Die Scharia in Deutschland

Es war ein heißer Apriltag mit geradezu hochsommerlichen Temperaturen gewesen. Doch jetzt, am Abend, war es draußen kühl geworden. Vor einer Stunde hatte ich den Balkon verlassen. Nun saß ich in einem Sessel am Bett meiner 17-jährigen Tochter Anita1.

Unsere abendlichen Gespräche in ihrem Zimmer, ich mit dem Laptop auf dem Schoß, sie, schon im Pyjama, ausgebreitet auf der Bettdecke mit Blick auf den Fernseher, sind ein von uns beiden geliebtes Ritual. Ich zog mir die Decke über die Füße, die Wärme tat meinem Knie gut. Vor zwei Monaten war ich am Meniskus operiert worden. Die verschlissenen Knie sind ein Andenken an meine zehn Jahre Leben in den kurdischen Bergen des Iran und Irak. Nun, 17 Jahre später, waren Schmerzen und Unbeweglichkeit im rechten Knie so schlimm geworden, dass ich meinen Beruf als Altenpflegerin nicht mehr ausüben konnte und nur eine Operation Hoffnung auf Besserung brachte. Aber die Genesung schritt nur langsam voran.

Anita hatte mir gerade von England erzählt, wo sie für ein Jahr in einer Gastfamilie lebte und zur Schule ging. Sie berichtete mir vom Linksverkehr und ihren ersten Beinahe-Unfällen, da sie immer zur falschen Seite nach Autos Ausschau hielt, und dass die Engländer scheinbar alles mit Essig würzten. Sie erzählte von ihrem englischen Freund, in dessen Familie sie freundlich aufgenommen worden war, und dass nach ihrem Eindruck die Engländer mehr arbeiteten und der Lebensstandard trotzdem niedriger sei. Ich freute mich darüber, sie für zwei Wochen zu Hause zu haben, ich liebe meine beiden Töchter sehr. Anita, die Ältere, hat keine Scheu, den Mund aufzumachen, wenn ihr etwas nicht passt. »Mama, das habe ich von dir gelernt«, meinte sie einmal. Letztens erst hatte sie auf der Schildergasse, Kölns großer Einkaufsstraße, eine Debatte mit einem Prediger angefangen. Der ältere Herr trug eine Bibel und predigte den Vorbeigehenden, dass Jesus die Antwort auf alle Probleme der Welt wäre und sie ihm folgen sollten. Anita meinte daraufhin zu ihm, die Menschen sollten lieber selber denken und sich füreinander und gegen die Armut engagieren. »Mutter, nach einigen Minuten hatte sich eine kleine Schar um uns geschart, und ich bekam tatsächlich Beifall.« Der Herr hatte ihr mit den Schrecken der Hölle gedroht, sollte sie nicht Jesus folgen, denn nur wer an Gott glaube, könne ein guter Mensch sein. Ihre Antwort jedoch war: »Ich lebe mein Leben gut und habe keine Angst vor einem Gott.«

Ihre sechs Jahre jüngere Schwester, Mona, ist stiller, aber Unrecht kümmert sie nicht weniger. Sie erzählte vor Kurzem beim Abendessen, dass sie sich Sorgen um eine ehemalige Mitschülerin mache, eine Türkin namens Nilüfer. Diese hatte die Schule gewechselt, und Mona hatte sie auf dem Weg von der Schule nach Hause getroffen. »Mutter, sie trägt jetzt ein Kopftuch! Sie sagt, sie sei nun noch mehr Außenseiterin in der Klasse, die deutschen Mädchen und Jungen gucken sie komisch an, als ob sie sich vor ihr fürchten. Sie möchte das Kopftuch nicht tragen, aber ihre Eltern verbieten ihr, ohne Kopftuch das Haus zu verlassen. Ihre Eltern waren schon immer sehr streng, und ich glaube, sie schlagen ihre Kinder auch. Nilüfer sah so traurig aus, kannst du nicht etwas für sie tun?« Ich sagte Mona, dass ich für Nilüfer und ihresgleichen gegen das Kopftuch für Kinder kämpfe und dafür, dass sie an allen Schul- und Sportaktivitäten teilnehmen dürfen. Mona meinte daraufhin: »Das Kopftuch macht so hässlich, und dann spielen die anderen nicht mehr mit einem!«

Ich bin froh, dass meine Töchter in einem Land aufwachsen, in dem Meinungsfreiheit herrscht. In dem sie nicht nur unter einem Kopftuch und Tschador verhüllt hinter ihren Männern – und nie ohne sie – über die Straße gehen können. Ich selbst bin unter der Diktatur des Schahs im Iran aufgewachsen, ich war aktiv in der – illegalen – linken Opposition gegen dieses Regime. Als die Revolution kam, hatten wir Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, doch nur für einen sehr kurzen Augenblick. Denn im Gottesstaat wurde die Unterdrückung noch schlimmer, besonders für Frauen. Ich durfte nicht mehr in kurzen Röcken auf die Straße gehen, sondern musste mich verhüllen. Sah die Moralpolizei Haar unter meinem Kopftuch hervorspitzen – und sie fuhr Patrouille, um die Einhaltung der islamischen Kleiderordnung für Frauen zu kontrollieren -, konnte sie mich festnehmen.

Unter dem Schah war es gefährlich, lebensgefährlich, in der verbotenen Opposition aktiv zu sein, aber erst unter Khomeini wurde ich in Abwesenheit zum Tode verurteilt. So floh ich 1980 erst nach Kurdistan, wo ich im Grenzgebiet von Iran und Irak mit vielen Hunderten ebenfalls Geflohener zehn Jahre lang als Partisanin lebte. 1990 war das Jahr meiner zweiten Flucht, diesmal nach Europa. Als ich in Bagdad ins Flugzeug stieg, ahnte ich nicht, dass ich schwanger war. Anita ist in Wien geboren, wie ihre jüngere Schwester Mona sechs Jahre später auch. Und wie immer der Weg der beiden aussehen wird, sie werden ihn mit freien Gedanken in einem freien Kopf gehen. Das ist mir jeden Tag Ansporn für meine politische Arbeit. Meine Töchter sind mir dabei im Herzen nah, aber ich sehe in ihnen auch alle Mädchen, die in eine muslimische Familie geboren werden. Sie alle sollen die Chance bekommen, frei über ihr Leben zu bestimmen.

So dachte ich viele Jahre, in denen ich mich vor allem dem Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen in der islamischen Welt, ihrer Unterdrückung unter der Scharia, widmete. Von all dem wird noch die Rede sein, von meinem Leben im Iran, in Kurdistan, in Wien und Köln, von Frauen, die wegen ihrer Sexualität gesteinigt wurden, und von mutigen Kämpferinnen und Kämpfern für die Menschenrechte im heutigen Iran und der islamischen Welt. Mädchen haben ein Recht auf Bildung, sie sollten nicht ins Haus gesperrt werden wie unter den Taliban. Sie haben auch ein Recht auf Schulausflüge und Sportunterricht, das sollte ihnen die Justiz in einer Demokratie erkämpfen, sie nicht allein lassen, wenn ihnen dieses Recht im Namen der Religion verweigert wird, wie in Deutschland.

Das Verbot, schwimmen zu lernen, mag gering erscheinen gegen die Schrecken einer Steinigung. Als ich von den ersten Steinigungen unter dem neuen Regime der Mullahs im Iran hörte, saß ich in einem Lager in den kurdischen Bergen und konnte es nicht fassen. Eine Frau war wegen vermeintlich unkeuschen Verhaltens (Ehebruch oder vorehelicher Geschlechtsverkehr) in einem Dorf auf den Dorfplatz getrieben worden. Dort wurde sie bis über ihre Brüste eingegraben, und ein Tuch wurde über ihren Kopf gelegt. Dann warf die Menge Steine auf sie, der erste kam vom Dorfvorsteher, bis ihr die Haut am Kopf platzte und die Hirnmasse herausquoll. Man warf Steine auf sie, bis sie tot war. Dann wurde sie liegen gelassen.

Berichte wie dieser, mitunter auch von Männern, die gesteinigt wurden, häuften sich. Das war die höchste Form staatlichen Terrors, vor allem gegen Frauen und ihre sexuelle Selbstbestimmung. Doch im Iran und anderen Ländern mit Scharia gilt diese Strafe als gottgewollt, denn sie steht in der von Gott bestimmten staatlichen Gesetzgebung. 2

2001 gründete ich das »Komitee gegen Steinigung«, Anlass war eine weitere geplante Steinigung im Iran, die von Maryam Ajubi am 11. Juli 2001. Ich hatte bis zum letzten Augenblick gehofft, dass wir sie retten könnten. Maryam Ajubi war Ingenieurin in einer Ölraffinerie und hatte zwei Kinder, 2001 waren sie acht und sechs Jahre alt. Sie wurde wegen einer außerehelichen Beziehung zum Tode durch Steinigung verurteilt. Außerdem wurde ihr Liebhaber zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil er ihren Mann umgebracht haben soll. Eine Scheidung war Maryam Ajubi nicht möglich, da sie eine Frau ist. Die Hintergründe der Tat sind unklar – war es geplanter Mord? War es Totschlag im Lauf eines eskalierten Streits? Das Urteil gegen sie wurde am 11. März 2001 gesprochen.

An diesem Tag starteten wir, das waren exil-iranische Frauen aus Deutschland, Schweden und Großbritannien, eine Kampagne zu ihrer Rettung. Wir kannten uns aus der kommunistischen Opposition gegen den Schah und dem Leben als Partisaninnen in den kurdischen Bergen in den 80er-Jahren.

Ich war so sicher, dass wir ihr Leben retten könnten, ich hatte Kontakt mit Unterstützern im Iran, deren Namen ich um ihrer Sicherheit willen verschweige. Ich sammelte Unterschriften unter Petitionen. Ich hatte mich schon für einige Frauen eingesetzt, die von Steinigung bedroht waren, aber noch nie war mir eine so ans Herz gewachsen. Ich hörte von ihrer Familie, wie Maryam vor Angst im Gefängnis nichts mehr essen konnte, wie sie um ihre Kinder weinte. Ich stellte mir vor, wie sie dort saß, eingekerkert, und darauf wartete, dass man sie eingrub und mit Steinen zu Tode schlug. Am 11. Juli war ich in London bei Freunden. Dort hörte ich um 16 Uhr in Radio Israel: Maryam Ajubi ist gesteinigt worden. Am Küchentisch meiner Freunde brach ich in Tränen aus.

Alle Menschen hier im Westen, denen ich von Steinigungen erzähle, sind entsetzt, keine Frage. Aber Maryam war mir persönlich nahegekommen, der Schmerz schnitt mir ins Herz, da ich eine Freundin verloren hatte. Zwar war ich ihr nie begegnet, aber meine Kontaktpersonen (deren Namen ich zu ihrer eigenen Sicherheit nicht nennen möchte) erzählten mir am Telefon immer wieder, dass Maryam dadurch Hoffnung geschöpft hatte, dass wir im Westen versuchten, ihr Schicksal bekannt zu machen, und wildfremde Menschen Petitionen für ihr Leben unterschrieben. Ich fühlte mich schuldig. Zu wissen, dass nicht ich sie verurteilt hatte, half nicht gegen dieses Gefühl. Ich hatte getan, was ich konnte, aber das war so wenig gewesen, zu wenig. Zwei Jahre später traf ich eine ehemalige Mitgefangene von Maryam, die es nach ihrer Freilassung als Flüchtling bis nach Deutschland geschafft hatte. Sie erzählte, wie Maryam vor Verzweiflung geweint hatte, als sie hörte, dass das Urteil vollstreckt würde. Als man sie holen kam, war sie ohnmächtig geworden und musste auf einer Trage zur Hinrichtungsstätte im Gefängnishof gebracht werden. Ich weinte wieder, als ich das hörte, ich sah sie förmlich vor mir, schon fast tot vor Angst, aber doch noch lebendig genug, um bis zuletzt zu leiden.

Nach ihrem Tod sprach ich mit einigen Freundinnen, die heute verstreut in England, Schweden und Kanada leben. Meine Idee für ein »Internationales Komitee gegen Steinigung« fand ihren Beifall. Auch sie kannten die immer gleichen Fragen, den immer gleichen Unglauben bei europäischen und nordamerikanischen Menschen, wenn sie von Steinigungen erzählten. Ich wollte nicht mehr nur auf Todesurteile reagieren, sondern im Vorfeld aufklären. Wir haben den 11. Juli, den Tag von Maryams Hinrichtung, zum internationalen Tag gegen Steinigung erklärt. 2004 gründeten Menschenrechtler unter den Exil-Iranern das »Internationale Komitee gegen die Todesstrafe«, welches sich vor allem für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran einsetzt und unter anderem die Hinrichtungen Minderjähriger und Homosexueller anprangert. Ich bin dort ebenfalls Mitglied, und wir koordinieren die Aktivitäten der beiden Organisationen.

Ich bin froh, dass meine Töchter nicht im Iran mit seiner religiösen Diktatur aufwachsen müssen. Doch auch in Deutschland bin ich zunehmend besorgt. Ich weiß, dass die allermeisten Muslime hier, die sich als gläubig bezeichnen würden (und das sind maximal (!) 50 Prozent der Menschen, die gemeinhin als Muslime in Deutschland bezeichnet werden), Steinigungen ablehnen. Nur: Ehebruch und vorehelichen Geschlechtsverkehr sowie Homosexualität sehen die meisten von ihnen trotzdem als etwas an, was gegen Gottes Gebote verstößt und mit dem man die Ehre der Familie verletzt. Als etwas, das bestraft werden muss. Menschen, die das glauben, sind mitverantwortlich für ein Klima, in dem »Ehrenmorde« passieren können. Man kann für das Verbot des Schwimmunterrichts für Mädchen sein und gegen Steinigung, aber es ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls berechnend, die hinter beidem stehende Ideologie des politischen Islam zu leugnen. Es reicht eben nicht, Steinigungen abzulehnen und die Strafe zu mildern, sondern die dahinterstehenden Moralgesetze müssen außer Kraft gesetzt werden. Weder außerehelicher Geschlechtsverkehr noch Schwimmen sind etwas Anstößiges. Politisch nenne ich den Islam deshalb, weil er sich nicht als Religion begreift, die man glauben kann oder eben nicht und die man rein privat ausübt. Sondern weil er sich als einzig wahre Weltordnung versteht, in der weltliche Gesetze nie die gleiche Bedeutung haben können wie die angeblich von Gott gegebenen. Die Scharia umfasst alle islamischen Gesetze, wie sie im Koran stehen und wie sie in den ersten Jahrhunderten nach Mohammed von islamischen Theologen in der sogenannten Überlieferung festgeschrieben wurden. Sie umfassen im Kern das gesamte Ehe- und Zivilrecht und regeln damit das ganze Leben der Menschen. In Einzelfragen gibt es durchaus unterschiedliche Auslegungen, so steht etwa auf Ehebruch nicht in allen »islamischen Ländern« die Todesstrafe. Aber dass die Scharia gilt, darüber gibt es keine Debatte, sie gilt offiziell als Gesetzesgrundlage, einzig die Türkei ist seit Atatürk eine Ausnahme und hat ein nichtreligiöses Gesetzbuch. Der Islam kennt keine Trennung von Staat und Kirche beziehungsweise Religion. Zudem bleibt bei jeder Auslegung der Scharia die rechtlich untergeordnete Stellung der Frau unberührt.

Deshalb bin ich zunehmend besorgt: In den letzten Jahren, langsam, aber unaufhaltsam, wie es scheint, sehe ich sie in den Straßen Kölns: Frauen unter einem Kopftuch, Frauen verhüllt in einen Tschador. Frauen, die hinter ihren Männern gehen. Frauen, die in Deutschland leben, aber kein Deutsch sprechen. Frauen, die ihren Töchtern weitergeben, was sie gelernt haben: das Kopftuch umzulegen ab dem zwölften Lebensjahr, denn ihr Haar könnte Männer ihren Trieben ausliefern (!), kein Sport, kein Reden mit Jungen. Diese Mädchen haben keine Perspektive im Leben außer der, zu heiraten und Söhne zu bekommen. Dies gilt auch, wenn ihnen unter dem Kopftuch zu studieren gestattet wird, wenn sie Lehrerinnen und Ärztinnen werden. Denn rechtlich, zivilrechtlich in der Scharia, bleiben sie ihrem Mann untergeordnet. Und das alles in einem Land, in dem der Spiegel in einer großen Titelgeschichte im Juni 2007 von den »Alpha-Mädchen« schreibt: »Eine junge Frauengeneration macht sich auf den Weg an die Macht – und glaubt nicht mehr an die Versorgung durch die Ehe.« Zu dieser Frauengeneration gehören meine Töchter. Dennoch erzählte mir Anita, wie sie in der Schule, als sie mit 14 ihren ersten Freund hatte, gefragt wurde, wie denn ihre Eltern das sähen. »Die mögen ihn auch«, antwortete sie. Und ihre deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler glaubten das nicht so recht: »Bei euch Muslimen ist das doch nicht erlaubt!« »Wie kommst du darauf, dass ich Muslima bin?«, konterte sie.

Ich habe in meinen 17 Jahren in Europa erlebt, wie ich von der »Ausländerin« (obwohl ich seit über zehn Jahren einen österreichischen Pass besitze) in den Augen vieler immer mehr zur »Muslima« wurde. Vor einigen Jahren interviewte mich ein WDR-Fernsehmagazin zu meiner Arbeit als Menschen- und Frauenrechtlerin. Untertitelt wurde ich mit »Mina Ahadi – muslimische Frau«. Wie oft kommt Alice Schwarzer in den Medien zu Wort – aber sie wurde nie betitelt als »christliche Frau«!

All das ging mir durch den Kopf, als ich meine Tochter auf ihrem Bett betrachtete. Ich bin in meinem 50-jährigen Leben weit geflohen vor der Diktatur der Mullahs im Iran. Nun sehe ich den Einfluss des politischen Islam in Deutschland wachsen und nach mir und meinen Töchtern greifen. Und ich sehe meine hier geborenen deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die wegschauen, verharmlosen und »tolerant« sein möchten bis zum Preis der Selbstverleugnung. Ich staune, wie leichtfertig sie die ja auch in der europäischen Geschichte schwer erkämpften, individuellen Menschenrechte aufgeben, statt sie zu verteidigen – für alle Menschen, die in Deutschland leben.

Deshalb habe ich mit zunächst 30 mutigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Zentralrat der Ex-Muslime gegründet, sie gaben ihren Namen für die Kampagne »Wir haben abgeschworen«, 17 erschienen auf dem Kampagnenplakat. Zudem standen uns deutsche Säkularisten und Atheisten solidarisch zur Seite. Wir Nicht-Gläubigen aus den Ländern mit mehrheitlich islamischer Religion und/oder islamischen Diktaturen möchten in diesem Land der Religionsfreiheit endlich wahrgenommen und ernst genommen werden. Meine Töchter und alle Kinder sollen die Freiheit der Wahl, keiner Religion anzugehören, behalten oder erhalten. Im Namen der islamischen Religion verübte Verbrechen sollten nicht länger durch die vermeintlich »andere Kultur« entschuldigt und die Opfer ignoriert werden. Inzwischen ist unsere Zahl auf rund 200 »bekennende Abschwörer« angewachsen. Wir bekamen von Anfang an viele Anfragen aus dem Ausland, woraufhin sich im Lauf des Jahres 2007 Zentralräte der Ex-Muslime in Skandinavien, Holland und England gründeten. Selbst aus arabischen Staaten und dem Iran bekommen wir Zuspruch. Nicht zuletzt »heimliche Atheisten« in diesen Regionen, deren Leben bei Bekanntwerden ihres Nicht-Glaubens in höchster Gefahr wäre, danken uns für die Unterstützung durch unser Bekenntnis.

Wie brisant unser »Outing« als Ex-Muslime sein würde, wusste ich vom ersten Moment, als die Idee entstanden war. Aber erst an diesem Abend, als ich neben meiner Tochter saß, fühlte ich die Bedrohung. Während sie eine Sendung über Erdbeben und ihre Entstehung verfolgte, surfte ich im Internet auf einigen Seiten von islamischen Diskussionsforen. Dort fand ich schnell meinen Namen. »Mina Ahadi wird für die erste Steinigung in Deutschland sorgen, denn sie wird selbst die Gesteinigte sein!« »Wer diese Frau vergiftet, ist nur die ausführende Hand Allahs!« Ich musste einen dicken Kloß in meinem Hals hinunterschlucken und merkte, dass mein Puls sich beschleunigt hatte. Ich spürte die Angst körperlich und schaute sogar kurz zur Tür. Natürlich würde diese nicht aufgehen und eine wilde Meute hereinstürmen, jeder mit einem Stein bewaffnet, »nicht so groß, dass die verurteilte Person nach ein bis zwei Steinwürfen stirbt, aber auch nicht so klein, dass man sie nicht als Steine bezeichnen könnte«, wie es im iranischen Gesetzbuch steht.

Aber ich war nicht immun gegen diese Bedrohungen. Schon die Vorstellung, dass irgendwo da draußen Menschen waren, die mir und meiner Familie aus tiefstem Herzen den Tod wünschten, war beängstigend und wirkte wie ein heftiger Schlag in den Magen. War meine politische Arbeit wirklich wert, das Leben meiner Töchter zu gefährden?

»Was schaust du mich so an?«, fragte Anita, und dann, als hätte sie meine Gedanken geahnt: »Ich bin stolz auf dich und deine Arbeit! Du hast geholfen, Leben von Frauen zu retten, die im Iran zum Tode verurteilt waren, nur, weil sie einen Liebhaber hatten oder ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet haben. Das ist ein Leben unter Polizeischutz wert!« »Und ich bin stolz auf dich«, antwortete ich, »weil du das Risiko und die Einschränkungen mitträgst.« »Für ein freies Leben!«, sagte sie ernst und sah mich mit dem ganzen Pathos ihrer 17 Jahre an. Das war ihr dann aber doch zu viel, und sie lachte mich an: »Wir schaffen das.« Es tat mir gut, dass sie mich an meine Grundsätze erinnerte und daran, dass ich keinen leeren Parolen folgte, sondern aus meinem Herzen geborenen Überzeugungen. Und es tat mir weh zu sehen, wie viel von den Grausamkeiten, die Menschen Menschen antun, sie schon kannte. Denn sie ist in einem Haushalt aufgewachsen, wo die Erwachsenen fiebern, ob eine Hinrichtung doch noch ausgesetzt wird, um Gehängte weinen oder feiern, wenn ein Todesurteil umgewandelt wird.

Gerade deshalb werde ich weiterhin alles tun, um meinen Töchtern ein Leben unter dem Kopftuch und mit Zwangsheirat zu ersparen. Denn die Opfer des politischen Islam sind schon Millionen: muslimische Frauen in aller Welt. Wir sollten anfangen, ihnen in Deutschland eine Alternative anzubieten. Für Frauen wie Männer mag es bedrohlich sein, die sichere Welt der gottgewollten Regeln zu verlassen, die das gesamte Leben von der Wiege bis zur Bahre genau vorschreiben. Zudem beinhaltet islamische Erziehung, schon Kindern zu sagen, dass jede Abweichung Sünde ist. Es ist deshalb schwer vorstellbar, wie Kinder und selbst Erwachsene daraus die Idee des freien Willens positiv besetzen sollen. Die Schreiber der Hass-E-Mails gegen mich glauben, dass sie damit etwas Gutes tun, weil ihr Hass Gottes Wille ist, und sie glauben, durch diesen Hass dem Paradies näher zu kommen. Ihr diesseitiges Leben ist ausgerichtet auf die Erlangung eines Platzes im Paradies, sie wollen der drohenden Gefahr ewiger Höllenfeuer entkommen. Um einen freien Willen zu entwickeln, muss man aber das Diesseits als Mittelpunkt nehmen, Verantwortung übernehmen wollen, dass Menschen das Leben im Hier und Jetzt gut gestalten. Deshalb habe ich Hölle und Gott, diese untrennbare Einheit, über Bord geworfen. Ich habe abgeschworen.