Meine Integration in Europa

Flucht nach Europa

Auch wenn ich den Schergen der islamischen Republik durch meine Flucht in die kurdischen Berge entkommen war, mit den Jahren wurde auch das Leben dort immer schwerer, physisch und psychisch. Für mich war die Trennung von meiner Familie und alten Freunden oft hart, in den zehn Jahren meines Partisanenlebens bekam ich nur einmal einen Brief von meiner Mutter durch einen Kurier. Doch wenn ich die Kinder sah, die in einem Flüchtlingslager im Krieg groß wurden, wurde mir das Herz noch schwerer. Auch alte Menschen, die körperliche Gebrechen hatten, litten besonders unter dem Leben in den einfachen Hütten. Die Leitung der Komalah, der das Lager unterstand, brachte von Zeit zu Zeit kleine Menschengruppen nach Europa. Der Weg führte über den Irak, meist über den Flughafen in Bagdad. Die irakische Führung hat dies inoffiziell unterstützt, die Feindschaft des Irak zum Iran hat uns bei den Fluchtplänen geholfen. Vorrang hatten die Kranken, alte Menschen und Kinder. Ich war jung und kinderlos, und ich liebte meine Arbeit in unserer Radiostation, die bis weit in den Iran hinein sendete. Doch nach meiner zweiten Hochzeit sehnten mein Mann und ich uns immer mehr nach einem normalen Familienleben. Ich merkte auf einmal, dass ich das karge Essen satt hatte, den beengten Raum, die fehlende Intimsphäre. Neben der Arbeit gab es trotz wöchentlichem Fest und Sport zu wenige Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Heute denke ich manchmal: Meine Güte, wie hast du das so lange ausgehalten, dieses beengte Leben in der mit den Jahren immer mehr wachsenden Angst vor Angriffen, sowohl durch die iranische wie später auch durch die irakische Armee. 1990 wurde mir schließlich von der Lagerleitung mitgeteilt, dass ich mit einer Gruppe von fünf Frauen und Männern nach Wien fliehen konnte. Wohin in Europa eine Gruppe aufbrach, hing davon ab, welchen Weg die Fluchthelfer gerade für den günstigsten hielten. Auf der einen Seite hatte ich mich gefreut, aus dem Lager fortzukommen. Aber ich wusste auch, dass ich in ein Land ging, wo ich niemanden kannte und dessen Sprache ich nicht sprach. Wien, Österreich – was würde mich dort erwarten? Traurig war ich auch, dass mein Mann nicht sofort mitkommen konnte. Dass Ehepaare durch die Flucht für Monate auseinandergerissen wurden, geschah häufiger. Irgendjemand von der Leitung des Lagers drückte mir ein Buch über Österreich in die Hand, einen englischen Reiseführer. Meine Reise würde keine touristische sein, aber mit Hilfe des Buches lernte ich, wie viele Einwohner Wien hat und welches Klima in den Alpen herrscht. Heute kann ich mich nur noch an drei Dinge erinnern, die mir beim Lesen aus irgendeinem Grund besonders in Erinnerung geblieben sind: Die Lebenserwartung von Frauen ist höher als die der Männer, die Landesflagge ist rot-weiß-rot, und es wird Deutsch gesprochen.

Wir fuhren in einem Auto nach Bagdad, eine Gruppe von fünf Leuten, zwei Männer und drei Frauen. Zwei Tage hielten wir uns bei einem Helfer in Bagdad auf und kauften erst einmal Kleidung. Nach zehn Jahren in Uniform und Kleidung aus Hilfspaketen war ich es nicht mehr gewohnt, einzukaufen. So beobachtete ich zunächst, was die Menschen in der Stadt überhaupt trugen. In Bagdad sah man 1990 viele Frauen in westlicher Kleidung. Da wir nicht viel Geld hatten, suchte ich mir in einer Art Secondhand-Laden einen braunen Rock und eine helle Bluse aus. In den Bergen hatte ich derbes Schuhwerk getragen, nun wählte ich schwarze Schnürschuhe aus, die nicht allzu klobig aussahen, aber doch einen echten Stilbruch zum Rock ausmachten. Aber die Flucht war aufregend genug, da brauchte ich einen sicheren Stand, und meine Füße waren nicht mehr an Damenschuhe gewöhnt.

Keiner aus unserer Gruppe hatte Papiere. Ich war ja schon ohne Ausweis vom Iran nach Kurdistan geflüchtet, und für die Lagerverwaltung der Komalah hatten meine Angaben von Name und Geburtsdatum gereicht.

Wir bekamen in Bagdad gefälschte Dokumente durch unsere Fluchthelfer. Ich vermute, dass es irakische Ausweise waren, aber ich habe in all der Aufregung nicht genau hingeschaut und weiß es nicht mehr. Ich war laut Ausweis mit einem der mitreisenden Männer verheiratet, daran kann ich mich noch erinnern. Wir kamen jedenfalls mit den Papieren wohlbehalten durch die Zollkontrollen und hoben schließlich mit dem Flugzeug Richtung Wien ab.

Für mich war es der erste Flug überhaupt. Direkt neben mir saß mein angeblicher Ehemann. Ich schaute ihm immer wieder über die Schulter, die fremden Menschen waren für mich neu und aufregend, da sie so anders wirkten als meine Kameradinnen und Kameraden in den Bergen. Ich war froh, dass das Lagerleben hinter mir lag, doch dachte ich auch wehmütig an die zurückgelassenen Freunde und vor allem an Mohammad, meinen Mann. Ich hoffte nur, dass sie alle überleben würden und ich ihn bald wiedersehen würde – in Freiheit, in Europa.

Uns war die Anweisung gegeben worden, die Ausweise im Flugzeug zu vernichten. Also habe ich meinen in der Toilette zerrissen und weggespült. In Wien nahm uns die Polizei natürlich sofort wegen der fehlenden Ausweise fest. Die Polizisten waren höflich, diesen Teil der Flucht hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Wir wurden in einen abgeschlossenen Bereich für Flüchtlinge gebracht, eine Frau kam und erklärte uns die Situation in Englisch. Sie sagte auch, dass es häufiger vorkäme, dass Flüchtlinge ohne Papiere hier ankamen. Wir verständigten uns mehr schlecht als recht in Englisch, was keiner von uns vieren gut konnte. Aber als klar wurde, dass wir aus Kurdistan kamen, brachte man uns einen Dolmetscher, der Kurdisch sprach. Wir mussten zwei Tage in diesem abgeschlossenen Bereich bleiben und wurden befragt. Es war eng in diesen Räumen, von denen einige als Schlafzimmer dienten. Aus Sicherheitsgründen gab es Tageslicht nur durch wenige Schlitze weit oben in den Wänden, und es stank nach den Ausdünstungen der unzähligen Menschen, die hier schon hoffend und bangend festgehalten worden waren. Wir bekamen Besuch von einem Mitglied einer iranischen Flüchtlingsorganisation und einer Frau von den Grünen. Die Grenzpolizei befragte uns ausführlich, vor allem zum Kampf in den kurdischen Bergen und zur Komalah.

Ich sah keinen Grund, etwas zu verheimlichen, denn weder mein Widerstand gegen Schah und Mullahs noch mein Leben mit der Komalah in Kurdistan schien mir falsch.

Nach zwei Tagen wurden wir nahe Wien in das Lager Traiskirchen verlegt. Dieses durften wir einen Monat lang nicht verlassen, aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Wir alle stellten Asylanträge.

Nach einem Monat wurden wir auf verschiedene Lager im ganzen Land verteilt. Ich kam in ein Flüchtlingslager vier Busstunden von Wien entfernt. Über 300 Menschen aus so unterschiedlichen Ländern wie Rumänien, Iran und Ghana lebten hier. Als ich ankam, wurde mir gesagt, es gäbe nur noch einen Schlafplatz für mich – mit drei Männern in einem Raum mit zwei Etagenbetten, zwei Iranern und einem Pakistani. So musste ich in einem Etagenbett unter einem Mann schlafen, zwei weitere Männer neben mir. Ich konnte kein Deutsch, ich war allein und erschöpft und traurig. In diesem Schlafraum kam ich nicht zur Ruhe, es war laut und roch unangenehm, und ich war eine Frau allein mit drei fremden Männern! Ich bin zwar gegen zwangsweise Geschlechtertrennung, aber das hieß noch nicht, dass ich in allen Lebenslagen mit fremden Männern auf engstem Raum eingepfercht sein wollte!

Gleich am ersten Tag wurde ich routinemäßig medizinisch untersucht. Dabei stellte der Arzt fest, dass ich schwanger war. Eine frohe Nachricht, denn ich hatte mir immer Kinder gewünscht, allerdings war in meinem bisherigen Leben daran nicht zu denken gewesen. Und nun, dem Krieg entronnen, war ich tatsächlich schwanger. Aber auch meine Schwangerschaft beeindruckte die Lagerleitung nicht genug, um mir einen Schlafplatz unter Frauen zu geben.

Nach einer Woche habe ich deshalb am Eingang einen großen Zettel aufgehängt, auf dem ich in Persisch meine Schlafsituation erklärte, und dass ich diese Zumutung nicht mehr aushielte. Menschen aus dem Iran kamen auf mich zu und stimmten mir zu. Schließlich bekam ich ein Bett in einem Zimmer mit einer anderen Frau. Hätte ich mich nicht gewehrt, hätte man mich vermutlich weiter allein mit drei Männern in einem Zimmer gelassen! Dabei war die sexuelle Belästigung von Frauen im Lager allgegenwärtig, vor allem abends verließen die – wenigen – alleinstehenden Frauen nicht mehr die Zimmer, einige der Männer tranken und wurden dann zudringlich.

Ich fühlte mich sehr unerwünscht von den Österreichern, abgelegt als »Fall« in einem Lagerbett. Dabei hatte ich vorgehabt, in Wien schnell eine Wohnung zu mieten und für meinen Lebensunterhalt arbeiten zu gehen, aber das durfte ich nicht. Stattdessen sperrte man mich mit 300 anderen in ein großes Haus über fünf Etagen und erlaubte uns nicht, uns frei zu bewegen. Wir konnten auf einen Fluss direkt vor dem Haus schauen, eine österreichische Bilderbuchlandschaft. Aber ich dachte nicht an Erholung und Schwimmen, sondern empfand den Fluss dort wie eine Aufforderung, sich hineinzustürzen und sich zu ertränken. Das war mein erster Gedanke, als ich ihn betrachtete – doch dann erwachte mein Kampfgeist wieder. Ich hatte nicht Verfolgung und Untergrund im Iran und zehn Jahre im umkämpften Kurdistan überlebt, um in einem österreichischen Fluss zu enden!

Stattdessen meldete ich mich zu einem Deutschkurs an, zu dem ich nun täglich mit dem Bus fuhr. Schon in den ersten Tagen schrieb ich meiner Mutter, auch angerufen habe ich sie bald, ich war überglücklich, ihre Stimme nach zehn Jahren wieder einmal zu hören. Auch die Schwester meines ersten Mannes erreichte ich am Telefon, endlich konnte ich zumindest für Minuten mit Menschen sprechen, die mich kannten. Sie waren froh, dass ich in Sicherheit war. Beim Telefonieren war die Sehnsucht, meine Mutter in die Arme schließen zu können, fast unerträglich, aber ich riss mich zusammen, um nicht zu weinen. Bei ihr aber flossen die Tränen, und ich versuchte, sie damit zu trösten, dass ich in Sicherheit war.

In Wien gab es einige Leute von der Komalah, mit denen ich Kontakt aufnahm, aber dennoch war es eine einsame Zeit. Ich versuchte, mich aufrecht zu halten für mein Baby. Doch all die Strapazen forderten ihren Tribut, und nach sechs Monaten Schwangerschaft teilte mir der Arzt mit, dass das Kind entschieden zu klein sei und es mit einem Kaiserschnitt geholt werden müsse, weil die Gefahr bestünde, dass es sonst sterbe. Ich bekam große Angst. Es schmerzte mich, diese Angst um mein Kind mit niemandem teilen zu können.

Keinesfalls wollte ich in dieser Situation in dem kleinen Dorf bleiben, die medizinische Versorgung schien mir nur in einer großen Stadt gesichert zu sein. So bin ich ohne Erlaubnis nach Wien gefahren, ging direkt ins Hauptamt für Flüchtlinge und sagte, dass ich in Wien bleiben wolle.

Die Sachbearbeiterin schüttelte den Kopf und sprach in strengem Ton mit mir. Ich verstand noch zu wenig Deutsch, um ihre Sätze zu verstehen, doch der Inhalt der Botschaft war überdeutlich: Nein, nein, nein. Ich verstand nicht, weshalb man mir nicht half, mich in den Alltag in Österreich einzufinden – um mir dann böse zu sein, dass ich zur Bittstellerin wurde. Empört sammelte ich meine paar Brocken Deutsch zusammen und sagte, dass sie mit mir nicht so rassistisch umgehen könne.

Ich sagte: »Ich stehe hier, ich bleibe hier. Ich gehe nicht wieder zurück.« Meine Beharrlichkeit zeigte schließlich Wirkung. Vermutlich war es einfacher, auf mich einzugehen, nur als Einzelfall natürlich und weil ich schwanger war, als sich mit weiterem Protest auseinandersetzen zu müssen. Ich bekam einen Platz in einem Flüchtlingswohnheim im Zentrum von Wien. Dort hatte ich nun sogar ein Zimmer für mich allein, sehr klein, aber nur für mich.

Ich werde Mutter und engagiere mich wieder politisch

Ein Arzt wies mich nach einer weiteren Untersuchung in ein Krankenhaus ein. Dort wurde mir noch einmal gesagt, dass man das Kind wegen der geringen Größe per Kaiserschnitt holen müsse.

Meine erste Tochter Anita kam also per Kaiserschnitt zur Welt und wog nur 1400 Gramm. Als ich nach dem Eingriff erwachte, kam eine iranische Ärztin zu mir und erklärte, dass meine Tochter lebte, aber sehr klein und schwach sei und deshalb erst einmal im Krankenhaus unter Beobachtung bleiben müsse. Auch ich musste noch zwei Wochen bleiben, der Kaiserschnitt hatte mich sehr geschwächt. Ich sah meine Tochter erst nach ein paar Tagen, als man mich in einem Auto zu ihr brachte, denn sie lag in einem Kinderkrankenhaus. Sie war so klein, strampelte und weinte. Es ging mir tief ans Herz, dieses kleine Geschöpf zu sehen. Sie war so verletzlich, so abhängig von meiner Zuwendung und Liebe. Ich hatte ein bisschen Angst, als ich sie das erste Mal in den Arm nahm, so zerbrechlich wirkte sie.

Als ich gefragt wurde, wie das Kind heißen solle, sagte ich »Anita«. Dann wurde ich nach dem Familiennamen gefragt. »Ahadi«, sagte ich. »Wie heißt Ihr Mann?«, fragte die Schwester mich. »Er heißt Mohammad Asangaran, aber das Kind soll wie ich heißen.« Mir wurde gesagt, dass das nicht ginge, ich käme aus dem Iran, und nach dem islamischen Gesetz müsse das Kind den Namen des Familienoberhauptes haben, und das sei der Mann. Ich sagte: »Ich bin aus dem Iran geflüchtet, weil ich diese Gesetze nicht akzeptiere. Diese Gesetze respektieren mich nicht als Person!« »Sie sind Iranerin, und deshalb gelten diese Gesetze für Sie!« Ende der Diskussion, meine Tochter bekam den Familiennamen meines Mannes. Ich wurde ein paar Tage vor Anita entlassen und versuchte, ein Kinderbett im Lager aufzutreiben. Das gelang mir mit Hilfe einer Sozialarbeiterin, und so erwartete meine Tochter unser kleines Zuhause, als ich sie aus dem Krankenhaus holte. Nun stand ich als Mutter allein mit einem kränklichen Kind von vier Pfund, lebte in einem fremden Land in einem Flüchtlingswohnheim. Die Kleine war sehr unruhig und hat viel geschrien. Ich habe all meine Kraft auf mein Kind konzentriert, um durchzuhalten, fühlte mich aber oft wie kurz vor dem Zusammenbruch. Endlich, als Anita fast sechs Monate alt war, kam mein Mann in Wien an. Überglücklich schlossen wir uns in die Arme, und voller Verwunderung sah er seine kleine Tochter, seine beiden zähen Frauen, wie er sagte. Ein halbes Jahr lang hatten wir uns geschrieben, zwei Wochen dauerte ein Brief, aber durchgehalten hatte ich nicht zuletzt in der Hoffnung auf dieses Wiedersehen.

Anita erholte sich schließlich gut und erreichte bald Normalgewicht. Ich versuchte, mein Leben zu normalisieren und wieder zu Kräften zu kommen. Aber auch zu zweit blieb unsere Lebenssituation schwierig, mit einem kleinen Kind ohne Geld. Im Wohnheim bekam man Essen, aber sehr wenig Geld. Das Essen vertrug ich nicht gut, und ich hatte keine Milch zum Stillen. Die Verwaltung gab mir keine Milch extra für das Kind, das war nicht vorgesehen, die hätte ich schließlich selbst. Also musste ich Milch kaufen, und dafür brauchte ich Geld. Ich bat meine Familie im Iran darum, und mein Mann tat dasselbe. Er hatte schon etwas Geld von seiner Familie geschickt, als er noch in Kurdistan gewesen war.

Mein Asylantrag war kurz nach der Geburt von Anita bewilligt worden, seiner einige Monate später. So konnten wir endlich eine Wohnung und Arbeit suchen. Als wir dann in eine eigene kleine Wohnung umzogen, fühlte ich mich langsam angekommen in Europa. Zum einen war unser rechtlicher Status geklärt, wir durften als anerkannte Flüchtlinge bleiben. Fast größer war die psychische Entlastung. Mit dem Status »Asyl anerkannt« wurde uns nicht mehr ständig Misstrauen entgegengebracht, ob wir nicht nur Betrüger seien, die nicht in Not geflohen, sondern einfach ein Leben im Schlaraffenland gesucht hätten.

Nun bekam ich auch wieder den Kopf frei für politisches Engagement. Anfang 1992 sah ich ein Plakat für eine Veranstaltung am 8. März, den internationalen Frauentag. Keine Frage, dass ich dorthin ging.

In einem Veranstaltungsraum, der an ein Klassenzimmer erinnerte, waren gut 100 Frauen. Obwohl ich immer noch sehr wenig Deutsch und den Vorträgen nicht wirklich folgen konnte, bin ich aufgestanden, habe mich vorgestellt und geredet. »Ich komme aus dem Iran«, sagte ich und erzählte von der Situation der Frauen dort unter dem islamischen Regime. Ich wusste nicht, wie die Zuhörerinnen meine Rede gefunden hatten, es wurde zwar Beifall gespendet, aber die Reaktionen waren zurückhaltend. Ich kannte die österreichische Mentalität nicht gut genug, um den Grad des Interesses am Beifall abschätzen zu können. Nach der Veranstaltung kam die Organisatorin auf mich zu und dankte mir für meine gute Rede. Sie gab mir eine Adresse, es war die des Büros ihrer Organisation gegen Gewalt gegen Frauen, und sie stellte sich vor: Rosa Logar. Mit dieser Begegnung begann meine politische Arbeit für Frauen- und Menschenrechte in Europa. 1993 fand die Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien statt. Rosa Logar, heute Geschäftsführerin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie und Mitbegründerin des ersten Frauenhauses in Österreich (1978), Vorsitzende des »Vereins autonome österreichische Frauenhäuser« und Mitbegründerin des »Europäischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen« (WAVE) und aktive Kämpferin für die Rechte aller Frauen, nahm mich mit. Die Tochter von Ayatollah Taleghani, Azam Taleghani, sprach über die Rechte der Frauen im Iran und wie gut der Islam zu ihnen sei. Sie bezeichnete sich als Oppositionelle, im Tschador lobte sie den Islam und die Rolle, die er der Frau als der »anderen« zugestehe. Ich habe mich sehr aufgeregt und fragte sie nach den Massenhinrichtungen 1980, denen auch mein Mann zum Opfer gefallen war.

Kurz darauf sprach ich auf einer Flüchtlingskonferenz, wo ich erzählte, wie ich im Iran gegen das Regime gekämpft hatte. Dieses unmenschliche, frauenfeindliche islamische Regime hatte mich töten wollen. »Ich habe im Iran für die Frauenrechte, die Menschenrechte, gegen die Todesstrafe gekämpft. Deshalb bin ich verfolgt worden, und deshalb bin ich nun in Österreich. In Österreich wusste man das und behandelte mich als Fall für die Bürokratie der Ausländerbehörden. Das ist keine menschliche Flüchtlingspolitik. Niemand kann sagen, er wisse nicht Bescheid, jeder Österreicher weiß, wie in diesem Land mit Flüchtlingen umgegangen wird.«

Ich wurde vom Fernsehen interviewt, und damit haben meine öffentlichen Auftritte im Westen angefangen. Nach dieser Konferenz konnte ich in einer Flüchtlingshilfsorganisation mitarbeiten und habe meine erste Kampagne gegen Steinigungen organisiert, Mitte der 90er-Jahre.

Unser Vermieter hatte uns 1993 die Wohnung gekündigt, so saßen wir ohne Dach über dem Kopf mit einem kleinen Kind in Wien. Für ein paar Tage schlüpften wir bei einer uns bekannten iranischen Familie unter, aber es war zu eng in deren kleinem Apartment, und so mussten wir weiterziehen in ein Obdachlosenheim. Dort teilten sich zwei Familien mit acht Kindern ein Zimmer. Dahinter lag noch eine Art Besenkammer, die haben wir bezogen. Sieben Monate lebten wir in diesem Verschlag. Anita brachten wir morgens in den Kindergarten und gingen dann zu einem Deutschkurs. Deutsch zu lernen war mir wichtig, um mich in meiner neuen Umgebung, meiner zweiten Heimat, verständigen zu können. Mir ist völlig unverständlich, wie man in einem Land leben kann, ohne Interesse zu haben, dessen Sprache zu erlernen. Bis heute ist meine deutsche Grammatik fehlerhaft, aber ich kann mich gut verständlich machen – und alles verstehen. Darum geht es doch: Verständigung.

Mit einem Kind im Obdachlosenheim zu wohnen, war mir nicht recht. Es wurde viel gestohlen, und einmal stand ich unter der Gemeinschaftsdusche der Frauen, als drei Männer mit einem Messer den Raum betraten. Sie sprachen schon davon, mich zu vergewaltigen. Als noch eine andere Frau in den Raum kam, suchten sie zum Glück das Weite. Das schien mir keine gute Umgebung für kleine Kinder zu sein.

Deshalb bin ich immer wieder zu den verschiedenen Behörden gegangen, Ausländeramt, Wohnungsamt, und schließlich haben wir eine Wohnung bekommen. Auch, weil ich nicht locker gelassen habe und weil ich dort selbstbewusst, gebildet und mir meiner Rechte bewusst aufgetreten bin. Wenn ich dazu nicht in der Lage gewesen wäre, hätten wir vermutlich weit länger in diesem Heim gelebt. So bekamen wir eine staatliche Wohnung, die nur eine geringe Miete kostete, und sei es nur deshalb, dass irgendeinem Sachbearbeiter mein ständiges Nachfragen lästig war.

Meine Mutter besuchte uns 1994 für ein halbes Jahr in Wien. Ich hatte sie eingeladen, und es war wunderbar, sie wiederzusehen nach all der langen Zeit. Als ich sie mit einer Bekannten am Flughafen abholte, war sie erst beleidigt, dass ich ohne Mohammad und Anita gekommen war. Im Iran gilt es als unhöflich, wenn nicht die ganze Familie zugegen ist, um einen Besucher zu empfangen. Ich versuchte sie zu beruhigen, Anita kränkelte, und wir wollten auch unser aller Sicherheit nicht aufs Spiel setzen, der iranische Auslandsgeheimdienst war eine ständige Bedrohung für Exiliraner aus der linken Opposition, es kam immer wieder zu seltsamen Todesfällen, bei denen offensichtlich nachgeholfen worden war. Im ersten Moment war ich erschrocken, als ich sie sah, sie war so alt geworden! Bei uns zu Hause beruhigte sich meine Mutter dann schnell, als sie endlich ihre Enkelin umarmen konnte. Ich fühlte mich glücklich und ruhig in meiner Familie, die Jahre in den Bergen, die Flucht und der schwere Anfang als Flüchtling in Europa lagen endlich hinter mir, und ich durfte eine Privatperson sein, eine Frau und Mutter. Während meine Mutter in Wien war, machte ich eine Umschulung zur Altenpflegerin. Auch Mohammad hat eine Weiterbildung zum Schweißer gemacht. Ich schloss den Kurs mit sehr gut ab und hatte endlich ein Zertifikat. Mein Medizinstudium hatte ich zwar in Tabriz schon weitgehend abgeschlossen, aber keine offizielle Prüfung abgelegt, sodass meine Ausbildung jetzt nicht anerkannt wurde. Einen Tag nach Ende meines Kurses begann ich, in einem Altersheim zu arbeiten. Auch Mohammad fand schnell Arbeit als Schweißer, so mussten wir nicht von Sozialhilfe leben. Oft habe ich Nachtschicht gearbeitet, weil Anita klein war und ich sie dann morgens zum Kindergarten bringen konnte. Dann habe ich drei Stunden geschlafen und sie wieder abgeholt. Mein Mann kam nach Hause, wenn ich wieder arbeiten ging.

Der Besuch meiner Mutter brachte uns beide wieder näher, wir sprachen viel über früher, das Leben in Abhar, und was wir beide in den langen Jahren der Trennung erlebt hatten. Sie erzählte von dem Leben in Abhar. Meine kleine Schwester Mahtab war inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder. Sie hatte Fotos dabei, ich habe meine Neffen und Nichten, die Kinder meiner Geschwister, zum großen Teil bis heute nicht gesehen, nur wenige als Säuglinge. Mahtab hatte große Probleme gehabt, einen Studienplatz in Medizin zu finden, da sie eben meine Schwester war. Sie musste mehrere Formulare unterschreiben, in denen sie sich von mir distanzierte, um weiterstudieren zu dürfen. Meine ältere Schwester Mariam war auch Mutter und arbeitete als Lehrerin. Ihre Tochter und ihren Sohn habe ich nur als Babys gesehen, sie sind inzwischen beide verheiratet. Meine Mutter erzählte auch, wie sie immer wieder für mich gebetet hatte und Almosen gab, wenn sie eine Nachricht bekam, dass ich lebte. Groß war ihr Bedürfnis, mir von sogenannten Ehrenmorden zu erzählen, die sie in ihrer Umgebung mitbekommen hatte, wo die Männer einer Familie ihre Frau oder Schwester umbrachten, weil diese – angeblich – einen unkeuschen Kontakt zu einem fremden Mann gehabt hatten. Sie erzählte von einer verpfuschten Abtreibung, die einem unverheirateten Mädchen in unserer Nachbarschaft fast das Leben gekostet hätte. Nun war allgemein bekannt, dass sie keine Jungfrau mehr war, und ihr Leben war deshalb auch nicht mehr sicher. Ich war so froh um unsere Gespräche und unsere Nähe und freute mich schon auf regelmäßige Besuche meiner Mutter. Als sie schließlich zurück in den Iran flog, sagte ich: »Auf Wiedersehen bis in einem Jahr!«

Eine Woche nach ihrer Abreise rief ich meine große Schwester an. Ich meldete mich und sagte auf Persisch Hallo – und sie legte schweigend auf. Ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, und war höchst beunruhigt. Einen Monat lang hörten wir nichts von meiner Familie, wir trauten uns nicht, selbst anzurufen, um niemanden zu gefährden. Es war ein schreckliches Warten, dann rief meine Mutter an. Sie sagte: »Kind, sie haben mich festgenommen, zwei Wochen lang, haben mich geschlagen, und ich war so schwer verletzt, dass ich in ein Krankenhaus musste. Ich hatte Angst zu sterben von diesen Schlägen, ich bekam keine Luft mehr. Und ich gab deine Telefonnummer und deine Adresse preis, wie sie es von mir wollten.« Sie entschuldigte sich dafür, dass sie es nicht geschafft habe, meinen Aufenthaltsort geheim zu halten, und ich beruhigte sie, dass unter Folter zu »gestehen« oder zu »verraten« nichts, aber auch gar nichts Schlimmes sei, und dass allein ihre Peiniger Schuld auf sich geladen hätten. Sie erzählte weiter, dass diese ihr Fotokopien meiner Briefe, die ich in den Iran geschickt hatte, und ein aktuelles Foto von mir gezeigt hatten. Ich dankte ihr sehr für die Warnung. Dass das iranische Regime Oppositionelle nicht nur im eigenen Land hinrichten ließ, war im Westen spätestens seit dem schon erwähnten Anschlag vom 21. September 1992 in der Berliner Diskothek Mykonos bekannt. Dass meine Mutter verhaftet und misshandelt worden war, zeigte mir, was ich eigentlich schon vorher wusste: Ich stand auf einer Liste des Auslandgeheimdienstes des Iran, wie alle Mitglieder der Komalah und der Arbeiterkommunistischen Partei. Und obwohl ich meiner Mutter gerade gesagt hatte, sie solle sich nicht schuldig fühlen, fiel es mir nicht leicht, mir nicht die Verantwortung für ihr Leid zu geben. Wäre ich nicht politisch aktiv, wäre sie nie verhaftet worden. Natürlich stimmte, was ich gesagt hatte – nur die Verfolger und Peiniger meiner Mutter hatten etwas Verwerfliches getan – dennoch war es schwer, die Schuldgefühle abzustreifen. Ich hatte Angst um meine kleine Tochter, um meinen Mann und auch um mich.

Also suchte ich wieder Ämter auf, und wir haben eine neue Wohnung und eine geheime Telefonnummer bekommen. Den Kontakt in den Iran brachen wir ganz ab. Mit meiner großen Schwester habe ich bis heute nicht mehr gesprochen, sie hat Angst vor der Polizei und um ihre Familie. Ich kann sie verstehen. Mit meiner Mutter telefoniere ich wieder regelmäßig, aber sie haben ihr den Reisepass abgenommen, und sie darf den Iran nicht mehr verlassen.

1995 war ich mit Rosa Logar und Gundi Dick, der Vorsitzenden der Frauensolidarität Wien, auf der Weltfrauenkonferenz in Peking.

Ich habe mich dort an vielen Diskussionen beteiligt und Reden gehalten und sogar die Möglichkeit gehabt, an der Sitzung der Regierungsmitglieder teilzunehmen, als eine der dazu eingeladenen Vertreterinnen der NGOs.

Ich war wieder schwanger, und leider wurde ich durch die schlechte Luft in Peking krank und musste schon nach acht statt nach zwölf Tagen, wie ursprünglich geplant, zurück nach Wien fliegen. Im Herbst reiste Mohammad in den irakischen Teil von Kurdistan, wo er Freunde und Familienmitglieder traf. Auf der Rückreise nach Wien wurde er in der Türkei festgenommen. Er war für einen türkischen Kurden gehalten worden, den man dem bewaffneten Widerstand zuordnete. Man glaubte ihm nicht, dass es eine Verwechslung sei. Er konnte mich aber anrufen und sagte, ihm drohe eine Abschiebung in den Iran. Das alles passte nicht zusammen, ich nahm Kontakt mit Amnesty International auf. Silvia Hourdosch, engagierte Menschenrechtlerin in der Organisation, half mir durch diese Nacht, bis das Fax von Amnesty International am nächsten Morgen kam, welches bestätigte, dass Mohammad wieder freigelassen worden war.

Am 19. Januar 1996 wurde Mona in Wien geboren, meine zweite Tochter. Diese Geburt war für mich etwas ganz Besonderes, denn es war eine natürliche Geburt, und ich konnte sie wach miterleben. Es war eine lange Phase mit Wehen, über 20 Stunden, bis dieser kleine Wurm mittags um halb zwei aus mir herauskam. Ich war überglücklich, dieses Erlebnis ist ein ganz besonderes Geschenk meiner kleinen Tochter an mich! Als sie sieben Monate alt war, zogen wir nach Köln. Da wir inzwischen alle vier österreichische Pässe hatten und damit EU-Bürger waren, bedeutete dieser Umzug kaum bürokratischen Aufwand. Mohammad und ich hatten fünf Jahre in Österreich legal angemeldet gelebt und gearbeitet, danach waren wir eingebürgert worden. Nach einer Wartezeit von sieben Monaten, die die iranischen Behörden brauchten, um unsere Geburtsurkunden an die österreichische Botschaft in Teheran zu schicken, bekamen wir unsere neuen Dokumente, die das Leben im Umgang mit den Behörden so viel einfacher machten.

Für einen Ortswechsel sprach, dass wir in Wien immer noch nicht sicher waren, ob wir nicht vom Geheimdienst entdeckt würden. Für Köln sprach, dass einige Familien in Nordrhein-Westfalen wohnten, die wir noch aus dem Iran und aus Kurdistan kannten. So konnten wir ein bisschen an unsere Wurzeln anknüpfen. Ich dachte auch an meine Töchter, die nicht wie ihre Altersgenossen ihre Familie kennen würden. Keine Oma und kein Opa, keine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Meine Älteste hat mich oft gefragt, warum wir kein Hochzeitsfoto haben. Aber im Lager gab es so etwas nicht. Und nun gab es zumindest noch andere Menschen in der Umgebung, die ihr etwas über das Leben im Iran und in Kurdistan erzählen konnten, wenn sie einmal Fragen stellen wollte.

Es ist auch schwer für meine Kinder, sich vorzustellen, dass ich schon einmal verheiratet war mit einem Mann, der hingerichtet wurde. Ich hoffte, das würde für sie leichter, wenn noch mehr Menschen um sie herum sein würden, die ebenfalls geliebte Menschen durch die Verfolgungen und Hinrichtungen in der Zeit nach der Revolution verloren hatten.

In Köln fanden wir sofort eine kleine Wohnung, und am nächsten Tag bekamen wir auf dem Ausländeramt unsere Aufenthaltsgenehmigungen. Wir waren nun Ausländer erster Klasse, EU-Bürger, zumindest auf dem Papier, auch wenn viele das wegen unseres anderen Aussehens und meines starken Akzents erst einmal nicht vermuteten.

Als Mona neun Monate alt war, entschieden wir, dass ich weiter arbeiten gehen und Mohammad zu Hause die Kinder betreuen würde. Als Schweißer hatte er es schwerer, eine Arbeit zu finden, Altenpflegerinnen wurden immer gesucht, innerhalb von drei Wochen hatte ich eine Stelle in Köln gefunden. Die Wochen dazwischen haben wir von unserem knappen Ersparten gelebt. Wir wollten nicht zum Sozialamt gehen, und dass wir zum Beispiel für Kinderbetreuung hätten Geld bekommen können, wussten wir nicht. Keiner hatte uns darauf hingewiesen.

Nachdem ich drei Jahre in diesem Altenheim gearbeitet hatte, hatten wir etwas Geld zusammengespart, und Mohammad konnte einen Kiosk kaufen. Dort haben wir dann beide gearbeitet, und unser Leben in Deutschland stabilisierte sich. Die Mädchen gingen zur Schule, sie sprechen Deutsch und Persisch, und wir haben Kontakt zu vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen.

Mona kam neulich und erzählte, dass sie in der Schule jetzt Sexualkunde haben. Sie ist in der sechsten Klasse, und als sie eifrig mitredete, waren manche Mitschüler erstaunt und fragten, wie das denn bei ihr zu Hause sei mit dem Reden über Sexualität. Und sie waren noch erstaunter, als Mona sagte, dass ihre Eltern ihr alle Fragen offen beantworten würden. Uns ist es wichtig, dass die Kinder in einer liberalen Umgebung aufwachsen, in der Familie wie in der Gesellschaft. Anita ist jetzt 17 und brachte mit 14 ihren ersten Freund nach Hause. Ich bin froh, dass für meine Töchter ein Leben möglich ist, wie es für mich undenkbar war. Aber ich sage ihnen nicht, dass sie dafür dankbar sein sollen – ich möchte, dass sie Freiheit und Selbstbestimmung als Werte erleben, die jedem Menschen zustehen, und hoffe, dass sie so ein Gefühl für Unrecht entwickeln und den Mut haben, dagegen anzugehen, wenn ihnen welches begegnet.