Der Islam meiner Kindheit im Iran

Mein Engagement im Zentralrat der Ex-Muslime wird ebenso wie mein Engagement gegen Steinigung und Todesstrafe von meiner Analyse der politischen Situation bestimmt und davon, was der politische Islam konkret bei den Menschen, allen voran den Frauen, anrichtet. Ich greife dabei auch den deutschen Multi-Kulti-Gedanken an, wo er die klare Sicht auf eine kritische Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur trübt.

Jeden Menschen prägt seine kulturelle Herkunft, seine ganz persönliche Lebensgeschichte in seinem kulturellen Umfeld, also auch mich. Ich bin in einer islamischen Kultur groß geworden. Unter der Diktatur des Schahs kamen zwar westliche Technologien in den Iran, konnten westliche Freizügigkeiten in den großen Städten ansatzweise ausgelebt werden, aber freies Denken wurde in keiner Weise gefördert. Natürlich nicht, denn Meinungsfreiheit und kritisches Denken unterdrückt jede Diktatur. Das aber hat letztlich, und zwar mit voller Unterstützung des Westens, allen voran der USA und Großbritanniens, den Boden bereitet, als Khomeini die Unzufriedenheit des Volkes perfekt zu nutzen wusste zur Etablierung seiner Theokratie. Denn er verhieß die Zugehörigkeit zur Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, und erklärte jeden Zweifler im Land und den Westen insgesamt zum Feind.

Ich möchte an dieser Stelle erzählen, wie ich mit der Religion groß geworden bin, um meinen kulturellen Hintergrund und den des iranischen Volkes vor der Revolution zu beleuchten. Denn ich fühle mich diesen Menschen nach wie vor sehr verbunden und möchte alles tun, damit die im Iran lebenden Menschen eine Zukunft in Freiheit erleben werden.

Allah ist immer da und sieht alles. Das war für mich als kleines Mädchen von Anfang an eine Tatsache, so wie die, dass man das Wasser im Fluss holen musste. Die Existenz Allahs wurde nicht diskutiert. Es wurde überhaupt nicht diskutiert mit Kindern. Religion war ständig präsent, dennoch war sie auch etwas Beiläufiges, weil sie so selbstverständlich zu sein schien. Ich kannte zunächst niemanden ohne oder mit einer anderen Religion. Religion bestimmte den Lebensweg, aber da es keine Alternative zu geben schien, dachte ich nicht darüber nach. Allah war eine Tatsache, man betete fünfmal am Tag und hielt den Ramadan ein, Mädchen wurden ab der Pubertät in der Öffentlichkeit in einen Tschador gehüllt, verheiratet und zogen zu ihrem Mann und bekamen (hoffentlich) Kinder.

Ich erinnere mich, wie ich im Alter von fünf Jahren mit anderen Kindern in unserem Hof spielte, es waren meine ältere Schwester und einige Cousinen. Eine Tante trat heran und stoppte unser Spiel. Was sie zu mir und meiner Schwester sagte, weiß ich noch genau: »Euer Vater ist gestorben.«

Ich wusste nicht, was Sterben war, also fragte ich sie danach. Sie antwortete, mein Vater sei auf seiner letzten Reise. Die Fotos mit ihm wurden von meiner Mutter weggeräumt, und ich ahnte, dass Vater von dieser Reise nicht wiederkehren würde. Es war in unserer Kultur nicht üblich, Kindern etwas zu erklären. Allah hatte Vater zu sich genommen. Dass es ein Leben nach dem Tod gab, eines im Paradies oder in der Hölle, wenn man nicht Allah zu Gefallen gelebt hatte, auch das wusste ich einfach. Die Toten hatten viel Macht, ihre Geister waren immer unter uns. Einmal in der Woche, am Donnerstag, gingen die Frauen der Familie mit uns Kindern auf den Friedhof und beteten dort in einem Gebetsraum. Viele der Frauen weinten und riefen die Toten an. Die Toten waren bei uns und sahen alles. Man war nie unbeobachtet, weder von Allah noch von den Toten.

Meine Familie lebte in einem kleinen Dorf im nordöstlichen Teil des Iran, im Grenzgebiet zu Aserbaidschan. Es gab genau eine Dorfstraße, von der rechts und links die Häuser abgingen. Sie bestand aus festgetretenem Lehm und mündete auf eine große, geteerte Bundesstraße, unser Tor zur Welt. Nach Teheran kam man mit einer vierstündigen Busfahrt. Die Landschaft rund um Abhar, so der Name des Dorfes, war flach und trocken. Im Sommer war es monatelang heiß, manchmal herrschte Dürre, und das Wasser wurde knapp. Die Winter waren sehr kalt, und wir hatten immer zwei bis drei Monate Schnee. Trauben wuchsen in unserem Dorf, daraus machten wir Saft und trockneten sie für den Winter. In unseren zwei Zimmern hing die ganze Decke voll mit Schnüren, an denen die Trauben zum Trocknen hingen. Milch, Käse und Joghurt holten wir vom Nachbarn, der zwei Kühe hatte. Es gab auch ein paar kleine Geschäfte, doch ab dem zwölften Lebensjahr wurden Mädchen und Frauen dort nicht gern allein gesehen. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Mutter Schuhe kaufte: Ihr Bruder brachte ihr vier oder fünf Paar mit, und sie probierte sie zu Hause an. Wenn ein Paar passte, behielt sie das, und ihr Bruder brachte die restlichen zurück in das Geschäft.

Nach dem Tod meines Vaters waren wir zur Familie seines Bruders in ein anderes Haus umgezogen. Meine Mutter durfte nicht mit den Kindern alleine wohnen, dass der nächste männliche Verwandte meines Vaters sich ihrer annahm, entsprach Tradition wie Religion und war der Lauf der Dinge, nichts, was man hinterfragte.

Meine Mutter und wir vier Kinder lebten in zwei Räumen. Sie gingen zum Hof hinaus, der die Teile des Hauses in einem Rechteck miteinander verband. Der Hof war der Mittelpunkt des Familienlebens, hier saßen die Frauen der Familie, also meine Mutter, meine Tante und wir Töchter, und bereiteten die Mahlzeiten vor, während die kleineren Kinder spielten. Wir bekamen Getreide von einem Bauern zwei Häuser weiter. Das Brot wurde zu Hause in einem Feuerofen gebacken, große dünne Weißbrotfladen. Der Hof war vor allem Frauenreich, denn Haus und Hof verließen sie nur mit einem triftigen Grund, für einen Gang zum Markt oder aufs Feld oder in die Moschee.

Die Wurzeln meiner Familie sind aserbaidschanisch, zu Hause und in der Stadt haben alle Menschen Türkisch gesprochen. Dieses aserbaidschanische Türkisch ist meine Muttersprache. In der Schule mussten wir alle Persisch sprechen. Ich hatte Glück, durch regelmäßige Besuche in Teheran bei meinem Großvater hatte ich Persisch schon als Kind gelernt. Aber die meisten Kinder mussten plötzlich in der Schule als Erstes eine fremde Sprache lernen, denn es war uns dort verboten, Türkisch zu sprechen.

Der Iran ist ein Vielvölkerstaat, heute sind rund 51 Prozent der Bevölkerung Perser, 24 Prozent Aserbaidschaner, 7 Prozent Kurden, dazu kommen Araber, Juden und weitere Minderheiten. Persisch ist nach wie vor die Amtssprache, wird aber nur von 58 Prozent der Menschen im Alltag gesprochen. Schon unter der Diktatur des Schahs sollten wir uns alle als Iraner begreifen und deshalb alle dieselbe Sprache sprechen.

Da Aserbaidschan zum Teil auch in der Sowjetunion lag, gab es immer verwandtschaftliche Verbindungen der aserbaidschanischen Bevölkerung im Iran und dem Sowjetreich. Mein Großvater väterlicherseits hat eine Sowjetbürgerin geheiratet, sie war Bolschewistin. Da der Schah sich mit dem Westen verbunden hatte, war der Kommunismus bei Oppositionellen im Iran besonders populär. Die Teilung von Aserbaidschan in Iran und Sowjetunion ging durch die Familien hindurch, Geschwister konnten sich nur schwer besuchen, ihre Kinder sprachen in der Schule Russisch oder Persisch. Iranische Arbeiter gingen schon lange in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku und arbeiteten dort in den Fabriken als Gastarbeiter. Sie brachten die Ideen von Marx und Engels mit nach Hause. Schließlich bildete sich im Zweiten Weltkrieg die Tudeh-Partei, die sich kurz darauf Kommunistische Partei des Iran nannte. Gegen ihren Einfluss unterstützen die USA den Schah, an Gotteskrieger dachte damals noch kein Politiker. Auch in der Familie meines Vaters waren viele Mitglieder der Tudeh-Partei, bis hin zu meinem Großvater. Die religiöse Tradition stand im Alltag neben vielen kommunistischen Strömungen der Opposition, in dieser Mischung bin ich aufgewachsen.

Doch so wenig der Kommunismus seinen Ursprung im Iran hatte, so wenig kann man das vom Islam behaupten. Was die religiösen Kräfte in der Revolution von 1979 aber taten: Mit dem Diktat des Islam würden sie den Iran zu seinem Ursprung zurückführen. Aber der Islam hatte sich durch einen kolonialen Eroberungsfeldzug bis nach Persien ausgedehnt. Im siebten Jahrhundert kamen die Eroberer in der Nachfolge Mohammeds bis in das Gebiet des heutigen Iran, 642 unterlagen die herrschenden Sassaniden. Bis zum Jahr 900 war der Islam die tonangebende Religion im einstigen Perserreich geworden.

Den Briten ging es tausend Jahre später um die Macht über das Erdöl und darum, ein Bollwerk gegen die Sowjetunion zu bilden, als sie Reza Khan 1921 bei seinem Staatsstreich gegen die Dynastie der Kadscharen unterstützten. Religion oder Menschenrechte spielten keine Rolle. Rheza Khan war ein Diktator, aber er erlaubte den Schulbesuch auch für Mädchen, sein Vorbild war Atatürk in der Türkei. Er verbot auch das Tragen von Kopftüchern, dieses vermochte er jedoch nicht durchzusetzen. Zwar war ein nicht geringer Teil der Bevölkerung, der vor allem in den großen Städten wohnte, westlich orientiert, aber die Mehrheit der Traditionellen setzte sich durch. Sein Sohn Mohammad Reza musste das Verbot sofort nach seiner Machtübernahme 1941 einschränken, nur in öffentlichen Ämtern mussten Frauen weiterhin ihr Kopftuch ablegen. Der Islam war Bestandteil des Alltags, aber noch benutzte ihn niemand zum Ausbau seiner eigenen Macht.

Im Alltag regelte der Islam traditionell trotz des nun möglichen Schulbesuchs für Mädchen das Leben in engen Bahnen: Meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, war zwölf Jahre alt, als sie von ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, eines Tages von ihrer Arbeit im Hof weggeholt wurde. Sie wurde ins Haus, in den Wohnraum gebracht, der auch als Küche und Schlafraum der Kinder diente. »Du wirst morgen heiraten. Dein Vater hat einen guten Mann für dich gefunden«, wurde der 12-Jährigen von ihrer Mutter eröffnet. Meine Großmutter hatte keine besonders klare Vorstellung davon, was nun auf sie zukam. Aber sie wusste, dass sie in das Haus und die Familie ihres Mannes wechseln würde, ab morgen würde sie bei fremden Menschen leben und den Haushalt machen. Einer 12-Jährigen macht so etwas Angst, wohl in jeder Kultur. Doch wusste meine Großmutter, was von ihr erwartet wurde – und sie hätte auch keine Alternative gekannt. So behielt sie ihr flaues Gefühl im Magen für sich. Sie wusste, dass keine Entscheidung von ihr erwartet wurde, sondern tugendhafte Folgsamkeit. Sie schwieg also, was als die angemessene Form galt, Zustimmung zu zeigen, und wurde am nächsten Tag die Frau meines Großvaters. Sie bekam drei Kinder, doch mein Großvater verließ die Familie nach zehn Jahren. Er ging nach Teheran, ließ sich scheiden und lebte dort allein. Meine Großmutter lebte bis zu ihrem Tod bei uns. Auch das war das, was von ihr als geschiedener Frau erwartet wurde.

Meine Mutter war 15 Jahre alt, als sie mit meinem Vater verheiratet wurde. Auch sie hatte ihren zukünftigen Ehemann nie gesehen, bevor man ihr verkündete, sie werde heiraten. Auf der Hochzeitsfeier, die die beiden Familien organisiert hatten, begegnete meine Mutter ihrem Bräutigam ebenfalls noch nicht. Sie wurde nach der Feier in ein Schlafzimmer im Haus der Schwiegereltern geführt und dort allein gelassen für die Hochzeitsnacht. Dort wartete sie auf ihren Mann. Was sie erwarten würde, wusste sie nicht, aber dass es bedeutsam war, spürte sie. Ihr war gesagt worden, dass ihr Ehemann zu ihr kommen würde und dass sie für ihn bereit sein müsse. Sie wusste, dass »es« auf der großen Matratze in der Mitte des Raumes geschehen würde, die alle Blicke und Aufmerksamkeit magisch auf sich zog. Als sie mir das vor erst wenigen Jahren erzählte, meinte sie, jeder Mann hätte hereinkommen und alles mit ihr machen können – denn sie hätte ja geglaubt, es sei ihr Ehemann, und ihm willig zu sein erwarteten die Familie und Allah von ihr. Sie lachte, als sie dies erzählte, die Ungeheuerlichkeit der Situation erschien ihr im Nachhinein auf eine zynische Weise komisch. Dann ergänzte sie, dass sie meinen Vater auf ihre Art geliebt habe, dass er gut und verständnisvoll gewesen sei. Das hieß vor allem, dass er nicht gewalttätig war wie manch andere Männer.

Es ist schon an vielen Stellen gesagt und geschrieben worden, niemand kann es wohl mehr leugnen: Im Islam ist die Frau dem Mann untertan, sie ist zunächst Eigentum ihres Vaters und dann ihres Ehemannes. Eine Frau hat ohne Vater oder Mann oder den Bruder des Mannes, wie im Fall meiner Mutter nach dem Tod meines Vaters, kein eigenes Leben. Es geht nicht nur darum, dass Frauen den Mann heiraten müssen, den sie von ihren Eltern zugewiesen bekommen, es geht darum, dass sie überhaupt heiraten müssen. Schon das ist unvereinbar mit einer Gesellschaft, die auf der Freiheit der Wahl beruht, die jedes Individuum hat.

Mir haben deutsche Freunde erzählt, dass auch die Frauen in Deutschland noch bis zum Zweiten Weltkrieg in vielen ländlichen, traditionellen und stark von der Kirche geprägten Regionen ohne Heirat nur ein Anhängsel der Familie blieben, alte Jungfern. Eine Alternative war der Gang ins Kloster. Ein solches Leben können sie sich für sich und ihre Töchter nicht mehr vorstellen. Für die Klassenkameradinnen der Töchter, tragen diese nur ein Kopftuch, scheint es aber gut genug zu sein. Das mag hart klingen, aber mir scheint es manchmal tatsächlich so zu sein.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an meinen Vater. Tote werden im Iran stark idealisiert, sodass ich auch kaum etwas von meiner Mutter über ihn erfahren werde, was auf einer kritischen Sicht basiert. Er war Lehrer in unserer kleinen Dorfschule, so war ihm wie auch meiner Mutter immer wichtig, dass wir Kinder, auch die Mädchen, die Schule besuchten. Dass ich vor einem Abschluss, vor dem Abitur, verheiratet würde, musste ich nicht befürchten, auch nicht von meiner Mutter nach dem Tod meines Vaters. Die Öffnung der Schulen für Mädchen durch den Schah, der gleichzeitig das Land aussaugte und Reichtum anhäufte, während die Menschen arm blieben, hat mir den ersten Schritt auf dem Weg aus meiner traditionell vorbestimmten Rolle ermöglicht.

Gerade deshalb kann ich immer noch schwer glauben, dass in Deutschland hingenommen wird, wenn Eltern ihre Töchter »aus religiösen Gründen« vom Sportunterricht fernhalten. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts mussten sich Frauen das Recht auf Bewegungsfreiheit auch im Sport Schritt für Schritt erkämpfen. Frauen auf dem Fahrrad, auf dem Tennisplatz, bis hin zur neuolympischen Disziplin Frauenfußball 1996, immer ging es gegen männliche Widerstände und Vorurteile. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nennt 2007 den Sport »gleichwertig wichtig allen anderen Schulfächern«. Also ist das Recht auf Bildung berührt, welches den Mädchen im Namen des Islam mit dem Sportunterricht verwehrt wird. Und mit welchem Argument sollten im nächsten Schritt Befreiungen von einem als »unislamisch« empfundenen Biologie-oder Geschichtsunterricht verwehrt werden?

Jedes Jahr gab es im Iran die Feiern zum Todestag von Hussein. Dazu muss man etwas aus der Geschichte des Islam wissen, die Abspaltung der Schiiten, wie sie im Iran leben, von der Mehrheit der Muslime, den Sunniten. Nach Mohammeds Tod im Jahr 632 brach Streit um seine Nachfolge aus. In Mekka wurde Abu Bakr, ein Gefährte Mohammeds, zum ersten Kalifen gewählt, doch Ali, ein Vetter Mohammeds und Ehemann seiner Tochter Fatima, eroberte 656 die Macht. Er wurde 661 ermordet, das Kalifat fiel an die Dynastie der Omaijaden, die in Damaskus lebten. Alis Sohn Al-Hussein ibn Ali verweigerte die Gefolgschaft und wurde mit seinem Bruder Abbas und ihren Gefolgsleuten bei Kerbala in eine Falle gelockt. Laut Überlieferung kämpften sie zehn Tage erbittert gegen ihre Feinde, bis sie niedergemetzelt wurden. An diesen Kampf und den Opfertod Husseins, des ersten Schiiten, wird im Iran alljährlich gedacht. Feierlicher Abschluss der Festtage sind häufig Umzüge, bei denen sich viele Männer auf Brust und Rücken geißeln.

Wir Mädchen hatten in diesen Tagen mehr Freiheit und konnten noch abends ohne Begleitung auf die Straße, wir konnten bis Mitternacht unterwegs sein mit unseren Freundinnen. Mädchen ab dem 12. Lebensjahr natürlich im Tschador – aber wir konnten sogar mit Jungen auf der Straße sprechen. Die religiöse Seite des Festes war mir immer ein bisschen fremd. Ich erinnere mich, ich war neun Jahre alt, da ging ich mit in die Moschee, und ein Mullah erzählte die Geschichte von Hussein und seinem Tod. Alle weinten, die Männer haben sich gegeißelt – und ich verstand nicht, warum das alles so traurig sein sollte. Ich war die ganze Zeit mit dem Versuch beschäftigt, ein paar Tränen aus meinen Augen zu pressen, da alle zu weinen schienen, aber es ist mir nicht gelungen. Einmal erklärte der Mullah, dass man, wenn man in Nadjaf stirbt, der Stadt, in der Hussein begraben ist, sofort ins Paradies kommt. Also dachte ich mir: Gut, ich werde mein Leben leben, und wenn ich merke, dass mein Tod bevorsteht, gehe ich schnell nach Nadjaf, um zu sterben. Ich wollte nicht in die Hölle. Denn die Vorstellung von der Hölle war entsetzlich. Der Koran gibt selbst eine Furcht einflößende Beschreibung der Hölle. Satan ist ein gefallener Engel, der sich weigerte, vor Adam niederzuknien, da dieser doch nur aus Lehm sei. Satan gab Allah Widerworte. Deshalb schickte Allah ihn aus dem Paradies in die Hölle. Und nun versucht Satan, die Nachkommen Adams vom rechten Weg abzubringen. Es gibt für die Menschen keinen Ausweg: Wer an Gottes Geboten auch nur zweifelt, begibt sich schon in die Arme Satans und des ewigen Höllenfeuers. Ich las als Jugendliche nach, in einer Koranausgabe mit klein gedruckter persischer Übersetzung unter dem arabischen Text: Ich fand die Sure 11,107-108: »Die Unglücklichen werden in das Höllenfeuer kommen, und dort wehklagen und seufzen und ewig darin bleiben, solange die Himmel und die Erde dauern, oder dein Herr müsste es anders wollen; denn dein Herr tut, was er will.« Auch andere Stellen besagen, dass der Tod in der Hölle von allen Seiten käme, aber nie eintreffe, es war einfach ein Ort unvorstellbarer Verdammnis.

Die Furcht vor der Hölle bestimmt das Leben eines Muslims. Und je mehr der politische Islam erstarkt, desto mehr trichtert er den Menschen diese Furcht ein. Der Hölle kann nur entkommen, wer unhinterfragt und bedingungslos Gottes Geboten folgt und damit seinen Mullahs auf Erden – egal ob im Iran, im Sudan oder in deutschen Moscheen. Das ist das Wesen des politischen Islam, und das macht ihn so mächtig. Man kann es auch einfach eine radikale Gehirnwäsche nennen, der Kinder von Anfang an unterzogen werden, wenn wir ihnen nicht die Chance geben, außerhalb dieser Welt des blinden Gehorsams die Kraft der Freiheit und der Wahlmöglichkeiten und den Wert der Menschenrechte kennenzulernen.

Im Ramadan haben wir gefastet und sind um vier Uhr morgens aufgestanden. Dann wurde gegessen und tagsüber gefastet und abends wieder sehr reichlich gegessen.

Abends wurde von den Frauen noch das Essen für den nächsten Tag vorbereitet. Im Ramadan waren die Speisen sehr vielfältig, tagsüber musste man zwar enthaltsam sein, aber jede Nacht gab es zweimal einen Festschmaus. Dieser Fastenmonat ist keine Zeit der Besinnung, sondern es geht wiederum um Folgsamkeit. Dank der üppigen Mahlzeiten und vor allem des Verbots der Flüssigkeitszufuhr auch an heißen Tagen ist das Ramadan-Fasten zudem alles andere als gesund. Da ich als Kind sehr kränklich war, musste ich das Fasten nie ganz streng einhalten, sondern durfte mittags etwas trinken und eine Kleinigkeit essen, denn meine Mutter war sehr pragmatisch eingestellt. Sie beschloss einfach, dass das für kranke Kinder erlaubt sei, ohne dass das Fastengebot damit gebrochen würde.

Mein Onkel, der im selben Haus wohnte, hat häufig aus dem Koran gelesen, über die fünf täglich vorgeschriebenen Gebete hinaus. Er stand dazu mit dem Gesicht Richtung Mekka und wiegte sich ganz leicht zum arabischen Singsang, den wir natürlich nicht verstanden. Ich fand diese eintönigen Laute unheimlich, und die feierliche Atmosphäre, die meinen Onkel bei seinem Gebet umgab, schüchterte mich ein. In meinen Ohren ist Arabisch eine schöne Sprache, aber wenn ich zum Beispiel heute im Fernsehen in einem arabischen Sender höre, wie aus dem Koran rezitiert wird, schaudert es mich immer noch. Auch ich musste Teile des Korans auswendig lernen, in der Schule jeden Tag eine halbe Stunde und zu Hause bei jedem Gebet. Es war einfach ein Nachsprechen von Lauten, die ohne jeden Sinn und Inhalt waren, nichts anderes.