Kapitel sechs

»Hallo? Hallo, ich bin’s. Und ich gebe euch jetzt das geheime Klopfzeichen!« Es pochte dreimal an die Stalltür, und dann erklang erneut Malizias Stimme: »Hallo, habt ihr das geheime Klopfzeichen gehört

»Vielleicht geht sie fort, wenn wir keine Antwort geben«, sagte der im

Stroh liegende Keith.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Maurice. Er hob die Stimme. »Wir
sind hier oben!«
»Ihr müsst mir noch das geheime Klopfzeichen geben!«, rief Malizia. »Oh, prbllttrrp«, sagte Maurice leise, und zum Glück weiß kein Mensch,
wie schlimm dieses Schimpfwort in der Katzensprache ist. »Hör mal, dies
bin ich. Eine Katze! Die spricht! Willst du mich erkennen? Soll ich
vielleicht eine rote Nelke tragen?«
»Ich glaube nicht, dass du eine richtige sprechende Katze bist«, erwiderte
Malizia und kletterte die Leiter hoch. Sie trug noch immer Schwarz und
hatte ihr Haar unter einem schwarzen Kopftuch zusammengesteckt.
Und sie kam mit einer großen Tasche.
»Meine Güte, da hast du Recht«, sagte Maurice.
»Ich meine, du trägst keine Stiefel und kein Schwert und keinen großen
Hut mit einer Feder«, sagte das Mädchen und zog sich auf den
Dachboden.
Maurice sah sie groß an. »Stiefel?«, brachte er hervor. »An diesen
Pfoten?«
»Ich habe es auf einem Bild in einem Buch gesehen«, sagte Malizia
ruhig. »Ein dummes Buch für Kinder. Mit Tieren, die wie Menschen
gekleidet waren.«
Ein ganz bestimmter Gedanke zog durch Maurices Katzenselbst, und
das nicht zum ersten Mal: Wenn er schnell lief, konnte er die Stadt
innerhalb von fünf Minuten verlassen und auf einem Flusskahn sein. Einmal, als er kaum mehr als ein Kätzchen gewesen war, hatte ihn ein
kleines Mädchen mit nach Hause genommen, ihm das Kleid einer Puppe
übergestreift und ihn auf einen kleinen Tisch gesetzt, neben zwei Puppen
und die Reste eines Teddybären. Er hatte damals durch ein offenes
Fenster fliehen können und einen ganzen Tag gebraucht, um sich von
dem Kleid zu befreien. Dieses Mädchen hätte Malizia sein können. Sie
hielt Tiere für Leute, die nicht aufmerksam genug gewesen waren. »Ich halte nichts von Kleidung«, sagte Maurice. Es klang nicht
besonders gut, war aber vermutlich immer noch besser als »Ich glaube,
du bist völlig durchgedreht«.
»Wie dumm«, sagte Malizia. »Es ist fast dunkel. Lasst uns aufbrechen!
Wir müssen uns wie Katzen bewegen!«
»Oh, gut, ich schätze, das kann ich.«
Einige Minuten später dachte Maurice, dass es keine Katzen gab, die
sich wie Malizia bewegten. Offenbar glaubte sie, dass es keinen Sinn hatte,
unauffällig zu sein, wenn die Leute nicht sahen, dass man unauffällig war.
Menschen auf den Straßen blieben stehen, um zu beobachten, wie
Malizia an Mauern entlangschlich und von Tür zu Tür sprang. Maurice
und Keith schlenderten hinter ihr her, ohne dass ihnen jemand
Beachtung schenkte.
Schließlich, in einer schmalen Straße, blieb das Mädchen an einem
schwarzen Gebäude mit einem großen Holzschild über der Tür stehen.
Das Schild zeigte viele Ratten, zu einem Stern angeordnet und ihre
Schwänze verknotet.
»Das Zeichen der alten Rattenfängergilde«, flüsterte Malizia und
streifte sich den Trageriemen der großen Tasche von der Schulter. »Ich weiß«, sagte Keith. »Sieht grässlich aus.«
»Aber das Muster ist recht interessant«, meinte Malizia.
Eins der wichtigsten Merkmale der Tür unter dem Schild war das große
Vorhängeschloss, das sie geschlossen hielt. Seltsam, dachte Maurice.
Wenn Ratten einem die Beine explodieren ließen – warum brauchten die
Rattenfänger dann ein großes Schloss an ihrem Schuppen? »Zum Glück bin ich auf alles vorbereitet«, sagte Malizia und griff in ihre
Tasche. Geräusche deuteten darauf hin, dass sich Metall und Flaschen
bewegten.
»Was hast du da drin?«, fragte Maurice. »Alles?«
»Der Greifhaken und die Strickleiter beanspruchen den meisten Platz«,
sage Malizia und tastete noch immer in der Tasche herum. »Und dann
noch das große Medizinpaket und das kleine Medizinpaket und das
Messer und das andere Messer und das Nähzeug und der Signalspiegel
und… das hier…«
Sie holte ein kleines schwarzes Stoffbündel hervor. Als sie es entrollte,
bemerkte Maurice das Glänzen von Metall.
»Ah«, sagte er. »Dietriche, nicht wahr? Ich habe Einbrecher bei der
Arbeit gesehen…«
»Haarnadeln«, erwiderte Malizia und nahm eine. »Haarnadeln haben in
den Büchern, die ich kenne, immer funktioniert. Man schiebt sie ins
Schlüsselloch und dreht sie hin und her. Ich habe auch einige dabei, die
bereits zurechtgebogen sind.«
Maurice schauderte innerlich. Sie funktionieren in Geschichten, dachte er.
Meine Güte. »Und woher weißt du, wie man Schlösser knackt?«, fragte
er.
»Ich habe doch gesagt, dass ich manchmal zur Strafe aus meinem
Zimmer ausgesperrt werde«, erwiderte Malizia und drehte die Haarnadel. Maurice hatte Einbrecher bei der Arbeit gesehen. Männer, die sich
nachts Zutritt zu Gebäuden verschafften, verabscheuten Hunde, aber um Katzen scherten sie sich nicht. Katzen versuchten nie, ihnen die Kehle zu zerfleischen. Er wusste, dass Diebe komplizierte kleine Dinge
mit großem Geschick handhabten. Sie benutzten keine dämlichen… Klick!
»Na bitte«, sagte Malizia zufrieden.
»Das war reines Glück«, meinte Maurice, als sich das Vorhängeschloss
öffnete. Er sah zu Keith auf. »Das denkst du doch auch, oder, Junge?« »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Keith. »Ich sehe so etwas zum
ersten Mal.«
»Ich wusste, dass es klappen würde«, sagte Malizia. »Es hat in dem
Kindermärchen Die siebte Frau des Grünbart funktioniert, als sie das
Zimmer des Schreckens verließ und ihm einen gefrorenen Hering ins
Auge bohrte.«
»Das ist ein Märchen für Kinder?«, fragte Keith.
»Ja«, bestätigte Malizia. »Es gehört zu den Grimmigen Geschichten der
Geschwister Grimm
»Offenbar hat man hier in Überwald seltsame Vorstellungen von
Kinderunterhaltung«, kommentierte Maurice und schüttelte den Kopf. Malizia öffnete die Tür. »O nein«, stöhnte sie. »Das habe ich nicht
erwartet…«

Irgendwo unter Maurices Pfoten und etwa eine Straße entfernt duckte sich eine einheimische Ratte vor Sonnenbraun, die einzige, die die Veränderten unter Bad Blintz gefunden hatten. Die Trupps waren zurückgerufen worden – dieser Tag gefiel Sonnenbraun immer weniger.

Fallen, die nicht töteten, dachte er. Manchmal stieß man auf sie. Gelegentlich versuchten die Menschen, Ratten lebendig zu fangen.

Sonnenbraun traute keinen Menschen, die Ratten lebend fangen wollten. Fallen, die sofort töteten… Die waren schlimm, aber für gewöhnlich konnte man ihnen ausweichen, und wenigstens hatten sie etwas Ehrliches. Lebendfallen waren wie Gift – sie logen.

Gefährliche Bohnen roch den Neuankömmling. Eigentlich seltsam: Die Ratte, die die unrattischsten Gedanken dachte, verstand es am besten, mit Kiekies zu reden. Allerdings war »reden« nicht das richtige Wort. Niemand, nicht einmal Gekochter Schinken, hatten einen so guten Geruchssinn wie Gefährliche Bohnen.

Die neue Ratte machte keine Schwierigkeiten. Sie war von großen, gut genährten und starken Ratten umgeben, deshalb sagte ihr Körper so respektvoll wie möglich »Chef«. Die Veränderten hatten ihr etwas Nahrung gegeben, die sie regelrecht verschlang.

»Sie steckte in einem Kasten«, sagte Sonnenbraun, der mit einem Stock Linien in den Boden kratzte. »Davon gibt es hier viele.«

»Ich bin einmal in einen geraten«, sagte Gekochter Schinken. »Dann kam die Menschenfrau und kippte den Kasten über die Gartenmauer. Den Grund dafür habe ich bis heute nicht verstanden.«

»Ich glaube, manche Menschen möchten rücksichtsvoll sein«, spekulierte Pfirsiche. »Sie wollen die Ratten aus ihrem Haus entfernen, ohne sie zu töten.«

»Nun, dieser Frau hat’s nichts genützt«, stellte Gekochter Schinken zufrieden fest. »Am nächsten Abend bin ich zurückgekommen und habe auf den Käse gepinkelt.«

»Ich glaube nicht, dass hier jemand rücksichtsvoll sein möchte«, sagte Sonnenbraun. »Es war noch eine zweite Ratte in dem Kasten«, fügte er hinzu. »Besser gesagt, Teile von einer zweiten Ratte. Ich glaube, sie hat die andere gefressen, um am Leben zu bleiben.«

Gekochter Schinken nickte. »Sehr vernünftig.«

»Wir haben noch etwas gefunden«, sagte Sonnenbraun und kratzte weitere Linien in den Boden. »Siehst du das hier, Chef?«
Er deutete auf die Linien und Schnörkel.

Gekochter Schinken schnaufte. »Ich sehe die Furchen, aber ich brauche sie nicht zu verstehen.« Er rieb sich die Nase. »Das hier hat mir immer genügt.«

Sonnenbraun seufzte geduldig. »Dann riech bitte, dass dies ein… ein Bild von den Tunneln ist, die wir heute erforscht haben. Sie enthalten viele…« Er sah kurz zu Pfirsiche. »… der freundlichen Fallen, die meisten von ihnen leer. Und überall liegt Gift, der größte Teil davon sehr alt. Und es gibt keine lebenden Ratten. Überhaupt keine, bis auf unsere… neue Freundin. Wir wissen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich habe dort geschnuppert, wo wir die Kiekie fanden, und dabei habe ich Ratten gerochen. Viele Ratten. Wirklich viele

»Lebende?« fragte Gefährliche Bohnen.
»Ja.«
»Alle an einem Ort?«

»So roch es«, sagte Sonnenbraun. »Ich glaube, ein Trupp sollte losziehen und nachsehen.«

Gefährliche Bohnen trat zu der Ratte und beschnupperte sie. Die Kiekie beschnupperte ihn. Ihre Pfoten berührten sich. Die Veränderten beobachteten das Geschehen verblüfft. Gefährliche Bohnen behandelte die Kiekie wie eine ebenbürtige Ratte.

»Viele Dinge, viele Dinge«, murmelte sie. »Viele Ratten… Menschen… Furcht… viel Furcht… viele Ratten, zusammengedrängt… Nahrung… Ratte… Sagtest du eben, sie hat eine andere Ratte gefressen?«

»So ist die Welt«, brummte Gekochter Schinken. »Eine Ratte frisst die andere. So war es, und so wird es immer sein.«
Gefährliche Bohnen rümpfte die Nase. »Da ist noch etwas anderes. Etwas… Seltsames. Sie hat… wirklich Angst.«
»Sie hat in einer Falle gesteckt«, sagte Pfirsiche. »Und dann ist sie uns begegnet.«

»Es geht um viel… Schlimmeres als das«, erwiderte Gefährliche Bohnen. »Sie… sie fürchtet sich vor uns, weil wir sonderbare Ratten sind, aber sie riecht auch erleichtert darüber, dass wir… nicht das sind, woran sie gewöhnt war…«

»Menschen!«, zischte Sonnenbraun.
»Ich… glaube… nicht…«
»Andere Ratten?«
»Ja… nein… ich… weiß nicht… es ist schwer zu sagen…« »Hunde? Katzen?«
»Nein.« Gefährliche Bohnen wich zurück. »Etwas Neues.« »Was sollen wir mit ihr machen?«, fragte Pfirsiche.
»Sie laufen lassen, schätze ich.«

»Das geht nicht!«, erwiderte Sonnenbraun. »Wir haben alle Fallen aufgelöst, die wir fanden, aber es liegt noch immer überall Gift herum. Ich würde nicht einmal eine Maus in die Tunnel schicken. Und diese Ratte hat nicht versucht, uns anzugreifen.«

»Na und?«, fragte Gekochter Schinken. »Eine weitere tote Kiekie – was spielt das für eine Rolle?«
»Ich weiß, was Sonnenbraun meint«, sagte Pfirsiche. »Wir können sie nicht einfach in den Tod schicken.«

Gut Gespart trat vor, legte der jungen Ratte eine Pfote auf den Pelz und drückte sie wie schützend an sich. Sie bedachte Gekochter Schinken mit einem durchdringenden Blick. Zwar schnappte sie manchmal nach ihm, wenn sie sich ärgerte, aber sie ließ sich nicht auf einen Streit ein. Dafür war sie zu alt. Doch ihr Blick sagte: Alle Männchen sind dumm, du dumme alte Ratte.

Gekochter Schinken wirkte unschlüssig. »Wir haben Kiekies getötet, nicht wahr?«, fragte er traurig. »Warum sollen wir diese bei uns behalten?«

»Wir können sie nicht in den Tod schicken«, wiederholte Pfirsiche und sah zu Gefährliche Bohnen, dessen Blick wieder in die Ferne reichte.

»Du möchtest, dass sie unsere Nahrung frisst und alles durcheinander bringt?«, fragte Gekochter Schinken. »Sie kann nicht sprechen und nicht denken …«

»Es ist noch gar nicht so lange her, dass auch wir das nicht konnten!«, erwiderte Pfirsiche scharf.
»Aber jetzt können wir es, junges Weibchen!«, sagte Gekochter Schinken. Sein Fell sträubte sich.
»Ja«, bestätigte Gefährliche Bohnen ruhig. »Und deshalb bleibt sie bei uns.«
Gekochter Schinken richtete sich instinktiv auf, zum Kampf bereit. Aber Gefährliche Bohnen sah ihn nicht.

Pfirsiche beobachtete das alte Clanoberhaupt besorgt. Gekochter Schinken war von einer schwachen kleinen Ratte herausgefordert worden, die bei einem Kampf nicht die geringste Chance hatte. Und Gefährliche Bohnen wusste nicht einmal, dass sein Verhalten eine Herausforderung war.

Er denkt nicht auf diese Weise, begriff Pfirsiche.
Die anderen Ratten beobachteten Gekochter Schinken. Sie dachten noch immer auf diese Weise, deshalb warteten sie auf seine Reaktion.

Aber selbst Gekochter Schinken musste einsehen, dass es völlig unvorstellbar war, die hilflose weiße Ratte anzugreifen. Genauso gut hätte er sich selbst den Schwanz abschneiden können. Ganz langsam entspannte er sich. »Es ist nur eine Ratte«, murmelte er.

»Aber du nicht, lieber Gekochter Schinken«, entgegnete Gefährliche Bohnen. »Willst du dich Sonnenbrauns Gruppe anschließen und ihr dabei helfen herauszufinden, woher die Ratte kam? Es könnte gefährlich werden.«

Erneut sträubte sich Gekochter Schinkens Fell. »Ich fürchte keine Gefahr!«, donnerte er.

»Natürlich nicht«, sagte Gefährliche Bohnen. »Deshalb solltest du mit der Gruppe aufbrechen. Sie hat sich gefürchtet.«
»Ich habe nie vor irgendetwas Angst gehabt!«, rief Gekochter Schinken.

Gefährliche Bohnen wandte sich ihm zu, und im Kerzenlicht schienen seine rosaroten Augen zu glühen. Gekochter Schinken dachte kaum über Dinge nach, die er nicht sehen, riechen oder beißen konnte, aber…

Er sah auf. Das Kerzenlicht warf große Rattenschatten an die Wände. Gekochter Schinken hatte gehört, wie die jungen Ratten über Schatten und Träume sprachen, auch darüber, was nach dem Tod mit dem eigenen Schatten geschah. Solche Dinge beunruhigten ihn nicht. Schatten konnten nicht beißen. Schatten brauchte man nicht zu fürchten. Doch jetzt flüsterte ihm die eigene Stimme im Kopf zu: Ich fürchte mich vor dem, was diese Augen sehen. Er starrte Sonnenbraun an, der noch immer mit einem Stock auf dem Boden kratzte.

»Ich gehe, aber ich führe die Gruppe an«, sagte er. »Immerhin bin ich das Oberhaupt des Clans.«
»Meinetwegen«, erwiderte Sonnenbraun. »Wir schicken ohnehin Herrn Klicki voraus.«
»Ich dachte, er wäre letzte Woche zerstört worden«, sagte Pfirsiche. »Wir haben noch zwei übrig«, antwortete Sonnenbraun. »Wenn die beiden hin sind, müssen wir erneut eine Tierhandlung aufsuchen.« »Ich bin der Anführer«, betonte Gekochter Schinken. »Ich bestimme, was wir müssen oder nicht.«

»In Ordnung, Chef, wie du meinst«, sagte Sonnenbraun, zog weitere Linien und sah Gekochter Schinken nicht an. »Und du weißt, wie man all die Fallen unschädlich macht, nicht wahr?«

»Nein, aber ich kann dir befehlen, sie unschädlich zu machen!«

»Gut, gut.« Sonnenbraun mied weiterhin den Blick des Clanoberhaupts und fügte den Linien Markierungen hinzu. »Du wirst mir sagen, welche Hebel nicht berührt werden dürfen und wo Dinge festgekeilt werden müssen.«

»Ich brauche die Fallen nicht zu verstehen«, erwiderte Gekochter Schinken.

»Aber ich schon, Chef«, sagte Sonnenbraun und sprach noch immer ganz ruhig. »Und ich muss gestehen, dass es bei den neuen Fallen einige Dinge gibt, die ich nicht verstehe, und solange ich sie nicht verstehe, bitte ich dich sehr respektvoll darum, alles mir zu überlassen.«

»So redet man nicht mit einer vorgesetzten Ratte!«
Sonnenbraun warf Gekochter Schinken einen Blick zu, und Pfirsiche hielt den Atem an.
Jetzt ist es so weit, dachte sie. Jetzt entscheidet sich, wer unser Anführer ist.
Und dann sagte Sonnenbraun: »Entschuldigung. Ich wollte nicht frech sein.«

Pfirsiche spürte die Aufregung unter den älteren Rattenmännern, die das Geschehen beobachteten. Sonnenbraun hatte klein beigegeben. Er war nicht gesprungen!

Aber er duckte sich auch nicht.

Das gesträubte Fell des Clanoberhaupts glättete sich wieder. Die alte Ratte wusste nicht recht, was sie von dieser Sache halten sollte. Alle Signale waren durcheinander geraten.

»Nun, äh…«
»Du bist der Anführer und musst daher die Befehle geben«, sagte

Sonnenbraun.
»Ja, äh…«

»Aber wenn ich eine Empfehlung aussprechen darf, Chef… Wir sollten Untersuchungen anstellen. Unbekannte Dinge sind gefährlich.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Gekochter Schinken. »Gewiss. Wir stellen Untersuchungen an. Völlig klar. Kümmere dich darum. Ich bin der Anführer und bestimme hiermit, dass Untersuchungen angestellt werden.«

Maurice sah sich im Innern des Rattenfängerschuppens um.

»Es sieht hier so aus, wie man es von einem Rattenfängerschuppen erwartet«, sagte er. »Arbeitstische, Stühle, Herd, viele aufgehängte Rattenfelle, Stapel aus alten Fallen, zwei Maulkörbe für Hunde, Drahtgeflechtrollen, deutliche Zeichen dafür, dass nie Staub gewischt wurde. Ich hätte damit gerechnet, dass es im Schuppen von Rattenfängern so aussieht.«

»Ich habe etwas… Schreckliches und gleichzeitig Interessantes erwartet«, erwiderte Malizia. »Einen unheimlichen Hinweis.«
»Muss es einen Hinweis geben?«, fragte Keith.

»Natürlich!«, sagte Malizia und blickte unter einen Stuhl. »Hör mal, Katze, es gibt zwei Arten von Leuten auf der Welt: jene, die Handlungen verstehen, und die anderen, die sie nicht begreifen.«

»Die Welt hat keine Handlung«, entgegnete Maurice. »Die Dinge… geschehen einfach, nacheinander.«

»Nur, wenn man’s so sieht«, sagte Malizia. Maurice fand, dass es viel zu selbstgefällig klang. »Es gibt immer eine Handlung. Man muss nur wissen, wo es danach Ausschau zu halten gilt.« Sie zögerte kurz und fügte dann hinzu: »Ich weiß! Natürlich! Es gibt hier irgendwo einen Geheimgang! Ist doch ganz klar! Alle suchen nach dem Eingang des Geheimgangs!«

»Äh… woran erkennt man den Eingang eines Geheimgangs?«, fragte Keith und wirkte noch verwirrter als sonst. »Wie sieht ein Geheimgang aus?«
»Natürlich sieht er nicht nach einem Geheimgang aus
»Oh, gut, in dem Fall erkenne ich Dutzende von Geheimgängen«, sagte

Maurice. »Türen, Fenster, der Kalender dort von der Acme-Giftgesellschaft, der Schrank da drüben, das Rattenloch, der Tisch, der…«

»Du bist nur sarkastisch«, sagte Malizia, hob den Kalender an und inspizierte die Wand dahinter.
»Eigentlich war ich ein wenig schnodderig«, erwiderte Maurice. »Aber ich kann auch sarkastisch sein, wenn du möchtest.«

Keith sah auf den langen Arbeitstisch, der vor dem von Spinnenweben verhangenen Fenster stand. Fallen lagen darauf. Alle Arten von Fallen. Und neben ihnen standen verbeulte alte Dosen und Gläser mit Aufschriften wie »Gefahr: Wasserstoffsuperoxid«, »Rattenbann«, »Feuerbauch«, »Rattenschreck: Äußerste Vorsicht«, »Rattenweg!!!«, »Rattentod«, »Stacheldrahtessenz: Gefahr!!!« und – Keith beugte sich näher – »Zucker«. Er bemerkte auch zwei Becher und eine Teekanne. Weißes, grünes und graues Pulver lag verstreut auf dem Tisch. Hier und dort war etwas zu Boden gerieselt.

»Du könntest versuchen, ein wenig zu helfen«, sagte Malizia und klopfte die Wände ab.

»Ich weiß nicht, wie ich nach etwas suchen soll, das anders aussieht als das, wonach ich suche«, sagte Keith. »Und sie bewahren den Zucker direkt neben dem Gift auf! Und es gibt so viel Gift…«

Malizia trat zurück und strich sich das Haar aus den Augen. »Auf diese Weise kommen wir nicht weiter«, stellte sie fest.

»Und wenn es hier gar keinen Geheimgang gibt?«, fragte Maurice. »Ich weiß, es ist eine kühne Vorstellung, aber vielleicht ist dies ein ganz gewöhnlicher Schuppen?«

Selbst Maurice musste vor der Wucht von Malizias Blick zurückweichen.

»Es muss hier einen Geheimgang geben«, sagte sie. »Sonst hätte dies alles gar keinen Sinn.« Sie schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Wir machen es falsch! Jeder weiß, dass man den Geheimgang nicht findet, wenn man nach ihm sucht! Man drückt den verborgenen Schalter, wenn man aufgibt und sich an die Wand lehnt!«

Maurice richtete einen Hilfe suchenden Blick auf Keith. Immerhin war er ein Mensch und sollte wissen, wie man mit etwas wie Malizia fertig wurde. Aber Keith wanderte einfach nur im Schuppen umher und sah sich alles an.

Mit unglaublicher Gleichgültigkeit lehnte sich Malizia an die Wand. Es klickte nicht. Es tat sich keine Öffnung im Boden auf. »Wahrscheinlich die falsche Stelle«, sagte sie. »Ich stütze den Arm ganz unschuldig auf diesen Kleiderhaken.« Eine geheime Tür in der Wand verblüffte durch ihr Nichterscheinen. »Ein verzierter Kerzenleuchter wäre jetzt nicht schlecht«, sagte Malizia. »Sie sind praktisch immer ein Hebel für die Tür des Geheimgangs. Das weiß jeder Abenteurer.«

»Hier gibt es keine Kerzenleuchter«, meinte Maurice.

»Ich weiß. Manche Leute haben überhaupt keine Ahnung davon, wie man einen richtigen Geheimgang plant.« Malizia lehnte sich an eine andere Stelle der Wand, wieder ohne Erfolg.

»Ich glaube nicht, dass du auf diese Weise einen Geheimgang findest«, sagte Keith, der sich eine Falle aus der Nähe ansah.

»Ach, tatsächlich?«, erwiderte Malizia. »Nun, ich versuche wenigstens, konstruktiv zu sein! Wo würdest du suchen, wenn du solch ein Experte für Geheimgänge bist?«

»Warum gibt es ein Rattenloch in einem Rattenfängerschuppen?«, fragte Keith. »Hier riecht es nach toten Ratten, nassen Hunden und Gift. Als Ratte würde ich mich von einem solchen Ort fern halten.«

Malizia starrte ihn an. Dann zeigte ihr Gesicht große Konzentration, als drehte sie in Gedanken mehrere Möglichkeiten hm und her. »Ja-a«, sagte sie. »In Geschichten funktioniert das meistens. Oft ist es die dumme Person, die durch Zufall auf die richtige Idee kommt.« Sie ging in die Hocke und spähte in das Loch. »Dort ist ein kleiner Hebel. Mal sehen, was geschieht, wenn ich ihn ziehe…«

Es machte klonk im Boden, ein Teil davon schwang nach unten, und Keith fiel.

»Oh, ja«, sagte Malizia. »Ich dachte mir, dass so etwas passieren würde…«
Herr Klicki wackelte durch den Tunnel und surrte dabei. Junge Ratten hatten ihm die Ohren abgebissen, und der Bindfadenschwanz war Opfer einer Falle geworden. Andere Fallen hatten Beulen in seinem Körper hinterlassen, doch ein Vorteil blieb ihm: Überraschende Fallen konnten Herrn Klicki nicht töten, weil er nicht lebte. Sein »Leben« war rein mechanischer Natur und stammte von einem Aufziehmechanismus.

Der Schlüssel surrte. Ein Kerzenstummel brannte auf seinem Rücken. Die Ratten des ersten Fallenbeseitigungstrupps sahen Herrn Klicki nach.
»Jetzt ist es gleich so weit…«, sagte Sonnenbraun.

Etwas schnappte, und es erklang ein Geräusch, das sich wie gloink! anhörte. Das Licht ging aus. Ein Zahnrad rollte langsam durch den Tunnel und fiel vor Gekochter Schinken zu Boden.

»Ich dachte mir doch, dass der Boden dort bewegt aussah«, sagte Sonnenbraun zufrieden. Er drehte sich um. »In Ordnung, Jungs! Holt den anderen Herrn Klicki. Sechs von euch machen sich mit einem Seil daran, die Falle auszugraben und beiseite zu räumen!«

»Wir kommen nur langsam voran, wenn wir dauernd den Boden überprüfen«, sagte Gekochter Schinken.

»Wenn du vorausgehen möchtest, Chef – meinetwegen«, erwiderte Sonnenbraun, als der Trupp an ihnen vorbeieilte. »Es wäre gar keine schlechte Idee, denn wir haben nur noch einen Herrn Klicki übrig. Hoffentlich gibt es in dieser Stadt eine Tierhandlung.«*

»Ich meine nur, dass wir schneller sein sollten«, sagte Gekochter Schinken.
»Na schön, lauf los, Chef. Ruf uns zu, wo sich die nächste Falle befindet, bevor sie dich erwischt.«

* Die Ratten hatten eine in der Stadt Quirm gefunden und dort die Klickis entdeckt. Sie lagen in einem Regal mit der Aufschrift »Spielzeuge für Katzen«, direkt neben einem Kasten mit Gummiratten, die den phantasievollen Namen »Herr Quieki« trugen. Die Ratten hatten versucht, Fallen mit einer Gummiratte am Ende eines Stockes auszulösen, doch das Quieken beim Zuschnappen der Falle beunruhigte sie. Niemand scherte sich darum, was mit einem Herrn Klicki geschah.

»Ich bin der Anführer, Sonnenbraun.«
»Ja, Chef. Entschuldigung. Wir sind alle ein wenig müde.«
»Dies ist kein guter Ort, Sonnenbraun«, sagte Gekochter Schinken.

»Ich bin in einigen üblen rprptlt-Löchern gewesen, aber hier ist es schlimmer.«

»Stimmt, Chef. Dieser Ort ist tot
»Wie heißt das Wort, das Gefährliche Bohnen erfunden hat?«

»Unheil«, sagte Sonnenbraun und beobachtete, wie seine Leute die Falle beiseite räumten. In ihrem stählernen Maul steckte ein Durcheinander aus Federn und Zahnrädern. »Zu dem Zeitpunkt habe ich nicht genau verstanden, wovon er sprach. Aber jetzt ist mir klar, was er meinte.«

Er blickte durch den Tunnel zurück, dorthin, wo eine Kerze brannte, und hielt eine vorbeikommende Ratte an. »Pfirsiche und Gefährliche Bohnen sollen dort hinten bleiben«, sagte er. »Sie sollen auf keinen Fall hierher kommen.«

»In Ordnung, Chef«, erwiderte die Ratte und huschte davon.

Die Fallenbeseitiger setzten ihren Weg vorsichtig fort, und der Tunnel führte sie in eine alte Kanalisation. Unten bildete Wasser ein kleines Rinnsal, und an der Decke zogen sich Rohrleitungen entlang. Hier und dort zischte Dampf daraus. Weiter vorn fiel mattes grünes Licht durch ein Abflussgitter in der Straße.

Es roch nach Ratten. Es war frischer Rattengeruch. Und der Fallenbeseitigungstrupp sah eine Ratte: Sie fraß aus einer Nahrungsschale, die jemand auf einen alten Backstein gestellt hatte. Als sie die Veränderten sah, ergriff sie die Flucht.

»Ihr nach!«, heulte Gekochter Schinken.
»Nein!«, rief Sonnenbraun. Zwei Ratten, die sich in Bewegung setzten, verharrten wieder.
»Ich habe einen Befehl gegeben!«, donnerte Gekochter Schinken und wandte sich Sonnenbraun zu.

Der Fallenexperte duckte sich kurz. »Ja, Chef. Aber ich glaube, der Gekochter Schinken, der alle Fakten kennt, wird die Situation anders beurteilen als der Gekochter Schinken, der nur gesehen hat, wie eine Ratte weglief. Riech die Luft!«

Gekochter Schinken schnupperte. »Gift?«
Sonnenbraun nickte. »Grau Nummer 2«, sagte er. »Gefährliches Zeug. Wir sollten uns besser davon fern halten.«

Gekochter Schinken blickte in beide Richtungen durch den Kanalisationstunnel, der gerade genug Platz bot, dass ein Mensch durchkriechen konnte. Er bemerkte die Rohrleitungen an der Decke. »Es ist warm hier«, sagte er.

»Ja, Chef. Pfirsiche hat im Reiseführer gelesen. Hier gibt es heiße

Quellen, und die Menschen pumpen das Wasser in einige der Häuser.« »Warum?«
»Um zu baden, Herr.«
Gekochter Schinken schnaufte. Auch das war eine neue Idee, die ihm

nicht gefiel. Viele der jüngeren Ratten badeten gern.

Sonnenbraun wandte sich an den Trupp. »Gekochter Schinken möchte, dass ihr das Gift vergrabt, darauf pinkelt und die Stelle markiert, und zwar sofort

Gekochter Schinken hörte ein metallenes Geräusch an seiner Seite. Er drehte sich halb um und sah, dass Sonnenbraun ein lange, dünnes Metallstück aus seinem Werkzeuggürtel gezogen hatte. »Was zum Krckrck ist das denn?«, fragte er.

Sonnenbraun neigte die Stange hin und her, schien damit auf einen unsichtbaren Gegner einzuschlagen. »Ich habe den dumm aussehenden Jungen gebeten, dies für mich anzufertigen«, sagte er.

Und plötzlich begriff Gekochter Schinken, um was es sich handelte. »Das ist ein Schwert«, brachte er verblüfft hervor. »Hast du die Idee aus Herrn Schlappohrs Abenteuer

»Ja.«
»Ich habe nie an den Unsinn geglaubt«, sagte Gekochter Schinken. »Ist viel zu weit hergeholt.«

»Aber damit kann man gut zustechen«, erwiderte Sonnenbraun ruhig. »Ich glaube, wir sind den anderen Ratten nahe. Es wäre eine gute Idee, wenn die meisten von uns hier blieben… Chef.« Gekochter Schinken hatte das Gefühl, wieder Befehle zu bekommen, aber Sonnenbraun war höflich. »Ich schlage vor, dass einige von uns weitergehen, um die Lage auszuschnuppern«, fuhr Sonnenbraun fort. »Sardinen sollte mitkommen und ich natürlich…«

»Und ich«, sagte Gekochter Schinken.
Er richtete einen durchdringenden Blick auf Sonnenbraun, der erwiderte: »Natürlich.«