Kapielzwölf
Die Menge drängte sich in den Saal des Rathauses. Die meisten Leute mussten draußen bleiben und versuchten, über die Köpfe der Leute vor ihnen zu spähen, um zu sehen, was geschah.
Der Stadtrat saß dicht beisammen am einen Ende des langen Tisches. Am anderen Ende hockten zehn oder mehr der ranghohen Ratten. Und die Mitte beanspruchte Maurice. Er war plötzlich da, vom Boden hochgesprungen.
Krickelich, der Uhrmacher, starrte die anderen Stadträte an. »Wir sprechen mit Ratten!«, stieß er hervor, bemüht, das Stimmengewirr zu übertönen. »Wir werden zum Gespött der Leute, wenn das bekannt wird! ›Die Stadt, die mit ihren Ratten spricht.‹ Könnt ihr euch das vorstellen?«
»Ratten sind nicht dazu da, um mit ihnen zu reden«, sagte Raufmann, der Stiefelmacher, und stieß den Bürgermeister mit dem Zeigefinger an. »Ein vernünftiger Bürgermeister würde die Rattenfänger holen!«
»Meine Tochter hat darauf hingewiesen, dass sie in einem Keller eingesperrt sind«, erwiderte der Bürgermeister und blickte auf den Zeigefinger.
»Von sprechenden Ratten eingesperrt?«, fragte
Raufmann. »Von meiner Tochter«, sagte der Bürgermeister ruhig.
»Nimm den Finger weg, Herr Raufmann. Meine Tochter hat die Wächter
nach unten geführt und erhebt sehr schwere Vorwürfe, Herr Raufmann.
Sie sagt, dass es unter dem Rattenfängerschuppen jede Menge
Lebensmittel gibt. Sie sagt, die Rattenfänger hätten sie gestohlen
und an Flusshändler verkauft. Der oberste Rattenfänger ist dein
Schwager, nicht wahr, Herr Raufmann? Du warst sehr versessen
darauf, dass er den Auftrag bekam, wenn ich mich recht
entsinne.«
Draußen wurde es unruhig. Feldwebel Doppelpunkt bahnte sich einen
Weg durch die Menge, grinste breit und legte eine große Wurst auf
den Tisch.
»Bei einer Wurst kann man kaum von Stehlen sprechen«, sagte Raufmann.
Noch mehr Unruhe folgte, und die Menge wich beiseite. Zum Vorschein
kam etwas, das sich streng genommen als ein sehr langsamer Korporal
Knopf erwies. Allerdings konnte er erst identifiziert werden, als
man ihm drei Taschen Kork, acht Wurstschnüre, ein Fass Rote Beete
und fünfzehn Kohlköpfe abgenommen hatte.
Feldwebel Doppelpunkt salutierte zackig, während hinter ihm leise
Flüche erklangen und Kohlköpfe zu Boden fielen. »Bitte um
Erlaubnis, sechs Männer auswählen zu dürfen, um den restlichen Kram
nach oben zu bringen, Herr!«, sagte er und strahlte.
»Wo sind die Rattenfänger?«, fragte der Bürgermeister.
»In großen… Schwierigkeiten, Herr«, erwiderte der Feldwebel. »Ich
habe sie gefragt, ob sie den Keller verlassen wollten, aber sie
meinten, sie möchten dort noch etwas bleiben, herzlichen Dank,
allerdings hätten sie nichts gegen ein wenig Wasser und saubere
Hosen einzuwenden.«
»Mehr haben sie nicht gesagt?«
Feldwebel Doppelpunkt holte sein Notizbuch hervor. »Nun, Herr, sie
sagten eine ganze Menge. Und sie schluchzten. Sie meinten, sie
würden alles gestehen, wenn sie saubere Hosen bekämen. Und dann
fanden wir noch dies.«
Ein anderer Wächter kam mit einer kleinen, aber recht schweren
Truhe herein und setzte sie auf dem Tisch ab. »Wir sind Hinweisen
einer Ratte nachgegangen und haben unter einer Diele nachgesehen,
Herr. Ich schätze, es befinden sich mehr als zweihundert Dollar in
dieser Truhe. Unrechtmäßig erworbenes Vermögen, Herr.«
»Du hast Hinweise von einer Ratte bekommen?«
Der Feldwebel zog Sardinen aus seiner Tasche. Die Ratte verzehrte
einen Keks, hob aber höflich den Hut.
»Ist das nicht ein wenig… unhygienisch?«, fragte der
Bürgermeister.
»Nein, Chef, er hat sich die Hände gewaschen«, erwiderte
Sardinen.
»Ich habe den Feldwebel gefragt!«
»Nein, Herr. Ein netter kleiner Bursche, Herr. Sehr sauber.
Erinnert mich an den Hamster, den ich als Kind hatte,
Herr.«
»Nun, danke, Feldwebel, gute Arbeit, bitte geh und…«
»Er hieß Horaz«, fügte Doppelpunkt hinzu.
»Danke, Feldwebel, und jetzt…«
»Es tut gut, wieder kleine Wangen zu sehen, die sich beim Fressen
aufblähen, Herr.«
»Danke, Feldwebel!«
Als Doppelpunkt gegangen war, wandte sich der Bürgermeister an
Herrn Raufmann. Der Mann hatte wenigstens den Anstand, verlegen zu
wirken.
»Ich kenne ihn kaum«, sagte er. »Er ist nur jemand, der meine
Schwester geheiratet hat! Ich sehe ihn nur selten!«
»Ich verstehe«, erwiderte der Bürgermeister. »Und ich beabsichtige
nicht, den Feldwebel zu beauftragen, in deiner Speisekammer
nachzusehen.« Er lächelte dünn und schniefte leise. »Noch nicht.
Und nun… Wo waren wir stehen geblieben?«
»Ich wollte euch eine Geschichte erzählen«, sagte
Maurice.
Die Stadträte starrten ihn an.
»Und dein Name lautet…?«, fragte der Bürgermeister, dessen Stimmung
sich inzwischen erheblich verbessert hatte.
»Maurice«, sagte Maurice. »Ich bin gewissermaßen ein
freiberuflicher Vermittler. Ich verstehe, dass es dir schwer fällt,
mit Ratten zu reden, aber Menschen sprechen doch gern mit Katzen,
oder?«
»Wie in Märchen?«, fragte Krickelich.
»Ja, genau, nun…«, begann Maurice.
»Zum Beispiel ›Der gestiefelte Kater‹?«, fragte Korporal
Knopf.
»Ja, ja, Bücher.« Maurice warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Wie dem auch sei… Katzen können mit
Ratten reden, klar? Und ich will euch eine Geschichte erzählen.
Aber zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass meine Klienten, die
Ratten, diese Stadt verlassen und nie zurückkehren werden, wenn ihr
das wollt.«
Nicht nur die Menschen, auch die Ratten starrten ihn groß
an.
»Tatsächlich?«, fragte Sonnenbraun.
»Tatsächlich?«, fragte der Bürgermeister.
»Ja«, bestätigte Maurice. »Und jetzt erzähle ich eine kleine
Geschichte über eine glückliche Stadt. Ihren Namen kenn ich noch
nicht. Angenommen, meine Klienten brechen auf und ziehen
flussabwärts. Bestimmt gibt es viele kleine Städte am Fluss. Und
irgendwo wird es eine Stadt geben, die sagt: He, wir können eine Vereinbarung mit den Ratten treffen.
Und das wird eine sehr glückliche Stadt sein, weil es dann nämlich
Regeln gibt, verstehst du?«
»Nicht ganz«, sagte der Bürgermeister.
»Stell dir vor, dass in dieser glücklichen Stadt eine Frau viele
Törtchen bäckt, und sie braucht nur ins nächste Rattenloch zu
rufen: ›Guten Morgen, Ratten, ein Törtchen ist für euch, und ich
wäre euch sehr dankbar, wenn ihr den Rest nicht anrührt.‹ Und die
Ratten antworten: ›Oh, schönen Dank, Verehrteste, kein Problem.‹
Und dann…«
»Soll das heißen, wir sollen die Ratten bestechen?«, fragte der Bürgermeister.
»Sie sind billiger als Rattenpfeifer und billiger als
Rattenfänger«, sagte Maurice. »Und es ist Lohn. Lohn wofür, höre
ich dich rufen?«
»Habe ich das gerufen?«, fragte der Bürgermeister.
»Du wolltest«, erwiderte Maurice. »Und dann hätte ich gesagt: Es
ist Lohn für… Ungezieferkontrolle.«
»Was? Aber Ratten sind…«
»Sag es nicht!«, warnte Sonnenbraun.
»Ungeziefer wie Kakerlaken«, sagte Maurice glatt. »Davon gibt es
hier bestimmt jede Menge.«
»Können die ebenfalls sprechen?«,
fragte der Bürgermeister. Er trug jetzt den gequält wirkenden
Gesichtsausdruck einer Person, die Maurice für eine gewisse Zeit
zugehört hatte. Dieser spezielle Gesichtsausdruck verkündete: »Ich
gehe in eine Richtung, die ich gar nicht einschlagen wollte, aber
ich weiß nicht, wie man umdreht.«
»Nein«, sagte Maurice. »Sie können ebenso wenig sprechen wie die
Mäuse und norma… äh, andere Ratten. Mit dem Ungeziefer hat es ein
Ende in der glücklichen Stadt, denn die Ratten sind dort wie eine
Polizei. Der Clan bewacht eure
Speisekammern… Entschuldigung, ich meine die Speisekammern der
glücklichen Stadt. Rattenfänger sind nicht mehr nötig. Denkt nur an
die Einsparungen. Und das ist erst der Anfang. Die Holzschnitzer
der glücklichen Stadt werden reicher…«
»Wie?«, fragte Hauptmann der Holzschnitzer interessiert.
»Weil die Ratten für sie arbeiten«, erklärte Maurice. »Sie müssen
die ganze Zeit über nagen, damit sich ihre Zähne abnutzen, deshalb
könnten sie genauso gut Kuckucksuhren bauen. Und auch die Uhrmacher
erwarten gute Geschäfte.«
»Warum?«, fragte Krickelich, der Uhrmacher.
»Kleine Pfoten sind bestens dafür geeignet, mit kleinen Federn und
Zahnrädchen umzugehen«, sagte Maurice. »Und dann…«
»Würden sie nur Kuckucksuhren bauen oder auch andere Dinge?«,
fragte Hauptmann.
»…und dann ist da noch der Tourismus«, fuhr Maurice fort. »Zum
Beispiel die Rattenuhr. Kennt ihr die Uhr von Bums? Auf dem
Stadtplatz? Jede Viertelstunde kommen kleine Gestalten heraus und
schlagen die Glocken. Kling bong bang, bing klong bong. Sehr
beliebt. Ist auf Postkarten und so abgebildet. Leute kommen von
weither, um einfach auf dem Platz zu stehen und darauf zu
warten.«
Der Uhrmacher räusperte sich. »Soll das heißen, wenn wir… ich
meine, wenn die glückliche Stadt eine besondere große Uhr und
Ratten hätte, so würden Leute kommen, um sie zu sehen?«
»Und sie würden bis zu einer Viertelstunde auf dem Platz warten«,
sagte jemand.
»Genug Zeit, um handgefertigte Modelle der Uhr zu kaufen«, sagte
der Uhrmacher.
Die Stadträte dachten darüber nach.
»Krüge mit Rattenbildern«, sagte der Töpfer.
»Handgenagte Holzteller als Souvenir«, sagte Hauptmann. »Knuddelige
Plüschratten!«
»Ratte-am-Stiel!«
Sonnenbraun atmete tief durch. »Gute Idee«, sagte Maurice ruhig.
»Natürlich auch Zuckerwatte.« Er sah zu
Keith. »Und die Stadt würde sicher einen eigenen Rattenpfeifer
einstellen. Für Zeremonienzwecke. ›Lass dich zusammen mit dem
offiziellen Rattenpfeifer und seinen Ratten malen‹, so in der
Art.«
»Wie wär’s mit einem kleinen Theater?«, fragte jemand.
Sonnenbraun drehte sich um. »Sardinen!«
»Nun, Chef, alle machen Vorschläge, und da dachte ich…«,
protestierte Sardinen.
»Wir sollten darüber reden, Maurice«, sagte Gefährliche Bohnen und
zog am Bein der Katze.
»Bitte entschuldigt mich für einen Moment.« Maurice wandte sich mit
einem kurzen Lächeln an den Bürgermeister. »Ich muss mich mit
meinen Klienten beraten. Natürlich spreche ich hier von der
glücklichen Stadt«, fügte er hinzu.
»Und das wird nicht diese Stadt sein, denn wenn meine Klienten
fortziehen, kommen neue Ratten. Es gibt immer mehr Ratten. Und
sie sprechen nicht, und sie haben keine Regeln, und sie pinkeln in die
Milch, und dann müsst ihr euch neue Rattenfänger suchen, welche,
denen ihr vertrauen könnt, und dann habt ihr nicht mehr so viel
Geld, weil alle zu der anderen Stadt gehen. War nur so ein
Gedanke.«
Er wanderte über den Tisch und näherte sich den Ratten.
»Es lief so gut«, sagte er. »Wisst ihr, dass ihr zehn Prozent
bekommen könntet? Eure Gesichter auf Krügen und so!«
»Und dafür haben wir die ganze Nacht gekämpft?«, zischte
Sonnenbraun. »Um Haustiere zu
sein?«
»Dies ist nicht richtig, Maurice«, ließ sich Gefährliche Bohnen
vernehmen. »Es dürfte besser sein, an das gemeinsame Band zwischen
intelligenten Spezies zu appellieren …«
»Ich weiß nichts von intelligenten Spezies«, sagte Maurice. »Wir
haben es hier mit Menschen zu tun. Wisst ihr über Kriege Bescheid?
Sie sind sehr beliebt bei den Menschen. Sie kämpfen gegen andere
Menschen. Vom gemeinsamen Band halten sie nicht viel.«
»Ja, aber wir sind keine…«
»Jetzt hör mal«, sagte Maurice. »Vor zehn Minuten haben euch diese
Leute für eine Plage gehalten. Jetzt glauben sie, dass ihr…
nützlich seid. Wer weiß, was sie morgen denken?«
»Du möchtest, dass wir für sie arbeiten?«, fragte Sonnenbraun. »Wir haben uns hier
einen Platz erkämpft!«
»Ihr arbeitet für euch selbst«,
erwiderte Maurice. »Diese Leute sind keine Philosophen. Sie sind
einfach nur… gewöhnliche Leute. Sie verstehen nichts von den
Tunneln. Dies ist eine Marktstadt. Man muss auf die richtige Weise
an ihre Bewohner herantreten. Und ihr haltet andere Ratten von hier fern, und ihr pinkelt
nicht mehr in die Milch, und dafür habt ihr Dank verdient.« Er
versuchte es erneut. »Ja, es gibt Geschrei, in Ordnung. Und
anschließend, früher oder später, muss man miteinander reden.« Er
sah noch immer Verwunderung in den Augen der Ratten und wandte sich
verzweifelt an Sardinen. »Hilf mir.«
»Er hat Recht, Boss. Wir müssen ihnen eine Schau liefern«, sagte
Sardinen und tänzelte nervös.
»Sie werden über uns lachen!«, entgegnete Sonnenbraun.
»Besser lachen als schreien, Boss. Es ist ein Anfang. Man muss
tanzen, Boss. Man kann denken und kämpfen, aber die Welt bleibt
immer in Bewegung, und wenn man vorn bleiben will, muss man
tanzen.« Sardinen hob den Hut und ließ den Gehstock rotieren. Auf
der anderen Seite des Raums sahen ihn einige Menschen und lachten
leise. »Seht ihr?«, fragte er.
»Ich hatte mir eine Insel erhofft«, sagte Gefährliche Bohnen.
»Einen Ort, wo Ratten wirklich Ratten sein können.«
»Und wir haben gesehen, wohin das führt«, sagte Sonnenbraun. »Und
ich glaube nicht, dass es für Leute wie uns wundervolle Inseln in
der Ferne gibt. Nein, nicht für uns.« Er seufzte. »Wenn es irgendwo
eine wundervolle Insel für uns gibt, dann hier. Aber ich habe nicht
vor zu tanzen.«
»Es war nur eine Metapher, Boss«, sagte Sardinen und hüpfte vom
einen Bein aufs andere.
Es pochte laut, als der Bürgermeister mit der Faust auf das andere
Ende des Tisches schlug. »Wir müssen praktisch denken«, sagte er. »Wie viel schlimmer
kann es für uns werden? Die Ratten können sprechen. Ich gehe das nicht noch einmal alles
durch, verstanden? Wir haben Lebensmittel, wir haben einen großen
Teil des Geldes zurück, wir haben den Pfeifer überlebt… diese
Ratten bringen Glück…«
Keith und Malizia ragten neben den Ratten auf.
»Es klingt, als hätte sich mein Vater mit der Idee angefreundet«,
sagte Malizia. »Was ist mit euch?«
»Die Diskussionen dauern an«, erwiderte Maurice.
»Ich… äh… es tut mir Leid, ich… äh… Maurice hat mir gesagt, wo ich
nachsehen soll, und ich habe dies im Tunnel gefunden«, sagte
Malizia. Sie legte etwas auf den Tisch. Seiten klebten aneinander,
und alles war fleckig, aber das Ding ließ sich noch als
Herrn Schlappohrs Abenteuer erkennen.
»Ich musste viele Gitter hochheben«, fügte sie hinzu.
Die Ratten betrachteten das Buch. Dann sahen sie Gefährliche Bohnen
an.
»Es ist Herr Schlappohr…«, begann
Pfirsiche.
»Ich weiß«, sagte Gefährliche Bohnen. »Ich rieche es.«
Wieder glitten die Blicke der Ratten zu den Resten des
Buches.
»Es ist eine Lüge«, sagte Pfirsiche.
»Vielleicht ist es nur eine hübsche Geschichte«, meinte
Sardinen.
»Ja«, sagte Gefährliche Bohnen. »Ja.« Seine trüben rosaroten Augen
sahen zu Sonnenbraun, der sich beherrschen musste, um nicht einen
Schritt zurückzuweichen. »Vielleicht ist es eine Karte«, fügte er
hinzu.
Wäre es eine Geschichte gewesen und nicht das wahre Leben, so hätten sich Menschen und Ratten die Hände geschüttelt, um sich dann gemeinsam einer strahlenden Zukunft zuzuwenden.
Aber da es das wirkliche Leben war, musste ein Vertrag geschlossen werden. Ein Krieg, der andauerte, seit Menschen damit begonnen hatten, in Häusern zu leben, konnte nicht mit einem freundlichen Lächeln beendet werden. Ein Komitee war nötig, denn viele Einzelheiten mussten besprochen werden. Der Stadtrat gehörte dazu und die meisten ranghohen Ratten, und Maurice ernannte sich selbst zum Komiteemitglied und wanderte auf dem Tisch auf und ab.
Sonnenbraun saß am einen Ende. Er sehnte sich danach zu schlafen. Die Wunde schmerzte, die Zähne taten weh, und er hatte seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen. Seit Stunden gingen die Diskussionen über seinem hängenden Kopf hin und her. Er achtete gar nicht mehr darauf, wer sprach. Die meiste Zeit über schienen alle gleichzeitig zu reden.
»Nächster Punkt: obligatorische Schellen an
allen Katzen. Einverstanden?«
»Könnten wir noch einmal zum Paragraphen dreißig zurückkehren,
Herr, äh, Maurice? Du hast gesagt, eine Ratte zu töten sei
Mord?«
»Ja. Natürlich.«
»Aber es ist doch nur…«
»Du solltest dir genau überlegen, was du sagst, mein Lieber«,
warnte
Maurice.
»Die Katze hat Recht«, sagte der Bürgermeister. »Ich muss doch sehr
bitten, Herr Raufmann! Wir haben es
bereits besprochen.«
»Und was passiert, wenn eine Ratte bei mir stiehlt?«
»Das ist Diebstahl, und die betreffende Ratte
muss vor Gericht gestellt werden.«
»Oh, junge…?«, fragte Raufmann.
»Pfirsiche. Ich bin eine Ratte.«
»Und… äh… sind die Wächter im Stande, durch Rattentunnel zu
kriechen?«
»Ja! Weil es auch Ratten in der Wache geben wird. Ist doch ganz
klar«, sagte Maurice. »Kein Problem!«
»Ach? Und was meint Feldwebel Doppelpunkt dazu? Feldwebel
Doppelpunkt?«
»Äh… keine Ahnung, Herr. Es wäre vielleicht ganz gut. Ich könnte bestimmt nicht durch ein Rattenloch kriechen. Natürlich brauchen wir dann kleinere Dienstmarken.«
»Aber es kann doch nicht angehen, dass ein Rattenwächter einen
Menschen verhaftet.«
»O doch, natürlich«, erwiderte Feldwebel Doppelpunkt.
»Was?«
»Wenn die Ratte ein richtig vereidigter Wächter ist, eine echte
Wächterratte… dann kann man ihr nicht sagen, he, du darfst niemanden verhaften, der größer ist als du. Eine Ratte als Wächter könnte sehr nützlich sein. Ich habe da von einem kleinen Trick gehört; sie laufen im Hosenbein hoch und…«
»Zum nächsten Punkt, meine Herren. Ich schlage
vor, wir überlassen diese Sache dem Unterausschuss.«
»Welchem, Herr? Wir haben bereits siebzehn!«
Einer der Stadträte schnaufte. Das Schnaufen kam von Herrn Schlummer, der 95 Jahre alt war und den ganzen Morgen über friedlich geschlafen hatte. Es bedeutete, dass er jetzt erwachte.
Er starrte zur anderen Seite des Tisches. Sein
Schnurrbart bewegte sich. »Dort sitzt eine Ratte!«, sagte er und streckte die Hand aus. »Sieh
nur, mm, frech wie Oskar! Eine Ratte! Und sie trägt einen
Hut!«
»Ja«, sagte die Person neben ihm. »Es geht hier darum, mit Ratten
zu sprechen.«
Herr Schlummer blickte zur Seite und tastete nach seiner Brille.
»Was?« Er sah genauer hin. »Bist du,
mm, ebenfalls eine Ratte?«
»Ja. Ich heiße Nahrhaft. Wir sind hier, um mit den Menschen zu
reden. Damit all der Ärger aufhört.«
Herr Schlummer starrte auf die Ratte hinab. Dann blickte er über den Tisch zu Sardinen, der den Hut hob. Dann blickte er zum Bürgermeister, der nickte. Anschließend machte sein Blick erneut die Runde, und seine Lippen bewegten sich in dem Versuch, alles zu verstehen.
»Ihr alle
sprecht?«, fragte er.
»Ja«, bestätigte Nahrhaft.
»Aber… wer hört zu?«, fragte Herr Schlummer.
»Früher oder später klappt das auch«, sagte Maurice.
Herr Schlummer starrte ihn an. »Bist du eine Katze?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Maurice.
Herr Schlummer verdaute diesen Hinweis langsam. »Ich dachte,
wir
töten Ratten«, sagte er und schien in diesem
Punkt nicht mehr ganz sicher zu sein.
»Ja, früher, aber dies ist die Zukunft«, erwiderte Maurice.
»Tatsächlich?«, murmelte Herr Schlummer. »Hab mich immer gefragt, wann es so weit sein würde. Na gut. Auch Katzen sprechen jetzt? Bravo! Man muss, mm, mit den Dingen gehen, die… sich bewegen, ganz klar. Äh, bitte weck mich, wenn man den, mm, Tee serviert, Mieze.«
»Äh… wer älter als zehn ist, darf Katzen nicht ›Mieze‹ nennen«, sagte Nahrhaft.
»Paragraph 19b«, sagte Maurice mit fester Stimme. »›Niemand darf Katzen mit dummen Namen ansprechen, es sei denn, sie bekommen unverzüglich eine Mahlzeit.‹ Das ist mein Paragraph.«
»Wirklich?«, erwiderte Herr Schlummer. »Meine
Güte, die Zukunft ist seltsam. Ich schätze, es muss alles geregelt
werden…«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und nach einer Weile begann
er zu schnarchen.
Um ihn herum gingen die Diskussionen weiter. Viele Leute sprachen. Einige hörten zu. Gelegentlich kam man überein und ging zum nächsten Punkt über, um dann wieder zu streiten. Aber die Papierstapel auf dem Tisch wurden größer und größer, sahen immer offizieller aus.
Sonnenbraun zwang sich, wieder wach zu werden, und er fühlte sich beobachtet. Der Bürgermeister am anderen Ende des Tisches bedachte ihn mit einem langen, nachdenklichen Blick.
Während er zu ihm sah, beugte sich der Mann zur Seite und richtete einige Worte an einen Sekretär, der nickte, am Tisch entlangging und sich Sonnenbraun näherte.
»Verstehst… du… mich?«, fragte er und sprach
jedes einzelne Wort besonders deutlich aus.
»Ja… weil… ich… nicht… dumm… bin«, erwiderte Sonnenbraun.
»Der Bürgermeister lädt dich zu einem Gespräch in sein Büro ein«, sagte der Sekretär. »Die Tür dort drüben. Ich könnte dir hinunterhelfen, wenn du möchtest.«
»Ich könnte dir in den Finger beißen, wenn du möchtest«, erwiderte Sonnenbraun. Der Bürgermeister ging bereits fort. Sonnenbraun kletterte am Tischbein hinab und folgte ihm. Niemand schenkte ihnen Beachtung.
Der Bürgermeister wartete, bis Sonnenbrauns Schwanz aus dem Weg war, bevor er die Tür schloss.
Der Raum war klein und nicht aufgeräumt. Papier lag überall dort, wo es Platz dafür gab. Bücherregale zogen sich an mehreren Wänden entlang. Weitere Bücher und noch mehr Papier waren oben zwischen Bücher und Regale geklemmt.
Der Bürgermeister schob sich vorsichtig durch das Durcheinander, nahm auf einem großen, alten Drehstuhl Platz und sah zu Sonnenbraun. »Ich möchte vermeiden, dass es zu Missverständnissen kommt, deshalb halte ich es für besser, wenn wir beide ein… persönliches Gespräch führen«, sagte er. »Kann ich dich hochheben? Ich meine, wir können leichter miteinander reden, wenn du auf meinem Schreibtisch sitzt…«
»Nein«, sagte Sonnenbraun. »Und wir können leichter miteinander reden, wenn du flach auf dem Boden liegst.« Er seufzte, zu müde für solche Spiele. »Wenn du deine Hand flach auf den Boden legst – dann trete ich darauf, und du kannst mich hochheben. Aber wenn du irgendetwas Scheußliches versuchst, beiße ich dir den Daumen ab.«
Der Bürgermeister hob ihn mit großer Vorsicht hoch. Sonnenbraun sprang in das Chaos aus Papieren, leeren Teetassen und alten Stiften auf dem rissigen Leder. Von dort aus blickte er zu dem verlegenen Mann empor.
»Ah… hast du es in deinem Amt ebenfalls mit so
viel Papierkram zu tun?«, fragte der Bürgermeister.
»Pfirsiche schreibt Dinge auf«, erwiderte Sonnenbraun schlicht.
»Das ist die kleine Rattenfrau, die immer
hustet, bevor sie spricht, nicht wahr?«, fragte der
Bürgermeister.
»Ja.«
»Sie ist sehr… präzise«, sagte der Bürgermeister, und Sonnenbraun sah nun, dass er schwitzte. »Einige Stadträte hat sie ziemlich eingeschüchtert, ha ha.«
»Ha ha«, sagte Sonnenbraun.
Der Bürgermeister wirkte zutiefst unglücklich und suchte nach
Worten, um etwas zu sagen. »Hast du dich, äh, gut eingerichtet?«,
fragte er.
»Ich habe die letzte Nacht damit verbracht, in einer Rattengrube gegen einen Hund zu kämpfen, und dann saß ich eine Zeit lang in einer Falle fest«, antwortete Sonnenbraun mit einer Stimme wie Eis. »Und dann gab es eine Art Krieg. Abgesehen davon kann ich nicht klagen.«
Der Bürgermeister musterte ihn besorgt. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Sonnenbraun, wie ihm ein Mensch Leid tat. Der dumm aussehende Junge war anders gewesen. Der Bürgermeister schien ebenso müde zu sein wie Sonnenbraun.
»Weißt du«, sagte Sonnenbraun, »ich glaube, es
könnte klappen – wenn es das ist, was du mich fragen
möchtest.«
Die Miene des Bürgermeisters erhellte sich. »Im Ernst? Am Tisch
dort drüben wird viel gestritten.«
»Deshalb glaube ich, dass es klappen könnte«, sagte Sonnenbraun. »Menschen und Ratten streiten sich. Ihr vergiftet nicht unseren Käse, und wir pinkeln nicht in eure Milch. Es wird nicht leicht sein, aber es ist ein Anfang.«
»Es gibt da etwas, über das ich Bescheid wissen muss«, sagte der
Bürgermeister.
»Ja?«
»Ihr hättet unsere Brunnen vergiften
können. Es wäre euch möglich
gewesen, unsere Häuser in Brand zu setzen. Von meiner Tochter weiß ich, dass ihr sehr… modern seid. Ihr schuldet uns nichts. Warum habt ihr nichts gegen uns unternommen?«
»Zu welchem Zweck?«, erwiderte Sonnenbraun. »Und was hätten wir anschließend tun sollen? Zur nächsten Stadt weiterziehen und dort alles zerstören? Was wäre durch das Töten für uns besser geworden? Früher oder später hätten wir ohnehin versuchen müssen, mit den Menschen zu reden. Warum also nicht mit euch?«
»Ich bin froh, dass ihr uns mögt!«, sagte der Bürgermeister. Sonnenbraun öffnete den Mund, um zu sagen: Euch mögen? Wir hassen euch nur nicht genug. Wir sind keine Freunde. Aber…
Von jetzt an gab es keine Rattengruben, Fallen und Gift mehr. Zugegeben, er musste dem Clan erklären, was die Aufgaben eines Polizisten waren und warum ein Rattenwächter Ratten verfolgte, die gegen die neuen Regeln verstießen. Es würde ihnen nicht gefallen. Es würde ihnen ganz bestimmt nicht gefallen. Selbst eine Ratte, an der die Zähne der Knochenratte Spuren hinterlassen hatten, musste dabei Probleme erwarten. Aber wie Maurice gesagt hatte: Sie machen das, und du machst dies. Niemand wird viel verlieren, und alle gewinnen viel. Die Stadt blüht auf, die Kinder aller Leute wachsen heran, und plötzlich erscheint alles normal.
Und alle möchten, dass die Dinge normal sind. Es gefällt niemandem, wenn sich normale Dinge verändern. Es ist einen Versuch wert, dachte Sonnenbraun.
»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte er. »Seit wann bist du das
Oberhaupt deines Volkes?«
»Seit zehn Jahren«, antwortete der Bürgermeister.
»Ist es nicht schwer?«
»O ja. Dauernd streiten sich die Leute mit mir«, sagte der
Bürgermeister.
»Allerdings nehme ich an, dass sie sich etwas
weniger mit mir streiten werden, wenn dies funktioniert. Nein, es
ist gewiss kein leichter Job.« »Ich finde es absurd, dass man
dauernd schreien muss, damit etwas erledigt wird«, sagte
Sonnenbraun.
»Ja, stimmt«, pflichtete ihm der Bürgermeister bei.
»Und alle erwarten von einem, dass man Entscheidungen trifft«,
sagte
Sonnenbraun.
»Wie wahr.«
»Das letzte Oberhaupt meines Volkes gab mir einen Rat, bevor er
starb:
›Friss nicht das grüne wabbelige
Ding.‹«
»Ein guter Rat?«, fragte der Bürgermeister.
»Ja«, sagte Sonnenbraun. »Aber mein Vorgänger brauchte nur groß und stark zu sein und gegen andere Ratten zu kämpfen, die Anführer werden wollten.«
»So ähnlich geht es auch im Stadtrat zu«,
meinte der Bürgermeister. »Wie bitte?«, fragte Sonnenbraun. »Du
beißt die Stadträte in den Nacken?«
»Noch nicht«, sagte der Bürgermeister. »Aber es klingt nach einer
guten Idee.«
»Es ist alles viel komplizierter, als ich dachte!«, sagte Sonnenbraun verwirrt. »Nachdem man gelernt hat zu schreien, muss man lernen, nicht zu schreien!«
»Auch da hast du Recht«, erwiderte der Bürgermeister. »Genauso ist es.« Er legte die Hand auf den Schreibtisch, die Innenfläche nach oben. »Darf ich?«
Sonnenbraun trat an Bord und wahrte das Gleichgewicht, als ihn der Bürgermeister zum Fenster trug und auf dem Fensterbrett absetzte.
»Siehst du den Fluss?«, fragte der Bürgermeister. »Siehst du die Häuser? Siehst du die Leute auf den Straßen? Ich muss dafür sorgen, dass alles funktioniert. Abgesehen vom Fluss, der funktioniert von allein. Und jedes Jahr stellt sich heraus, dass ich die Leute nicht genug verärgert habe, dass sie jemand anders zum Bürgermeister wählen, was bedeutet, dass ich mich erneut um alles kümmern muss. Die ganze Sache ist weitaus komplizierter, als ich zu Anfang dachte.«
»Was, auch für dich? Aber du bist ein Mensch!«, entfuhr es Sonnenbraun verblüfft.
»Ha! Glaubst du, das macht es einfacher?
Ich dachte, Ratten sind wild und
frei!«
»Ha!«, sagte Sonnenbraun.
Sie blickten beide aus dem Fenster. Keith und Malizia gingen unten über den Platz, in ein Gespräch vertieft.
»Du könntest einen kleinen Schreibtisch hier in meinem Büro bekommen, wenn du möchtest«, sagte der Bürgermeister nach einer Weile.
»Nein danke, ich bleibe lieber in den Tunneln«, erwiderte Sonnenbraun und straffte die Gestalt. »Kleine Schreibtische sind mir ein wenig zu sehr Herr Schlappohr.«
Der Bürgermeister seufzte. »Ja, das stimmt vielleicht. Äh…« Er sah aus, als wollte er Sonnenbraun ein peinliches Geheimnis anvertrauen, und in gewisser Weise war das auch der Fall. »Aber als Kind haben mir diese Bücher sehr gefallen. Ich wusste natürlich, dass alles Unsinn war, doch ich stellte mir vor…«
»Ja, ja«, sagte Sonnenbraun. »Aber das Kaninchen war dumm. Wer glaubt an sprechende Kaninchen?«
»Oh, ja. Das Kaninchen habe ich nie gemocht, aber die anderen fand ich ganz nett. Rupert Ratte und Ferdinand Fasan und Ollie die Schlange…«
»Oh, ich bitte dich«, sagte Sonnenbraun. »Er trug Kragen und
Krawatte!«
»Na und?«
»Wie hielt das an ihm? Eine Schlange ist röhrenförmig!«
»So habe ich nie darüber nachgedacht«, sagte der Bürgermeister.
»Ja,
dumm. Die Schlange würde einfach
herauskriechen.«
»Und Westen an Ratten funktionieren nicht.«
»Nein?«
»Nein«, sagte Sonnenbraun. »Ich hab’s ausprobiert.
Werkzeuggürtel
sind in Ordnung, aber keine Westen. Gefährliche Bohnen hat sich deshalb sehr aufgeregt. Aber ich erklärte ihm, das man praktisch denken muss.«
»Wie ich immer meiner Tochter sage: Geschichten sind nur Geschichten«, erwiderte der Bürgermeister. »Das Leben ist auch so schon kompliziert genug. Wir müssen für die reale Welt planen. Es gibt keinen Platz für das Fantastische.«
»Genau«, sagte die Ratte.
Ein Mann malte mit großer Sorgfalt ein kleines Bild unter das Straßenschild mit der Aufschrift »Flussstraße«. Es befand sich dicht über dem Pflaster, und der Mann musste sich bücken, um zu malen. Immer wieder blickte er auf einen Zettel in seiner Hand. Das Bild sah so aus:
Keith lachte.
»Was findest du komisch?«, fragte Malizia.
»Das ist ein Wort im Rattenalphabet«, erklärte Keith. »Sieh nur:
Wasser
+ Schnell + Steine. Die Straße hat ein Kopfsteinpflaster, und das sind Steine für Ratten. Das Bild bedeutet ›Flussstraße‹.«
»Straßenschilder in beiden Sprachen, Paragraph 193«, sagte Malizia. »Das geht schnell. Man hat sich erst vor zwei Stunden darauf geeinigt. Bedeutet das auch, dass es an den Rattentunneln kleine Schilder in Menschensprache geben wird?«
»Hoffentlich nicht«, entgegnete
Keith.
»Warum nicht?«
»Ratten markieren ihre Tunnel, indem sie in ihnen pinkeln.«
Es beeindruckte ihn, dass Malizias Gesichtsausdruck unverändert blieb. »Ich schätze, wir müssen uns alle an eine neue Denkweise gewöhnen«, sagte sie nachdenklich. »Das mit Maurice fand ich seltsam. Ich meine, nachdem ihn mein Vater darauf hingewiesen hat, in der Stadt gäbe es viele nette alte Frauen, die bereit wären, ihn bei sich aufzunehmen.«
»Es erschien dir sonderbar, dass er antwortete,
es würde überhaupt keinen Spaß machen, es auf diese Weise zu
erreichen?«, fragte Keith. »Ja. Was bedeutet das?«
»Ich schätze, es bedeutet, dass er Maurice ist«, sagte Keith. »Ich
glaube,
er hat sich großartig amüsiert, als er auf dem Tisch auf und ab ging und alle herumkommandierte. Er meinte sogar, die Ratten könnten das Geld behalten! Angeblich hat ihm eine kleine Stimme in seinem Kopf zugeflüstert, dass es in Wirklichkeit ihnen gehörte!«
Malizia schien eine Zeit lang darüber nachzudenken, und dann fragte sie, als wäre es eigentlich nicht sehr wichtig: »Und du, äh, bleibst hier, ja?«
»Paragraph 9, Rattenpfeifer der Stadt«, sagte Keith. »Ich bekomme einen offiziellen Anzug, den ich mit niemandem teilen muss, und einen Hut mit Feder und eine Flötenzulage.«
»Das ist sehr, äh, schön«, sagte Malizia.
»Äh…«
»Ja?«
»Als ich dir sagte, ich hätte zwei Schwestern, nun, äh, das stimmt nicht ganz. Äh… es war natürlich keine Lüge, ich habe die Wirklichkeit nur ein wenig… ausgeschmückt.«
»Ja…«
»Ich meine, es entspräche mehr der Wahrheit zu sagen, dass ich eigentlich gar
keine Schwestern habe.«
»Ah«, erwiderte Keith.
»Aber ich habe natürlich Millionen von
Freunden«, fuhr Malizia fort. Sie wirkte sehr elend, fand
Keith.
»Das ist erstaunlich«, sagte er. »Die meisten Leute haben nur
einige Dutzend.«
»Millionen«, wiederholte Malizia. »Aber natürlich gibt es immer
Platz für einen weiteren.«
»Gut«, sagte Keith.
»Und dann, äh, wäre da noch Paragraph 5«, fügte Malizia ein wenig
nervös hinzu.
»Oh, ja«, sagte Keith. »Der hat alle verwirrt. ›Tee mit
Cremebrötchen und allem Drum und Dran und eine Medaille‹, nicht
wahr?« »Ja«, bestätigte Malizia. »Andernfalls wäre es kein
richtiges Ende.
Leistest du mir beim Tee
Gesellschaft?«
Es gibt eine Stadt in Überwald, in der bei jeder vollen
Viertelstunde Ratten aus dem Uhrturm kommen und die Glocken
schlagen.
Und die Leute sehen dabei zu und jubeln und kaufen handgenagte Becher, Teller, Löffel, Kuckucksuhren und andere Dinge, die nur dazu da sind, gekauft und nach Hause getragen zu werden. Und sie besuchen das Rattenmuseum, essen Rattenburger (garantiert ohne Ratten), kaufen Rattenohren, die man aufsetzen kann, und Bücher mit Rattengedichten in der Rattensprache, und sie sagen »Wie seltsam«, wenn sie die Straßenschilder auf Rattisch sehen, und sie wundern sich darüber, dass alles so sauber ist…
Und einmal am Tag spielt der recht junge Rattenpfeifer der Stadt auf seiner Flöte, und die Ratten tanzen zur Musik, für gewöhnlich in einer Cancan-Reihe. Ihr Auftritt ist sehr beliebt. An besonderen Tagen veranstaltet eine kleine stepptanzende Ratte große Tanzshows mit Hunderten von Ratten, die Pailletten tragen, und Wasserballette im Brunnen.
Und es gibt Vorträge über die Rattensteuer und die Funktionsweise des ganzen Systems und über die Stadt der Ratten unter der Stadt der Menschen. Man weist darauf hin, dass die Ratten freien Zugang zur Bibliothek haben und manchmal ihre jungen Ratten zur Schule schicken. Und alle sagen: »Wie perfekt, wie gut organisiert, wie erstaunlich.«
Und dann kehren die Besucher in ihre eigenen Städte zurück und stellen Rattenfallen auf und streuen Gift aus, denn die Denkweise mancher Leute kann man nicht einmal mit dem Kriegsbeil verändern. Doch einige von ihnen sehen die Welt als einen anderen Ort.
Es ist nicht perfekt, aber es funktioniert. Bei Geschichten kommt es darauf an, diejenigen zu wählen, die überdauern.
Weit stromabwärts sprang ein ansehnlicher Kater, der nur noch einige kahle Stellen in seinem Fell hatte, von einem Kahn, schlenderte über den Kai und erreichte eine große, wohlhabende Stadt. Er verbrachte einige Tage damit, die einheimischen Kater zu verprügeln, ein Gefühl für den Ort zu bekommen und einfach nur dazusitzen und zu beobachten.
Schließlich sah er, wonach er gesucht hatte, und folgte jemandem, der die Stadt verließ. Der junge Bursche trug einen Stock über der Schulter, mit einem verknoteten Taschentuch am Ende. Es war genau die Art von Taschentuch, in denen einsame Wanderer in Geschichten ihre wenigen Habseligkeiten tragen. Der Kater lächelte vor sich hin. Wenn man die Träume der Menschen kannte, so konnte man sie lenken.
Der Kater folgte dem Jungen bis zum ersten
Meilenstein an der Straße. Dort machte der Junge Rast und
hörte:
»He, dumm aussehender Junge! Möchtest du Oberbürgermeister werden?
Nein, hier unten, Junge…«
Denn manche Geschichten gehen zu Ende, aber alte Geschichten gehen immer weiter, und man muss zur Musik tanzen, wenn man vorn bleiben will.