antwort zu stehen. So fanden ZNS-Aktivitäten nicht selten Eingang in die Berichterstattung über die Ausarbeitung von Parteiprogrammen und Abstimmungen über politische Initiativen der CDU. Wenngleich Hannelore an der Seite ihres Mannes bei diesen Großveranstaltungen wie eine Diva gefeiert wurde, galt ihr Hauptanliegen dem unverdrossenen Werben um neue Fördermitglieder.

Einer, der sich besonders durch aktive Werbung für das Kuratorium von Hannelore Kohl einsetzte, war Wolfgang Schapper aus Langenfeld. Der gelernte Maurer und überzeugte Sozialdemokrat hatte in einer schwierigen persönlichen Lebensphase Hannelore Kohl durch Zufall im Fernsehen gesehen. Bei ihrem Auftritt hatte sie deutlich gemacht, wie sehr sie sich darüber freuen würde, wenn es mehr Menschen gäbe, die sich aktiv für ihre Arbeit engagieren wollten. Der nach zwei Herzinfarkten und drei Bypässen stark angeschlagene 53-Jährige wurde umgehend aktiv und wandte sich schriftlich an das Bonner Kuratorium ZNS. Er lud deren Präsidentin zu einem Altbierfest ein. Die Einnahmen der Biersause sollten als Spende dem Kuratorium zugutekommen. Hannelores rechte Hand Amalie Barzen reagierte sofort und teilte Herrn Schapper mit, zu einem Altbierfest werde Frau Kohl auf keinen Fall erscheinen. Schapper benannte das Altbierfest kurzerhand in »ZNS-Sommerfest« um und schickte eine neuerliche Anfrage. Was als Fest mit vielen Bierständen geplant war, wurde nun zu einer Feier mit buntem Bühnenprogramm, einer großen Autoschau, einem Trödelmarkt und Spielständen für Kinder. Es war die Geburtsstunde des großen ZNS-Festes, das seit 1989 dank der ungebrochenen Begeisterung der Langenfelder Bevölkerung jährlich wiederholt wird.

Gemeinsam mit seinem Mitstreiter Wilhelm Kaffsack gründete der umtriebige Schapper auch den ZNS-Förderkreis Langenfeld. Die Kleinstadt im Kreis Mettmann mit ihren knapp 60 000 Einwohnern verfügt seit dieser Zeit über den einzigen Förderkreis für die »ZNS-Stiftung Hannelore Kohl« – wie sie heute heißt – in Deutschland. Seitdem unterstützt der Förderkreis Hannelores Initiative unermüdlich und kontinuierlich mit Spenden. Zwar konnte Hannelore aus terminlichen Gründen nicht zum ersten ZNS-Sommerfest 1989 erscheinen, besuchte aber fortan, wann immer sie es einrichten konnte, die sich rührend engagierenden Langenfelder. Ob zum Sommerfest, zu Open-Air-Konzerten oder zum Geburtstag von Gründer Wolfgang Schapper: Hannelore kam gerne und oft ins Rheinland und lud im Gegenzug die Langenfelder Förderer mehrmals in den Bonner Kanzlerbungalow ein. Insgesamt hat das Engagement des Langenfelder Förderkreises inzwischen über 415 000 Euro an Spendengeldern erbracht, pro Jahr im Durchschnitt 20 000 Euro. Wolfgang Schapper unterstreicht immer wieder, dass jeder Euro, der in Langenfeld gesammelt wird, direkt den Menschen zugutekommt, die nach einem schweren Unfall wieder ins Leben zurückfinden müssen. Das ehrenamtliche Engagement des Vereins wurde von Hannelore bis zu ihrem Tod besonders gewürdigt.

* * *

Zwar war Hannelore eine großartige Spendensammlerin, aber das allein brachte ihr nicht die große Erfüllung. Sie wollte mit ihrem Einsatz festgefahrene Einstellungen ändern, die öffentliche Meinung beeinflussen und die Schicksale der Betroffenen stärker in den Fokus rücken. Bei ihrer Arbeit hatte sie immer wieder feststellen müssen, wie sehr das Thema nach wie vor tabuisiert wurde, wie sehr sie immer wieder an Grenzen stieß, wenn das Gespräch auf Menschen mit Verletzungen des Gehirns kam. Während Menschen mit körperlichen Behinderungen am Arbeitsleben in einem gewissen Rahmen teilhaben konnten, galt das Wort »hirngeschädigt« im Bewerbungsschreiben eines Arbeitssuchenden lange Zeit beinahe als sicheres Aus. Die Betroffenen und deren Angehörige mussten sich nicht nur mit gesundheitlichen Problemen auseinandersetzen, sondern auch mit massiven Existenzängsten zurechtkommen. Erst, wenn erkannt wurde, dass diese Menschen nicht einfach aus dem Leben gefallen waren, sondern weiterhin Aufgaben übernehmen konnten, wäre ein weiteres wichtiges Ziel des Kuratoriums erreicht worden.

Hannelore wusste, dass sie mit ihrem Werben für die Anliegen des ZNS manchmal auf einem schmalen Grat wandelte. Bei all ihren Veranstaltungen, bei Schirmherrschaften und Begrüßungsreden musste sie sich davor hüten, als »Stimmungskiller« aufzutreten. Sie musste einen Weg finden, mit sorgfältig abgewogenen Worten einerseits Betroffenheit über das Schicksal der Hirngeschädigten zu erzeugen, diese Betroffenheit aber gleichzeitig nicht so weit zu treiben, dass sich diese bleiern über den ganze Abend legte. Mit der Zeit beherrschte die ZNS-Präsidentin den Spagat zwischen fundierter Aufklärung bei Wahrung der vergnüglichen Benefizatmosphäre perfekt. Es gelang ihr scheinbar mühelos, mit irgendeinem Joker die Stimmung aus tiefer Betroffenheit in Feierlaune umzuwandeln. Sie konnte Menschen dazu bewegen, ihr Herz für einen guten Zweck zu öffnen und Anteil zu nehmen, ohne darüber die schönen Seiten des Lebens zu vergessen. Dabei kam ihr zugute, dass sie eine besondere Fähigkeit besaß, Stimmungen unmittelbar zu erfassen und darauf zu reagieren. Gepaart mit Zielstrebigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Verlässlichkeit, Disziplin und vor allem Sachverstand, gelang es ihr, Laien und Fachpublikum gleichermaßen für die Arbeit ihres Kuratoriums zu begeistern. Gebetsmühlenartig wies sie bei Veranstaltungen auf Unfallgefahren hin und forderte Verbesserungen bei der Prävention – und das zeigte Wirkung. Der Ausbau von Intensiv- und Rehabilitationsbehandlung wäre ohne ihr Wirken so nicht möglich gewesen. Auch die Förderung der neurologischen Forschung und die Unterstützung der Angehörigen von Betroffenen sind mit ihrem Namen untrennbar verbunden.

Wie nachhaltig Hannelore Kohls 18 Jahre andauernde Arbeit heute noch Wirkung zeigt, dokumentiert ein Fall aus dem Jahr 2008. Der 46-jährige Guido Senge aus Lohmar in der Nähe von Köln, Diplomingenieur mit Schwerpunkt Fahrzeugtechnik in ungekündigter Stellung, frönte wieder einmal seinem teuren Hobby. Mit seinem Motorrad nahm er am 13. Mai 2008 an einem Rennen auf dem Nürburgring teil. Der erfahrene Motorsportler und Vater zweier Kinder kam gegen 17 Uhr auf der trockenen Rennstrecke zu Fall und prallte mit dem Kopf gegen die Seitenbegrenzung. Wie sich später herausstellte, hatte er zwar äußerlich keine Blessuren, aber schwere innere Verletzungen davongetragen. Trotz seines modernen Helms erlitt er schwere Hirnblutungen. Der erste Lendenwirbel war völlig zerstört, hinzu kamen Halswirbelbrüche. Der rechte Lungenflügel war kollabiert, der linke von Rippen durchstoßen. Guido Senge überlebte, lag vier Wochen auf der Intensivstation und kam anschließend in eine Reha-Klinik. Selbst nach über zwei Jahren kann der Diplom-Ingenieur weder stehen, noch laufen und ist bis heute völlig hilflos. Er kann sich zwar artikulieren, tut es aber nur, wenn man ihn anspricht. Guido Senge ist extrem wahrnehmungsgestört und lebt in einer völlig anderen Welt.

Seine vierzigjährige Frau Susanne gab vorübergehend ihren Beruf als Industriekauffrau auf und kümmerte sich rund um die Uhr um ihren Mann. Über den Sozialdienst erfuhr sie vom Kuratorium ZNS, das 1993 in die Hannelore-Kohl-Stiftung umgewandelt worden war. Sie lernte das Haus am Stadtwald von Bonn-Bad Godesberg kennen, das über eine Abteilung für schädel-hirn-verletzte Menschen verfügt. Der Aufbau dieser Station war vom ZNS mit 80 000 Euro gefördert worden. Guido Senge, der als Schwerstpflegefall im häuslichen Bereich versorgt wird, nimmt dreimal wöchentlich die ambulante Versorgung in diesem Haus wahr. Für Schädel-Hirn-Verletzte wie ihn sowie für Wachkomapatienten eine einmalige und segensreiche Institution.

Die vom Schicksal schwer geprüfte Ehefrau und Mutter fand über das ZNS auch psychologische Hilfe. Sie lernte das Netzwerk kennen, erhielt Unterstützung beim Erlernen der Pflegemaßnahmen und war häufig Teilnehmerin von ZNS-Seminaren für Angehörige von Hirnverletzten. Susanne Senge hadert nicht mit ihrem Schicksal. Dank einer Unfallversicherung kann sie zumindest den finanziellen Ausfall kompensieren. Trost findet sie in ihren beiden Kindern und in den Selbsthilfegruppen des ZNS. Sie hat die neue Situation angenommen und verweist im Gespräch gerne auf das Schicksal anderer Menschen, die eine noch schwerere Last zu ertragen haben. Seit kurzem engagiert sie sich selbst in einer Angehörigengruppe und unterstützt die Hannelore-Kohl-Stiftung mit Vorschlägen für Prospekte und Spendenaufrufe. Was sie für ihren Mann und für sich selbst in Anspruch nehmen konnte und kann, möchte sie nun zurückgeben. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, die segensreiche Arbeit der Bonner ZNS-Stiftung bekannt zu machen und tatkräftig zu unterstützen, soweit es die Pflege ihres Mannes zulässt. Für sie, die Hannelore Kohl selbst nie bewusst erlebt, sondern nur als Kanzlergattin wahrgenommen hat, erlangte die Lebensleistung der ZNS-Gründerin durch einen Schicksalsschlag eine ganz besondere Bedeutung.

FÜRSORGE

Hannelore Kohl war durch und durch Realistin. Sie wusste sehr genau, dass ihre Erfolge als Präsidentin des Kuratoriums ZNS auch ihrer Rolle als Frau des Bundeskanzlers geschuldet war, weshalb sie automatisch zur Prominenz des Landes zählte. Sie selbst hielt sich im Prinzip für uninteressant und betonte immer wieder bescheiden, sie verdanke ihre exponierte Stellung einzig und allein dem Amt ihres Mannes. Nur als »Frau an seiner Seite« wollte sie dennoch nicht wahrgenommen werden, weshalb sie großen Wert auf Eigenständigkeit legte, die sie mit ihrem sozialen Engagement täglich unter Beweis stellen konnte. Gleichwohl nahm sie ihre repräsentative Rolle im Politikbetrieb der Bundesrepublik ernst, ließ sich immer wieder in die Pflicht nehmen und unternahm jedwede Anstrengung, um in der Öffentlichkeit ihrem Auftrag gerecht zu werden. Dazu gehörte vor allem, nichts zuzulassen, was ihrem Mann und seiner Politik schaden könnte. Ständig war sie auf der Hut, bemüht, mögliche Fehler zu vermeiden und sich von ihrer freundlichsten und unterstützenden Seite zu zeigen. Immer blendend auszusehen, immer lächeln zu müssen, konnte auf Dauer recht anstrengend sein. Sie wusste, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde. Auch deshalb machte sie um die Beantwortung politischer Fragen einen großen Bogen. Hannelore konnte regelrecht aus der Haut fahren, wenn ihr jemand eine politische Äußerung entlocken wollte. Ähnlich auf Granit bissen die Medien, wenn es um Persönliches, Privates und Familiäres ging. Konsequent hielt Hannelore etwa die Aufenthaltsorte von Walter und Peter bei der Bundeswehr und später beim Studium geheim. Dabei hätte sie sicher manches Mal – wie alle Mütter – gerne voller Stolz auf die Leistungen ihrer Kinder verweisen wollen. Aber erst Jahre später konnte man ihr Einzelheiten darüber entlocken.

Als Sohn Walter Ende 1984 nach zweijähriger Dienstzeit als Fähnrich eines Jägerbataillons entlassen und später Reserveleutnant wurde, bewegte Hannelore kaum etwas mehr, als die Frage nach dem richtigen Studienort. Sie war getrieben von der Angst, ihre Söhne könnten an der Belastung durch den Namen Kohl schwer zu tragen haben oder gar Opfer eines Anschlags werden. Mit ihrer gewohnten Fürsorge unterstützte sie Walters Pläne, die Bundesrepublik zu verlassen, um ein Auslandsstudium zu beginnen. Vater Helmut spielte bei diesen Überlegungen keine Rolle; er überließ, wie so oft, die Entscheidung seiner Ehefrau und dem erwachsenen Sohn. Dass Amerika von Beginn an in der engeren Wahl war, stimmte den Kanzler jedoch keineswegs glücklich. Er hätte es lieber gesehen, wenn seine Söhne sich für deutsche Hochschulen entschieden hätten. Doch dank Hannelores Unterstützung setzte sich Walter durch.

Um einen Platz an einer amerikanischen Eliteuniversität zu bekommen, musste Walter ein kompliziertes Auswahlverfahren überstehen. Wieder war es die Mutter, die die beiden Söhne schon mit harter Hand und jeder Menge Motivationstalent durch die Schulzeit begleitet hatte, die sich durch diese neue Aufgabe herausgefordert fühlte. Um das Bewerbungsverfahren für die Aufnahme am Harvard College erfolgreich absolvieren zu können, bedurfte es einer ausgeklügelten Vorbereitung, ohne die ein Scheitern nicht auszuschließen war. Hannelore half Walter dabei, einen Privatlehrer zu finden, der ihn fit für die Aufnahmeprüfungen machte. Nach einigen Recherchen fand er in Heidelberg eine amerikanische Professorin, die Kurse für die Vorbereitungstests an amerikanischen Colleges anbot. Er gewann die Privatlehrerin für einen mehrmonatigen Crashkurs, der sicher nicht billig war. Sohn Walter, der bereits über exzellente Sprachkenntnisse verfügte, unterzog sich trotzdem einer harten Lehr- und Lernzeit. Nachdem er mit großem Fleiß, der moralischen Unterstützung seiner Mutter und dem großen pädagogischen Geschick der Lehrerin alle Tests bestanden hatte, stand seinem Studium der Volkswirtschaft und Geschichte am Harvard-College im amerikanischen Massachusetts nichts mehr im Weg. Walter Kohl schloss sein Hochschulstudium Mitte Juni 1989 mit dem »Bachelor of Arts« (BA) erfolgreich ab. Seine Eltern ließen es sich nicht nehmen, an der feierlichen Diplomübergabe in Harvard teilzunehmen. An den Amerika-Aufenthalt schloss Walter ein Studium in Wien an, wo er mit einem Abschluss als Diplom-Volkswirt die beste Voraussetzung für einen guten Start ins Berufsleben erwarb.

Der jüngere Kohl-Sohn Peter ging einen ähnlichen Weg wie sein Bruder. Als er im Juni 1987 seine zweijährige Bundeswehrzeit als Fähnrich beendet hatte, bereitete auch er sich intensiv auf die Prüfungen für ein Auslandsstudium vor. Im Herbst 1987 nahm Peter sein Studium am Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf und belegte die Fächer Wirtschaftswissenschaften und Luft- und Raumfahrttechnik. Die ungebrochene Fürsorge, mit der Hannelore ihre Söhne bedachte, die ungewöhnlich enge Bindung der Söhne an die Mutter, hielten auch während der Auslandsjahre unvermindert an.

Nachdem die Söhne aus dem Haus waren, widmete sich Hannelore Kohl mit großer Herzlichkeit verstärkt den Menschen, die zu ihrem unmittelbaren Umfeld gehörten. Hilde und Ecki Seeber unterstützte sie nicht nur organisatorisch bei der Finanzierung ihres Reihenhauses in Ludwigshafen, sondern hatte auch ein Auge auf das schulische Fortkommen der Seeber-Kinder. Dabei beließ sie es nicht bei Interessensbekundungen, sondern nahm sich Zeit für gründlichen Nachhilfeunterricht. Die älteste Seeber-Tochter Sabine erinnert sich heute noch an die Mischung aus Strenge und beständiger Ermunterung, mit der Hannelore sie durch schulische Schwächephasen begleitete.

Hannelore, die sich auch um ein gutes Arbeitsklima im Ludwigshafener Haus wie im Bonner Kanzlerbungalow kümmerte, war schließlich ausschlaggebend für die Entscheidung Helmut Kohls, den damals 21-jährigen Martin Frühauf als Koch einzustellen. Der neue Leibkoch des Kanzlers hatte eine fünfjährige Ausbildung als Koch und Restaurantfachmann im Hotel »Zum Schwan« in Idar-Oberstein hinter sich, als er zur Bundeswehr eingezogen wurde. Er landete zunächst als Ordonnanz und später als Koch im Bundesverteidigungsministerium. Dort hielt das Bundeskabinett einmal im Jahr eine Sitzung ab und ließ sich danach gerne im Offizierskasino kulinarisch verwöhnen. Der Kanzler war so angetan von der Qualität der Speisen, dass er auf die Idee kam, Verteidigungsminister Manfred Wörner einen seiner Köche abzuwerben. Wörner unterbreitete dem Kanzler drei Vorschläge für geeignete Kandidaten, darunter auch Martin Frühauf. Da die Entscheidung in den Bereich »Haus und Küche« fiel, lag das letzte Wort bei Hannelore. Im Mai 1983 trat Frühauf als Leibkoch ins Bundeskanzleramt ein, wo ihm zwei Küchen zur Verfügung standen. Ob Frühstück, Lunch oder Abendmenü: Frühaufs Kochkünste kamen an. Er kaufte täglich ein und kochte, was ihm an Wünschen über das Kanzlerbüro mitgeteilt wurde. Die Vorlieben der Kohls waren schnell erkannt – Hausmannskost war besonders gefragt. Frühauf bekochte die Kohls privat und sorgte für den kulinarischen Rahmen, wenn Gäste zu bewirten waren. Wenn Hannelore einlud, kamen Ministergattinnen ebenso wie die Frauen von Botschaftern oder ZNS-Spender.

Helmut Kohl legte besonderen Wert auf die strikte Trennung der finanziellen Verantwortlichkeiten seiner Frau in ihrer Rolle als Kanzlergattin und als ZNS-Präsidentin. Bewirtungen im Rahmen ihrer ZNS-Tätigkeit gingen zulasten des Kuratoriums, ebenso wie entsprechende Fahrten mit dem Dienstwagen des Bundeskanzleramts. Darüber konnten sich führende Mitglieder des Kuratoriums regelmäßig echauffieren, weil sie argumentierten, Hannelores soziale Tätigkeit sei ein Dienst, für den eigentlich der Staat aufzukommen habe. Deshalb müssten zumindest die Kosten der Dienstwagenbenutzung übernommen werden. Eine Argumentation, von der sich der Kanzler nicht überzeugen ließ.

Ähnlich verhielt sich Kohl, als Sohn Peter in Italien schwer verunglückte, und Hannelore Kohl mit einem Regierungsflugzeug nach Bologna gebracht wurde. Er bestand darauf, die Kosten in Höhe von 80 000 D-Mark zu erstatten.

Die Trennung der Kosten für dienstliche und private Aufträge an den Kanzlerkoch wurde ebenso penibel eingehalten. Einmal kochte Martin Frühauf aus Anlass eines Familienfestes im Ludwigshafener Bungalow. Diese Privatveranstaltung ging selbstverständlich zulasten der Kohl-Familie. Wenn der Kanzler Spitzenpolitiker in sein Privathaus einlud, verlegte der Leibkoch seine Arbeit von Bonn nach Ludwigshafen. Dabei bereitete er in der Regel alles in Bonn vor, was im Hause Kohl aufgetischt werden sollte. Hannelore war eine dankbare Hausherrin, oft voll des Lobes ebenso wie ihr Mann, der Frühaufs Kochleistungen überaus schätzte. Besonders erfreulich für die Kanzlergattin war Frühaufs Anwesenheit, wenn sie zu später Stunde hungrig in den Kanzlerbungalow kam. Gerne blieb sie dann bei ihm in der Küche, schaute ihm über die Schulter, aß ein paar Häppchen, trank ein Glas trockenen Wein und unterhielt sich mit ihm. Sie nahm Anteil, wollte wissen, was gut oder schlecht lief, wo es Probleme gab und wo sie helfen konnte. Bei ihr fühlte sich das Personal gut aufgehoben und scheute sich nicht, mit ihr über ganz persönliche Dinge zu sprechen oder sie um Rat zu bitten.

Nach vier Jahren nahm Martin Frühauf Abschied aus dem Kanzleramt, was allgemein bedauert wurde. Hauptgrund seiner beruflichen Veränderung war die Einsamkeit, unter welcher der Leibkoch zunehmend litt. Die Küche im Keller des Kanzleramts verfügte nicht über Tageslicht, er hatte keine Kollegen, die ihm zuarbeiteten. Seine Bilanz fällt dennoch positiv aus: Seinen Chef, den Kanzler, seine Chefin, die Kanzlergattin, hat er in bester Erinnerung und hat manches zu erzählen, was das Ehepaar Kohl als Vorgesetzte auszeichnete. Vor allem Hannelores Umgang mit ihm und den beiden Hauswirtschafterinnen hält Frühauf für einmalig. Ihre unaufgeregten Erwartungen und klar formulierten Wünsche an die Bediensteten zeugten von einem sehr natürlichen menschlichen Umgang. Ohne Anflüge von Arroganz und Überheblichkeit habe sie Veranstaltungen im Kanzlerbungalow organisiert und durchgeführt. Aufmerksamkeiten zu Geburtstagen und Geschenke zu Weihnachten wurden von ihr nie vergessen. Es gehörte zu Hannelores Stil, in mütterlicher Fürsorge auch den Wünschen ihres Personals entgegenzukommen und vor allem viel Verständnis für deren private Probleme zu zeigen. Dabei beließ sie es nie nur bei geduldigem Zuhören, sondern zeigte auch Lösungsmöglichkeiten auf.

Einen weiteren Personalwechsel im Kanzlerbungalow gab es im März 1988. Neben Helma Pirwitz, die über zwanzig Jahre für Helmut Kohls Vorgänger und deren Familien als Hauswirtschafterin gearbeitet hatte und auch in den Diensten des neuen Kanzlers verblieb, musste eine zweite Kraft eingestellt werden. Hannelore hatte eine Frau im Blick, die schon mehrfach bei größeren Veranstaltungen ausgeholfen hatte. Wenn ein renommierter Bonner Partyservice für das leibliche Wohl größerer Gesellschaften beauftragt wurde, war sie da. Hannelore entschied sich für Edeltraud Otto, 1941 in Greifswald geboren und 1950 mit ihren Eltern aus der DDR in den Westen übergesiedelt. Nachdem die Sicherheitsüberprüfung nach vier Wochen ohne Einwände abgeschlossen worden war, trat die ausgebildete Hotelfachfrau ihren neuen Job an. Ihre wesentliche Aufgabe als Wirtschafterin bestand in der Bewirtung der Gäste im Bungalow. Für die Bestückung der privaten Küche der Kohls bekam sie Wirtschaftsgeld, über das sie genau Buch führte, ohne je von Hannelore überprüft worden zu sein. Sie vertraute ihrer Wirtschafterin blind und überließ ihr Freiräume für selbstständiges Handeln. Edeltraut Otto, eine sympathische, gestandene und mit allen beruflichen Herausforderungen vertraute Spitzenkraft, gehörte zu den Bonner Wirtschafterinnen, die auch im Privathaus der Kohls in Ludwigshafen eingesetzt wurden. Wenn die Bushs, die Mitterrands, die Gorbatschows oder die Jelzins Gäste in Kohls Privathaus waren, wurde das Mehrgangmenü vom »Deidesheimer Hof« geliefert, zubereitet vom dortigen Koch Manfred Schwarz. Den Service im Haus übernahmen Edeltraud Otto und Hilde Seeber. Das waren Highlights im Leben der beiden Frauen, von denen sie heute noch schwärmen.

Nach einem kurzen Zwischenspiel des Frühauf-Nachfolgers kam es 1990 zu einem erneuten Wechsel in der Kanzlerküche. Werner Sowa hatte sein Handwerk im angesehenen Bonner »Rheinhotel Dreesen« erlernt und seine Bundeswehrzeit als Koch in der Küche des Bonner Wachbataillons verbracht. Nach einigen Wanderjahren in renommierten Häusern des Rheinlandes trat er in den Dienst des Landes Baden-Württemberg. In dessen »Bonner Botschaft« kochte er unter anderem für den damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth. Doch die Arbeit im öffentlichen Dienst behagte ihm nicht sonderlich. Als dann der Anruf aus dem Bundeskanzleramt kam, sich einem engen Kohl-Mitarbeiter vorzustellen, zögerte er keinen Moment. Im Mai 1990 trat er seinen neuen Job an und war von nun an Herrscher über drei Küchen: Die eine war im Kanzleramt nur für den Kanzler, die zweite Küche im Bungalow und eine dritte im Palais Schaumburg, dem alten Bundeskanzleramt. Seine direkte Ansprechpartnerin war die Chefin des Kanzlerbüros Juliane Weber. Werner Sowa liebte die Küche im Bungalow, in der er für mindestens ein Dutzend Personen Essen zubereiten konnte. Da er alleine für alles verantwortlich war, gehörten Überstunden zur Tagesordnung, zumal er in Ermangelung eines Kühlhauses alles frisch zubereiten musste. Hannelore hatte viel Verständnis für die hohe Arbeitsbelastung, verweilte gerne auf eine Zigarettenlänge in der Küche und hörte sich geduldig an, wie der Kanzler-Koch seine Arbeitswelt sah und bewertete. Sowas Urlaub richtete sich nach den Ferien der Kohl-Familie. An den Wochenenden hatte der Leibkoch wenig zu tun, weil die Eheleute Kohl nach Ludwigshafen fuhren. Er blieb bis zum Ende von Kohls Kanzlerschaft. Sein Stolz, fast neun Jahre für den Kanzler der Einheit und seine Frau und deren Gäste gekocht zu haben, ist ungebrochen. Sowa weiß viele Geschichten über Prominente und Nicht-Prominente zu erzählen. Die erste Liga der prominenten Politiker war ihm weit angenehmer als jene Bonner Wichtigtuer aus der Ministerialbürokratie bis zu den Staatssekretären, die ihre Überheblichkeit gerne zeigten. Der Rheinländer des Jahrgangs 1963 fand zu Hannelore Kohl einen guten Draht und hat sie in bester Erinnerung. Was er ganz besonders an der Kanzlergattin schätzte, war ihre Bereitschaft, auch mit Angestellten unaufgeregt zu diskutieren. Manches Vieraugengespräch – sie mit einer Mentholzigarette in der rechten und einem Glas Sekt in der linken Hand – ist ihm unvergessen.

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Es mag Zufall sein, dass beide Leibköche des Kanzlers ihr Handwerk bei der Bundeswehr ausgeübt hatten. Es mag auch Zufall sein, dass zwei von Hannelore sehr geschätzte Frauen aus der DDR geflohen waren und Jahre später in ihrem Alltag eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Neben der Hauswirtschafterin Edeltraud Otto verbrachte auch Rita Stöbe, 1947 im Ostteil Berlins geboren, mehrere Jahre jenseits des späteren Eisernen Vorhangs. Unmittelbar vor dem Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 floh die Ost-Berlinerin mit ihren Eltern über West-Berlin in die Bundesrepublik und landete in der Pfalz. Hier erlebte ihre Familie ein ähnliches Schicksal wie Hannelore und ihre Eltern. Als Flüchtlinge aus dem deutschen Osten waren sie nicht sonderlich beliebt und schon gar nicht willkommen. Die Chancen für einen beruflichen wie privaten Neustart standen eher schlecht. Häufige Arbeitsplatzwechsel des Vaters prägten die ersten Jahre der Stöbe-Familie. Ein Schicksal, das sie mit Millionen anderer Flüchtlinge und Vertriebener teilten. Tochter Rita erlernte nach der Schulzeit das Schneiderhandwerk. Nach dem Abschluss ihrer Lehre fand sie eine Anstellung in einem Mannheimer Atelier. Hier lernte Hannelore Kohl die Berlinerin kennen und erteilte ihr einen ersten Auftrag für ein Abendkleid. Ihr Erstlingswerk für die Kanzlergattin muss so gut angekommen sein, dass Hannelore gleich neue Wünsche äußerte. Aus dieser Zufallsbegegnung entwickelte sich eine jahrelange enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die erfahrene und geschmackssichere Schneiderin gehörte seit Mitte der Achtzigerjahre bis zu Hannelores Tod zu den einflussreichsten Beraterinnen in Sachen Garderobe einschließlich Schmuck und Schuhwerk. Rita Stöbe, seit dieser Zeit nur noch für Privatkunden tätig, hatte in Hannelore Kohl nicht nur die prominenteste, sondern auch die interessanteste und wichtigste Kundin, die sie immer wieder vor neue Herausforderungen stellte. Was Hannelore an Kleidung für In- und Auslandsreisen benötigte, was an Garderobe für Empfänge und Bälle gebraucht wurde, entstand in enger Absprache mit ihrer Schneiderin. Die Kanzlergattin kaufte gerne in deutschen Metropolen ein wie in Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt. Von manchen Auslandsreisen brachte sie hochwertige Stoffe mit – oft handbestickt oder mit Goldfäden durchzogen –, aus denen Rita Stöbe maßgeschneiderte Sonderanfertigungen nähte. Was immer Hannelore an Couture in Modehäusern wie beispielsweise »Escada« kaufte, musste in jedem Fall abgeändert werden. Hannelore, die aus ihrer gesunden Eitelkeit nie einen Hehl machte, hatte eine gute Figur mit schmalen Hüften und einem breiteren Rücken. Deshalb erwarb sie das Oberteil passend und ließ lieber den Rock von Rita Stöbe enger machen. Hannelore und ihre fachlich sehr versierte Schneiderin galten als eingespieltes Team, die Chemie zwischen den beiden stimmte von Anfang an. Alles andere als beratungsresistent ließ sich die Kanzlergattin gerne auf neue Geschmacksrichtungen ein, liebte die Abwechslung und genoss die hochwertige Garderobe zu den unterschiedlichsten Anlässen. Gleichwohl verließ sie sich nicht allein auf die Anregungen und Vorschläge ihrer Schneiderin. Mindestens drei enge Freundinnen, die bis heute nie an die Öffentlichkeit traten und völlig unbekannt sind, wurden immer wieder – unabhängig voneinander – zurate gezogen. Mit ihnen unternahm Hannelore auch zahlreiche Urlaubsreisen ins europäische Ausland, vor allem nach Paris. Dort frönte sie einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen, dem Shoppen, führte ihren Freundinnen eine kleine Modeschau vor und entschied sich beim Kauf niemals gegen deren Rat.

Von den Medien wurde Hannelores Erscheinungsbild gerne als provinziell und konservativ kritisiert. Mancher Artikel, vor allem in der Boulevardpresse, ging an der Realität vorbei und bediente ärgerliche alte Klischees. Dabei hatte Hannelore Kohl im Laufe der Kanzlerjahre ihres Mannes eine rasante Entwicklung auch in Kleiderfragen durchgemacht. Vor allem für ihre Auftritte auf internationalem Parkett schaffte sie Garderobe an, die aus den Ateliers der bekanntesten Modemacher stammte. Aber sie konnte sich kleiden, wie sie wollte: Für einen Großteil jener Medien, die ihren Mann und seine Kanzlerschaft für einen Unfall der deutschen Geschichte hielten, blieb sie das »Püppchen aus der Pfalz«, die Frau ohne Geschmack und Sinn für einen guten Stil. Dabei brauchte sie vor allem auch im Hinblick auf ihre Vorgängerinnen wirklich keinen Vergleich zu scheuen. Die jugendlich frisch wirkende Hannelore repräsentierte keineswegs die Biederkeit aus der deutschen Provinz, wie böse Zungen behaupteten, sondern machte auf allen politischen Bühnen der Welt eine ausgezeichnete Figur. Natürlich lässt sich über Geschmack streiten. Manchen Kritikern fiel es noch nach Jahren schwer, Hannelores Stil anzuerkennen. Ihr war es wichtig, nicht jeden modischen Schnickschnack mitzumachen und dem Zeitgeist zu folgen. Stattdessen hielt sie sich an die Maxime, dem Alter und Anlass angemessene hochwertige Garderobe zu tragen.

Immer wieder belächelt wurde auch ihre Frisur, ihr naturblondes lockiges Haar. Fotos aus den Sechzigerjahren zeigen sie mit einer beeindruckenden Hochsteckfrisur. In dieser Zeit begann auch ihre Bekanntschaft mit einer Friseurin aus Ludwigshafen. Die junge Hannelore war Ende der Sechzigerjahre mit ihren beiden Söhnen in einem Friseurgeschäft ganz in der Nähe ihres Hauses in Ludwigshafen-Gartenstadt erschienen. In diesem Familienbetrieb lernte sie die Tochter des Inhabers kennen, die sie vorzüglich bediente. Seit dieser Zeit war Hannelore Stammkundin und blieb es über viele Jahre. Mit Kohls Übernahme der Kanzlerschaft 1982 wurde der 1939 in Ludwigshafen geborenen Edith Keilhauer eine wichtige Aufgabe zuteil: Sie war von nun an dafür verantwortlich, Hannelores Frisur so zu gestalten, dass sie immer gepflegt und bei allen Anlässen gut aussah. Sie begleitete die Kanzlergattin auf zahlreiche Auslandsreisen, wo sie auch für die ständig wechselnde Garderobe zuständig war. Edith Keilhauer half beim Kofferpacken, sortierte die von Hannelore ausgewählten Kleider und assistierte vor Ort beim Umziehen. Hannelore sagte klar und unmissverständlich, was sie wollte und brauchte, und die Ludwigshafenerin folgte willig den vielfältigen Wünschen ihrer Chefin. Sie gehörte lange Zeit zum Tross des Kanzlers und seiner Gattin auf den Reisen nach Amerika und Asien, wurde eine unentbehrliche Assistentin für ihr »Äußeres«. Hannelore legte höchsten Wert auf eine optimal gepflegte Erscheinung und erschien deshalb auch immer wie aus dem Ei gepellt. Noch heute schwärmt die Friseurin Edith Keilhauer von den einmaligen und aufregenden Weltreisen mit einer fürsorglichen Chefin, der sie im wahrsten Sinne des Wortes hautnah zu Diensten stand. Die Mutter von zwei Kindern liebte ihren besonderen Job und blieb äußerst verschwiegen. Nur die engsten Freunde und Verwandte wussten um ihre unmittelbare Nähe zu Hannelore Kohl.

Die Arbeit für die Kanzlergattin endete jäh im Jahr 1993, als Hannelore nach einer schweren Krankheit unter starkem Haarausfall litt und zeitweise eine Perücke tragen musste. Für Edith Keilhauer endete damit ein aufregendes, ungewöhnliches und einmaliges Kapitel in ihrem Arbeitsleben. Sie gerät ins Schwärmen, sobald der Name ihrer einstigen Chefin fällt. Der Kontakt zu ihr hielt, auch wenn die beiden Frauen nicht mehr beruflich miteinander verbunden waren.

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Auch für die Männer des Personenschutzes, die für die Sicherheit des Kanzlers und seiner Familie zuständig waren, hatte Hannelore immer ein offenes Ohr. Diesen Menschen, die im Ernstfall bereit waren, ihr Leben für das des Kanzlers, seiner Gattin und der beiden Söhne einzusetzen, begegnete sie mit großem Respekt und Fürsorglichkeit. »Die Sicherheit«, wie die Kommandos im internen Sprachgebrauch hießen, gehörte zum Alltag der Kohl-Familie und war eingebunden in sämtliche Abläufe des privaten und öffentlichen Kanzlerlebens. Überall waren die Männer des Bundeskriminalamtes präsent, ob auf Reisen im In- und Ausland, im Urlaub oder während der begrenzten freien Zeit. Selbst beim Schwimmen im österreichischen Wolfgangsee wurde Hannelore von einem Sicherheitsbeamten begleitet. Sie war seit Jahren daran gewöhnt, in der Öffentlichkeit kaum einen Schritt ohne Personenschutz zu tun. Sie mochte es nicht, wenn ein Sicherheitsbeamter einige Meter hinter ihr herging – ein möglichst normales Nebeneinander im wahrsten Sinne des Wortes war ihr lieber. Sie versuchte, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die Beamten einzubeziehen. Erkundigt man sich heute bei den Männern der Sicherheitskommandos, erhält man durchweg positive Äußerungen über Hannelore Kohl. Sie wurde gemocht und sehr geachtet, auch weil es ihr gelang, die Balance zwischen menschlicher Nähe und Distanz, die das Amt ihres Mannes erforderte, zu wahren. Bei allem Verständnis für Sicherheitsvorkehrungen und Bedrohungsszenarien hielt sie ihre Meinung nicht zurück, wenn ihr eine Maßnahme übertrieben schien. Einen eigenen Standpunkt zu vertreten, kam bei der Sicherheit durchaus an, und die meisten arbeiteten gerne für die Kohl-Familie, vor allem für Hannelore. Niemals erlebte sie illoyales Verhalten oder die Weitergabe von Vertraulichem. Gleiches galt für jene rheinland-pfälzischen Polizistinnen und Polizisten, die den Ludwigshafener Bungalow im Schichtdienst rund um die Uhr streng bewachten und jeden fremden Besucher im Auge hatten.

VERTRAUEN

Zu Hause in Ludwigshafen-Oggersheim wurden die Kohls durch das Ehepaar Hilde und Ecki Seeber unterstützt. Der treue Fahrer, Butler, Organisator und Helfer in allen Lebenslagen seit 1962 kannte die Wünsche und Bedürfnisse seines Chefs wie kein anderer. Aber auch für Hannelore war Ecki unentbehrlich. Wann immer es der Tagesablauf ihres Mannes zuließ, konnte sie auf Ecki zurückgreifen, der sie dann zu Dienstangelegenheiten chauffierte.

Als 1978 Hannelores langjährige Haushaltshilfe aus gesundheitlichen Gründen ihren Posten aufgeben musste, bat Hannelore Eckis Ehefrau Hilde Seeber, so lange auszuhelfen, bis eine geeignete Nachfolgerin gefunden war. Aus dieser Übergangslösung wurde eine 22 Jahre währende enge Zusammenarbeit mit der 1949 im badischen Münsingen geborenen Mutter von drei Kindern. Wie Hannelore hatte sie allein alle Lasten des familiären Lebens und der Kindererziehung getragen, seit ihr Mann 1962 in den Dienst von Helmut Kohl getreten war. Nach den ersten Tagen von Hildes Tätigkeit im Hause Kohl bemühte sich Hannelore schon gar nicht mehr ernsthaft um eine andere Haushaltshilfe und bot Hilde eine Festanstellung an. Die Chemie stimmte einfach zwischen den beiden Frauen. In der ersten Zeit reichte eine Halbtagsbeschäftigung, die mit Hildes Rolle als Mutter zu vereinbaren war. Außerdem beschäftigte Hannelore noch zwei weitere Frauen, die abwechselnd einmal in der Woche an einem Tag für Ordnung und Sauberkeit sorgten. Hilde Seeber war dagegen »Mädchen für alles«: Sie kaufte ein, kochte, wusch und bügelte. An den Wochenenden hatte sie in der Regel frei und kam deshalb mit Helmut Kohl so gut wie nicht in Kontakt. Das sollte sich erst nach Hannelores Tod 2001 ändern.

Mit der Kanzlerschaft ihres Mannes kam Hannelore in den Genuss von besonderen Privilegien und äußeren Symbolen der Macht, die das Amt mit sich brachte. Die wichtigste Neuerung war die Übernahme eines Dienstwagens mit Fahrer. Josef Rink, 1939 in Bonn geboren und ausgebildeter Kfz-Mechaniker, gehörte zu den erfahrensten Kraftfahrern des Bonner Kanzleramtes. Seit Ende 1961 fuhr er Bonner Spitzenpolitiker. Sein erster »Kunde« war der Stellvertretende Chef des Bundeskanzleramtes, Ministerialdirektor Reinhold Merker, ein Engvertrauter Konrad Adenauers. Mit Beginn der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD bekam Josef Rink 1966 einen neuen Chef: den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundeskanzleramt Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Großvater des im März 2011 zurückgetretenen Bundesverteidigungsministers. Der profilierte Außenpolitiker und scharfe Debattenredner gehörte zu den erbitterten Gegnern der Ostpolitik Willy Brandts und lehnte den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1972 kategorisch ab. Seit Jahren litt er an einer unheilbaren Krankheit, weshalb ihm das Gehen besonders schwerfiel. Josef Rink war beeindruckt vom ungebrochenen Lebenswillen des Konservativen und chauffierte den gehbehinderten Baron bis zum Ende der Großen Koalition 1969. Die guten Kontakte zu seinem ehemaligen Chef pflegte der Rheinländer bis wenige Monate vor dessen Tod Anfang Oktober 1972. Ihm hatte Josef Rink drei Jahre lang verlässliche Dienste geleistet und für einen allseits über die parteipolitischen Grenzen hinweg geachteten Politiker gearbeitet, von dem der Bonner bis heute in höchsten Tönen schwärmt.

Mit Beginn der sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP änderte sich für den Fuhrpark des Bundeskanzleramtes eine ganze Menge. Der personelle Austausch von der Spitze des Kanzleramtes bis zur Ebene der Ministerialdirektoren brachte den Fahrern neue Chefs. Eher durch Zufall wurde Josef Rink Zweitfahrer des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Gattin Rut. Erster Auftrag war eine Fahrt von Bonn nach Saarbrücken zum SPD-Parteitag, auf dem die Kanzlergattin an der Seite ihres Mannes auftrat. Diese Tour war der Beginn einer fast fünfjährigen äußerst abwechslungsreichen Zeit für den Rheinländer. Womit er nicht gerechnet hatte, war das spontane Angebot der zweiten Ehefrau des deutschen Bundeskanzlers Brandt, fortan ihr Chauffeur zu sein. Mit Rut Brandt, dieser wunderbaren Frau, die zu den auffallendsten Erscheinungen im Bonner Politikbetrieb zählte, erlebte Rink wichtige Jahre wechselvoller deutscher Geschichte. Die Mutter dreier Söhne, die im norwegischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv gewesen war, machte auch außerhalb Bonns eine außerordentlich gute Figur und zählte zu den großen Sympathieträgern für ihren Mann und dessen Regierung. Rink kann stundenlang interessante Geschichten erzählen, ohne je die gebotene Verschwiegenheit und Vertraulichkeit zu verletzen. Vor allem seine Schilderungen über Fahrten mit Rut Brandt über die DDR-Transitstrecke nach West-Berlin stecken voller Anekdoten über Unwägbarkeiten bis zu unglaublichen Schikanen der Grenzer, die man nicht für möglich gehalten hätte.

Nach dem Rücktritt Willy Brandts 1974 wurde Josef Rink von Rut Brandt einfach an Loki Schmidt weitergereicht. Die Gattin des neuen Bundeskanzlers vertraute der Empfehlung ihrer Vorgängerin. Rink, der von seinen Kollegen nur »Jupp« genannt wird, musste sich nicht besonders umgewöhnen. Der parteilose, aber keineswegs unpolitische Rheinländer gehört zu jenen Menschen, die ihren Beruf sehr ernst nehmen, sich durch große Anpassungsfähigkeit, Bescheidenheit und absolute Loyalität auszeichnen. Als Helmut Schmidt im Oktober 1982 durch das konstruktive Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag gestürzt wurde, ging für Josef Rink eine Ära zu Ende. Über 13 Jahre lang hatte er die Frauen der sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt sicher chauffiert. Nun musste er mit einem Bruch in seiner Karriere rechnen. Denn je höher die Prominenz des Fahrgastes ist, umso angesehener ist auch der Fahrer – nicht nur bei den Kollegen, sondern im ganzen Politikbetrieb.

Jupp pflegte seit Jahren beste Kontakte zu Ecki Seeber. Der langjährige Fahrer des einstigen Bonner Oppositionsführers hatte bei den Treffen gerne geflachst und meinte dann, »bald werden wir Bundeskanzler«. Im gleichen Atemzug hatte er Rink gefragt, ob er in diesem Fall auch Hannelore Kohl fahren werde. Als in den Oktobertagen des Jahres 1982 tatsächlich der Regierungswechsel vollzogen wurde, nahm Seeber sofort Kontakt zu Josef Rink auf und erkundigte sich, ob er bereit sei, nun in die Dienste der neuen Kanzlergattin zu treten. Während Rink keinen Moment zögerte, gab es zu Hause einige Diskussionen. Ehefrau Gisela, die sich seit zwanzig Jahren damit abfinden musste, dass ihr Mann ständig auf Abruf bereitstand und durch lange Abwesenheit glänzte, war nicht gerade begeistert von einer Verlängerung dieser Situation. Am Ende willigte sie aber noch einmal ein. Sie wusste am allerbesten, dass ihr Mann Autofahren als seinen Lebensinhalt betrachtete und todunglücklich gewesen wäre, nur noch durch das Bonner Umland fahren zu dürfen.

Nachdem Rink diese Hürde genommen hatte, bedurfte es noch der Zustimmung des Bundeskanzleramtes, und – was viel wichtiger war –, Hannelore Kohl musste ihn akzeptieren. Sie war von Ecki bestens informiert, wollte sich aber ein eigenes Bild von dem hochgelobten Kollegen verschaffen. Nach dem »Vorstellungsgespräch« in Ludwigshafen gab es eine Art Probezeit, während der Rink erhebliche Widerstände aus der CDU-Zentrale, dem Bonner Konrad-Adenauer-Haus, entgegenschlugen. Allein die Tatsache, dass er zwei sozialdemokratischen Kanzlergattinen »gedient« hatte, führte dort zu Irritationen. Der Bundeskanzler, dem das Ganze nicht verborgen geblieben war, nahm die Sache in die Hand. Er suchte das persönliche Gespräch mit dem Rheinländer und hatte nach wenigen Minuten eine Entscheidung gefällt. Die Empfehlung des Kanzlers an seine Frau war eindeutig. Nach diesem etwas holprigen Beginn entwickelte sich zwischen Josef Rink und seiner neuen Chefin eine tragfähige Zusammenarbeit, die mehr als 16 Jahre anhielt. In dieser Zeit verbrachte Hannelore mit ihrem Fahrer mehr Zeit als mit ihrem Mann.

Anfangs chauffierte Rink Hannelore Kohl im gleichen orangefarbenen BMW 520 wie zuvor schon Loki Schmidt. Am häufigsten wurde die Strecke Ludwigshafen-Bonn und retour zurückgelegt. Diese Fahrten wurden ohne Sicherheitsbeamten durchgeführt. Nur wenn Hannelore offizielle Termine wahrnahm, folgte dem Wagen ein Fahrzeug mit zwei Beamten des Bundeskriminalamts. In solchen Fällen saß häufig ein weiterer BKA-Mann in Hannelores Dienstfahrzeug. Es kam ganz auf die Größe und Öffentlichkeitswirksamkeit der Veranstaltung an. Kurzfristig wurde entschieden, wie viele Beamte des Sicherheitskommandos des Bundeskanzlers, das aus 12 bis 15 Beamten bestand, abgestellt wurden. Das Bundeskriminalamt schaltete sich immer dann sofort ein, wenn Erkenntnisse über potenzielle Bedrohungen vorlagen. Wie alle Fahrer der Bonner Spitzenpolitiker, musste auch Josef Rink Fahrerlehrgänge und Sicherheitstrainings absolvieren, die von Mitarbeitern des BKA durchgeführt wurden. Außerdem unterzog sich Hannelores Fahrer alle zwei Jahre einer Sicherheitsüberprüfung, die in der Verantwortung des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz lag. Bei besonderen Anlässen wie Staatsbesuchen oder außergewöhnlichen Bedrohungsszenarien stiegen Hannelore und ihr Fahrer auf größere und vor allem sicherere BKA-Fahrzeuge um.

Nachdem der BMW ausgemustert worden war, stand Hannelore ein Mercedes vom Typ 200 zur Verfügung. Auf den Autofahrten quer durch die Republik hatte sie sich angewöhnt, Büroarbeiten auf dem Rücksitz zu erledigen. Da der Dienstwagen seit Mitte der Achtzigerjahre mit einem Telefon ausgestattet war, nutzte sie die Fahrzeit, um telefonisch Arbeiten zu delegieren, selbst zu recherchieren und Veranstaltungen zu organisieren. Ein weiterer Vorteil des Telefons war, dass sie für ihre Kinder, ihren Mann und später auch ihr Büro erreichbar war.

Als Kanzlergattin bekam sie kein Gehalt und verfügte zunächst über keinen Stab. Es gab weder eine Bürokraft noch einen Büroraum oder gar ein finanzielles Budget. Der Bundeskanzler stellte seiner Frau ein Zimmer im Konrad-Adenauer-Haus zur Verfügung, das er selbst kaum nutzte. Hier bereitete sie sich auf Auslandsreisen vor, bearbeitete die zahlreichen Petitionen der Bürger und koordinierte Termine im In- und Ausland. Zur Seite stand ihr der damalige Referent des CDU-Bundesvorsitzenden Michael Roik, der bis zum Ende von Kohls Kanzlerschaft 1998 ihre Öffentlichkeits- und Pressearbeit betreute. Der Diplomübersetzer für Englisch und Spanisch, der in den Neunzigerjahren nebenbei Politikwissenschaft und Staatsrecht studierte und 2006 an der Universität Bonn promovierte, wurde rasch ihr wichtigster Berater. Der politisch versierte Rheinländer, ausgestattet mit ausgeprägtem Sinn für Machbares und innerhalb der Unionsparteien hervorragend vernetzt, galt als einflussreicher Zuarbeiter. Wenngleich bei der täglichen Arbeit Helmut Kohl die absolute Priorität galt, fand Roik immer noch genügend Zeit, sich um die Belange von Hannelore Kohl zu kümmern. Er war ihr ständiger Begleiter bei Außenterminen, stimmte sich mit ihr ab, wenn es um ihre Auftritte innerhalb des Bonner politischen Establishments ging, und bereitete auch Reden und Interviews vor. Seine Verbindungen innerhalb der Parteizentrale und seine Kontakte zu wichtigen Mandatsträgern und Medienvertretern erleichterten ihm die Zuarbeit für die Kanzlergattin. In den 16 Jahren der engen Zusammenarbeit entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis, auf das Hannelore immer bauen konnte. Hinzu kamen Roiks hohe Einsatzbereitschaft, seine Sprachbegabung und besondere Formulierungskunst, die Hannelore zu nutzen wusste. Große Verdienste erwarb sich der heutige Ministerialdirigent im Bundeskanzleramt auch um Hannelores zunehmende Selbstsicherheit und um den spürbaren Abbau von Vorurteilen und Klischees, die der Frau des Mannes aus der Provinz jahrelang anhingen.

Anfang Oktober 1985 bekam das Zwei-Mann-Team Verstärkung. Hannelore entschied sich für die zwanzig Jahre jüngere Hannelore Moos als Bürokraft, eine gelernte Kauffrau mit Handelsschulabschluss und vertraut mit allen Vorgängen der CDU-Öffentlichkeitsarbeit. Zwischen den beiden Hannelores entwickelte sich im Laufe der Jahre ein besonders inniges Verhältnis. Moos, die – wie Hannelore Kohl oft meinte –, ihre Tochter hätte sein können, gehörte sehr bald zu den wenigen Engvertrauten im Bonner Regierungs- und Parteienbetrieb. Hannelore spielte sich selten als Chefin, als Arbeitgeberin oder autoritäre Befehlsgeberin auf. Viel Verständnis hatte sie für persönliche Anliegen und Probleme ihrer Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus. So wie sie sich selbst als Mutter für alles sah, so verhielt sie sich auch den Angestellten gegenüber – ob privat in Ludwigshafen oder dienstlich in Bonn. Ihre soziale Kompetenz und ihr äußerst sensibler Umgang mit den Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld sind diesen bis heute unvergesslich und Zeichen menschlicher Größe.