KAPITEL 20

 

Ich kenne seinen Namen nicht. Ich weiß überhaupt nichts über ihn, außer dass er ein Wachmann in Aspho Point war und nicht Natan hieß, und hätte er zu meinen Männern gehört, wäre ich stolz auf ihn gewesen. Sorgen Sie dafür, dass man ihn nicht vergisst.

 

(AUS EINEM STARK EDITIERTEN OFFIZIELLEN BERICHT ZU DEM ÜBERFALL AUF ASPHO POINT VON MAJOR VICTOR HOFFMAN, GEFUNDEN IN DEN TRESOREN DER BOTSCHAFT VON OSTRI, JACINTO; ALS »UNVERBREITET« MARKIERT)

 

WACHSTATION, KRANKENFLÜGEL, WRIGHTMAN-KRANKENHAUS; VIERZEHN JAHRE NACH TAG A, HEUTE

»Sind Sie dann fertig mit mir?«, wollte Hoffman wissen.

»Nein.« Dr. Hayman stupste seine Wade an. Sie war immer noch taub und er konnte nicht sehen, was sie machte, da er mit dem Gesicht nach unten lag, was seiner Laune auch nicht gerade zuträglich war. »Haben Sie sich jemals in stiller Dankbarkeit geübt?«

»Drauf geschissen. Ich hab mehr solche Verletzungen gehabt, als Sie Einlaufe verpasst haben.«

»Das war, als wir es uns noch leisten konnten, ein paar Gears zu verlieren«, entgegnete sie. »Jetzt müssen wir sogar armselige alte Bastarde wie Sie betriebsfähig halten. Und glauben Sie mir, ich könnte Ihnen die ganze Woche mit einem meiner Einlaufe ruinieren.« Sie drehte sich sichtbar und nicht nur gespielt wütend zum nächsten Bett. »Und von Ihnen möchte ich auch keine Sprüche mehr hören, Sergeant Fenix. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie frisch aus dem Block kommen, hätte ich Sie schon vor Tagen hierher bringen lassen. Sie schleppen wahrscheinlich jede der Menschheit bekannte Krankheit mit sich herum.«

»Ich hab mir die Hände gewaschen«, sagte Fenix und seine Stimme hörte sich an wie eine tote Made, die über Kies geschliffen wird. »Zweimal.«

»Nun, Sie beide werden sich Gesellschaft leisten, während ich einen echten Patienten behandle. Gerade wurde ein achtzehnjähriger Corporal eingeliefert, der beide Beine verloren hat ihr beiden verdammten Helden könnt also schön weitermachen und euch selbst bemitleiden, bis ich wieder zurück bin.«

Diese Nachricht wirkte genau richtig. Hoffman fühlte sich wie Dreck. Aber er war jetzt allein mit Fenix zusammen eingesperrt und es gab kein oberflächliches Gerede, keine Ausflucht, nichts, außer sich der schieren Ungeheuerlichkeit dessen zu stellen, was immer noch zwischen ihnen hing, wenn keine Maden in der Nähe waren.

Ich habe meinen Ruf weg. Feingefühl wird er eh nicht von mir erwarten.

»Eines muss ich wissen, Fenix.« Hoffman schlug Haymans Anweisungen in den Wind und rollte herum, um sich aufzusetzen, denn er musste dem Mann in die Augen schauen. »Warum zum Teufel bist du nach allem, was ich getan habe, wegen mir zurückgekommen?«

Fenix hatte seine Hände hinter dem Kopf gefaltet und starrte an die Decke. »Kein Gear wird zurückgelassen. Vielleicht hab ich’s wegen Kaliso gemacht.«

»Lass uns reinen Tisch machen. Ich kann unerledigte Geschäfte nicht ab. Ich wollte dich verrecken lassen.«

»Richtig«, erwiderte Fenix in nüchternem Tonfall. »Sie haben mich den Maden überlassen, während Sie die Vergewaltiger, die Kannibalen, die Pädophilen und die Serienkiller haben laufen lassen.«

Hoffman wusste immer noch nicht, weshalb er es getan hatte. Fenix’ völliger Mangel an sichtbarer Wut fing inzwischen an, ihn zu beunruhigen. Er musste diese Blase jetzt einfach aufstechen. »Also wollen wir die Rechnung begleichen?«

»Gibt nichts zu begleichen.«

»Da wette ich drauf.« Scheiße, er ist genau wie sein alter Herr. Eine verdammte Maschine. Hätte ich ihn nicht bei Santiagos Grab gesehen, würde ich glauben, er hat nicht ein einziges Gefühl in sich. »Also alles okay so weit? Kein böses Blut? Kleines Missverständnis und der ganze Scheiß?«

»Wir bekommen im Leben alle, was wir verdienen.«

Nein, du nicht. Niemand mit deiner Laufbahn verdient so etwas.

Hoffman glaubte, von Schuld überwältigt zu werden. Er musste miterleben, wie seine Argumentation, wie dürftig sie jetzt auch erschien, aus ihm heraussprudelte, in dem Wissen, immer noch nicht rechtfertigen zu können, was er getan hatte, aber sein Mund war wie auf Autopilot.

Ich habe Angst. Ich habe immer Angst. Nicht vor dem Tod. Vor Schlimmerem. Davor, die ganze Scheiße falsch zu verstehen. Davor, Menschen falsch zu verstehen.

»Sie haben Scheiße gebaut, Sergeant, und es hat Leute das Leben gekostet«, sagte er. Als ob ich das nie getan hätte … »Sie haben uns Jacinto gekostet. Ihr Vater hat einfach mit den Fingern geschnippt und Zack! lassen Sie Ihre Männer im Stich und spazieren mit dem Ziellaser davon. Meinen Sie nicht, dass Sie das ein kleines bisschen zu einem Arschloch macht? Sie haben einen Kumpel wie Dom Santiago, der seinen letzten Tropfen Blut für Sie ausscheißen würde und der Sie sogar dann noch an erste Stelle setzt, wenn seine Frau verschwindet, und Sie tun das Männern an, die auf Sie angewiesen sind?«

»Ich meinte«, begann Fenix langsam, »dass ich vor langer Zeit jemanden habe sterben lassen, also kann ich keinen Aufstand machen, wenn mir jemand das Gleiche antut.«

Die Enthüllung warf Hoffman völlig aus der Bahn. Er hatte keine Ahnung, wie er wieder auf die Spur kommen oder – im wahrsten Sinne des Wortes – einlenken sollte. Er wollte sich entschuldigen. Er wollte es wirklich.

»Erzählen Sie mir einfach die Wahrheit«, sagte er. »Nicht das, was Sie vor dem Kriegsgericht ausgesagt haben. Ich muss es wissen. Was hatte Ihr Vater, was so wichtig war, dass Sie dafür Ihren Posten verlassen haben, um es zu holen? Denn ich kann nicht glauben, dass Adam Fenix so etwas von seinem Sohn verlangen würde, nur um seinen traurigen Hintern zu retten.«

»Er starb, bevor ich zu ihm kam. Ich werde es nie erfahren.«

»Aber er muss doch irgendetwas gesagt haben.«

»Er hat die COG an erste Stelle gesetzt. Er hatte seine Gründe. Das ist das Einzige, worauf ich mich bei ihm verlassen konnte.«

»Das muss ja wohl die beschissen lahmste Ausrede fürs Davonlaufen sein, die ich je gehört habe«, sagte Hoffman. Da: Sein Mund lief wieder auf Schnellfeuer, nur Wutgeschrei, um die wahre Scheiße zu übertünchen – die Peinlichkeit, mit anhören zu müssen, wie der Härteste aller Gears zugab, dass sein Vater ein Arschloch war. Genau genommen glaubte Hoffman Fenix. Wahrscheinlich hatte er es vor dem Kriegsgericht nicht gesagt, weil das öffentliche Eingeständnis der Tatsache, dass Adam Fenix eben nicht der Inbegriff der Weisheit und Tugendhaftigkeit war, eine Bürde zu viel gewesen wäre. Allerdings konnte man den Grundsatz, nichts Schlechtes über die Toten zu sagen, auch übertreiben. »Sie kamen zu spät. Ihr Plan ist nicht aufgegangen. Und Menschen sind gestorben. Und wir haben den größten Teil von Jacinto verloren.«

»Ich weiß, dass ich Scheiße gebaut habe, Colonel. Ich hatte den Rest meiner Strafe Zeit, darüber nachzudenken. Und es war nicht das erste Mal, dass ich zu spät kam. Wenn Sie die Selbstverachtung noch schüren wollen, dann kommen Sie viel zu spät.«

Hoffmans Wut – über sich selbst und über Fenix – verebbte. »Sie wissen nicht, warum Sie es getan haben, nicht wahr? Sie wissen nicht, weshalb Sie zu ihrem Daddy gelaufen sind, als ob er immer noch Ihr gottverdammtes Leben kontrollieren würde.«

Fenix stützte sich auf einen Ellbogen und beugte sich über die Lücke zwischen den Betten zu Hoffman hinüber. Sie sahen sich beinahe Nasenspitze an Nasenspitze in die Augen. »Sie sind ein Arschloch, aber Sie sind kein sadistisches Arschloch. Fragen Sie sich je, warum Sie es getan haben?«

»Jeden verdammten Tag«, brüllte Hoffman ihm ins Gesicht. »Weil ich nicht glauben kann, dass ich es getan habe, warum ich Sie nicht einfach erschossen habe und fertig. Wahrscheinlich, weil ich nicht konnte, denn vor diesem Tag waren Sie einer der besten Soldaten, denen ich je begegnet bin.«

Er hatte Fenix allerdings nicht lange danach gerettet. Der Bastard musste gerettet werden, nachdem er die Leichtmasse-Bombe zu ihrem Ziel gebracht hatte; ohne Hoffmans Hilfe wäre Dom nicht in der Lage gewesen, Fenix an Bord des Ravens zu ziehen. Es schien, als hätte ihm das Schicksal eine Chance auf Wiedergutmachung gegeben.

Hoffman wusste jedoch, damit wäre kein Neuanfang geschaffen worden.

Plötzlich wurde die Tür mit solchem Schwung aufgeworfen, dass sie gegen die Kacheln an der Wand knallte und zurückprallte. Dr. Hayman trat mit einem Ausdruck im Gesicht ein, den sie sich nur für handgreifliche Patientenbetreuung aufhob. Hoffman kannte diesen Ausdruck nur allzu gut.

»Maul halten!«, schrie sie. »Das hier ist ein verdammtes Krankenhaus und keine Kneipe. Fenix – anziehen und Medikamente in der Apotheke abholen. Bei irgendwelchen Symptomen – hierher zurück, und zwar nicht, weil ich mir Sorgen um Sie mache, sondern weil Krankheitsbekämpfung mit jedem Tag schwerer wird. Hoffman – ich freue mich schon drauf, Ihnen die Nadel in den Arsch zu rammen, also umdrehen und Maul halten.«

Hoffman wusste, dass er keine Höflichkeit verdiente, da er selbst oft unhöflich war. Er wusste auch genau, was ihn dazu gebracht hatte, sich dieses Fell mit jedem Jahr dicker wachsen zu lassen, und er fragte sich, ob Dr. Hayman vielleicht auch von ihrem Job in diese Harpyie verwandelt worden war, als eine Art Abwehr davor, verrückt zu werden, oder – schlimmer noch, festzustellen, dass sie der Aufgabe, vor der sie stand, nicht gewachsen war und dass sie alle hängen lassen würde, deren Leben von ihr abhingen.

Fenix schnappte sich seine Sachen und ging hinaus. Hoffman hielt sich die Ärztin noch einen Moment mit ausgestrecktem Arm vom Leib und rief ihm hinterher. In dem Gebäude war es so still, dass Fenix ihn bis durch die Eingangstore nach draußen hören musste.

»Es tut mir leid!«, rief Hoffman. »So, ich hab’s gesagt. Es tut mir leid, dass ich dich dort gelassen habe. Du hast was Besseres verdient, du stures Arschloch!«

Ob Marcus ihn gehört hatte oder nicht, er hielt nicht an. Seine Stiefel stampften schnurstracks den Flur hinunter zum Ausgang.

Dr. Hayman hielt eine Spritze hoch und schnippte mit ihrem Finger dagegen, um sie luftfrei zu machen. »In Ordnung«, sagte sie. »Und vergessen Sie nicht, es ist nur Schmerz.«

Hoffman machte sich auf den Einstich gefasst. Mit einer Kettensäge hätte sich die Schlampe wahrscheinlich wie ein Fisch im Wasser gefühlt, aber Hoffman war entschlossen, ihr nicht mal ein Zucken als Reaktion zu zeigen.

Sie musste die stumpfste, älteste, größte recycelte Nadel der ganzen Stadt rausgekramt haben.

Aber sie hatte recht. Es war nur Schmerz.

 

COLLEGE GREEN, AUSSERHALB DER JACINTO-ENKLAVE

Kaliso bestand darauf, mitzukommen. Er hatte geschworen, die Leichen aus dem ausgebrannten Laster zu bergen, und der war der erste Anlaufpunkt.

Bernie und der Rest des Trupps, bis auf Marcus, stiegen der Reihe nach in den Dillo und fuhren los, um einzusammeln, was ihnen gehörte.

Dom braucht ein bisschen Zeit für sich, um nachdenken zu können. Auch gut.

Mit Kaliso lege sich niemand an. Das lag nicht nur an der Tatsache, dass er diesen Kriegertraditionskram viel zu eng sah – der übrigens nicht von Bernies Inseln stammte, absolut nicht –, sondern auch daran, dass er einfach ein knallharter Bastard war, der aussah, als hätte er eine ganz kurze Lunte. Der echte Kaliso war weit weniger explosiv als sein Image, aber die meisten Leute blieben im Zweifelsfall lieber vorsichtig.

Bernie verstand das Bedürfnis jedoch nur allzu gut. Nachdem sie eine entsetzlich lange Stunde damit verbracht hatte, mit Dom über den Tod seines Bruders zu sprechen, traf das Prinzip, sterbliche Überreste zu bergen, einen äußerst wunden Punkt bei ihr, das Sinnbild der letzten Bastion der Zivilisation gegen die Barbarei. Sie machte keinen besonders großen Unterschied zwischen Gestrandeten und Maden. Das machte sie nicht einzigartig unter den Gears, denn eigentlich hasste jeder die Gestrandeten. Sie war nicht dieser Ansicht, weil die COG sie ihr eingetrichtert hatte, sondern weil sie zu viel Zeit unter ihnen verbracht und zu viel mit eigenen Augen gesehen hatte. Kein Gear würde die Dinge, die sie mit angesehen hatte, einem anderen Gear antun – wahrscheinlich nicht einmal irgendjemandem.

»Alles klar, Dom?«, fragte sie.

Dom, gepriesen sei er, hatte keinerlei Hemmungen gehabt, sich in ihren Armen die Augen auszuheulen. Wie auch Cole hatte er in seiner Kindheit solide Grundlagen für das Leben mitbekommen, die es ihm jetzt ermöglichten, eine Menge Stürme zu überstehen.

»Ich dachte nur grade an Marcus«, antwortete er. »Erklärt ’ne Menge. Er hat sich nach Aspho verändert. Jetzt weiß ich, warum. Und er ist auch nicht mehr der Gleiche, der er war, bevor er ins Gefängnis ging.«

»Willst du denn mit ihm darüber reden?«

»Das muss ich. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns. Komisch, ich dachte immer, ich hätte Carlos hängen lassen. Dachte ich wirklich.«

Nichts war schädlicher für eine Beziehung, als darauf zu warten, dass der andere einem reinen Wein einschenkte. Bernie hoffte, Dom wäre nachsichtig mit Marcus. Aber Dom war ein herzensguter Mensch, und wenn er verletzt sein sollte, würde er das Marcus niemals wissen lassen.

Kaliso schlug mit der Faust auf die Luke des Dillos. »Fertig«, sagte er. Er warf Klumpen verkohlten Materials in den Frachtraum und Bernie sah zu Sicherheit noch einmal nach, ob es auch wirklich nur Metallstücke zur Wiederverwertung waren und keine menschlichen Überreste. Aber nein, Kaliso war sehr ordentlich in diesen Dingen. »Komm schon. Versuchen wir, diesen Anhänger in Gang zu kriegen.«

Der riesige gegliederte Anhänger war nahe College Green liegen geblieben. Kaum hatte der Dillo die Kreuzung erreicht, konnten sie ihn sehen. Gestrandete wimmelten auf ihm herum wie Mistkäfer. Die stählernen Fermentations-Fässer befanden sich immer noch auf der Ladefläche, aber es waren Gurte an ihnen befestigt, die nahe legten, dass irgendein Wichser mit einer Art Kran unterwegs war. Bernie stieg aus dem Dillo, noch bevor Dom den Motor ausgeschaltet hatte.

Sie war heute nicht in der Laune für irgendwelchen Nicht-Gear-Schnickschnack. Sie rief ihnen nicht einmal eine Warnung zu, sondern zielte mit ihrem Lancer einfach einen Meter über Kopfhöhe und feuerte eine lange Salve ab. Die Gestrandeten hechteten in Deckung, als sie auf den Anhänger zuging.

»Hey, Boomer-Lady«, sagte Cole, der hinter ihr aus dem Dillo sprang. »Nicht vergessen: Katzen sind schon schlimm genug, aber Leute zu fressen, ist wirklich voll daneben.«

Auch das hatte sie schon erlebt, aber irgendwie gehörte es nicht einmal ansatzweise zu den schlimmsten Exzessen, zu denen die Menschheit in ihrem Zerfall fähig war. Einer der Gestrandeten fand den Mut, aus der Deckung zu kommen und auf sie zuzugehen.

»Du blöde Schlampe hättest jemanden umbringen können«, rief er. »Was für ein beschissenes Spielchen treibst du hier?«

»Richtig, ich hätte euch töten können.« Sie schlüpfte wieder in die Rolle einer Bernie, die sie nur allzu gern abgelegt hatte, und ließ für ein paar ohrenbetäubende Sekunde ihre Kettensäge brüllen, um für die nötige Aufmerksamkeit zu sorgen. Wahrscheinlich hatten sie das Bajonett noch nie aus nächster Nähe im Einsatz gesehen. »Das Gesetz ist eindeutig: Wer nicht plündert, lebt gesünder. Jetzt bewegt eure verseuchten Ärsche wieder in eure Hütten und bringt jede einzelne Niete und Schraube zurück, die ihr gestohlen habt, oder ich schwöre, ich brenne jedes einzelne Haus nieder, in dem ich Diebesgut vermute. Verstanden?«

Baird stolzierte heran und baute sich in einem seltenen Moment der Solidarität neben ihr auf. »Ihr habt’s gehört.« Er sah auf seine Uhr. »Zehn Minuten. Bewegung.«

Der Mann sah zwischen ihnen hindurch auf den Armadillo. »Santiago? Santiago, so läuft das nicht – sag ihr das mal. Wir dachten, du verstehst uns. Nach allem, was wir für dich getan haben.«

Bernie horchte auf eine Spur der Missbilligung in Doms Stimme, als er vom Dillo heruntersprang. Sie wollte ihm wirklich nicht zu nahe treten. Wie Cole war auch er der Maßstab in Sachen Anstand und sie hatte dieses Ideal seit Tag A so oft aus den Augen verloren, dass die Verschwommenheit dieser Prinzipien sie erschreckte.

Ich will nicht wie diese Wilden sein. Ich will Mensch bleiben, zivilisiert bleiben. Ich bin ein Gear.

»Tut, was sie sagt«, sagte Dom ruhig. »Wir brauchen die Dinger zur Nahrungsmittelproduktion. Und wenn ihr aufhören würdet, euch wie Arschlöcher aufzuführen, und mit anpackt, könntet ihr auch was zu essen bekommen.«

Bernie war sich nicht sicher, ob er einfach nur von den traumatischen Erinnerungen des heutigen Morgens abgelenkt war oder ob er enttäuscht darüber war, dass sie nicht die gleiche gute alte Bernie spielte, für die er sie hielt. Sie wartete zusammen mit Baird und Cole und zog die Starrerblick-Nummer ab, während sich Kanister mit Treibstoff, Lastersitze, Motorteile und anderes Beutegut, das die Gestrandeten bereits aus dem Fahrzeug geholt hatten, auf der Straße stapelten.

»Ich krieg’s raus, wenn ihr was für euch behaltet«, sagte Baird. »Weil ich diese Kiste wieder zusammenbauen werde.«

Und das tat er auch.

Das musste Bernie ihm schon lassen. Er besaß ein seltenes Talent für Technik und fand mit unfehlbarer Genauigkeit für jedes Loch den richtigen Pfropfen. Sie staunte darüber. Endlich erkannte sie eine Gemeinsamkeit, die man ausbauen konnte, eine mögliche Grundlage für jene Art Arbeitsbeziehung, die sie sich wünschte. Der Delta-Trupp mochte sich an sein ewiges Genörgel gewöhnt haben, aber sie war zu alt und zu sehr von den wahren Tragödien des Lebens geschliffen, um irgendwelchen Scheiß über Kleinkram zu ertragen. Irgendwie musste sie mit ihm Frieden schließen.

»Hast du schon mal einen Laster wie diesen repariert?«, fragte sie.

»Noch nie.« Bairds Gesichtsausdruck hatte sich zu einer Art intensiver Konzentration entspannt, der beinahe schon ein Gefühl von Verwunderung widerspiegelte. Er wühlte im Motorraum nach einem Schraubenschlüssel. »Aber wie schwer kann’s schon sein? Ist auch bloß eine Maschine.«

»Du weißt, dass du das besser kannst als jeder andere«, sagte sie. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«

Sie hätte schwören können, dass er noch auf eine Stichelei zum Schluss wartete. Als sie nichts nachsetzte, schien er beinahe verärgert zu sein. Auf dem gesamten Weg zurück nach Wrightman sagte er keinen Ton und danach war klar, dass er außer dem ständigen Hin und Her billiger Beleidigungen keine Ahnung hatte, wie er mit irgendetwas fertig werden sollte.

Nicht einmal beim harmlosen Kartenspiel mit dem Rest des Trupps in der Messe schien er sich wohlzufühlen.

Als Marcus auftauchte und sich an den Tisch setzte, wirkte er fast schon dankbar. Marcus war ganz klar sein Lieblingsziel, das sehr viel mehr hergab als eine alte Schachtel wie sie. Vielleicht, weil das Risiko höher erschien. Marcus war ein schlummernder Vulkan, der dafür bekannt war, seit Menschengedenken ganze Städte einzuäschern, und nebenher war er noch gebaut wie ein Vorschlaghammer auf zwei Beinen.

»Hey, Scheißkopf«, sagte Baird beiläufig, ohne von seinem Blatt aufzusehen.

»Hey, Arschloch.« Marcus, still wie immer, ließ sich von Cole Fünfe geben. »Hab gehört, wir haben den Laster zurück. Komplett.«

»Omi hat dem Abschaum ’ne Kettensägen-Predigt gehalten.«

»Schön für sie.« Marcus warf ihr einen von seinen Blicken zu, die sagten, dass er sich später mit ihr unterhalten wollte. Sie wusste verdammt gut, worüber: über Dom. »Gesetzeshüter können wir gut gebrauchen.«

»Also«, sagte Baird, »willst du uns erzählen, worum es bei deiner kleine Unterhaltung mit Dom wirklich ging, Omi?«

Bernie hatte in den letzten paar Tagen zu einem angenehmen Gleichgewicht gefunden, da sie sich wieder in einer Kultur befand, auf die sie sich verlassen konnte und in der sie noch Leute finden konnte, die sie schon gekannt hatte, bevor die vertraute Welt untergegangen war. Aber dieses Gleichgewicht war noch zerbrechlich, beeinflusst von den vierzehn Jahren reinen Überlebenskampfes. Baird war gerade auf eine Mine getreten. Es lag weniger an ihrer Einstellung als an der Tatsache, dass er das Thema vor Dom und Marcus auf den Tisch gebracht hatte.

»Das geht dich nichts an«, sagte sie. Scheiße, jetzt macht er erst recht weiter. Der hängt auf ewig in der Scheiß-Pubertät fest. »Sentimentaler Kram.«

»Geht’s wieder mal um so ’ne Riesenscheiße, die unser Super-Sergeant hier gebaut hat, ja?«

Die Mine war scharf. Baird konnte nicht ahnen, wie tief er Marcus damit unter der Gürtellinie getroffen hatte, aber für Bernie war es offensichtlich, auch wenn niemand sonst – außer Dom – es verstand. Sie konnte sich nicht zurücklehnen und es ignorieren. Manche Dinge mussten ausgesprochen und verteidigt werden.

»Nein«, sagte sie. »Eigentlich nicht. Tu mir einen Gefallen und lass das Thema ruhen.«

Cole summte unmelodisch vor sich hin. »Damon-Baby, würdest du bitte an die kleinen Kätzchen denken?«

»Okay«, sagte Baird unbeirrt. »Wieso verlangt man von mir, mein Leben einem Typen anzuvertrauen, der vierzig Jahre bekommen hat, weil er dabei geholfen hat, dass wir Jacinto an die Maden verlieren, lässt mich aber keine Fragen über seine Dienstakte stellen?«

Dom hatte noch keine Silbe herausgebracht, als Bernie sich schon in die Bresche warf.

»Vielleicht«, sagte sie, »liegt es daran, dass ich dir empfehle, etwas Respekt gegenüber einem echten Mann zu zeigen, Blondie.«

»Scheiße«, sagte Cole. »Ich will hier bloß ’ne Runde zocken. Also umarmt euch und seid wieder lieb, ja?«

»Nein, verdammte Scheiße, ich will das jetzt ein für alle Mal geklärt haben.« Bernie stand auf und stellte sich neben den Tisch. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Komm schon, allmächtiges Großmaul. Zeig mal, aus was du außer einem Haufen Rotz gemacht bist.«

Baird stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich in breitbeiniger Fick-dich-doch-Pose vor ihr auf.

»Glaub bloß nicht, ich würde mich bei ihm entschuldigen und dir in den Arsch kriechen, nur weil du ein paar antike Sergeant-Streifen hast, Mataki.«

Stille legte sich über die Messe. Es waren jede Menge Gears anwesend, die der Vorstellung zuschauten.

Sie hatte lange auf diesen Augenblick gewartet. Das Leben war immer noch anfällig. Es würde also nicht als Verlust der Beherrschung gelten – oder doch?

Baird war mehr als zwanzig Jahre jünger als sie, dazu schneller, schwerer und größer. Er war kampferprobt. Als sie auf ihn losging, beugte er sich vor, da er offensichtlich mit einem Tritt in die Eier rechnete. Stattdessen aber bekam er einen kräftigen rechten Haken gegen sein Kiefergelenk, direkt unter dem Ohr.

Es war ein unerträglich schmerzhafter Hieb, der jedes Mal funktionierte.

Baird wäre beinahe zu Boden gestürzt, wenn er nicht vorher gegen die Wand geknallt wäre. Und er machte auch ein paar interessante Geräusche, zu denen der Rest der Messe ermutigend applaudierte. Dom streckte den Arm aus, um Bernie davon abzuhalten, gleich weiterzumachen, aber das hatte sie sowieso nicht geplant, und Cole bekam Baird gerade noch am Kragen gepackt, um ihn zurückzuhalten.

»Schon die Katzen vergessen?«, sagte Cole. »Sei schön brav.«

»Scheiße«, sagte Baird nur. »Scheiße.«

Marcus saß am Tisch, ordnete immer noch sein Blatt und wirkte völlig gleichgültig. Aber sie wusste, dass es natürlich nicht so war.

»Wenn du Jeff gegenüber bei dem Überfall nicht ein bisschen Menschlichkeit gezeigt hättest, würde ich dich jetzt liebend gern in der Luft zerreißen, Blondie.« Bernie trat ein paar Schritte zurück. Sie wollte sich nicht drauf verlassen, dass Baird keine Frauen schlug, auch nicht, wenn Cole ihn festhielt. »Aber ab jetzt passt du besser auf, was du zu mir sagst, klar?«

Sie kehrte ihm den Rücken zu und schlenderte davon, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht hastig auszusehen. Beinahe erwartete sie schon den Schlag in den Rücken, mit dem Baird einen Kampf weiterführen würde, bei dem sie mit Sicherheit kläglich verlor. Aber sie erreichte ungestört den Umkleideraum und setzte sich hin. Sie wusste, dass sie ihm eben gezeigt hatte, wie sehr er ihr auf die Nerven gehen konnte.

Böser Fehler. Zeig ihnen nie, was dich auf die Palme bringt. Wie konnte ich das nur vergessen?

Marcus war ihr gefolgt. Er stand plötzlich neben ihr und sah auf sie hinab, als würde er sich an etwas erinnern. »Guter Schlag.«

»Ja … Kiefer sind nicht für Schläge von der Seite gebaut. Der Nerv da ist ’ne echte Spaßbremse. Bleiben aber keine Schäden.«

Marcus stand immer noch da, als würde er auf eine Erklärung warten.

»Was?«, fragte sie, verlegen, weil sie die Kontrolle verloren hatte.

»Ich hab nur nachgedacht.« Marcus mochte wie ein Brocken hirnloser Muskelmasse aussehen, aber sie vergaß niemals, dass er extrem intelligent war und trotz einer absoluten Unfähigkeit, seine Fassade fallen zu lassen, sehr gut darin, Leute zu beurteilen. »Du musst eine harte Zeit durchgemacht haben, um hierherzukommen.«

Verlass dich drauf. »Es gab Zeiten, da haben mir die Locust mehr zugesagt als die Menschen, das kannst du mir glauben. Wenn man als Frau allein unterwegs ist, muss man kreativ sein.«

»Baird ist ein verängstigtes Kind. Er reißt nur die Klappe auf, damit er sich nicht in die Hosen scheißt, das ist alles.«

»Er ist beinahe in deinem Alter, Marcus, und er trägt die Uniform fast schon genauso lange wie du. Bist du ein verängstigtes Kind?«

Marcus blickte seitwärts zum Fenster, das mit Klebeband zusammengehalten und von einer schmierigen Schicht überzogen war.

»Die meiste Zeit über … ja«, erwiderte er. »Das sind wir alle. Die Erwachsenen haben keine Antworten und wir können ihnen sowieso nicht trauen.«

»Okay, du erzählst mir also, ich soll mich mit ihm vertragen und nett zu ihm sein?«

»Nein. Aber wenn er wirklich ein ausgemachtes Arschloch wäre, dann wäre er längst ein Bandenführer bei den Gestrandeten. Er trägt immer noch die Rüstung und er hat uns nie hängen lassen. Es ist bloß seine verdammt nervige Klappe.«

»Okay. Aber ich ertrag’s nicht, wenn er so über dich spricht.«

»Worte«, sagte Marcus mit einem Schulterzucken. »Hab ich alles schon gehört.«

»Ich habe Dom jetzt erzählt, was er wissen wollte.«

Marcus wirkte plötzlich niedergeschlagen, so als wäre ein weiterer Eckpfeiler seines Vertrauens eingestürzt. »Wir hatten abgemacht, das niemals zu tun.«

»Das war damals. Er braucht jetzt Zeit, es zu verarbeiten. Ich habe ihn gewarnt, es würde ihn erschüttern.«

»Er hat seine ganze Familie verloren.«

»Genau deshalb musste er es erfahren.«

Marcus’ Wut ging nie über ein geknurrtes Schimpfwort oder zwei hinaus, aber sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte. Sie hatte mehr Angst davor, ihm das Gefühl zu geben, betrogen worden zu sein, als vor irgendetwas anderem.

»Vergiss nicht, dass Dom mein Freund ist.« Er sagte Freund, nicht Kumpel. Die Art und Weise, auf die er es sagte, machte deutlich, dass es davon nur einen gab und kein Ersatz infrage kam. »Wenn es mich das Leben kostet, Maria für ihn zu finden, dann würde ich diesen Preis dafür zahlen. Verstehst du das?«

»Oh, ich denke schon«, erwiderte Bernie. »Ich war auch da, schon vergessen?«

Sie klopfte ihm auf die Schultern, als sie ging, damit er verstand, dass es kein böses Blut gab. Sie war sauer, weil Baird Marcus’ Mut angezweifelt hatte, und Marcus war sauer, weil das H-Wort gefallen war.

Er konnte diese Helden-Scheiße nicht ab.

Als Bernie sich wieder an den Kartentisch setzte, war Baird ein ruhigerer, weiserer Mann – zumindest für den Augenblick. Sie sagte sich, dass sie ausnahmsweise einmal einen anderen Menschen völlig falsch eingeschätzt hatte, und fragte sich, ob ihr die Zügel entglitten. Baird brauchte kein Verständnis oder Nachsicht. Wie alle Rotzlöffel brauchte er nur hin und wieder von seiner Mutter eins hinter die Ohren.

»Teil aus«, sagte sie.

 

DELTAS KASERNENBLOCK

Dom schob es, so lange er konnte, vor sich her, aber er musste es angehen.

Er hatte sich schon vor langer Zeit mit Carlos’ Tod arrangiert. Er reihte sich ein mit Benedicto und Sylvia und mit seinen Eltern, und Dom wusste, er würde damit fertig werden, so wie er mit all dem anderen Kummer fertig geworden war, aber trotzdem geriet er über den unverwechselbaren Schmerz über jeden einzelnen von ihnen ins Wanken. Jeder Trauerfall hatte seinen eigenen Beigeschmack, der ihn kalt erwischte.

Die Einzelheiten über Carlos zu erfahren, war, als würde er ihn ein zweites Mal verlieren. Es war ein weiterer Tod, ein anderer Schmerz. Dom musste seine Welt neu ordnen. Als er in Marcus’ Quartier ging, war es, als hätte die Unterhaltung schon vor einer Stunde angefangen.

»Warum zur Hölle hast du es mir nicht gesagt?«, wollte Dom wissen.

Marcus lag auf seinem Bett, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke. Es machte Dom wirklich rasend, wenn er ihm nicht in die Augen schauen konnte.

»Es hätte die Sichtweise verzerrt, aus der du ihn gesehen hast«, sagte Marcus schließlich.

»Hey, ich habe meinen Bruder geliebt, aber ich war auch nicht blind. Er konnte ein verrückter Bastard sein. Das wusste ich.«

»Er war ein Held. Er war ein Held vom ersten Augenblick an, als ich ihm begegnet bin. Er ist immer noch ein Held.«

Ja, das war er. Aber es ging hier nicht nur um Carlos. Es ging um Marcus. Es ging um die Wahrheit und die Frage, weshalb ein ansonsten von Grund auf ehrlicher Mann sich entschlossen hatte, zu lügen. Vorenthalten war auch Lügen. Dom musste alles über seinen Bruder wissen und jetzt, da es so weit war, fühlte er sich zerrissen und tief in seinem Innersten verzweifelt einsam und außerdem … befreit.

Trotz all dem frischen Schmerz, diesem abscheulichen kalten Gefühl tief in seinen Eingeweiden und dem eigenartigen Adrenalinkratzen in seinem Rachen, verspürte Dom Erleichterung. Carlos war ein Normalsterblicher. Dom hatte nicht darin versagt, ihm gerecht zu werden. Sie hatten beide ihr Bestes gegeben und an diesem einen Tag war Carlos’ Bestes einfach nicht gut genug gewesen. An jedem anderen Tag hätte es stattdessen Dom erwischt. Bei Aspho Point, in den sinkenden Marlins, hatte nicht mehr viel dazu gefehlt.

»Es ist einfach Kacke, nach so vielen Jahren herauszufinden, wie er gestorben ist, besonders wenn du es diese ganzen bekackten Jahre über gewusst hast.« Dom wollte nicht mit Marcus schimpfen. Er wollte nur sichergehen, dass sie alle ungesagten Dinge abfertigten, denn Dom wollte Emotionen im Tageslicht sehen und Marcus war dazu nicht in der Lage, ganz gleich, wie sehr er es versuchte. »Was glaubst du, wie ich mich jetzt fühle? Was hast du mir sonst noch verschwiegen?«

»Ich weiß, wie du dich fühlst.« Marcus setzte sich auf und schwang seine Füße auf den Boden. »Dad hat mir nie erzählt, was er über das Verschwinden meiner Mutter wusste, weißt du noch?«

Es war eines der schockierendsten Ereignisse in Doms Kindheit gewesen, ein echtes Rätsel. Er erinnerte sich an den Tag, an dem Marcus erfahren hatte, seine Mutter wäre verschwunden. »Hat er dich deswegen zu sich gerufen, als du deinen Posten verlassen hast?«

»Nein.«

»Ach, Scheiße, Marcus, spuck’s schon aus.«

Jetzt würde es hässlich werden. Dom hatte nicht vor, eine Art Wettstreit in Sachen Trauer vom Zaun brechen. Er musste sich ermahnen, dass Marcus sich nur erklären wollte, und versuchte, Dom zu beweisen, dass ihm sein Gefühl des Verlusts nicht egal war, dass er trotz seiner Schweigsamkeit und seines anscheinenden Mangels an Emotionen nach wie vor wusste, was hinter dem Schmerz steckte.

»Wir haben in den Locust-Tunnels nach Emulsions-Kristallen für den Ziellaser gesucht. Da haben wir Moms Leiche gefunden.«

»Er wusste, dass sie dorthin gegangen war? Scheiße.«

»Ja. Irgendwelche Feldforschungen in gesperrten Gebieten.«

»Warum?«

»Das werde ich nie erfahren.« Jeder andere hätte eine Fluchtirade von sich gegeben und die ganze Frustration und das Gefühl des Verrats hinausgeschrien, aber Marcus’ Stimme blieb ruhig und abgespannt wie immer. »Er hat mich in dem Glauben gelassen, sie hätte uns einfach verlassen.«

Dom hatte nie ein Problem damit gehabt, irgendwem alles Mögliche zu erzählen. Er konnte nicht fassen, dass Marcus auf all diesen schrecklichen Erinnerungen hocken blieb, die sein Freund doch erfahren musste, damit er ihn verstand.

»Hey … tut mir leid.«

»Ich bin derjenige, der dir deinen beschissenen Tag endgültig ruiniert, und du zerbrichst dir wegen meinen Problemen den Kopf. Mal wieder.«

»Schwachsinn«, sagte Dom. »Wenigstens weiß ich, weshalb du mir nicht von Carlos erzählt hast. Um mich zu schützen. Er hat dir gesagt, du sollst auf mich aufpassen, nicht wahr?«

Marcus nickte nur.

»Und das hast du immer getan.« Dom verpasste ihm einen spielerischen Schlag gegen die Brust. »Wenn du dazu bereit bist, will ich wissen, was im Knast passiert ist. Du hast dich nämlich verändert.«

Marcus knurrte. »Wir sind noch am Anfang«, meinte er. »Ich erzähl’s dir. Irgendwann.«

Damit war die Unterhaltung fürs Erste beendet. Dom hatte trotzdem noch das Bedürfnis, zu reden, also ging er Bernie suchen, die ohne persönlichen Schmerz und Schuldgefühle über Carlos reden konnte. Er fand sie beim Reinigen ihres Gewehrs.

»Willst du ein paar Bilder von meinen Kindern sehen?«, fragte er, denn er wusste, sie würde keine Scheu davor haben.

Bernie legte die Drahtbürste und die kleine Öldose weg. Der Lumpen auf dem Tisch war mit Zeug voll geschmiert, über das Dom in diesem Moment lieber nicht nachdenken wollte.

»Liebend gern«, sagte sie und legte ihr Gewehr beiseite.