Kapitel acht

Als die drei Ratten sprangen, war es bereits zu spät – es befand sich nur noch ein mauriceförmiges Loch in der Luft. Maurice war auf der anderen Seite des Raumes und hastete an einigen Kisten empor.

Es quiekte unter ihm. Er sprang auf eine weitere Kiste und sah eine Stelle, an der sich mehrere Ziegelsteine aus der Mauer gelöst hatten. Er hielt darauf zu, krabbelte auf dünner Luft, als Backsteine fielen, und schob sich ins Unbekannte.

Er erreichte einen weiteren Keller, der voller Wasser stand. Eigentlich war es kein Wasser in dem Sinn. Solch ein Wasser entsteht, wenn es das aufnimmt, was von vielen Rattenkäfigen und aus den gewöhnlichen Abwasserkanälen abfließt, und danach ein Jahr lang ruht und leise vor sich hin blubbert. Von »Schlamm« zu sprechen, wäre eine Beleidigung für ehrenwerte Sümpfe überall auf der Welt gewesen.

Maurice landete mit einem »Glubb« genau darin.

Er paddelte entschlossen durch die breiartige Masse, versuchte, nicht zu atmen, und zog sich auf der anderen Seite des Raums an etwas hoch, das ein Unrathaufen zu sein schien. Ein heruntergefallener Dachsparren, an dem Schimmel eine glitschige Schicht bildete, führte zu einem Durcheinander aus rußgeschwärztem Holz an der Decke empor.

Maurice hörte noch immer die grässliche Stimme im Kopf, aber sie klang jetzt sehr gedämpft. Sie versuchte, ihm Befehle zu erteilen. Einer Katze etwas befehlen? Es war leichter, Gelee an die Wand zu nageln. Für was hielt ihn die Stimme, für einen Hund?

Stinkender Schlamm rann an ihm herab. Selbst seine Ohren waren voll davon. Er wollte sich sauber lecken, überlegte es sich dann aber anders. Sich sauber zu lecken, war eine ganz normale Katzenreaktion. Aber wenn er dies leckte, musste er mit dem Tod rechnen…

Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Maurice sah, wie große Rattenschemen durch das Loch sprangen. Es platschte zweimal. Und dann krochen die Schemen an den Wänden entlang.

Ah, sagte die Stimme. Du siehst sie? Beobachte, wie sie zu dir kommen, Katze! Maurice widerstand der Versuchung, erneut loszulaufen. Er durfte jetzt

nicht auf seine innere Katze hören. Die innere Katze hatte ihn aus dem anderen Raum herausgebracht, aber sie war dumm. Sie wollte Dinge angreifen, die klein genug waren, und vor allem anderen weglaufen. Aber keine Katze konnte es mit so großen Ratten aufnehmen. Er erstarrte, bemüht, die sich nähernden Ratten im Auge zu behalten. Sie kamen direkt auf ihn zu.

Moment mal…
Die Stimme hatte gesagt: Du siehst sie…
Woher wusste sie das?

Maurice versuchte, laut zu denken: Kannst… du… meine Gedanken… lesen?

Nichts geschah.
Plötzlich hatte er eine Idee und schloss die Augen.
Öffne sie!, befahl die Stimme, und die Lider zitterten.
Nein, dachte Maurice. Du kannst meine Gedanken nicht hören. Du

benutzt nur meine Augen und Ohren. Du vermutest nur, was ich denke.

Eine Antwort blieb aus. Maurice hatte auch keine erwartet. Er sprang. Der schiefe Balken war genau dort, wo er sich an ihn erinnerte. Seine Krallen bohrten sich in morsches Holz, als er nach oben kletterte und dort verharrte. Jetzt konnten ihm die Ratten nur noch folgen. Mit ein wenig Glück war er in der Lage, seine Krallen einzusetzen…

Die Ratten kamen näher. Sie schnüffelten unten nach ihm, und er stellte sich vor, wie ihre Nasen in der Dunkelheit zitterten.

Eine begann damit, über den Balken nach oben zu kriechen, weiter schnüffelnd. Maurice gewann den Eindruck, dass sie nur noch wenige Zentimeter von seinem Schwanz trennten, als sie umkehrte und nach unten lief.

Er hörte, wie die großen Ratten die oberste Stelle des Unrathaufens erreichten und dort verwirrt schnüffelten. Und dann deuteten Geräusche darauf hin, dass die Ratten durch den Schlamm paddelten.

Maurice rümpfte erstaunt die schlammverkrustete Nase. Ratten, die keine Katze riechen konnten? Und dann begriff er. Er roch nicht nach Katze, sondern stank nach Schlamm. Er fühlte sich wie Schlamm an in einem Keller voller Schlamm.

Er blieb sitzen, still wie Stein, und hörte mit Ohren voller Schlamm, wie die Ratten zu dem Loch in der Wand zurückkehrten. Und dann, ohne die Augen zu öffnen und mit einem Herz, das so heftig klopfte, als wollte es ihm die Brust zerreißen, schob er sich über den Balken nach unten und kletterte den Unrathaufen hinab. Der Haufen hatte sich an einer vermoderten Holztür gebildet. Ein Brett, so durchnässt wie ein Schwamm, löste sich sofort, als er es berührte.

Ein Gefühl von Offenheit verriet, dass sich jenseits der Tür ein weiterer Keller erstreckte. Dort roch es nach verfaultem und verbranntem Holz.

Würde die… Stimme erfahren, wo er sich befand, wenn er jetzt die Augen öffnete? Sahen die Keller nicht alle gleich aus?
Vielleicht steckte auch dieser Raum voller Ratten?

Maurices Lider zuckten nach oben. Er sah keine Ratten, dafür aber ein verrostetes Gitter vor einem Abflussrohr, das ihm genug Platz bot. Mattes Licht glühte in der Ferne.

Dies ist also die Welt der Ratten, dachte er, als er versuchte, den Schlamm abzukratzen. Dunkel, modrig, voller Gestank und sonderbarer Stimmen. Ich bin eine Katze. Sonnenschein und frische Luft, das ist mein Stil. Ich brauche nur ein Loch, das in die Draußenwelt führt, und dann mache ich mich aus dem Staub beziehungsweise aus dem Schlamm.

Eine Stimme in seinem Kopf, die nicht die geheimnisvolle Stimme war, sondern seine eigene, fragte: Aber was ist mit dem dumm aussehenden Jungen und den anderen? Du solltest ihnen helfen! Und Maurice dachte: Woher kommst du denn? Ich mache dir einen Vorschlag: Du hilfst ihnen, und ich suche einen warmen Ort auf, einverstanden?

Das Licht am Ende des Rohrs wurde heller. Es ließ sich nicht mit dem Tageslicht vergleichen, nicht einmal mit Mondschein, aber alles war besser als die Düsternis.

Fast alles.

Er schob den Kopf durch die Öffnung am Ende des Abflussrohrs und fand sich in einem größeren Abwasserkanal wieder, der aus Ziegeln bestand, auf denen sich eine schleimige Schicht aus unterirdischer Scheußlichkeit gebildet hatte. Nicht weit entfernt brannte eine Kerze.

»Bist du das, Maurice?«, fragte Pfirsiche und starrte auf das vor Schlamm strotzende Fell.
»Riecht besser als sonst«, sagte Sonnenbraun und lächelte auf eine Weise, die Maurice unfreundlich erschien.
»Oh, ha ha«, erwiderte Maurice. Er war nicht in der richtigen Stimmung für eine schlagfertige Antwort.

»Ah, ich wusste, dass du uns nicht im Stich lassen würdest, alter Freund«, sagte Gefährliche Bohnen. »Ich habe immer gesagt, dass wir uns auf Maurice verlassen können.« Er seufzte tief.

»Ja«, brummte Sonnenbraun, und Maurice glaubte, die Skepsis in seiner Stimme zu hören. »Erstaunlich, nicht wahr? Ich schätze, du hast lange nach uns gesucht. Konntest es vermutlich gar nicht abwarten, uns zu helfen.«

»Kannst du uns helfen?«, fragte Gefährliche Bohnen. »Wir brauchen einen Plan.«
»Na schön«, sagte Maurice. »Ich schlage vor, wir gehen bei der nächsten Gelegenheit nach oben…«

»Wir müssen Gekochter Schinken retten«, warf Sonnenbraun ein. »Wir lassen niemanden von uns zurück.«
»Wir?«, fragte Maurice.
»Wir lassen niemanden zurück«, betonte Sonnenbraun.

»Und dann ist da noch der Junge«, sagte Pfirsiche. »Sardinen hat berichtet, dass er mit dem Mädchen in einem Keller steckt.«

»Oh, weißt du, Menschen«, erwiderte Maurice und verzog das Gesicht. »Menschen und Menschen, weißt du, es ist eine menschliche Angelegenheit, in die wir uns besser nicht einmischen sollten, man könnte es falsch verstehen, ich kenne mich mit Menschen aus, sie regeln das ganz allein…«

»Menschen bedeuten mir ebenso viel wie die Shrlt eines Frettchens!«, sagte Sonnenbraun scharf. »Aber die Rattenfänger haben Gekochter Schinken in einem Sack fortgebracht! Du hast den Raum gesehen, Katze! Du hast die vielen Ratten in den Käfigen gesehen! Es sind die Rattenfänger, die die Lebensmittel stehlen. Sardinen erzählte von vielen, vielen Säcken! Und es gibt da noch etwas anderes…«

»Eine Stimme«, sagte Maurice, bevor er die Worte zurückhalten konnte.
Sonnenbraun sah auf, und in seinen Augen funkelte es. »Du hast sie gehört?«, fragte er. »Ich dachte, sie erklingt nur für uns!«
»Die Rattenfänger hören sie ebenfalls«, sagte Maurice. »Sie halten sie für ihre eigenen Gedanken.«

»Sie hat die anderen entsetzt«, murmelte Gefährliche Bohnen. »Sie… hörten einfach auf zu denken…« Er wirkte völlig deprimiert. Neben ihm lag ein schmuddeliges Buch, auf dem Pfoten Spuren hinterlassen hatten und das den Titel Herrn Schlappohrs Abenteuer trug. »Selbst Gifti ist weggelaufen«, fuhr er fort. »Und er kann schreiben! Wie ist so etwas möglich?«

»Einige von uns scheinen mehr betroffen zu sein als andere«, sagte Sonnenbraun sachlich. »Ich habe einige der Vernünftigeren losgeschickt. Sie sollen versuchen, die Geflohenen zurückzuholen. Es wird eine Weile dauern. Sie sind einfach blindlings davongelaufen. Wir müssen Gekochter Schinken befreien. Er ist der Anführer. Und wir sind Ratten, ein Clan. Ratten folgen ihrem Anführer.«

»Aber er ist ziemlich alt, und du bist hier der harte Bursche, und er ist nicht gerade mit übermäßiger Intelligenz gesegnet…«, begann Maurice.

»Sie haben ihn fortgebracht!«, stieß Sonnenbraun hervor. »Es sind Rattenfänger! Gekochter Schinken ist einer von uns! Willst du uns helfen oder nicht?«

Maurice glaubte, ein kratzendes Geräusch am anderen Ende des Abwasserrohrs zu hören, in dem er noch immer steckte. Er konnte sich nicht umdrehen, um nach dem Rechten zu sehen, und von einem Augenblick zum anderen fühlte er sich sehr ungeschützt. »Ja, ich helfe euch, klar«, sagte er schnell.

»Ähem. Meinst du das wirklich ernst?«, fragte Pfirsiche.
»Ja, ja«, bestätigte Maurice. Er kroch aus dem Rohr und blickte hinein. Nirgends zeigten sich Ratten.
»Sardinen folgt den Rattenfängern«, sagte Sonnenbraun. »Wir werden also bald erfahren, wohin sie Gekochter Schinken bringen…«

»Ich fürchte, ich weiß es bereits«, erwiderte Maurice.
»Woher?«, fragte Pfirsiche scharf.
»Ich bin eine Katze«, entgegnete Maurice. »Katzen treiben sich herum.

Wir sehen Dinge. An vielen Orten werden Katzen geduldet, weil wir das Ungeziefer… wir, äh…«
»Schon gut, wir wissen, dass du niemanden frisst, der sprechen kann, darauf weist du immer wieder hin«, sagte Pfirsiche. »Bitte fahr fort!«

»Einmal besuchte ich einen Ort, es war in einer Scheune, ich befand mich auf dem Heuboden, wo man immer eine leckere… äh…«
Pfirsiche rollte mit den Augen. »Ja, und weiter?«

»Nun, all diese Männer kamen herein, und ich konnte nicht weg, weil sie viele Hunde mitbrachten, und sie schlossen die Tür der Scheune, und in der Mitte des Bodens errichteten sie eine, äh, runde Holzwand, und einige Männer hatten Käfige mit Ratten mitgebracht, und sie setzten die Ratten in den Ring, und dann ließen sie dort auch Hunde frei. Terrier«, fügte Maurice hinzu und versuchte, den Blick seiner Zuhörer zu meiden.

»Die Ratten kämpften gegen die Hunde?«, fragte Sonnenbraun. »Das wäre ihnen rein theoretisch möglich gewesen«, sagte Maurice. »Die meiste Zeit über liefen sie im Kreis. Man nennt das Rattenhatz. Ich schätze, dorthin bringen die Rattenfänger ihre Ratten. Lebend natürlich.« »Rattenhatz…«, murmelte Sonnenbraun. »Wieso haben wir nie etwas davon gehört?«

Maurice blinzelte. Die Ratten waren intelligent, aber manchmal konnten sie auch erstaunlich dumm sein. »Auf welche Weise hättet ihr davon erfahren sollen?«, fragte er.

»Nun, von einer der Ratten, die…«

»Du verstehst nicht«, sagte Maurice. »Die Ratten, die in die Grube kommen, verlassen sie nicht wieder. Zumindest nicht lebend.«
Stille folgte diesen Worten.

»Können sie nicht herausspringen?«, fragte Pfirsiche leise. »Die Holzwand ist zu hoch«, sagte Maurice.
»Warum kämpfen sie nicht gegen die Hunde?«, fragte Sonnenbraun. Meine Güte, ihr könnt wirklich dumm sein, dachte Maurice. »Weil es Ratten sind, Sonnenbraun«, erwiderte Maurice. »Viele Ratten.

Und alle riechen nach Furcht und Panik. Du weißt, was dann passiert.« »Ich habe einmal einem Hund in die Schnauze gebissen!«, zischte Sonnenbraun.

»Ja, ja«, sagte Maurice in einem beruhigenden Tonfall. »Eine Ratte kann denken und tapfer sein. Aber viele Ratten sind ein wilder Haufen. Und ein wilder Rattenhaufen ist nur ein großes Tier mit vielen Beinen und null Gehirn.«

»Das stimmt nicht!«, widersprach Pfirsiche. »Zusammen sind wir stark!«
»Genau wie hoch?«, fragte Sonnenbraun und starrte so in die Kerzenflamme, als sähe er Bilder dann.

»Wie bitte?«, fragten Maurice und Pfirsiche gleichzeitig.
»Die Holzwand… wie hoch war sie, ganz genau?«
»Was? Keine Ahnung! Sie war hoch! Menschen stützten ihre Ellenbogen

darauf! Spielt das eine Rolle? Eins steht fest: Eine solche Holzwand ist viel zu hoch für eine Ratte, um darüber hinwegzuspringen.« »Was wir geschafft haben, konnten wir nur erreichen, weil wir immer zusammenhielten…«, begann Pfirsiche.

»Dann retten wir Gekochter Schinken gemeinsam«, sagte Sonnenbraun. »Wir…« Er drehte sich um, als er die trippelnden Schritte einer Ratte hörte, und rümpfte dann die Nase. »Es ist Sardinen«, sagte er. »Und… mal sehen… riecht weiblich, jung und nervös… Nahrhaft?«

Das jüngste Mitglied der Fallenbeseitigungsgruppe folgte Sardinen. Nahrhaft war nass und wirkte niedergeschlagen.
»Bist pudelnass«, stellte Sonnenbraun fest. »Ich meine, rattennass.«

»Ich bin in einen Abwassertümpel gefallen, Chef«, sagte Nahrhaft. »Freut mich trotzdem, dich wiederzusehen. Was ist los, Sardinen?« Die Ratte tänzelte einige nervöse Schritte. »Ich bin über mehr

Abflussrohre und Wäscheleinen geklettert, als gut für mich ist«, sagte er. »Und frag mich nicht nach den krrkk Katzen, Boss, ich möchte sie alle tot sehen – was natürlich nicht für die anwesenden gilt«, fügte Sardinen hinzu und warf Maurice einen kurzen Blick zu.

»Und?«, fragte Pfirsiche.

»Die Rattenfänger sind zu einem Stall am Rand der Stadt gegangen«, berichtete Sardinen. »Riecht böse. Hab dort viele Hunde gesehen. Und auch Menschen.«

»Rattengrube«, sagte Maurice. »Ich hab es ja gesagt. Sie haben Ratten für die Rattengrube gezüchtet!«

»Ja«, erwiderte Sonnenbraun. »Wir holen Gekochter Schinken da raus. Sardinen, du zeigst mir den Weg. Unterwegs nehmen wir alle mit, die halbwegs vernünftig sind. Die anderen versuchen, den Jungen zu finden.«

»Warum gibst du jetzt Befehle?«, fragte Pfirsiche.
»Weil jemand welche geben muss«, sagte Sonnenbraun. »Gekochter

Schinken mag ein wenig schäbig und altmodisch sein, aber er ist der Anführer, und alle riechen das, und deshalb brauchen wir ihn. Irgendwelche Fragen? Also gut…«

»Darf ich mitkommen, Chef?«, fragte Nahrhaft.
»Sie hilft mir, die Bindfäden zu tragen, Boss«, erklärte Sardinen. Sowohl er als auch die jüngere Ratte trugen ganze Bündel davon.
»Braucht ihr so viel?«, fragte Sonnenbraun.

»Bindfaden kann man immer gebrauchen, Boss«, sagte Sardinen ernst. »Es ist erstaunlich, welche Dinge ich mit der Hilfe von Bindfäden gefunden habe…«

»Na schön, wenigstens taugt sie zu etwas«, brummte Sonnenbraun. »Sie soll darauf achten, nicht den Anschluss zu verlieren. Also los!« Gefährliche Bohnen, Pfirsiche und Maurice blieben zurück.

Gefährliche Bohnen seufzte. »Eine Ratte kann tapfer sein, aber viele Ratten sind nur ein wilder Haufen?«, wiederholte er. »Stimmt das, Maurice?«

»Nein, ich wollte nur… Weißt du, hier unten gibt es etwas«, sagte Maurice. »Es lauert in einem der Keller. Ich weiß nicht, was es ist. Seine Stimme erklingt in den Köpfen der Leute!«

»Du hast sie gehört, ohne in Panik zu geraten«, stellte Pfirsiche fest. »Auch uns und Sonnenbraun konnte sie nicht erschrecken. Und sie hat Gekochter Schinken sehr zornig werden lassen. Warum?«

Maurice blinzelte. Wieder hörte er die Stimme in seinem Kopf. Sie war ganz leise und ließ sich keineswegs mit seinen eigenen Gedanken verwechseln. Ich werde einen Weg in dein Innerstes finden, KATZE!, flüsterte sie.

»Habt ihr das gehört?«, fragte Maurice.
»Nein, ich habe nichts gehört«, erwiderte Pfirsiche.
Vielleicht muss man ihr ganz nahe sein, überlegte Maurice. Wenn man

ihr ganz nahe gewesen ist… Vielleicht weiß die Stimme dann, wo der Kopf lebt.

Nie zuvor hatte er eine Ratte so deprimiert gesehen wie Gefährliche Bohnen. Er hockte neben der Kerze und starrte aus rosaroten, fast blinden Augen auf Herrn Schlappohrs Abenteuer.

»Ich hatte gehofft, dass es besser sein würde«, sagte Gefährliche Bohnen. »Aber jetzt stellt sich heraus, dass wir einfach nur… Ratten sind. Sobald es Probleme gibt, sind wir einfach nur… Ratten.«

Es war sehr ungewöhnlich für Maurice, jemand anderem als Maurice mit Anteilnahme zu begegnen. Bei einer Katze lief so etwas auf einen schweren Charakterfehler hinaus. Ich muss krank sein, dachte er. »Falls es etwas hilft, ich bin nur eine Katze«, sagte er.

»Nein, das stimmt nicht«, erwiderte Gefährliche Bohnen. »Tief in deinem Innern spüre ich ein sehr großzügiges Wesen.«
Maurice vermied es, Pfirsiche anzusehen. Meine Güte, dachte er. »Wenigstens fragst du die Leute, ob sie sprechen können, bevor du sie frisst«, meinte Pfirsiche.
Du solltest es ihnen besser sagen, ließen sich Maurices Gedanken vernehmen. Na los, sag es ihnen. Dann fühlst du dich besser.

Maurice versuchte, seinen Gedanken mitzuteilen, dass sie schweigen sollten. Ausgerechnet jetzt musste sich sein Gewissen zu Wort melden! Welchen Sinn hatte eine Katze mit einem Gewissen? Eine Katze mit einem Gewissen war… eine Art Hamster…

»Ah, ich wollte schon seit einer ganzen Weile darüber reden…«, murmelte er.
»Ja?«, fragte Pfirsiche.

Maurice wand sich hin und her. »Wisst ihr, ich frage meine Nahrung tatsächlich immer, ob sie sprechen kann…«
»Ja, und das gereicht dir zur Ehre«, sagte Gefährliche Bohnen.

Daraufhin fühlte sich Maurice noch schlechter. »Nun, wir haben uns immer gefragt, was mich verändert hat, obwohl ich nie etwas von dem magischen Zeug des Haufens gefressen habe…«

»Ja«, sagte Pfirsiche. »Das finde ich sehr rätselhaft.«

Maurice neigte sich voller Unbehagen zur Seite. »Wisst ihr… äh… Erinnert ihr euch an eine recht große Ratte, der ein Ohr fehlte, die einen weißen Fleck an der Seite hatte und wegen eines verletzten Beins nicht sehr schnell laufen konnte?«

»Klingt nach Konservierungsstoffe«, sagte Pfirsiche.

»Oh, ja«, sagte Gefährliche Bohnen. »Sie verschwand, bevor wir dir begegneten, Maurice. Eine gute Ratte. Hatte einen kleinen… Sprachfehler.«

»Sprachfehler«, wiederholte Maurice traurig.
»Er stotterte«, sagte Pfirsiche und bedachte Maurice mit einem langen, kühlen Blick. »Konnte die Worte nicht leicht herausbringen.« »Nicht leicht hervorbringen«, murmelte Maurice, und jetzt klang seine Stimme hohl.

»Ich bin sicher, dass du ihn nie kennen gelernt hast, Maurice«, sagte Gefährliche Bohnen. »Ich vermisse ihn. Er war eine wundervolle Ratte, wenn er schließlich zu sprechen begann.«

»Ähem. Hast du ihn kennen gelernt, Maurice?«, fragte Pfirsiche, und ihr Blick nagelte ihn an die Wand.

Maurices Gesicht bewegte sich und probierte es mit verschiedenen Ausdrücken. Dann sagte er: »Na schön! Ich habe ihn gefressen! Übrig gelassen habe ich nur die Beine, das grüne wabbelige Ding und den scheußlichen violetten Klumpen, von dem niemand weiß, was es ist! Ich war einfach nur eine Katze! Ich hatte noch nicht gelernt zu denken! Ich wusste nichts! Und ich war hungrig! Katzen fressen Ratten, so ist das eben! Es war nicht meine Schuld. Und er hatte von dem magischen Zeug gefressen, und ich fraß ihn, und dadurch wurde auch ich verändert! Wisst ihr, wie es sich anfühlt, das grüne wabbelige Ding auf diese Weise zu sehen? Es fühlt sich nicht gut an! Manchmal, in dunklen Nächten, glaube ich, ihn tief unten zu hören! Alles klar? Zufrieden? Ich wusste nicht, dass er eine Person war! Ich wusste nicht, dass ich eine Person sein konnte! Ich habe ihn gefressen! Er hatte von dem Kram auf dem Haufen gefressen, und dann fraß ich ihn, und dadurch veränderte ich mich ebenfalls! Ich gebe es zu! Ich habe ihn gefressen! Es war nicht meine Schuuuuld!«

Und dann herrschte Stille. Nach einer Weile sagte Pfirsiche: »Ja, aber es ist schon eine Weile her, nicht wahr?«
»Was? Willst du wissen, ob ich in letzter Zeit jemanden gefressen habe?

Nein!«
»Bedauerst du, was du getan hast?«, fragte Gefährliche Bohnen. »Wie bitte? Was glaubst du? Manchmal habe ich Albträume, in denen

ich rülpse, und dann…«
»Dann ist wahrscheinlich alles in Ordnung«, sagte die kleine Ratte.

»In Ordnung?«, wiederholte Maurice. »Wie kann es in Ordnung sein? Und weißt du, was am schlimmsten ist? Ich bin eine Katze! Katzen laufen nicht herum und bereuen etwas! Katzen fühlen sich nicht schuldig! Weißt du, wie es sich anfühlt, ›Hallo, Nahrung, kannst du sprechen?‹ zu fragen? Eine Katze sollte sich nicht so verhalten!«

»Wir verhalten uns nicht so, wie sich Ratten verhalten sollten«, sagte Gefährliche Bohnen. Dann kehrte die Niedergeschlagenheit in sein Gesicht zurück. »Bis jetzt«, seufzte er.

»Alle haben sich gefürchtet«, sagte Pfirsiche. »Und Furcht breitet sich aus.«

»Ich habe gehofft, wir könnten mehr sein als Ratten«, fuhr Gefährliche Bohnen fort. »Ich dachte, wir könnten mehr sein als Wesen, die quieken und pinkeln, was auch immer Gekochter Schinken sagt. Und jetzt… Wo sind alle?«

»Soll ich dir aus Herr Schlappohr vorlesen?«, fragte Pfirsiche besorgt. »Das heitert dich immer auf, wenn du eine deiner… dunklen Phasen hast.«

Gefährliche Bohnen nickte.

Pfirsiche zog das große Buch heran und begann zu lesen. »›Eines Tages brachen Herr Schlappohr und sein Freund Rupert Ratte auf, um den Alten Herrn Esel zu besuchen, der unten am Fluss wohnte…‹«

»Lies die Stelle, wo sie mit den Menschen sprechen«, sagte Gefährliche Bohnen.
Pfirsiche blätterte. »›Hallo, Rupert Ratte, sagte Bauer Bernd. Heute ist wirklich ein wundervoller Tag…‹«

Dies ist verrückt, dachte Maurice, als er der Geschichte über dunkle Wälder und saubere, rauschende Bäche zuhörte, die eine Ratte einer anderen vorlas, während sie in der Nähe von Abflussrohren saßen, in denen gewiss nichts Sauberes floss. Aber es rauschte wenigstens. Manchmal. Die meiste Zeit über machte es Blubb.

Alles ist im Eimer, dachte Maurice. Und sie haben dieses kleine Bild in ihren Köpfen, und es zeigt ihnen, wie schön die Dinge sein könnten…

Sieh in die kleinen rosaroten Augen, sagten Maurices Gedanken in Maurices Kopf. Sieh auf die kleinen, zitternden Nasen. Wenn du jetzt wegläufst und sie im Stich lässt – wie könntest du jemals wieder auf so kleine, zitternde Nasen blicken?

»Ich müsste es gar nicht«, sagte Maurice laut. »Das ist es ja gerade!« »Was?«, fragte Pfirsiche und sah von dem Buch auf.

»Oh, nichts…« Maurice zögerte. Es half nichts. Es widersprach allem, was eine Katze ausmachte. Das hat man nun vom Denken, dachte er. Es bringt einen nur in Schwierigkeiten. Auch wenn man weiß, dass andere Leute für sich selbst denken können – man beginnt trotzdem, auch für sie zu denken.

Menschen waren natürlich nützlich. Sie konnten Türen öffnen und Fisch bringen. Maurice stöhnte.
»Wir sollten besser feststellen, was mit dem Jungen passiert ist«, sagte er.
Es war völlig dunkel in dem Keller. Abgesehen vom leisen Pochen gelegentlich fallender Wassertropfen gab es nur die Stimmen. »Gehen wir es noch einmal durch«, sagte Malizia. »Du hast kein Messer irgendeiner Art dabei?«
»Nein«, bestätigte Keith.

»Oder praktische Streichhölzer, deren Flammen sich durch den Strick brennen könnten?«
»Nein.«

»Und in deiner Nähe ist keine scharfe Kante, um den Strick daran zu reiben?«
»Nein.«
»Und du kannst die Beine nicht durch die Arme ziehen, damit du die

Hände vorn hast?«
»Nein.«
»Und du verfügst über keine geheime Macht?«
»Nein.«
»Bist du sicher? Als ich dich zum ersten Mal sah, dachte ich sofort: Er

hat irgendeine geheime Macht, die sich zeigt, wenn er in Not ist. Ich dachte: Bei jemandem, der so nutzlos zu sein scheint, dient die Nutzlosigkeit zweifellos der Tarnung.«

»Nein, ich bin sicher. Hör mal, ich bin eine ganz normale Person. Ja, gut, man hat mich kurz nach der Geburt ausgesetzt. Ich weiß nicht, warum. Es geschah eben. Es heißt, dass so etwas recht oft passiert. Das macht einen nicht zu etwas Besonderem. Und ich habe keine geheimen Markierungen wie ein Schaf, und ich bin auch kein getarnter Held, und ich verfüge nicht über irgendwelche speziellen Fähigkeiten. Na schön, ich spiele einige Musikinstrumente. Ich übe viel. Aber ich bin die Art von Person, die sich nicht zum Helden eignet. Ich komme zurecht, schlage mich durch. Ich gebe mir Mühe. Verstanden?«

»Oh.«
»Du hättest dir jemand anderen suchen sollen.«
»Kannst du überhaupt nicht helfen?«
»Nein.«
Eine Zeit lang herrschte Stille. Dann sagte Malizia: »Weißt du, ich

glaube, dieses Abenteuer ist in vielerlei Hinsicht nicht richtig organisiert.« »Ach, tatsächlich?«, erwiderte Keith.
»Niemand sollte auf diese Weise gefesselt werden.«
»Verstehst du denn nicht, Malizia? Dies ist keine Geschichte«, sagte

Keith so geduldig wie möglich. »Das versuche ich dir die ganze Zeit zu erklären. Das wahre Leben ist keine Geschichte. Es gibt keine Art von… von Magie, die dafür sorgt, dass du nicht verletzt wirst, dass Halunken zum richtigen Zeitpunkt wegsehen, dass sie dich nicht zu hart schlagen, dich direkt neben einem Messer fesseln und nicht töten. Verstehst du?«

Wieder herrschte düstere Stille.

»Meine Großmutter und meine Großtante waren berühmte Geschichtenerzählerinnen«, sagte Malizia schließlich. Ihre Stimme klang ein wenig angespannt. »Agonizia und Eviszera Grimm.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Keith. »Das hast du bereits erwähnt.«

»Meine Mutter wäre ebenfalls eine gute Geschichtenerzählerin gewesen, aber mein Vater mag keine Geschichten. Deshalb habe ich meinen Namen auf Grimm geändert, aus beruflichen Gründen.«

»Ach…«

»Als ich klein war, wurde ich fürs Geschichtenerzählen geschlagen«, fuhr Malizia fort.
»Geschlagen?«, fragte Keith.

»Na schön, ich bekam einen Klaps«, räumte Malizia ein. »Aufs Bein. Aber es tat weh. Mein Vater sagt, eine Stadt kann man nicht mit Geschichten verwalten. Er sagt, man muss praktisch sein.«

»Oh.«

»Interessiert dich denn gar nichts außer Musik? Er hat deine Flöte zerbrochen!«
»Dann kaufe ich mir eben eine neue.«

Die ruhige Stimme ließ Malizia wütend werden. »Ich sag dir was!«, stieß sie hervor. »Wenn man sein Leben nicht in eine Geschichte verwandelt, so wird es Teil der Geschichte einer anderen Person.«

»Und wenn deine Geschichte nicht funktioniert?«
»Dann verändert man sie so lange, bis sie funktioniert.«
»Klingt dumm.«
»Ha, das musst du gerade sagen. Du bist nichts weiter als ein Gesicht in

der Vorgeschichte von jemand anderem. Du überlässt alle Entscheidungen einer Katze.«
»Ja, weil Maurice…«
Eine Stimme sagte: »Möchtet ihr, dass wir weggehen, bis ihr aufhört, Menschen zu sein?«
»Maurice?«, fragte Keith. »Wo bist du?«

»In einem Abflussrohr, und glaub mir, dies war keine angenehme Nacht«, drang die Stimme von Maurice aus der Finsternis. »Hast du eine Ahnung, wie viele Keller es hier gibt? Pfirsiche bringt eine Kerze. Hier ist es so dunkel, dass nicht einmal ich etwas sehen kann.«

»Wer ist Pfirsiche?«, flüsterte Malizia.
»Sie gehört zu den Veränderten«, sagte Keith. »Eine denkende Ratte.« »Wie Fische?«
»Du meinst Sardinen. Ja.«

»Aha«, zischte Malizia. »Siehst du? Eine Geschichte. Ich bin selbstgefällig und gebe mich hämischer Freude hin. Die tapfere Ratte eilt den Helden zu Hilfe und rettet sie, indem sie die Stricke durchnagt oder so.«

»Oh, wir sind wieder in deiner Geschichte«, erwiderte Keith. »Und was bin ich in deiner Geschichte?«

»Ich weiß, dass dir kein romantisches Interesse gilt«, sagte Malizia. »Und du bist auch nicht komisch genug für befreiende Komik. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich bist du nur… jemand. Wie der ›Mann auf der Straße‹, etwas in der Art.« Leise Geräusche ertönten in der Dunkelheit. »Was machen sie da?«, flüsterte das Mädchen.

»Ich glaube, sie versuchen, die Kerze anzuzünden.«
»Ratten spielen mit Feuer?«, hauchte Malizia.
»Sie spielen nicht damit. Gefährliche Bohnen hält Licht und Schatten

für sehr wichtig. Wo auch immer die Ratten sind: Irgendwo in den Tunneln brennt eine Kerze…«
»Gefährliche Bohnen? Was ist das denn für ein Name?«
»Pscht! Sie haben die Worte gelernt, die auf alten Büchsen und Schildern und so standen! Sie wussten nicht, was sie bedeuteten, und wählten einfach die aus, deren Klang ihnen gefiel!«

»Ja, aber… Gefährliche Bohnen? Das hört sich an, als…« »So lautet sein Name. Mach dich nicht darüber lustig!«
»Entschuldigung«, sagte Malizia.
Ein Streichholz flammte auf. Eine Kerzenflamme wuchs in die Höhe.

Malizia blickte auf die beiden Ratten hinab. Eine war… nur eine kleine Ratte, aber sie wirkte gepflegter als die meisten Ratten, die sie gesehen hatte. Die meisten Ratten, die sie gesehen hatte, waren tot gewesen, aber sie erinnerte sich an die wenigen lebenden: nervöse Tiere, die sich hin und her wandten, die ganze Zeit schnüffelten. Diese Ratte hingegen… beobachtete. Malizia fühlte ihren starren Blick auf sich ruhen.

Die andere Ratte war weiß und noch kleiner. Sie beobachtete sie ebenfalls, obwohl… »gucken« ihren Blick besser beschrieb. Sie hatte rosarote Augen. Malizia war nie sehr an den Gefühlen anderer Personen interessiert gewesen, weil sie ihre eigenen für viel interessanter hielt, aber bei dieser Ratte spürte sie Trauer und Sorge.

Sie hockte neben einem Buch, das nach menschlichen Maßstäben klein war; einer Ratte hingegen musste es ziemlich groß erscheinen. Der Einband war bunt, doch den Titel konnte Malizia nicht lesen.

»Pfirsiche und Gefährliche Bohnen«, sagte Keith. »Das ist Malizia. Ihr Vater ist hier der Bürgermeister.«
»Hallo«, sagte Gefährliche Bohnen.

»Bürgermeister? Ist das nicht die Regierung?«, fragte Pfirsiche. »Maurice hat Regierungen als sehr gefährliche Verbrecher beschrieben, die den Leuten das Geld stehlen.«

»Wie hast du ihnen das Sprechen beigebracht?«, fragte Malizia. »Sie haben es von allein gelernt«, antwortete Keith. »Es sind keine abgerichteten Tiere.«
»Nun, mein Vater stiehlt nicht, von niemandem. Wer hat behauptet, dass Regierungen…?«

»Entschuldigung«, warf Maurice hastig ein. Seine Stimme kam vom Abflussgitter. »Ja, genau, ich bin hier unten. Können wir jetzt zur Sache kommen?«

»Bitte nagt die Stricke durch«, sagte Keith.
»Ich habe ein Stück von einer Messerklinge«, sagte Pfirsiche. »Um die

Bleistiftminen anzuspitzen. Wäre das nicht besser?«
»Messer?«, wiederholte Malizia. »Bleistifte?«
»Ich habe ja gesagt, dass es keine gewöhnlichen Ratten sind«, meinte

Keith.

Nahrhaft musste laufen, um mit Sonnenbraun Schritt zu halten. Und Sonnenbraun lief, weil er laufen musste, um mit Sardinen Schritt zu halten. Wenn es darum ging, eine Stadt schnell zu durchqueren, war Sardinen Weltmeister.

Unterwegs schlossen sich ihnen weitere Ratten an. Nahrhaft stellte fest, dass es größtenteils jüngere waren. Sie hatten die Flucht ergriffen, angesteckt von der Angst, aber nach kurzer Zeit innegehalten. Sie zögerten nicht, Sonnenbraun zu folgen, froh darüber, wieder etwas Sinnvolles tun zu können.

Vorn tanzte Sardinen. Er konnte einfach nicht anders. Und ihm gefielen Abflussrohre, Dächer und Dachrinnen. Dort oben begegnete man keinen Hunden, meinte er, und nur wenigen Katzen.

Keine Katze wäre im Stande gewesen, Sardinen zu folgen. Die Bewohner von Bad Blintz hatten Wäscheleinen zwischen den alten Häusern gespannt, und Sardinen sprang darauf, ließ sich nach unten hängen und lief so schnell wie auf einer ebenen Fläche. Er lief Wände hoch, stieß durch Dachstroh, stepptanzte um rauchende Schornsteine und rutschte über Ziegel. Tauben stiegen erschrocken auf, wenn er an ihnen vorbeisauste, gefolgt von den anderen Ratten.

Wolken schoben sich vor den Mond.
Sardinen erreichte den Rand eines Daches, sprang und landete auf einer Mauer weiter unten. Auf ihr lief er weiter und verschwand in einer Lücke zwischen zwei Brettern.

Nahrhaft folgte ihm auf eine Art Dachboden. Heu lag an einigen Stellen, doch der größte Teil war nach unten hin offen und wurde von einigen dicken Balken gestützt, die durch das ganze Gebäude reichten. Helles Licht kam von unten, begleitet von menschlichen Stimmen und – Nahrhaft schauderte – dem Bellen von Hunden.

»Dies ist ein großer Stall, Boss«, sagte Sardinen. »Die Grube befindet sich unter dem Balken dort drüben. Kommt…«
Sie krochen auf das alte Holz und spähten in die Tiefe.

Weit unten sahen sie einen hölzernen Kreis, wie die untere Hälfte eines riesigen Fasses. Nahrhaft bemerkte, dass sie direkt über der Grube waren – wenn sie jetzt fiel, würde sie mitten dann landen. Hunde waren an den Wänden festgebunden, bellten sich gegenseitig und das Universum an, auf die verrückte Ich-werde-nie-mehr-still-sein-Art von Hunden. Auf der einen Seite lagen Kisten und einige Säcke.

Die Säcke bewegten sich.
»Crtlk! Wie zum Krrp sollen wir Gekochter Schinken hier finden?«, fragte Sonnenbraun. Das Licht von unten ließ seine Augen glühen. »So wie ich den alten Burschen kenne, wird er es nicht versäumen, auf sich aufmerksam zu machen«, sagte Sardinen.

»Könntest du an einem Bindfaden in die Grube hinabspringen?« »Ich bin zu allem bereit, Boss«, erwiderte Sardinen loyal.
»In eine Grube mit Hunden?«, fragte Nahrhaft. »Und würde der

Bindfaden dich nicht zerreißen?«
»Für diesen Fall habe ich ein kleines Hilfsmittel, Boss«, sagte Sardinen. Er nahm die dicke Bindfadenrolle ab und stellte sie beiseite. Darunter kam eine weitere Rolle zum Vorschein, die in einem hellen Braun glänzte. Er zog an einem Teil davon, und es zuckte mit einem leisen Schwirren zurück. »Gummiband«, sagte er. »Ich hab’s von einem Tisch stibitzt, als ich nach mehr Bindfaden suchte. So was habe ich schon einmal benutzt, Boss. Sehr nützlich bei einem Sprung in große Tiefe.«

Sonnenbraun wich einen Schritt zurück. In der Nähe lag eine alte Kerzenlaterne auf der Seite, das Glas zerbrochen. »Gut«, sagte er. »Ich habe da nämlich eine Idee. Wenn du hinunterspringen kannst…«

Unten schwollen die Stimmen an. Die Ratten beugten sich vor und blickten in die Tiefe.

Der Kreis aus Köpfen am Rand der Grube war dichter geworden. Ein Mann sprach mit lauter Stimme. Gelegentlich jubelten die anderen. Die schwarzen Zylinder der beiden Rattenfänger glitten durch die Menge. Von oben gesehen waren es zwei düstere Flecken zwischen den grauen und braunen Mützen.

Einer der Rattenfänger entleerte einen Sack in die Grube, und die Beobachter sahen dunkle Ratten, die in Panik hin und her liefen, in einem Kreis nach einer Ecke suchten, in der sie sich verstecken konnten.

Die Menge wich ein wenig auseinander, und ein Mann näherte sich der Grube. Er hielt einen Terrier. Die Menschen riefen und lachten, und der Hund wurde in die Grube zu den Ratten hinabgelassen.

Die Veränderten starrten auf den Todeskreis und die jubelnden Menschen.

Nach einer Weile wandte Nahrhaft den Blick ab. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie Sonnenbrauns Miene. Vielleicht lag es an dem Licht von unten, dass seine Augen in Flammen zu stehen schienen. Sie sah, wie er durch den großen Stall zur Tür am Ende blickte, die verriegelt worden war. Dann wandte er sich dem Heu und Stroh zu, das nicht nur auf dem Dachboden lag, sondern auch unten in den Krippen und Futtertrögen.

Sonnenbraun zog einen Holzstab hinter seinen Gürteln hervor. Nahrhaft roch den Schwefel in dem roten Kopf am einen Ende. Ein Streichholz.
Sonnenbraun drehte sich um und stellte fest, dass Nahrhaft ihn ansah.

Er nickte in Richtung des Heus auf dem Dachboden. »Vielleicht funktioniert mein Plan nicht«, sagte er. »Wenn nicht, musst du den anderen Plan ausführen.«

»Ich?«, fragte Nahrhaft.

»Du. Weil ich dann nicht mehr… da bin«, sagte Sonnenbraun. Er reichte ihr das Streichholz. »Du weißt, was zu tun ist«, fügte er hinzu und deutete zum nächsten Heuballen.

Nahrhaft schluckte. »Ja. Ich denke schon. Äh… wann?«

»Wenn die Zeit kommt. Du wirst es wissen«, erwiderte Sonnenbraun und sah wieder hinab zu dem Massaker. »So oder so – sie sollen sich an heute Abend erinnern«, sagte er leise. »Ja, sie werden sich an das erinnern, was sie getan haben. Und sie werden sich auch an das erinnern, was wir getan haben. Für den Rest ihres Lebens.«

Gekochter Schinken lag im Sack. Er roch die anderen Ratten in der Nähe, auch die Hunde und das Blut. Insbesondere das Blut.

Er hörte seine eigenen Gedanken, aber sie waren wie das leise Summen von Insekten vor dem Gewitter seiner Wahrnehmungen. Teile von Erinnerungen tanzten ihm vor den Augen. Käfige. Panik. Die weiße Ratte. Gekochter Schinken. So lautete sein Name. Seltsam. Früher hatte es keine Namen gegeben. Man roch die anderen Ratten einfach. Dunkelheit. Dunkelheit im Innern, hinter den Augen. Dieser Teil war Gekochter Schinken. Alles draußen war etwas anderes.

Gekochter Schinken. Ich. Der Anführer.

Der rote Zorn brodelte noch immer in ihm, hatte inzwischen aber Gestalt gewonnen, so wie die Form, die eine tiefe Schlucht dem Fluss gibt: Sie zwingt ihn, schmaler zu werden und schneller zu fließen; sie gibt ihm eine Richtung.

Er hörte Stimmen.
»Wir tun ihn einfach zu den anderen, niemand wird etwas merken…« »In Ordnung. Ich schüttle den Sack, um ihn wütend zu machen…« Der Sack wurde geschüttelt, aber Gekochter Schinken wurde nicht noch zorniger. In ihm gab es keinen Platz für mehr Zorn.

Der Sack schwang hin und her, als er zur Grube getragen wurde. Die Stimmen der Menschen wurden lauter, die Gerüche intensiver. Es wurde kurz still, als man den Sack drehte und entleerte. Dann riefen die Menschen wieder, und Gekochter Schinken fiel in einen Haufen zappelnder Ratten.

Mit Zähnen und Krallen bahnte er sich einen Weg nach oben und sah, wie ein knurrender Hund in die Grube gesetzt wurde. Er schnappte nach einer Ratte, schüttelte sie und ließ den erschlafften Körper davonfliegen.

Die Ratten versuchten zu fliehen.
»Idioten!«, heulte Gekochter Schinken. »Arbeitet zusammen! Ihr könntet diesem Flohfänger das Fleisch von den Knochen reißen!« Die Menschen verstummten.

Der Hund starrte an seiner Schnauze entlang auf Gekochter Schinken hinab. Er versuchte zu denken. Die Ratte hatte gesprochen. Nur Menschen sprachen. Und sie roch nicht richtig. Ratten stanken nach Panik. Diese nicht.

Die Stille schien ohrenbetäubend laut zu sein.
Dann schnappte Schnappi nach der Ratte, schüttelte sie, nicht zu hart,

und ließ sie fallen. Er hatte sich zu einem Test entschlossen. Ratten sollten nicht wie Menschen sprechen können, doch diese Ratte sah wie eine Ratte aus, und es war in Ordnung, Ratten zu töten, aber sie sprach wie ein Mensch, und wenn man einen Menschen biss, bezog man eine Tracht Prügel. Schnappi musste Gewissheit haben. Wenn er jetzt einen Tritt bekam, war diese Ratte ein Mensch.

Gekochter Schinken rollte ab und kam wieder auf die Beine, aber in seiner Seite hatte ein Hundezahn eine tiefe Wunde hinterlassen.

Die anderen Ratten krabbelten noch immer durcheinander, so weit wie möglich vom Hund entfernt. Sie bildeten einen wirren Haufen, und jede Ratte versuchte, ganz unten zu sein.

Gekochter Schinken spuckte Blut. »Na schön«, knurrte er und näherte sich dem verwirrten Hund. »Jetzt wirst du herausfinden, wie eine richtige Ratte stirbt!«

»Gekochter Schinken!«
Er sah nach oben.

Der Bindfaden spulte sich hinter Sardinen ab, als er durch die raucherfüllte Luft fiel, der Grube entgegen. Er befand sich direkt über Gekochter Schinken, wurde größer und größer…

… und langsamer und langsamer…

Er hielt zwischen dem Hund und der Ratte an. Für einen Augenblick hing er dort, hob höflich den Hut und sagte: »Guten Abend!« Dann schlang er alle vier Pfoten um Gekochter Schinken.

Und dann zog sich das lange, bis zum Maximum gedehnte Gummiband wieder zusammen. Zu spät schnappte Schnappi nach leerer Luft. Die beiden Ratten wurden schneller – das Gummiband zog sie aus der Grube nach oben. Schließlich verharrten sie mitten in der Luft, außerhalb der Reichweite.

Der Hund starrte noch immer nach oben, als Sonnenbraun von der anderen Seite des Balkens sprang. Die Menschen beobachteten verblüfft, wie er dem Terrier entgegenfiel.

Schnappi kniff die Augen zusammen. Ratten, die nach oben verschwanden, waren eine Sache; ganz anders sah es mit Ratten aus, die seiner Schnauze entgegenfielen. Solche Ratten waren ein willkommener und bequemer Leckerbissen.

Sonnenbraun sah zurück, während er fiel. Oben war Nahrhaft damit beschäftigt, hektisch zu knoten und zu beißen. Jetzt befand sich Sonnenbraun auf der anderen Seite von Sardinens Bindfaden, und Sardinen hatte alles genau erklärt. Sonnenbrauns Gewicht allein reichte nicht aus, um zwei Ratten bis zum Balken emporzuziehen…

Als Sonnenbraun sah, dass Sardinen und sein zappelnder Passagier die Sicherheit des Dachbodens ereicht hatten…
… ließ er die große Kerzenlaterne los, die er als zusätzliches Gewicht getragen hatte, und biss den Bindfaden durch.
Die Laterne landete auf Schnappi, und Sonnenbraun landete auf der Laterne und rollte zu Boden.

Die Menschen schwiegen noch immer. Sie gaben keinen Ton von sich, seit Gekochter Schinken aus der Grube herausgezogen worden war. Ganz oben an der Holzwand, die für Ratten tatsächlich zu hoch war, um darüber hinwegzuspringen, sah Sonnenbraun Gesichter, die meisten von ihnen rot. Münder standen offen. Es herrschte die Stille von großen roten Gesichtern, die Luft holten, um gleich zu schreien.

Um Sonnenbraun herum versuchten die anderen Ratten, an der Holzwand hochzuklettern. Narren, dachte er. Vier oder fünf von euch hätten in jedem Hund den Wunsch wecken können, nie geboren zu sein. Aber ihr krabbelt hin und her und lasst euch nacheinander packen…

Der verwunderte Schnappi blinzelte, starrte auf Sonnenbraun hinab und knurrte kehlig.

»Na schön, du Kkrrkk«, sagte Sonnenbraun laut genug, dass die Menschen ihn hörten. »Jetzt zeige ich dir, wie eine Ratte lebt
Er griff an.

Schnappi war kein schlechter Hund, nach den Maßstäben von Hunden. Als Terrier gefiel es ihm, Ratten zu töten, und wenn er viele Ratten in der Grube tötete, bekam er genug zu fressen und wurde »braver Junge« genannt und nicht zu oft getreten. Manche Ratten setzten sich zur Wehr, was aber kaum Probleme machte, weil sie kleiner waren und er mehr Zähne hatte. Schnappis Intelligenz hielt sich in Grenzen, doch er war intelligenter als eine Ratte, und außerdem erledigten Nase und Maul den größten Teil des Denkens.

Deshalb überraschte es ihn sehr, als er das Maul schloss und feststellen musste, dass die neue Ratte nicht mehr da war.

Sonnenbraun lief nicht, wie eine Ratte laufen sollte. Er duckte sich wie ein Kämpfer. Er zwickte Schnappi unterm Kinn und verschwand. Schnappi wirbelte herum, und wieder war die Ratte nicht dort, wo er sie erwartete. Während seiner bisherigen Grubenauftritte hatte er Ratten gebissen, die wegzulaufen versuchen. Aber Ratten, die in unmittelbarer Nähe blieben… Das war unfair!

Gebrüll kam von den Zuschauern. Jemand rief »Zehn Dollar auf die Ratte!«, und jemand anders rammte ihm die Faust gegen das Ohr. Ein anderer Mann versuchte, in die Grube zu klettern, und jemand schlug ihm eine Bierflasche auf den Kopf.

Sonnenbraun lief unter dem bellenden, sich drehenden Schnappt hin und her. Er wartete auf den richtigen Augenblick…
Und dann sah er die gesuchte Stelle und biss fest zu.

Schnappi verdrehte die Augen. Ein Teil von ihm, der sehr persönlicher Natur und nur für Schnappi und Hündinnen interessant war, schmerzte plötzlich sehr.

Er jaulte. Er schnappte nach leerer Luft. Und dann versuchte er im allgemeinen Durcheinander, die Grube zu verlassen. Er richtete sich auf, und seine Krallen kratzten verzweifelt über die glatte, schmierige Holzwand.

Sonnenbraun sprang auf seinen Schwanz, lief über den Rücken, hüpfte auf die Spitze seiner Schnauze und sprang über die Wand.

Er landete zwischen Beinen. Männer versuchten, auf ihn zu treten, aber das bedeutete, dass ihnen andere Männer Platz machen mussten. Als sie sich mit den Ellenbogen gegenseitig fortgestoßen hatten und sich auf die Stiefel stampften, war Sonnenbraun bereits verschwunden.

Aber es befanden sich noch andere Hunde im Stall. Sie waren halb wahnsinnig vor Aufregung, rissen sich von Leinen und Ketten los und verfolgten die Ratte. Sie wussten, wie man Ratten verfolgte.

Und Sonnenbraun wusste, wie man vor Hunden weglief. Wie ein Komet sauste er über den Boden, ein Schweif aus knurrenden, bellenden Hunden hinter sich, hielt auf die Schatten zu, bemerkte ein Loch in den Brettern und sprang hindurch, in Sicherheit verheißende Finsternis…

Klick machte die Falle.