Kapitel drei

Tief unter Maurices Pfoten krochen die Ratten durch die Unterstadt von Bad Blintz. Alte Orte waren so. Die Menschen bauten nicht nur nach oben, sondern auch nach unten. Keller grenzten an andere Keller, und manche von ihnen gerieten in Vergessenheit – aber nicht unter Geschöpfen, die im Verborgenen bleiben wollten.

Eine Stimme erklang in der dichten, warmen und feuchten Dunkelheit. »Na schön, wer hat die Streichhölzer?«
»Ich, Gefährliche Bohnen. Vier Portionen.«
»Bravo, junge Ratte. Und wer hat die Kerze?«
»Ich, Chef.* Ich bin Mundgerecht.«
»Gut. Stell sie auf den Boden. Pfirsiche wird sie anzünden.«
In der Dunkelheit ertönten schlurfende und scharrende Geräusche. Nicht alle Ratten hatten sich an die Vorstellung gewöhnt, Feuer zu machen, und einige versuchten, beiseite zu weichen.
Es kratzte, und dann flammte ein Streichholz auf. Pfirsiche hielt es zwischen den Vorderpfoten und zündete den Kerzenstummel an. Die Flamme wuchs kurz in die Höhe, wurde dann kleiner und brannte

* Es ist schwer, »Chef« in die Rattensprache zu übersetzen. Das rattische Wort für »Chef« ist gar kein Wort, .sondern mehr ein kurzes Ducken, das zcigt: Nur für diesen Moment ist die sich duckende Ratte bereit, die andere Ratte als Boss zu akzeptieren, aber er oder sie soll sich das bloß nicht zu Kopf steigen lassen.

gleichmäßig.
»Kannst du es wirklich sehen?«, fragte Gekochter Schinken. »Ja, Chef«, sagte Gefährliche Bohnen. »Ich bin nicht völlig blind und

erkenne den Unterschied zwischen hell und dunkel.«

Gekochter Schinken beobachtete die Flamme misstrauisch. »Trotzdem, mir gefällt das Feuer ganz und gar nicht. Die Dunkelheit war gut genug für unsere Eltern. Bestimmt geraten wir deshalb in Schwierigkeiten. Und wenn wir eine Kerze brennen lassen, vergeuden wir Nahrung.«

»Wir müssen in der Lage sein, das Feuer zu beherrschen, Chef«, sagte Gefährliche Bohnen ruhig. »Mit der Flamme geben wir der Dunkelheit gegenüber eine Erklärung ab. Wir sagen: Wir sind kein Teil von dir. Wir sagen: Wir sind nicht nur Ratten. Wir sagen: Wir sind der Clan.«

Gekochter Schinken schnaufte nur – so reagierte er, wenn er etwas nicht verstand. In letzter Zeit schnaufte er viel.
»Ich habe gehört, dass sich die jüngeren Ratten vor den Schatten fürchten«, sagte Pfirsiche.

»Warum?«, fragte Gekochter Schinken. »Sie fürchten sich doch auch nicht vor völliger Dunkelheit. Dunkelheit ist rattisch. In der Dunkelheit zu sein… Das entspricht dem Wesen der Ratte!«

»Seltsam«, sagte Pfirsiche. »Wir wussten gar nichts von der Existenz der Schatten, bis wir das Licht bekamen.«
Eine der jüngeren Ratten hob schüchtern eine Pfote. »Äh… und wenn das Licht ausgeht, wissen wir, dass die Schatten immer noch da sind.«

Gefährliche Bohnen wandte sich der jüngeren Ratte zu. »Du bist…?«, fragte er.
»Köstlich«, antwortete die jüngere Ratte.

»Nun, Köstlich«, sagte Gefährliche Bohnen freundlich, »ich glaube, die Furcht vor den Schatten ist ein Zeichen dafür, dass wir intelligenter geworden sind. Dein Bewusstsein hat herausgefunden, dass es ein Du gibt und auch Dinge, die sich außerhalb von dir befinden. Deshalb fürchtest du jetzt nicht nur Dinge, die du sehen, hören und riechen kannst, sondern auch Dinge, die du… gewissermaßen… in deinem Kopf siehst. Zu lernen mit den Schatten außerhalb von uns fertig zu werden, hilft uns beim Kampf gegen die Schatten in unserem Innern. Wir können die ganze Dunkelheit kontrollieren. Das ist ein großer Schritt nach vorn. Bravo.«

Köstlich wirkte ein wenig stolz, aber hauptsächlich nervös. »Ich sehe nicht ein, was uns das alles nützen soll«, brummte Gekochter Schinken. »Beim Haufen kamen wir bestens zurecht. Ich habe mich nie vor irgend etwas gefürchtet.«
»Wir fielen streunenden Katzen und hungrigen Hunden zum Opfer,

Chef«, erwiderte Gefährliche Bohnen.
»Wo wir gerade über Katzen reden…«, knurrte Gekochter Schinken. »Ich glaube, wir können Maurice trauen, Chef«, sagte Gefährliche

Bohnen. »Vielleicht nicht, wenn es ums Geld geht. Aber er frisst niemanden, der spricht. Das überprüft er vorher immer.«
»Man kann von einer Katze nicht erwarten, keine Katze zu sein«, sagte Gekochter Schinken. »Ganz gleich, ob sie spricht oder nicht!« »Ja, Chef. Aber wir sind anders, und Maurice ebenfalls. Ich glaube, er ist eine anständige Katze, im Innersten.«
»Ähem«, sagte Pfirsiche. »Das wird sich erweisen. Nun, jetzt sind wir hier und sollten alles organisieren.«

»Steht es dir zu zu sagen, dass wir alles organisieren sollten?«, knurrte Gekochter Schinken. »Bist du vielleicht der Anführer, junges Weibchen, das sich weigert zu rllk? Nein! Ich bin der Anführer. Es steht mir zu zu sagen, dass alles organisiert werden soll.«

»Ja, Chef«, entgegnete Pfirsiche und duckte sich. »Wie sollen wir alles organisieren, Chef?«

Gekochter Schinken starrte sie an. Er sah zu den wartenden Ratten mit ihren Packen und Bündeln und blickte sich dann im alten Keller um. Schließlich wandte er sich wieder an Pfirsiche, die noch immer geduckt dastand. »Äh… organisiert einfach alles«, brummte er. »Belästigt mich nicht mit Details! Ich bin der Anführer.« Damit stolzierte er davon und verschwand in den Schatten.

Als er gegangen war, sahen sich Pfirsiche und Gefährliche Bohnen im Keller um. Schatten zitterten überall, geschaffen vom Kerzenlicht. Ein wenig Wasser rann über eine verkrustete Wand. Hier und dort waren Steine herausgefallen und hatten einladende Löcher hinterlassen. Der Boden bestand aus Erde, in der sich keine menschlichen Fußabdrücke zeigten.

»Eine ideale Basis«, sagte Gefährliche Bohnen. »Sie riecht geheim und sicher. Ein perfekter Ort für Ratten.«
»Ja«, ertönte eine Stimme. »Und wisst ihr, was mich daran stört?«

Die Ratte namens Sonnenbraun trat ins Kerzenlicht und zog einen ihrer Werkzeuggürtel hoch. Viele der Ratten, die das Geschehen beobachteten, wurden plötzlich sehr aufmerksam. Sie hörten Gekochter Schinken zu, weil er der Anführer war, aber sie hörten Sonnenbraun zu, weil er oft von Dingen erzählte, über die man wirklich Bescheid wissen musste, wenn man am Leben bleiben wollte. Er war groß und schlank und stark. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Fallen auseinander zu nehmen, um festzustellen, wie sie funktionierten.

»Was stört dich, Sonnenbraun?«, fragte Gefährliche Bohnen.

»Es gibt hier keine Ratten. Abgesehen von uns. Es gibt Rattentunnel, aber keine Ratten. Überhaupt keine. Eine solche Stadt sollte voller Ratten sein.«

»Oh, wahrscheinlich haben sie Angst vor uns«, sagte Pfirsiche.

Sonnenbraun klopfte sich an die Seite seiner zernarbten Schnauze. »Vielleicht«, erwiderte er. »Doch die Dinge riechen nicht richtig. Das Denken ist eine großartige Erfindung, aber wir haben Nasen erhalten und sollten besser auf sie hören. Ich halte besondere Vorsicht für angebracht.« Er wandte sich den versammelten Ratten zu und hob die Stimme. »Also gut, Leute!«, rief er. »Ihr wisst, wie’s läuft. In euren Gruppen Aufstellung beziehen, und zwar sofort

Es dauerte nicht lange, bis die Ratten drei Gruppen gebildet hatten. Sie hatten viel Übung.

»Ausgezeichnet«, sagte Sonnenbraun, als die letzten Ratten hin und her gehuscht waren. »In Ordnung! Dies ist gefährliches Gebiet, Leute, deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein…«

Sonnenbraun war noch ungewöhnlicher als die anderen Ratten, denn er trug Dinge.

Als die Ratten Bücher entdeckt hatten – den meisten älteren Ratten fiel es noch immer schwer, das Konzept von Büchern zu verstehen –, fanden sie in dem Buchladen, den sie jede Nacht besuchten, das Buch. Bis zur Veränderung hatten sie von Büchern nur den Leim des Einbands gefressen und aus den Seiten Nester gebaut.

Sie hatten sich nie ein Buch angesehen.
Dieses Buch war erstaunlich.
Die Bilder hatten sie beeindruckt, noch bevor Pfirsiche und Zutritt

Verboten lernten, menschliche Worte zu lesen.

Die Bilder zeigten Tiere, die Kleidung trugen. Es gab ein Kaninchen, das aufrecht ging und einen blauen Anzug trug. Es gab eine Ratte mit einem Hut auf dem Kopf und einem Schwert und einer Weste, komplett mit einer Uhr an der Kette. Es gab eine Schlange mit Kragen und Krawatte. Alle sprachen, und niemand von ihnen fraß jemand anderen, und was unglaublich war: Sie sprachen auch mit den Menschen, die sie wie, nun, kleinere Menschen behandelten. Fallen kamen ebenso wenig vor wie Gift. Pfirsiche arbeitete sich gewissenhaft durch das Buch und las manche Stellen laut vor. Sie wies darauf hin, dass Ollie die Schlange ein ziemlicher Frechdachs war, aber nie geschah etwas Schlimmes. Selbst als sich das Kaninchen im Dunklen Wald verirrte – es kam mit dem Schrecken davon.

Herrn Schlappohrs Abenteuer hatte bei den Veränderten zu vielen Diskussionen geführt. Welchen Zweck erfüllte das Buch? War es, wie Gefährliche Bohnen vermutete, die Vision einer strahlenden Zukunft? Hatten Menschen es geschaffen? Der Laden war für Menschen gewesen, aber sicher würden selbst Menschen kein Buch schreiben über Rupert Ratte, der einen Hut trug, und gleichzeitig Ratten unter den Dielen vergiften. Wie verrückt musste man sein, um auf eine solche Weise zu denken?

Einige der jüngeren Ratten hatten vermutet, dass Kleidung vielleicht wichtiger war, als bisher angenommen. Sie hatten versucht, Westen zu tragen, aber es war schwer, das richtige Muster herauszubeißen, die Knöpfe funktionierten nicht, der Stoff blieb an jedem Holzsplitter hängen, und man konnte nur schwer darin laufen. Hüte fielen einfach herunter.

Sonnenbraun glaubte schlicht, dass Menschen tatsächlich verrückt waren und nicht nur böse. Doch die Bilder in dem Buch brachten ihn auf eine Idee. Er trug keine Weste, sondern mehrere breite Gürtel, die sich leicht anlegen und abstreifen ließen. Darauf nähte er Taschen – und das war wirklich eine gute Idee, wie zusätzliche Pfoten. In den Taschen brachte er die Dinge unter, die er brauchte, etwa kleine Metallstangen und Draht. Einige andere folgten seinem Beispiel. In der Gruppe Fallenbeseitigung wusste man nie, was man als Nächstes brauchte. Es war ein gefährliches, rattisches Leben.

Die Stangen und Drähte klirrten, als Sonnenbraun vor den Gruppen auf und ab ging. Vor den jüngeren Ratten blieb er stehen. »Na schön, Gruppe Nummer drei, ihr seid für den Pinkeldienst eingeteilt«, sagte er. »Geht und trinkt möglichst viel Wasser.«

»Och, immer müssen wir pinkeln«, klagte eine Ratte.

Sonnenbraun sprang auf sie zu und beugte sich vor, bis sie zurückwich. »Weil ihr gute Pinkler seid, Junge! Deine Mutter hat dich dazu erzogen, ein guter Pinkler zu sein, also geh und mach, was dir leicht fällt! Nichts stößt Menschen so sehr ab, wie zu sehen, dass schon eine Ratte da gewesen ist, wenn ihr versteht, was ich meine. Und nagt auch ein wenig, wenn ihr Gelegenheit dazu bekommt. Und lauft quiekend unter den Dielen umher! Und denkt daran: Wohin ihr auch geht – wartet zuerst, bis die Fallenbeseitigung Entwarnung gegeben hat. Und jetzt, zum Wasser, aber dalli! Hopp! Hopp! Hopp! Eins zwei, eins zwei, eins zwei!«

Die Gruppe sauste los.

Sonnenbraun wandte sich an Gruppe Nummer zwei. Sie bestand aus einigen der älteren Ratten, struppig und mit alten Bissnarben. Einige von ihnen hatten nur noch einen Schwanzstummel oder gar keinen Schwanz. Anderen fehlte eine Pfote, ein Ohr oder ein Auge. Insgesamt waren es etwa zwanzig, aber die Einzelteile hätten nur für siebzehn vollständige Exemplare ausgereicht.

Sie waren alt und deshalb schlau, denn nur eine schlaue, gerissene und argwöhnische Ratte wird alt. Als die Intelligenz kam, waren sie alle bereits erwachsen gewesen. Sie hatten recht starre Angewohnheiten, deshalb gefielen sie Gekochter Schinken. Sie zeichneten sich noch immer durch eine elementare Rattigkeit aus, eine rohe Schläue, mit der man sich aus Fallen befreien konnte, in die man durch zu aufgeregte Intelligenz geraten war. Sie dachten mit ihren Nasen, und man brauchte ihnen nicht zu sagen, wo sie pinkeln sollten.

»Na schön, Leute, ihr wisst Bescheid«, sagte Sonnenbraun. »Ich möchte jede Menge Frechheiten sehen. Klaut Nahrung aus Katzennäpfen. Stibitzt Pasteten direkt unter den Nasen der Köche…«

»… Gebisse aus dem Mund alter Männer…«, sagte eine kleine Ratte, die auf der Stelle zu tanzen schien. Ihre Füße bewegten sich in einem permanenten Stepptanz. Außerdem trug diese Ratte einen zerbeulten Strohhut, der ihr nicht vom Kopf fiel, weil sie die Ohren hindurchgebohrt hatte. Ihr Motto lautete: Um auf der Hut zu sein, braucht man einen Hut.

»Das war Dusel, Sardinen. Ich wette, so etwas schaffst du nicht noch einmal«, sagte Sonnenbraun und grinste. »Und erzähl den Jungen nicht wieder davon, wie du in einer Badewanne geschwommen bist. Ja, ich weiß, dass es stimmt, aber ich möchte niemanden verlieren, weil dieser jemand nicht aus einer glatten Wanne klettern kann. Wie dem auch sei… Wenn ich innerhalb von zehn Minuten keine Frauen höre, die schreiend aus ihren Küchen fliehen, seid ihr nicht die Ratten, die ihr eigentlich sein solltet. Also? Was steht ihr noch herum? An die Arbeit! Und… Sardinen?«

»Ja, Boss?«
»Übertreib’s diesmal nicht mit dem Stepptanz.«
»Ich habe eben diese tanzenden Füße, Boss!«
»Und musst du dauernd den dummen Hut tragen?«, fragte

Sonnenbraun und grinste erneut.

»Ja, Boss!« Sardinen gehörte zu den älteren Ratten, aber das merkte man kaum. Er tanzte und scherzte und ließ sich nie in Kämpfe verwickeln. Er hatte im Theater gelebt und einmal eine ganze Schachtel Fettschminke verspeist – sie schien ihm ins Blut geraten zu sein.

»Und geh den Leuten von der Fallenbeseitigung nicht voraus!«, mahnte Sonnenbraun.

Sardinen lächelte. »Ach, Boss, darf ich denn überhaupt keinen Spaß haben?« Er tanzte den anderen hinterher, den Löchern in der Wand entgegen.

Sonnenbraun wandte sich an Gruppe Nummer eins. Es war die kleinste der drei Gruppen. Man musste eine besondere Ratte sein, um bei der Fallenbeseitigung lange zu überleben. Man musste langsam, geduldig und gründlich sein. Man brauchte ein gutes Gedächtnis und jede Menge Vorsicht. Man konnte zu einem Fallenbeseitiger werden, wenn man schnell, ungestüm und hastig war, aber man blieb es nicht lange.

Sonnenbraun musterte die Ratten der Reihe nach und lächelte. Er war stolz auf sie. »In Ordnung, Leute, ihr kennt euch mit allem aus«, sagte er. »Ich brauche euch keinen langen Vortrag zu halten. Denkt daran, dass wir hier in einer neuen Stadt sind und nicht wissen, was uns erwartet. Bestimmt gibt es hier viele neue Fallen, aber wir lernen schnell. Und Gift. Vielleicht werden hier Gifte ausgelegt, die wir noch nicht kennen. Überstürzt nichts. Lasst euch Zeit. Wir wollen nicht wie die erste Maus sein, oder?«

»Nein, Sonnenbraun«, erwiderten die Ratten pflichtbewusst. »Wir wollen nicht wie welche Maus sein?«, fragte Sonnenbraun. »Wir wollen nicht wie die erste Maus sein!«, riefen die Ratten. »Genau! Wir möchten wie welche Maus sein?«
»Wie die zweite, Sonnenbraun!«, riefen die Ratten wie Leute, die diese

Worte auswendig kannten und schon oft gesprochen hatten. »Genau! Und warum wollen wir wie die zweite Maus sein?« »Weil die zweite Maus den Käse bekommt, Sonnenbraun!« »Gut!«, sagte Sonnenbraun. »In Salzlake, du übernimmst Trupp zwei…

Verfallsdatum? Du wirst befördert und übernimmst Trupp drei. Ich hoffe, du bist ebenso gut wie die alte Bauernhaus, bis sie vergaß, wie man den Auslösehebel des Schnappzu-Rattenfängers Nummer 5 wirkungslos macht. Übersteigertes Selbstvertrauen ist unser Feind! Wenn ihr irgendetwas Verdächtiges seht, kleine Bretter, die euch seltsam erscheinen, Dinge mit Drähten, Federn und so – markiert es und schickt einen Kurier zu mir, klar? Ja?«

Eine junge Ratte hob die Hand.
»Ja? Wie lautet dein Name… Fräulein?«
»Äh… Nahrhaft, Chef«, sagte die Ratte. »Äh… darf ich eine Frage

stellen, Chef?«
»Bist du neu in dieser Gruppe, Nahrhaft?«, fragte Sonnenbraun. »Ja, Chef! Bin von den Leichten Pinklern hierher versetzt worden, Chef!«
»Ah, man glaubt also, du könntest eine gute Fallenbeseitigerin sein?«

Nahrhaft wirkte ein wenig verlegen, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. »Äh… eigentlich nicht, Chef. Die anderen meinten, ich könnte nicht schlechter sein als beim Pinkeln, Chef.«

Allgemeines Gelächter erklang.
»Wie kann eine Ratte dabei nicht gut sein?«, fragte Sonnenbraun. »Es ist alles so… so… peinlich, Chef«, sagte Nahrhaft.
Sonnenbraun seufzte leise. Das neue Denken führte zu einigen

seltsamen Dingen. Die Vorstellung vom Richtigen Ort hielt er durchaus für angebracht, aber einige der anderen Ideen, die den jungen Ratten kamen, waren… sonderbar.

»Na schön«, sagte er. »Was wolltest du fragen, Nahrhaft?« »Äh… du hast gesagt, dass die zweite Maus den Käse bekommt, Chef.«

»Das stimmt! So lautet das Motto der Gruppe, Nahrhaft. Merk es dir! Es ist dein Freund!«
»Ja, Chef. Das werde ich, Chef. Aber… bekommt die erste Maus gar nichts, Chef?«

Sonnenbraun starrte die junge Ratte an. Es beeindruckte ihn ein wenig, dass sie zurückstarrte, anstatt sich zu ducken. »Ich weiß schon jetzt, dass du eine wertvolle Ergänzung der Gruppe sein wirst, Nahrhaft.« Er hob die Stimme. »Gruppe! Was bekommt die erste Maus?«

Die Stimmen donnerten so laut, dass Staub von der Decke rieselte. »Die Falle!«
»Und vergesst das nicht«, sagte Sonnenbraun. »Führ sie hinaus, Sonderangebot. Ich komme gleich nach.«
Eine jüngere Ratte trat vor und wandte sich der Gruppe zu. »Also los, ihr Ratten! Zack, zack…«
Die Fallenbeseitiger liefen los. Sonnenbraun trat an Gefährliche Bohnen heran.
»Es geht los«, sagte er. »Wenn die Menschen bis morgen nicht nach einem guten Rattenfänger Ausschau halten, verstehen wir unser Handwerk nicht mehr.«

»Wir müssen länger bleiben«, meinte Pfirsiche. »Einige der Frauen bringen hier ihre Babys zur Welt.«
»Noch wissen wir nicht, ob es hier sicher ist«, sagte Sonnenbraun.

»Willst du das Gut Gespart mitteilen?«, fragte Pfirsiche. Gut Gespart war das weibliche Oberhaupt des Clans. Man sagte, dass sie einen Biss hatte wie eine Spitzhacke und Muskeln so hart wie Stein. Außerdem war sie männlichen Ratten gegenüber oft gereizt. Selbst Gekochter Schinken ging ihr aus dem Weg, wenn sie schlechte Laune hatte.

»Die Natur muss natürlich ihren Lauf nehmen«, sagte Sonnenbraun rasch. »Aber wir haben diesen Ort noch nicht erforscht. Es muss hier andere Ratten geben.«

»Oh, die Kiekies halten sich immer von uns fern«, sagte Pfirsiche.

Das stimmte, musste Sonnenbraun zugeben. Gewöhnliche Ratten gingen den Veränderten aus dem Weg. Manchmal gab es Probleme, aber die Veränderten waren groß und gesund, und sie konnten sich durch einen Kampf denken. Gefährliche Bohnen bedauerte diese Sache, aber wie es Gekochter Schinken ausdrückte: Entweder sie oder wir. Und wenn man es sich genau überlegte: In der Welt fraß eine Ratte die andere…

»Ich gehe jetzt zu meinem Trupp«, sagte Sonnenbraun. Er war noch immer nervös angesichts der Vorstellung, Gut Gespart gegenübertreten zu müssen. »Äh…« Er schob sich etwas näher. »Was ist mit Gekochter Schinken?«

»Er… denkt über gewisse Dinge nach«, sagte Pfirsiche.
»Er denkt nach?«, wiederholte Sonnenbraun erstaunt. »Na schön. Ich muss mich um Fallen kümmern. Bis später.«
»Was ist mit Gekochter Schinken los?«, fragte Gefährliche Bohnen, als er und Pfirsiche allein waren.

»Er wird alt«, antwortete Pfirsiche. »Er muss sich öfter ausruhen. Und vielleicht befürchtet er, von Sonnenbraun oder einem der anderen herausgefordert zu werden.«

»Könnte es dazu kommen? Was meinst du?«
»Sonnenbraun ist ganz darauf konzentriert, Fallen zu beseitigen und Gift zu testen. Für ihn gibt es interessantere Dinge, als eine andere Ratte zu beißen.«

»Oder zu rllk, wie ich hörte«, sagte Gefährliche Bohnen.

Pfirsiche senkte sittsam den Kopf. Wenn Ratten erröten könnten, hätte sich jetzt ihr Gesicht verfärbt. Es war erstaunlich, wie sehr rosarote Augen, die kaum mehr etwas sahen, einen durchschauen konnten. »Die Frauen sind viel wählerischer geworden«, sagte sie. »Sie wünschen sich Väter, die denken.«

»Gut«, erwiderte Gefährliche Bohnen. »Wir müssen vorsichtig sein. Es ist nicht mehr nötig, dass wir uns wie Ratten vermehren. Wir brauchen uns nicht mehr auf unsere Anzahl zu verlassen. Wir sind die Veränderten.«

Pfirsiche beobachtete ihn gespannt. Wenn Gefährliche Bohnen dachte, schien er in eine Welt zu blicken, die nur er sehen konnte. »Was ist es diesmal?«, fragte sie.

»Ich habe daran gedacht, dass wir keine anderen Ratten töten sollten.

Keine Ratte sollte eine andere Ratte töten.«
»Nicht einmal Kiekies?«, fragte Pfirsiche.
»Sie sind ebenfalls Ratten.«
Pfirsiche zuckte mit den Schultern. »Wir haben versucht, mit ihnen zu

reden, ohne Erfolg. Außerdem halten sie sich ohnehin meistens von uns fern.«
Gefährliche Bohnen starrte noch immer in die unsichtbare Welt. »Trotzdem«, sagte er. »Ich möchte, dass du es aufschreibst.«

Pfirsiche seufzte, ging aber zu einem der Packen, den die Ratten hereingetragen hatten, und zog ihre Tasche heraus. Eigentlich war es nur eine Stoffrolle mit einem Griff aus einem Bindfaden, aber sie bot genug Platz für einige Streichhölzer, Stücke von Bleistiftminen, einen kleinen Splitter von einem zerbrochenen Messer zum Anspitzen der Minenstücke, und ein schmutziges Stück Papier. Alles wichtige Dinge.

Pfirsiche war auch die offizielle Trägerin von Herrn Schlappohrs Abenteuer. »Trägerin« war eigentlich nicht ganz richtig; es hätte »Schlepperin« heißen müssen. Gefährliche Bohnen wusste immer gern, wo sich das Buch befand, und er schien besser denken zu können, wenn er es in der Nähe wusste. Es spendete ihm Trost, und das genügte Pfirsiche.

Sie glättete das Papier auf einem alten Ziegel, griff nach einem Stück Bleistiftmine und blickte auf die Liste.
Der erste Gedanke lautete: Im Clan liegt Kraft.

Es war sehr schwer gewesen, das zu übersetzen, aber Pfirsiche hatte sich Mühe gegeben. Die meisten Ratten konnten die Schrift der Menschen nicht lesen. Es fiel ihnen zu schwer, irgendeinen Sinn in all den Linien und Schnörkeln zu erkennen. Deshalb hatte Pfirsiche versucht, eine Schriftsprache zu entwickeln, die Ratten verstanden.

Sie hatte eine große Ratte gezeichnet, die aus vielen kleinen Ratten bestand:

Das Schreiben hatte Spannungen mit Gekochter Schinken verursacht. Neue Ideen brauchten einen Sprung mit Anlauf, um in den Kopf der alten Ratte zu gelangen. Gefährliche Bohnen hatte mit seiner seltsam ruhigen Stimme erklärt: »Wenn Dinge aufgeschrieben werden, existiert das Wissen einer Ratte auch dann noch, wenn sie gestorben ist.« Er wies darauf hin, dass alle Ratten das Wissen von Gekochter Schinken lernen könnten. Woraufhin Gekochter Schinken erwiderte: »Von wegen!« Er hatte Jahre gebraucht, um einige der Tricks zu lernen, die er beherrschte! Warum das alles einfach so weggeben? Es würde bedeuten, dass junge Ratten ebenso viel wussten wie er!

Und Gefährliche Bohnen hatte gesagt: »Wir kooperieren oder wir sterben.«

Das wurde zum nächsten Gedanken. Die Darstellung von »kooperieren« war nicht leicht gewesen, aber selbst Kiekies führten manchmal einen blinden oder verwundeten Kameraden, und das war zweifellos Kooperation. Die dicke Linie dort, wo Pfirsiche zugedrückt hatte, bedeutete »nein«. Die Falle symbolisierte »sterben« oder »schlecht« beziehungsweise »meiden«.

Der letzte Gedanke auf dem Papier lautete: Nicht dort pinkeln, wo man isst. Das war ganz einfach gewesen.
Pfirsiche nahm das Minenstück in beide Vorderpfoten und zeichnete sorgfältig: Keine Ratte soll eine andere Ratte töten.

Sie lehnte sich zurück. Ja… nicht schlecht. »Falle« war ein gutes Zeichen für Tod, und sie hatte die tote Ratte hinzugefügt, um es noch ernster zu machen.

»Aber wenn einem keine Wahl bleibt?«, fragte sie und betrachtete das Bild.
»Dann bleibt einem keine Wahl«, erwiderte Gefährliche Bohnen. »Aber man sollte keine anderen Ratten töten.«

Pfirsiche schüttelte traurig den Kopf. Sie unterstützte Gefährliche Bohnen, weil er… weil er irgendetwas an sich hatte. Er war nicht groß oder schnell, und er war fast blind und schwach, und manchmal vergaß er zu essen, weil ihm Gedanken kamen, die niemand – zumindest keine Ratte – vor ihm gedacht hatte. Die meisten von ihnen ärgerten Gekochter Schinken, zum Beispiel als Gefährliche Bohnen gefragt hatte: »Was ist eine Ratte?« Gekochter Schinken hatte geantwortet: »Zähne. Krallen. Schwanz. Laufen. Verstecken. Fressen. Das macht eine Ratte aus.«

Gefährliche Bohnen hatte erwidert: »Aber heute können wir uns fragen, was eine Ratte ist, und das bedeutet, dass wir mehr sind.«

»Wir sind Ratten«, hatte Gekochter Schinken betont. »Wir laufen herum und quieken und stehlen und machen mehr Ratten. Dafür sind wir geschaffen

»Von wem?«, hatte Gefährliche Bohnen gefragt, und ein weiterer Streit über die Große-Ratte-tief-unter-dem-Boden-Theorie hatte sich angeschlossen.

Aber selbst Gekochter Schinken folgte Gefährliche Bohnen, ebenso Ratten wie Sonnenbraun und Zutritt Verboten. Und sie lauschten aufmerksam, wenn er sprach.

Pfirsiche hörte aufmerksam zu, wenn die anderen sprachen. »Wir haben Nasen erhalten«, hatte Sonnenbraun seinen Leuten mitgeteilt. Aber wer hatte ihnen die Nasen gegeben? Die Gedanken von Gefährliche Bohnen fanden einen Weg in die Köpfe anderer, ohne dass sie etwas davon merkten.

Er erfand neue Arten des Denkens. Er erfand neue Wörter. Es gelang ihm, die Dinge zu verstehen, die mit ihnen geschahen. Große Ratten und Ratten mit Narben hörten der kleinen Ratte zu, denn die Veränderung hatte sie in ein dunkles Land geführt, und nur er schien zu wissen, wohin sie unterwegs waren.

Pfirsiche ließ Gefährliche Bohnen bei der Kerze zurück und machte sich auf die Suche nach Gekochter Schinken. Er saß an einer Mauer. Wie die meisten alten Ratten blieb er in der Nähe von Wänden und mied offene Bereiche und zu viel Licht.

Er schien zu zittern.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Pfirsiche.
Das Zittern hörte auf. »Ja, ja, es ist alles in Ordnung!«, erwiderte

Gekochter Schinken scharf. »Nur ein paar Zuckungen, weiter nichts.« »Ich habe mich gefragt, warum du nicht mit einer der Gruppen aufgebrochen bist«, sagte Pfirsiche.

»Es ist alles in Ordnung mit mir!«, beharrte Gekochter Schinken. »Wir haben noch einige Kartoffeln im Gepäck…«
»Ich brauche nichts zu essen! Es geht mir gut!«
Was bedeutete, dass es ihm nicht gut ging. Das war auch der Grund,

warum er sein Wissen nicht mit anderen teilen wollte – er hatte nichts anderes. Pfirsiche wusste, was Ratten traditionell mit einem zu alten Anführer anstellten. Sie hatte das Gesicht von Gekochter Schinken gesehen, als Sonnenbraun – der jüngere und stärkere Sonnenbraun – zu den Gruppen sprach, und sie wusste, dass auch Gekochter Schinken daran dachte. Es war alles in Ordnung mit ihm, wenn ihn die Leute beobachteten, aber seit einiger Zeit ruhte er sich oft aus und kauerte in Ecken.

Alte Ratten wurden vertrieben, schlichen allein herum und wurden komisch im Kopf. Bald würde es einen neuen Anführer geben.

Pfirsiche wünschte, sie hätte ihm einen der Gedanken von Gefährliche Bohnen begreiflich machen können, aber der alte Rattenmann sprach nicht gern mit Rattenfrauen. Er hielt an dem Glauben fest, dass Frauen nicht dazu da waren, um mit ihnen zu reden.

Der Gedanke lautete:
Wir sind die Veränderten. Wir sind nicht wie andere Ratten.