Kapitelvier

Der Junge, das Mädchen und Maurice hielten sich in einer großen Küche auf. Der Junge wusste, dass es eine Küche war, weil ein großer schwarzer Eisenherd im Kaminvorsprung stand und Töpfe und Pfannen an der Wand hingen. Hinzu kam ein langer zerkratzter Tisch. Allerdings fehlte etwas, das man normalerweise in einer Küche erwartete: Lebensmittel.

Das Mädchen ging zu einem Metallkasten in der Ecke und tastete nach dem Bindfaden um seinen Hals. Wie sich herausstellte, hing ein großer Schlüssel daran. »Heute kann man niemandem trauen«, sagte sie. »Und die Ratten stehlen hundertmal so viel, wie sie fressen, die kleinen Teufel.«

»Das glaube ich nicht«, sagte der Junge. »Höchstens zehnmal so viel.« »Weißt du ganz plötzlich alles über Ratten?«, fragte das Mädchen und schloss den Kasten auf.
»Nicht ganz plötzlich. Ich hab’s gelernt, als… Au! Das hat wirklich weh getan!«

»Tut mir Leid«, sagte Maurice. »Ich habe dich rein zufällig gekratzt.« Er versuchte, ein Gesicht zu schneiden, das so viel bedeutete wie: Sei kein Vollidiot. Als Katze fiel ihm das sehr schwer.

Das Mädchen warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und sah dann in den Kasten. »Hier ist Milch, die noch nicht ganz hart geworden ist, außerdem zwei Fischköpfe«, sagte sie.

»Klingt gut«, erwiderte Maurice.
»Was ist mit deinem Menschen?«
»Mit ihm? Er isst praktisch alles.«
»Wir haben Brot und Würstchen«, sagte das Mädchen und nahm eine

Kanne aus dem metallenen Schrank. »Wir sind alle sehr misstrauisch, was die Würstchen angeht. Außerdem liegt da noch ein Stück Käse, aber es ist ziemlich alt.«

»Ich glaube nicht, dass wir deine Nahrungsmittel essen sollten, wenn sie so knapp sind«, sagte der Junge. »Wir haben Geld.«
»Oh, mein Vater sagt, es wirft ein schlechtes Licht auf die Stadt, wenn wir nicht gastfreundlich sind. Er ist der Bürgermeister, wisst ihr.« »Er ist die Regierung?«, fragte der Junge.

Das Mädchen starrte ihn an. »Ich denke schon«, sagte sie. »Komisch, dass du es auf diese Weise ausdrückst. Eigentlich macht der Stadtrat die Gesetze. Mein Vater verwaltet nur alles und streitet mit jedem. Er sagt, wir sollten nicht mehr bekommen als die anderen Leute, um in diesen schwierigen Zeiten Solidarität zu zeigen. Es war schon schlimm genug, dass keine Touristen mehr kamen, um unsere heißen Bäder zu besuchen – die Ratten haben alles noch schlimmer gemacht.« Das Mädchen nahm zwei Untertassen aus der Anrichte. »Mein Vater sagt, wenn wir alle vernünftig sind, gibt es genug«, fuhr sie fort. »Das finde ich sehr lobenswert. Ich bin ganz seiner Meinung. Aber ich denke, wenn man Solidarität gezeigt hat, sollte einem ein bisschen was extra gestattet sein. Ich glaube, wir bekommen sogar noch weniger als alle anderen. Könnt ihr euch das vorstellen? Wie dem auch sei… Du bist also wirklich eine magische Katze?«, fragte das Mädchen und schüttete die Milch in eine Untertasse. Sie floss nicht, sondern quoll, aber Maurice war eine Straßenkatze und trank selbst Milch, die wegzukriechen versuchte.

»Oh, ja, genau, magisch«, sagte er mit einem gelbweißen Ring um das Maul. Für zwei Fischköpfe war er bereit, alles für jeden zu sein.

»Gehörtest wahrscheinlich einer Hexe, nehme ich an, mit einem Namen wie Griselda oder so«, sagte das Mädchen und legte die beiden Fischköpfe auf die andere Untertasse.

»Ja, stimmt, Griselda, genau«, erwiderte Maurice, ohne den Kopf zu heben.
»Wohnte wahrscheinlich in einem Pfefferkuchenhaus im Wald.«

»Ja, stimmt.« Und er wäre nicht Maurice gewesen, wenn er nicht etwas erfunden hätte: »Allerdings war es ein Knäckebrothaus, denn sie machte eine Schlankheitskur. Legte großen Wert auf Gesundheit, die alte Griselda.«

Das Mädchen wirkte einige Sekunden verwirrt. »So sollte es nicht sein«, sagte sie.

»Entschuldigung, habe mich geirrt, war tatsächlich ein Pfefferkuchenhaus«, fügte Maurice hastig hinzu. Wer einem zu essen gab, hatte immer Recht.

»Und bestimmt hatte sie große Warzen.«

»Verehrtes Fräulein…« Maurice versuchte, ganz ehrlich zu wirken. »Einige der Warzen waren mit so viel Persönlichkeit ausgestattet, dass sie eigene Freunde hatten. Äh… wie heißt du?«

»Versprichst du mir, nicht zu lachen?«
»Versprochen.« Vielleicht gab es weitere Fischköpfe.
»Ich heiße… Malizia.«
»Oh.«
»Lachst du?«, fragte Malizia in drohendem Tonfall.
»Nein«, erwiderte Maurice verwundert. »Warum sollte ich?« »Findest du den Namen nicht komisch?«
Maurice dachte über die ihm bekannten Namen nach: Gekochter

Schinken, Gefährliche Bohnen, Sonnenbraun, Sardinen… »Klingt nach einem ganz gewöhnlichen Namen«, sagte er.

Malizia bedachte ihn mit einem weiteren argwöhnischen Blick und wandte ihre Aufmerksamkeit dann dem Jungen zu, der mit dem üblichen zufriedenen Lächeln dasaß – auf diese Weise lächelte er immer, wenn es nichts anderes für ihn zu tun gab. »Hast du auch einen Namen?«, fragte sie. »Du bist nicht zufällig der dritte und jüngste Sohn eines Königs? Wenn dein Name mit ›Prinz‹ beginnt, ist das ein guter Hinweis.«

»Ich glaube, ich heiße Keith«, sagte der Junge.
»Du hast nie gesagt, dass du einen Namen hast!«, entfuhr es Maurice. »Niemand hat mich danach gefragt«, sagte der Junge.
»Keith ist kein viel versprechender Anfang für einen Namen«, sagte

Malizia. »Er deutet auf nichts Geheimnisvolles hin, nur auf Keith. Ist das wirklich dein richtiger Name?«
»Es ist der Name, den man mir gegeben hat.«

»Ja, das klingt schon besser. Ein leichter Hinweis auf etwas Geheimnisvolles«, sagte Malizia und wirkte plötzlich interessiert. »Gerade genug, um eine gewisse Spannung zu schaffen. Ich nehme an, man hat dich kurz nach deiner Geburt entführt. Wahrscheinlich bist du der rechtmäßige König irgendeines Landes, aber sie fanden jemanden, der dir ähnelt, und daraufhin hat man dich vertauscht. In dem Fall hast du wahrscheinlich ein magisches Schwert, das aber nicht magisch aussieht und sich erst als solches erweist, wenn für dich die Zeit gekommen ist, dein Schicksal zu erfüllen. Wahrscheinlich hat man dich vor einer Tür gefunden.«

»Das stimmt«, bestätigte Keith.
»Siehst du? Ich habe immer Recht!«

Maurice hielt immer nach dem Ausschau, was die Leute wollten. Und Malizia, so fand er, wollte einen Knebel. Aber er hatte den dumm aussehenden Jungen noch nie von sich selbst sprechen gehört.

»Was hast du vor der Tür gemacht?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, erwiderte Keith. »Vermutlich habe ich gebrabbelt.« »Davon hast du mir nie erzählt«, sagte Maurice vorwurfsvoll. »Ist es wichtig?«, fragte Keith.
»Wahrscheinlich lag neben dir im Korb auch ein magisches Schwert

oder eine Krone. Und du hast auch eine geheimnisvolle Tätowierung oder ein sonderbares Muttermal«, sagte Malizia.
»Ich glaube nicht«, sagte Keith. »Niemand hat jemals so etwas erwähnt.

Nur ich und eine Decke lagen im Korb. Und ein Zettel.«
»Ein Zettel? Das ist wichtig
»Darauf stand: ›Neunzehn halbe Liter Milch und ein Erdbeerjogurt‹«,

sagte Keith.
»Das hilft nicht viel«, stellte Malizia fest. »Warum neunzehn halbe Liter Milch?«
»Es war die Gilde der Musiker«, sagte Keith. »Sie ist ziemlich groß. Über den Erdbeer-Joghurt weiß ich nicht Bescheid.«

»Ein ausgesetztes Waisenkind, das ist gut«, fand Malizia. »Ein Prinz kann nur zu einem König werden, aber ein Waise kann alles sein. Hat man dich geschlagen und in einen Keller gesperrt, wo du Hunger leiden musstest?«

»Ich glaube nicht«, sagte Keith und sah Malizia verwundert an. »Alle in der Gilde erwiesen sich als sehr freundlich. Es waren fast alles nette Leute. Sie lehrten mich viel.«

»Wir haben hier ebenfalls Gilden«, sagte Malizia. »Sie machen Jungen zu Tischlern und Steinmetzen und so.«

»Die Gilde lehrte mich Musik«, erklärte Keith. »Ich bin Musiker. Und ein guter noch dazu. Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt, seit ich sechs bin.«

»Aha! Geheimnisvolles Waisenkind, sonderbares Talent, in Not aufgewachsen… Allmählich nimmt alles Gestalt an«, sagte Malizia. »Der Erdbeerjogurt ist wahrscheinlich nicht wichtig. Wäre dein Leben anders verlaufen, wenn er Bananengeschmack gehabt hätte? Wer weiß? Welche Art von Musik spielst du?«

»Welche Art?«, wiederholte Keith. »Es gibt keine verschiedenen Arten. Es gibt nur Musik. Überall ist Musik, wenn man richtig hinhört.«

Malizia sah Maurice an. »Ist er immer so?«, fragte sie.
»Er hat noch nie so viel von sich erzählt«, erwiderte die Katze. »Bestimmt seid ihr ganz erpicht darauf, alles über mich zu erfahren«,

sagte Malizia. »Bestimmt seid ihr nur zu höflich, um zu fragen.« »Meine Güte, ja«, sagte Maurice.

»Es überrascht euch sicher nicht zu erfahren, dass ich zwei grässliche Stiefschwestern habe«, sagte Malizia. »Und ich muss alle Arbeiten erledigen.«

»Meine Güte, na so was«, sagte Maurice und fragte sich, ob es weitere Fischköpfe gab. Er fragte sich auch, ob sie dies wert waren.

»Nun, die meisten Arbeiten«, sagte Malizia, als müsste sie etwas Unangenehmes zugeben. »Beziehungsweise einige von ihnen. Ich muss mein eigenes Zimmer aufräumen! Und dort herrscht große Unordnung!«

»Meine Güte.«
»Und es ist fast das kleinste Zimmer. Es hat kaum Schränke, und die

Bücherregale reichen schon wieder nicht aus!«
»Meine Güte.«
»Und die Leute sind unglaublich grausam zu mir. Ihr habt sicher

gemerkt, dass wir hier in einer Küche sitzen. Und ich bin die Tochter des Bürgermeisters! Sollte man von der Tochter des Bürgermeisters erwarten, mindestens einmal pro Woche den Abwasch zu machen? Wohl kaum

»Meine Güte.«
»Und seht euch nur meine zerrissene und abgetragene Kleidung an!« Maurice sah genauer hin. Mit Kleidung kannte er sich nicht besonders

gut aus. Fell reichte ihm. Soweit er das feststellen konnte, trug Malizia ein ganz normales Kleid. Es schien alles da zu sein. Es gab keine Löcher, abgesehen von denen für Arme und Kopf.

»Hier, genau hier«, sagte Malizia und zeigte auf eine Stelle am Saum, die für Maurice genauso aussah wie der Rest des Kleids. »Das musste ich selbst nähen!«

»Meine Gü…« Maurice unterbrach sich. Von dort, wo er saß, sah er die leeren Regale an der Wand, und was noch wichtiger war: Er sah, wie sich Sardinen von einem Riss in der alten Decke abseilte. Er trug einen Rucksack.

»Und als ob das noch nicht genug wäre: Ich muss mich jeden Tag für Brot und Wurst anstellen…«, fuhr Malizia fort, aber Maurice hörte ihr jetzt noch weniger zu als vorher.

Es muss Sardinen sein, dachte er. Idiot! Er eilt den Fallenbeseitigern immer voraus! Und von allen Küchen in der Stadt muss er ausgerechnet in dieser auftauchen. Gleich dreht sich das Mädchen um, sieht ihn und schreit.

Sardinen hätte es vermutlich für eine Art Applaus gehalten. Er lebte das Leben, als wäre es eine Vorstellung. Andere Ratten liefen einfach nur herum, quiekten und brachten Dinge durcheinander – das genügte völlig, um Menschen davon zu überzeugen, dass es eine Rattenplage gab. Aber für Sardinen reichte das nicht aus. Er musste immer seine yowoorll Gesangs- und Tanznummer aufführen!

»… und die Ratten stehlen alles«, sagte Malizia. »Und was sie nicht stehlen, verderben sie. Es ist schrecklich! Der Stadtrat kauft Lebensmittel von anderen Orten, aber niemand hat viel übrig. Wir müssen Getreide und andere Sachen bei den Händlern erwerben, die den Fluss hinaufsegeln. Deshalb ist das Brot so teuer.«

»Teuer, wie?«, erwiderte Maurice.
»Wir haben es mit Fallen, Hunden, Katzen und Gift versucht, aber die

Ratten kommen immer wieder«, sagte das Mädchen. »Und sie sind sehr schlau geworden. Lassen sich kaum noch von den Fallen erwischen. Ha! Ich habe noch nie fünfzig Cent für einen Schwanz bekommen! Welchen Sinn hat es, dass die Rattenfänger fünfzig Cent für einen Schwanz bieten, wenn die Ratten so schlau sind? Die Rattenfänger sagen, dass sie alle Tricks anwenden müssen, um die Biester zu erwischen.« Hinter Malizia sah sich Sardinen im Zimmer um und gab den Ratten in der Decke dann das Zeichen, den Bindfaden hochzuziehen.

»Glaubst du nicht, dies wäre ein geeigneter Zeitpunkt, um geh weg!«, sagte Maurice.
»Warum schneidest du Grimassen?«, fragte Malizia und starrte ihn an.

»Oh… äh, kennst du die Katze, die dauernd grinst? Hast du von ihr gehört? Nun, ich bin eine Katze, die Grimassen schneidet«, sagte Maurice verzweifelt. »Und manchmal rutschen mir einfach so Dinge raus weg geh weg, siehst du, es ist schon wieder passiert, kann nichts dagegen tun, es ist eine Krankheit, sollte mich behandeln lassen o nein, mach das nicht, dies ist nicht der richtige Ort, huch, schon wieder…«

Sardinen hatte seinen Strohhut vom Kopf genommen und hielt einen kleinen Spazierstock in der Pfote.

Es war eine gute Nummer, das musste selbst Maurice zugeben. In manchen Orten hatte sein Auftritt genügt, um die Menschen in Panik zu versetzen. Sie konnten Ratten in der Sahne hinnehmen, Ratten auf dem Dach und Ratten im Teekessel. Aber Stepp tanzende Ratten – das ging zu weit. Wenn man eine Stepp tanzende Ratte sah, so war man in großen Schwierigkeiten. Maurice vermutete: Wenn die Ratten auch noch Akkordeon spielen könnten, würden sie zwei Orte an einem Tag schaffen.

Er beobachtete Sardinen etwas zu lange. Malizia drehte sich um und klappte entsetzt den Mund auf, als Sardinen seine Schau abzog. Sie griff nach einer Bratpfanne auf dem Tisch und warf mit großer Zielsicherheit.

Doch Sardinen verstand es, solchen Wurfgeschossen auszuweichen. Die Ratten waren daran gewöhnt, dass man Dinge nach ihnen warf. Er lief bereits, als die Pfanne das Zimmer halb durchquert hatte, sprang auf den Stuhl und von dort aus auf den Boden, um hinter der Anrichte zu verschwinden. Eine Sekunde später ertönte ein plötzliches, endgültiges, metallisches… Schnapp!

»Ha!«, sagte Malizia, als Maurice und Keith zur Anrichte starrten. »Jetzt gibt es eine Ratte weniger. Ich verabscheue sie…«
»Es hat Sardinen erwischt«, sagte Keith.

»Nein, es war eindeutig eine Ratte«, erwiderte Malizia. »Sardinen laufen wohl kaum durch eine Küche. Vielleicht denkst du an die Hummerplage drüben in…«

»Er nannte sich Sardinen, weil er diesen Namen auf einer rostigen alten Büchse sah und ihn für schick hielt«, sagte Maurice und fragte sich, ob er genug Mut aufbringen würde, um hinter die Anrichte zu sehen.

»Er war eine gute Ratte«, sagte Keith. »Er stahl Bücher für mich, als sie mich lesen lehrten.«
»Entschuldige bitte, bist du verrückt?«, fragte Malizia. »Es war eine Ratte. Nur eine tote Ratte ist eine gute Ratte.«
»Hallo?«, ertönte eine leise Stimme hinter der Anrichte.
»Sie kann unmöglich überlebt haben!«, brachte Malizia hervor. »Es ist eine riesige Falle! Mit Zähnen!«
»Hört mich jemand? Ah, der Stock biegt sich allmählich durch…«, verkündete die Stimme.
Die Anrichte war massiv, das Holz so alt, dass es im Lauf der Zeit schwarz und so fest wie Stein geworden war.
»Das ist doch nicht etwa die Ratte, die da spricht?«, fragte Malizia. »Bitte sagt mir, dass Ratten nicht sprechen können!«
»Er biegt sich immer weiter durch«, ertönte die ein wenig gedämpft klingende Stimme.

Maurice spähte hinter die Anrichte. »Ich sehe ihn«, sagte er. »Hat den Stock in die Falle gekeilt, als sie zugeschnappt ist! He, Sardinen, wie geht’s?«

»Gut, Boss«, erwiderte Sardinen im Halbdunkel. »Wenn diese Falle nicht wäre, würde ich sagen, dass alles perfekt ist. Habe ich bereits erwähnt, dass sich der Stock biegt?«

»Ja, das hast du.«
»Inzwischen ist er noch etwas mehr gebogen, Boss.«
Keith ergriff das eine Ende der Anrichte und ächzte leise, als er sie zu

bewegen versuchte. »Schwer wie ein Fels!«, sagte er.
»Sie ist voller Geschirr«, sagte Malizia verwundert. »Aber Ratten sprechen doch nicht wirklich, oder?«
»Aus dem Weg!«, rief Keith. Mit beiden Händen griff er nach der Rückwand der Anrichte, stützte einen Fuß an die Wand und zog.

Langsam, wie ein riesiger Baum im Wald, neigte sich die schwere Anrichte nach vorn. Das Geschirr geriet ins Rutschen, als das große Möbelstück kippte. Teller fielen wie beim chaotischen Austeilen der Karten eines besonders teuren Kartenspiels. Einige von ihnen überstanden den Aufprall auf dem Boden unbeschädigt, ebenso manche Tassen und Untertassen, die den Tellern folgten, als sich die Anrichte öffnete. Doch das spielte keine Rolle, denn das Möbelstück kippte noch weiter und schmetterte auf das ganze Geschirr herab.

Wie durch ein Wunder rollte ein Teller an Keith vorbei, drehte sich und kam dem Boden mit einer Drehung näher. Dabei erklang das für solche Situationen typische Groijo-injoinjoioioinnnngggGeräusch.

Keith streckte die Hand nach der Falle aus und ergriff Sardinen. Als er die Ratte hochhob, gab der Stock nach, und die Falle schnappte endgültig zu. Ein Teil des Stocks wirbelte durch die Luft.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Keith.

»Nun, Boss, ich kann nur sagen: Zum Glück tragen Ratten keine Unterwäsche… Danke, Boss«, sagte Sardinen. Er war recht dick für eine Ratte, aber wenn seine Füße tanzten, schwebte er wie ein Ballon über den Boden.

Ein Fuß klopfte.

Malizia stand mit verschränkten Armen da, und ihr Gesichtsausdruck erinnerte an ein herannahendes Gewitter. Sie sah erst Sardinen an, dann Maurice und den dumm aussehenden Keith. Schließlich glitt ihr Blick zu dem Trümmerhaufen.

»Äh… tut mir Leid«, sagte Keith. »Aber er war…«

Malizia winkte ab. »Na schön«, sagte sie, als hätte sie gründlich nachgedacht. »Ich glaube, die Sache sieht folgendermaßen aus. Die Ratte ist eine magische Ratte. Und bestimmt ist sie nicht die einzige. Etwas geschah mit ihr oder mit ihnen, und jetzt sind sie recht intelligent, trotz des Stepptanzes. Und… sie sind mit der Katze befreundet. Warum sollten Ratten und eine Katze Freunde sein? Es gibt eine Art Übereinkunft. Oh, ich weiß! Sagt mir nichts, sagt mir nichts…«

»Wie bitte?«, fragte Keith.
»Ich glaube, dir braucht niemand etwas zu sagen«, meinte Maurice. »Es hat etwas mit den Rattenplagen zu tun, nicht wahr? All die Orte,

von denen wir gehört haben… Ihr habt ebenfalls davon gehört, und deshalb seid ihr mit Dingsbums hier…«
»Keith«, sagte Keith.
»… ja, deshalb seid ihr mit ihm losgezogen, von Ort zu Ort, und ihr habt den Anschein einer Rattenplage erweckt, und Dingsbums…« »Keith.«
»… ja, …gibt vor, ein magischer Flötenspieler zu sein, der Ratten fortlocken kann. Stimmt’s? Es ist alles ein großer Schwindel.« Sardinen sah Maurice an. »Da sitzen wir ganz schön in der Patsche, was, Boss?«
»Und jetzt müsst ihr mir einen guten Grund nennen, warum ich nicht der Wache Bescheid geben soll«, sagte Malizia triumphierend.

Das brauche ich nicht, dachte Maurice. Weil du niemandem Bescheid geben wirst. Meine Güte, Menschen sind so leicht zu durchschauen. Er rieb sich an Malizias Beinen und lächelte zu ihr empor. »Wenn du das machst, findest du nie heraus, wie die Geschichte endet«, sagte er.

»Oh, sie endet damit, dass ihr ins Gefängnis kommt«, sagte Malizia, aber Maurice bemerkte, dass ihr Blick Sardinen und dem dumm aussehenden Keith galt. Sardinen trug noch immer seinen kleinen Strohhut. Wenn es darum ging, Aufmerksamkeit zu erregen, war der Strohhut sehr wirkungsvoll.

Als Sardinen sah, dass Malizia ihn mit gerunzelter Stirn musterte, nahm er sofort den Hut ab und hielt ihn an der Krempe vor sich. »Es gibt da etwas, das ich gern herausfinden würde, Boss«, sagte er. »Ich meine, wenn wir schon dabei sind, Dinge herauszufinden.«

Malizia wölbte die Braue. »Nun?«, erwiderte sie. »Und nenn mich nicht Boss!«

»Ich würde gern herausfinden, warum es in dieser Stadt keine Ratten gibt, Chef«, sagte Sardinen und tänzelte nervös. Malizia konnte besser starren als eine Katze.

»Was soll das heißen, keine Ratten?«, fragte das Mädchen. »Hier herrscht eine Rattenplage! Und du bist eine Ratte!«
»Es gibt überall Rattentunnel, und es liegen auch einige tote Ratten herum, aber wir haben hier nicht eine lebende Ratte gefunden, Chef.« Malizia bückte sich. »Du bist eine Ratte«, betonte sie.
»Ja, Chef. Aber wir sind erst heute Morgen hier eingetroffen.« Sardinen lächelte nervös, als ihn Malizia erneut mit einem Blick durchbohrte. »Möchtest du etwas Käse?«, fragte sie. »Ich fürchte, er ist eine Mausefalle.«
»Nein, ich glaube nicht, herzlichen Dank«, erwiderte Sardinen sehr vorsichtig und höflich.
»Es hat keinen Sinn«, ließ sich Keith vernehmen. »Ich glaube, es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.«
»Neinneinneinnein«, warf Maurice rasch ein, der so etwas hasste. »Es ist alles nur wegen…«

»Du hast Recht, Malizia«, sagte Keith müde. »Wir ziehen mit einer Rattenschar von Stadt zu Stadt und bringen die Leute dazu, uns Geld zu geben. Ja, das machen wir. Und es tut mir Leid. Dies sollte das letzte Mal sein. Du hast uns zu essen gegeben, obwohl Lebensmittel hier sehr knapp sind. Wir sollten uns schämen.«

Maurice beobachtete, wie Malizia überlegte, und er gewann den Eindruck, dass ihr Verstand auf eine andere Weise funktionierte als bei den meisten Leuten. Sie verstand all die schwierigen Dinge, die sie hörte, ohne darüber nachdenken zu müssen. Magische Ratten? In Ordnung. Sprechende Katzen? Gibt’s sonst nichts Neues? Es waren die einfachen Dinge, die ihr schwer fielen.

Ihre Lippen bewegten sich. Maurice begriff, dass sie eine Geschichte aus allem machte.
»Nun…«, sagte Malizia, »ihr zieht mit euren abgerichteten Ratten los…«
»Wir ziehen den Ausdruck ›gebildete Nagetiere‹ vor, Chef«, sagte Sardinen.
»Na schön, ihr zieht mit euren gebildeten Nagetieren los und… Was geschieht mit den Ratten, die bereits da sind?«

Sardinen sah hilflos zu Maurice. Die Katze gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er fortfahren solle. Sie gerieten alle in große Schwierigkeiten, wenn sich eine Geschichte ergab, die Malizia nicht gefiel.

»Sie halten sich von uns fern, Boss, ich meine, Chef«, sagte Sardinen. »Können sie ebenfalls sprechen?«
»Nein, Chef.«
»Ich glaube, unsere Ratten sehen so etwas wie Affen in ihnen«, sagte

Keith.
»Ich spreche mit Sardinen«, sagte Malizia.
»Entschuldigung«, erwiderte Keith.
»Und hier gibt es überhaupt keine anderen Ratten?«, fragte Malizia. »Nein, Chef. Einige alte Skelette, Gift und jede Menge Fallen, Boss.

Aber keine Ratten, Boss.«
»Aber die Rattenfänger nageln jeden Tag einen Haufen Rattenschwänze an die Wand!«
»Ich sage nur das, was ich gesehen habe, Boss. Chef. Keine Ratten, Boss Chef. Es gibt hier weit und breit keine anderen Ratten, Boss Chef.«

»Hast du dir die Rattenschwänze mal genau angesehen?«, fragte Maurice. »Wie meinst du das?«, erwiderte Malizia.

»Es sind falsche Rattenschwänze«, sagte Maurice. »Zumindest einige von ihnen. Es sind nichts weiter als alte Schnürsenkel. Ich habe einige von ihnen auf der Straße gesehen.«

»Es waren keine echten Rattenschwänze?«, fragte Keith.
»Ich bin eine Katze. Glaubst du, ich weiß nicht, wie ein echter Rattenschwanz aussieht?«
»Aber die Leute würden das doch bestimmt merken!«, entfuhr es Malizia.
»Glaubst du?«, entgegnete Maurice. »Weißt du, was ein Senkelblech ist?«
»Senkelblech? Was hat ein Senkelblech mit dieser Sache zu tun?«, fragte Malizia scharf.

»So nennt man die kleinen Metallteile am Ende von Schnürbändern«, erklärte Maurice.
»Wieso kennt eine Katze ein solches Wort?«, fragte das Mädchen.

»Jeder sollte etwas wissen«, sagte Maurice. »Hast du dir die Rattenschwänze einmal genau angesehen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Malizia. »Man kann die Pest von Ratten bekommen!«

»Das stimmt, dann explodieren einem die Beine«, sagte Maurice und lächelte. »Deshalb hast du die Senkelbleche nicht gesehen. Sind deine Beine in letzter Zeit explodiert, Sardinen?«

»Heute nicht, Boss«, antwortete Sardinen. »Aber es ist noch nicht einmal Mittag.«

Malizia Grimm wirkte nun grimmig. »Ahha«, sagte sie, und Maurice fand, dass das ›ha‹ ziemlich scheußlich klang.
»Äh… du wirst also nicht der Wache Bescheid geben?«, fragte er.

»Soll ich ihr vielleicht sagen, dass ich mit einer Ratte und einer Katze gesprochen habe?«, hielt ihm Malizia entgegen. »Natürlich nicht. Die Wächter würden meinem Vater mitteilen, dass ich Geschichten erzählt habe, und dann werde ich wieder aus meinem Zimmer ausgesperrt.«

»Du wirst bestraft, indem man dich aus deinem Zimmer aussperrt?«, fragte Maurice.

»Ja. Dann kann ich nicht an meine Bücher. Ich bin eine besondere Person, wie ihr vielleicht erraten habt«, sagte Malizia stolz. »Habt ihr von den Geschwistern Grimm gehört? Agonizia und Eviszera Grimm? Das waren meine Großmutter und meine Großtante. Sie schrieben… Märchen.«

Ah, also droht derzeit keine Gefahr, dachte Maurice. Solange sie redet, ist alles in Ordnung. »Als Katze bin ich kein großer Leser«, sagte er. »Um was ging es in den Märchen? Um kleine Feen, die leise klimperten, wenn sie flogen?«

»Nein«, sagte Malizia. »Agonizia und Eviszera hielten nicht viel von dem Klimperkram. Sie schrieben… echte Märchen. Mit viel Blut und Knochen und Fledermäusen und Ratten. Ich habe ihr Talent des Geschichtenerzählens geerbt.«

»Das dachte ich mir schon«, sagte Maurice.

»Und wenn es keine Ratten unter der Stadt gibt und die Rattenfänger falsche Rattenschwänze an die Wand nageln – dann rieche ich Lunte«, sagte Malizia.

»Entschuldigung«, warf Sardinen ein. »Ich glaube, für das, was du da riechst, bin ich verantwortlich. Ich war ein wenig nervös und…« Oben erklangen Schritte.

»Schnell, über den Hinterhof!«, drängte Malizia. »Versteckt euch auf dem Heuboden über den Ställen! Ich bringe euch was zu essen! Ich weiß genau, wie diese Sache läuft!«