KAPITEL 15

 

Gewehre und Bomben töten keine Menschen. Schlaue Wissenschaftler, die bessere Methoden der Vernichtung entwickeln wollen, töten Menschen – und zwar jede Menge. Die meisten meiner Gears könnten nichts zustande bringen, das tödlicher wäre als eine Klinge oder ein Bogen. Sie werden es mir also nachsehen, wenn es mir stinkt, dass meine Gears sich diesen »Baby-Mörder«-Müll anhören müssen, während Ihre gebildeten Kollegen Forschungszuschüsse beziehen. Und zwar, bevor sie damit anfangen, noch mehr Scheiß zu erfinden, den sie nicht kontrollieren können.

 

(MAJOR VICTOR HOFFMAN IN EINEM OFFENEN GESPRÄCH MIT EINEM STUDENTEN DER LACROIX UNIVERSITÄT WÄHREND DES DORTIGEN KARRIEREFORUMS, VIER JAHRE VOR TAG A)

 

ASPHO POINT, SECHZEHN JAHRE ZUVOR: EINE HALBE STUNDE NACH BEGINN DES ÜBERFALLS

»Ich kann zwei Maschinengewehr-Stellungen sehen, zwei feindliche, in Sichtlinie mit den Toren«, sagte Benjafield. »Sechs weitere sind noch draußen, aber ich kann sie nicht sehen. Cho, bei dir irgendwas?«

»Drei, die sich zur Rückseite vom Gebäude bewegen. Soll ich folgen?«

Hoffman unterbrach ihren Funkverkehr. »Negativ, Cho, bleiben Sie beim Boot. Morgan, Bai Tak, geht zur Rückseite und schaltet sie aus. Cho, Benjafield – bereithalten, um mit den Gefangenen abzuzischen, falls es zum Schlimmsten kommt. Daten und Schlüsselpersonal zurückbringen, das ist alles, wofür wir hier sind.«

Dom, der am Eingang zum Hauptgebäude kauerte, lauschte über Funk, während Benjafield von einem Versteck aus beobachtete, das er aus Gras, das am Strand wuchs, zusammengekratzt hatte. In der grün-schwarzen Welt von Doms Nachtsichtgerät konnte er Hoffman und ein paar der Pesangas zu seiner Rechten bei der Tür zu den Unterkünften sehen, alle anderen waren körperlose Stimmen in seinem Ohrstöpsel und er versuchte vor seinem geistigen Auge, alles zu einem dreidimensionalen Modell zusammenzufügen.

Der erste Feuerwechsel war kurz ausgefallen – so als ob sich das Gegenangriffsteam den Sturm des Gebäudes plötzlich anders überlegt hätte. Jetzt herrschte wieder Stille.

Vielleicht wussten die Spezialkräfte der Unabhängigen, dass sie zahlenmäßig unterlegen waren. Aber Gears gaben für Gewöhnlich einen Scheiß auf so etwas und aus dem Norden rückte sowieso der nächste Gegenangriff an, also warum sollten sich die UIR-Commandos zurückziehen?

Das einzige Feuer kam jetzt aus dem Hinterland – Aspho Fields. Von seiner Position aus konnte Dom den Horizont nicht sehen, aber er wusste, dass er hell erleuchtet war. Er musste an seinen hitzköpfigen Bruder denken.

Halt dich an die Regeln, Carlos. Hör auf Marcus.

»Die müssen wissen, dass wir zivile Geiseln haben und nützliche dazu«, sagte Hoffman. »Die werden nicht deren Leben aufs Spiel setzen. Das ist unser Vorteil.«

Timiou befand sich im Aufenthaltsraum auf der Vorderseite des Gebäudes und hatte die Aufgabe, das Aspho-Personal still zu halten. Das Leben wäre so viel einfacher gewesen, wenn sie nicht da gewesen wären, aber jetzt waren sie als menschliche Schilde recht nützlich. Die klaren Einsatzvorschriften hatten sich in die Grausten aller Grauzonen aufgelöst. Eine Entscheidung würde fallen müssen: Panische Zivilisten auf ein Schlachtfeld hinauslaufen zu lassen, bevor die Sprengsätze hochgingen und das Bombardement begann, oder sie eben nicht laufen zu lassen, was sein eigenes, unschönes Ergebnis nach sich ziehen würde.

Es sind keine Zuschauer. Bewaffnet oder nicht, es sind keine unschuldigen Zuschauer, vergiss das nicht. Wie würden sie mit uns umgehen, wenn es andersherum wäre?

»Frank-Bot hat Priorität«, mahnte Hoffman. Er schien jetzt bereits das Katastrophenszenario durchzugehen. »Falls wir die beiden anderen verlieren, ist die Datensubstanz immer noch auf diesen Servern, also wird Fenix diese Hammer-Scheiße davon rekonstruieren müssen. Santiago, passen Sie auf diese gottverdammte Maschine auf, als wäre sie Ihr eigenes Kind.«

Scheiße.

Ich habe ein kleines Mädchen. Ich hob ’s vergessen. Wirklich, ich hob sie für eine Weile vergessen. Wie konnte ich nur?

Dom überprüfte den Serverraum. Frank-Bot schwebte immer noch regungslos vor dem Serverregal, umgeben von einem schwach bläulichen Dunst, beide Arme ausgestreckt und mit den Anschlüssen der beiden Server verbunden. Es erschien fast unhöflich, ihn zu unterbrechen. »Frank, sobald du hier fertig bist, warte nicht auf uns. Geh zu Benjafield. Verstanden?«

Erwartete er, dass die Maschine Ja sagte? Wenigstens musste er sich nicht sorgen, dass der Bot dagegen protestieren würde, seine Kameraden zurücklassen zu müssen. Als Dom wieder nach draußen huschte, winkte ihn Hoffman zur Vorderseite des Gebäudes.

»Santiago, schaffen Sie die Zivilisten in die Lobby«, sagte er. »Beim Rückzug nehmen wir sie mit uns an den Strand und lassen sie dann im allerletzten Moment laufen.«

»Sir, benutzen wir sie als Schilde?«

»Das war nicht das, was ich geplant hatte, aber falls nötig, ja.«

Dom schoss zurück in den Unterkunftsblock und zum Gemeinschaftsraum, wo die Wissenschaftler gefesselt am Boden lagen. Timiou hielt seinen Lancer am Fensterbrett abgestützt, bereit, ein Loch in die Scheibe zu rammen und zu schießen. Durch Glas nutzte Infrarot nichts, daher musste er sich auf sein eigenes Sehvermögen verlassen, um einen Frontalangriff zu erkennen, aber er warf trotzdem immer wieder einen Blick auf die Gefangenen am Boden.

Die Frage stand ihm ins Gesicht geschrieben: Was fangen wir jetzt mit ihnen an?

Das Aspho-Personal lag hilflos mit dem Gesicht auf dem Boden. Dom hockte sich hin, zog sein Messer heraus, um einen nach dem anderen die Plastikfesseln an ihren Knöcheln durchzuschneiden, und als er die erste Frau auf die Seite rollte, um sie hochzuziehen – er ließ den Damen den Vortritt, ohne darüber nachzudenken –, sah er die Angst in ihrem Gesicht. Sie sah nicht den netten Dominic Santiago, den liebevollen Vater und hingebungsvollen Ehemann; sie sah nur einen Fremden mit langen Linsen statt Augen und einem riesigen Sturmgewehr, ummantelt von einer Rüstung, in der er mehr wie eine Maschine als ein Mensch aussah.

»Wir führen euch in das andere Gebäude«, sagte Dom. Ihr Mund war zugeklebt und ihre Handgelenke immer noch gefesselt, von daher war die Höflichkeit fehl am Platz. »Für den Fall, dass es richtig losgeht.«

»Hey.« Timious Flüstern geriet zu einem Fauchen, bei dem sie zusammenzuckte. Er blickte hinauf und trat einen Schritt zurück, wobei er seinen Lancer so in die Höhe, dass er auf die Decke zeigte. »Da oben. Das ist nicht der Sturm. Ich höre was, was sich bewegt.«

Dom stand zwischen der Tür und der Frau, für den Fall, dass sie versuchte zu fliehen. Es diente ihrer eigenen Sicherheit. Er konzentrierte sich auf das Fenster, das sich mit Sicht auf das Meer der Länge nach den Raum entlangzog. Glitzernde Salzkristalle der sturmgepeitschten Gischt klebten daran. Falls irgend so ein Bastard auf dem Dach war, würden sie sich darauf vorbereiten, die Gefangenen rauszulassen. Dom drückte die Frau wieder auf den Boden.

»Kopf runter, Lady«, sagte er. »UIR-Kugeln fragen nicht nach Ihrem Ausweis.«

»Cleaner, wir haben Kontakt auf dem Flachdach des Gemeinschaftsraums«, meldete Timiou. »Bereithalten für mehrfachen Vorstoß.«

Die Unabhängigen würden das Gleiche tun, was Dom trainiert hatte. Sie würden mehrere Positionen um das Gebäude einnehmen und dann alle gleichzeitig stürmen. Die Scheiße würde in alle Richtungen fliegen.

Vielleicht hatte man sie speziell für Geiselbefreiung ausgebildet. Die Royal Tyran Commandos waren das nicht, noch nicht. Es war ein bisschen zu spät dafür. Aber Dom sagte sich, es würde sich improvisieren lassen.

»Ein Typ macht sich über den Funkmast auf den Weg zum Dach«, sagte Morgans Stimme. Die Funksprache wurde ungenauer, je chaotischer die Situation wurde. Dies war ihr erster richtiger Einsatz als Commandos und das fing jetzt an durchzuscheinen. Hoffman wäre in dieser Hinsicht nachsichtig, da war sich Dom sicher. »Bai Tak wird ihm eine Stahl-Überraschung zukommen lassen. Noch zwei unterwegs zu uns, Erdgeschoss, über den Generatorenraum.«

Für einen Moment blieb Morgans Funk still. Aus dem Inneren des Gebäudes war das Geratter von Gewehren zu hören. Plötzlich platzten mehrere Stimmen in den Kanal.

»Zwei direkt draußen!«

»Scheiße …«

»Dach-Mann jetzt weg, einer weg.«

»Shim, alles okay? Sprich mit mir, Kumpel!«

»Young?«, fragte Hoffmans Stimme. »Young! Nach oben, lassen Sie niemanden an die Bots ran!«

»Bin dran, Sir!«

Drei Unabhängige waren immer noch nicht geortet. Drei waren viele Spezialkräfte. Dom horchte auf Anzeichen vom Flachdach über ihm.

Sie wissen, an welchen Stellen wir hier drinnen positioniert sind.

Niemand hat so viel Glück. Oder Verstand.

Sie müssen jemanden haben, der von drinnen observiert.

»Sir, sie bekommen Informationen aus dem Gebäude, sie müssen …«

Krach. Das Fenster, das der Länge nach durch den Gemeinschaftsraum lief, barst im selben Moment, als Timiou mit seinem Lancer losschoss. Für einen Augenblick dachte Dom, er hätte ein Loch ins Glas geschlagen, um hinauszuschießen, und dabei die gesamte Scheibe zu Fall gebracht, aber gleichzeitig kamen drei UIR-Commandos durch das Fenster geschwungen, die sich vom Dach abseilten. Für einen Sekundenbruchteil erhaschte Dom einen Blick auf Nachtsichtgeräte, Gasmasken und schwer beladenes Kampfgeschirr.

Er jagte eine Salve in die erste Gestalt, die sein Reflex auslöste und gleichzeitig traf eine Kugel seinen Schulterpanzer wie ein Faustschlag.

Einer, zwei Unabhängige gingen zu Boden, der dritte wollte gerade abtauchen, als Timiou und Dom ihr Feuer auf ihn richteten. Die Schreie, das Mündungsfeuer und die einschlagenden Kugel hörten auf, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Es war eine Sekunde, nur eine Sekunde, in der alle den Atem anhielten -

Dom leerte sein Magazin in den Mann, der am nächsten zu ihm auf dem Boden lag, nur einen Schritt von einem der Gefangenen. Timiou tat das Gleiche. Sie stellten absolut sicher, dass sie ausgeschaltet und tot waren.

Sobald das Feuer aufgehört hatte, ging das Schluchzen und Weinen wieder los.

»Irgendjemand verletzt?«, brüllte Dom. Er ging, so schnell er konnte, die Reihe ab und rüttelte jeden der Gefangenen, um zu sehen, ob sie getroffen waren. Timiou überprüfte vom anderen Ende der Reihe, »irgendjemand getroffen? Unten bleiben. Nicht bewegen.«

»Alle am Leben«, bestätigte Timiou. Dann sah er nach den UIR-Soldaten. »Und die hier nicht mehr. Grün an Cleaner, drei Feinde ausgeschaltet. Wir kommen raus.«

Noch vier übrig. Zwei an den Maschinengewehren, zwei auf der Rückseite beschäftigt.

Es wartete immer noch eine Menge Ärger.

»Wir werden sterben«, jammerte ein Mann. »Wir werden sterben.«

Es lag eine bizarre Ironie darin. Dom fand in diesem Augenblick nicht die richtigen Worte, aber es wäre etwas in der Art gewesen wie und wir würden sterben, wenn wir euch nicht zuerst erwischt hätten. Er zog sich zusammen mit Timiou aus dem Raum zurück, um dem Feuerlärm zu folgen, der von der Rückseite des Hauptgebäudes zu hören war.

Hoffman hatte sich in den Serverraum vorgearbeitet und versuchte herauszufinden, was Frank-Bot für Fortschritte machte. Dom winkte Timiou weiter, damit er Morgan Unterstützung gab, und blieb stehen, um Hoffman zu warnen.

»Sir, ich bin mir verdammt noch mal sicher, dass die jemanden hier drinnen haben«, sagte er. »Sie wussten, dass wir hier sind. Sie wussten, wo wir die Geiseln haben. Könnte professionelle Spekulation sein, vielleicht aber auch nicht. Wir haben immer noch nicht den zweiten Wachmann gefunden.«

»Spielt das jetzt noch eine Rolle, Santiago?« Hoffmans Ungeduld mit Frank-Bot war offensichtlich. »Es wird einen zweiten Angriff geben, sobald die Unabhängigen spitzgekriegt haben, dass der erste Trupp versagt hat.«

»Hat er das?«

»Ja. Wir werden dafür sorgen, dass er versagt.« Hoffman ging zur Tür. »Aber lassen Sie uns den Spitzel trotzdem finden und kaltmachen.«

 

ASPHO FIELDS

Der Wind fing an nachzulassen und änderte seine Richtung, sodass er von Land her wehte. Carlos konnte ihn jetzt auf seinem Gesicht spüren.

Er hörte jetzt auch viel besser. Zwischen den Feuersalven und dem Donnern der Mörser hörte er ein Geräusch, das aus weiter Entfernung aus dem Landesinneren kam. Es drang hinter dem Kamm hervor, der den Rand der Ebenen markierte und den Beginn festen Bodens, der sich auf der anderen Seite leicht in ein Becken erstreckte. Ein schleifendes Geräusch gewaltiger Antriebe, das der Wind mit sich trug. Es klang mit jeder Sekunde lauter. Vertraute schlechte Neuigkeiten.

»Die haben die schwere Kavallerie da hinten«, rief Carlos.

Das Geräusch der gepanzerten UIR-Kampffahrzeuge, der Asps, war für Gears genauso leicht zu identifizieren wie der Motorenlärm eines Ravens, nur erzeugte er nicht das gleiche beruhigende Gefühl in der Magengrube. »Ma’am, die rücken jetzt mit schwerer Kavallerie aus Nordwesten an.«

»Wie beschissen ungünstig.« Stroud hielt inne. Die Satellitenaufklärung war jetzt nutzlos, alte Daten gegen sehr schnell vorrückende Kampftruppen und das bei Dunkelheit. Sie mussten sich wieder auf grundlegendes Soldatenhandwerk verlassen. »Ich höre sie, Santiago. Hat jemand Sichtkontakt? Irgendjemand?«

»Noch nicht, Ma’am.« Das war Kennen. »Sie müssen sich noch in der Senke befinden. Aber wir hören sie.«

»Asps haben Räder und sind schwer«, meinte Marcus. »Die werden nicht in der Lage sein, dieses Gelände zu passieren. Sie müssen auf den Zugangsstraßen nach Aspho bleiben.«

»Die sind normalerweise mit Flaks und Raketenwerfern ausgerüstet und haben dazu noch großkalibrige MGs dabei«, warf Carlos ein. »Die brauchen nicht so weit zu kommen.«

»Wir sind nicht ihr Primärziel«, erklärte Stroud. »Das ist Aspho Point.«

»Die haben Wehrgrundlagen da drinnen.« Kaum hatte Carlos die Worte ausgesprochen, wusste er, dass es reines Wunschdenken war, ein Schachern mit der unsichtbaren Göttlichkeit, Dom lebendig zurückzubringen. »Die werden doch nicht ihre eigene Anlage plattmachen.«

»Die haben ein verdammtes Backup«, sagte Stroud. »Solange wir nicht Osigcor ausradieren, können sie Aspho dem Erdboden gleichmachen und verlieren dabei gar nichts.«

»Schlüsselpersonal?«

»Lassen Sie uns erst einmal sehen, wie lange die abwarten, bis sie sich entscheiden, dass das ein Preis ist, den es sich für Kriegsmittelentzug zu zahlen lohnt.«

Marcus ging in die Hocke, seine Absätze in den schwammigen Boden gedrückt und den Longspear auf der Schulter. »Die Brücke«, sagte er. »Sieh dir die Karte an, Carlos. Sie müssen diese Brücke überqueren. Das ist der einzige Punkt, an dem etwas so Schweres rüberkommt.«

»Bringen die Verstärkung für Aspho oder wollen sie den Ort plattmachen? Sie könnten …«

»Nicht über Kanal! Und benutzt eure gottverdammten Rufzeichen!«, bellte Stroud. »Nur taktischer Funkverkehr. Scheiße noch mal, Leute, Funkdisziplin kann doch nicht so schwer sein!«

Zurechtgestutzt schob Carlos sein Mikro vom Mund weg. Strouds Wut schlug ihm mehr auf den Magen als die Mörser. »Da war ich noch nie sonderlich gut drin.«

»Du hast recht«, flüsterte Marcus. »Die warten auf irgendetwas.«

Das Mörserfeuer aus Ostri riss den Boden in dem Labyrinth aus Kanälen, Wattflächen und Riedbüscheln auf und teilte die C-Kompanie so in zwei Lager. In dem flachen Gelände gab es keine Aussichtspunkte, von denen aus man hätte beobachten können und bis auf kleine verstreute Waldungen gab es auch kaum Deckung, in der man sich bewegen konnte. Ein steter Feuerhagel hielt alle Mann am Boden.

Wir sind hier, damit Doms Trupp freikommt. Darum geht es. Alles andere ist zweitrangig.

Das Problem bestand darin, herauszufinden, wie das am besten zu bewerkstelligen war, nachdem die Schlacht eine Wendung einschlug, die niemand erwartet hatte, da die Perasapha-Basis offenbar über mehr schweres Gerät verfügte, als es der Geheimdienst angenommen hatte. Andernfalls hätten sie – gleich, nachdem sie bemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte – damit begonnen, gepanzerte Einheiten aufzufahren.

Wie haben die davon Wind bekommen?

Ist das Ganze ein einziger riesiger Hinterhalt?

Und jetzt näherte sich noch etwas anderes in der Ferne. Carlos sah die Hitzepunkte in seinem Nachtsichtgerät.

»Leichte Flak«, sagte er. Die konnte das Terrain passieren. »Major Stroud, mobile Luftabwehr geht zwei Klicks nördlich in Stellung, sockelmontiert.«

Strouds Stimme klang heiser. »Die müssen hellsehen können.« Sie unterbrach, als würde sie auf etwas schießen. »Zentrale Kalona, bitte Merit benachrichtigen, dass ihre Petrels auf Boden-Luft-Raketen stoßen werden. Wir werden die Stellung für euch ausschalten, aber wir werden Ravens zur Verwundetenevakuierung benötigen.«

Hinter den Linien Ostris rumsten wieder die Mörser, als ob jemand mit einem Hammer auf eine Kiste Nieten schlagen würde. Der wenige Lärm, den sie machten, stand in krassem Gegensatz zu den ohrenbetäubenden Explosionen, die sie hinter ihm entfachten, dachte Carlos. Feuchter Boden, der hoch in die Luft geschleudert wurde, prasselte in kalten Klumpen auf ihn herab. Die Genauigkeit des Feuers aus Ostri nahm zu und Carlos konnte den Fortschritt anhand des Funkverkehrs abschätzen, der die Rufe nach Sanitätern und Meldungen über Gears übertrug, die gefallen waren oder evakuiert werden mussten.

Wenn sie diese Flak zum Laufen bringen, werden wir auch die Ravens verlieren.

»Scheiße.« Marcus legte mit dem Longspear an und feuerte in erhöhtem Feuermodus eine fiese Überraschung auf eine Mörserstellung ab. Die Rakete zog einen hohen Bogen über die Ebenen und schlug ins Gras, um ihren Flug in einem Feuerball zu beenden. »Wir fackeln die Scheißdinger zu schnell ab.«

Carlos konnte jetzt nichts mehr aus Aspho Point hören. Die Beteiligung der C-Kompanie an der Operation lag nun nicht mehr in der Bildung eines Verteidigungsgürtels für den Überfall, sondern im Kampf ums eigene Überleben. Eine weitere Mörserladung schlug links von Carlos ein.

»Longstop an Kennen«, rief Stroud. »Sergeant Kennen! Scheiße, Kennen hat’s erwischt. Sani!«

»Asp in Sichtweite.« Marcus zögerte. »Ma’am, zweiter Asp und weitere leicht gepanzerte Fahrzeuge in lang gestreckter Reihe von Sieben-Fünf-Sieben-Null-Null-Eins bis nach Sieben-Sechs-Eins-Drei-Drei-Null. Sieben … nein, acht Panzerfahrzeuge.«

Da kam eine Wand schnell beweglicher Feuerkraft auf sie zu. Ein anständiger Luftschlag hätte die Sache genauso schnell erledigt. Carlos Gedanken kreisten immer mehr um die Brücke.

»Sie bilden einen Ring um Aspho Point«, stellte Stroud fest. »Sie schließen den Laden ein.« Ihr Funkgerät klickte, während sie die Kanäle wechselte. »Zentrale Kalona, Panzereinheiten und Flaks im Vormarsch auf Aspho Point. Stärke bis jetzt ungefähr zehn Fahrzeuge. Wo bleibt unsere Luftunterstützung?«

»Longstop, zwei Petrels im Anflug auf Perasapha.« Anyas Signal wurde undeutlich, dann kam es wieder in voller Stärke rein. »Zehn bis fünfzehn Minuten.«

»Die Basis zuerst ausschalten. Gebt den Unabhängigen einen guten Grund, Aspho Point nicht zu zerstören.«

»Longstop, glaubst du, das ist ihr Ziel?«

»Positiv. Basis zuerst, dann helft uns mit den Bodentruppen.«

»Verstanden, Longstop.«

»Mataki an Longstop«, schaltete sich Bernie ein. Sie war immer noch damit beauftragt, Aspho Point selbst Feuerunterstützung zu geben. »Ich sehe unregelmäßige Leuchtzeichen in Richtung Perasapha. Irgend so ein Bastard hat eine Signallampe. Ich kann den Code nicht lesen, aber Hoffman muss wissen, dass er Gesellschaft hat. Sieht aus wie ein sehr kleiner Maschinenraum auf dem Dach, Rückseite des Hauptgebäudes. Sieht allerdings nicht groß genug aus, um einen Mann zu fassen.«

Stroud stieß ein kurzes zufriedenes Ahhh aus. »Longstop an Cleaner, ihr habt eine feindliche Person vor Ort, die den UIR-Truppen manuell Signale gibt. Rückseite Hauptgebäude, Maschinenraum auf dem Dach. Die alte Technik schlägt mal wieder das große Verteidigungsbudget.«

»Cleaner an Longstop, danke, dass ihr uns die Suche erspart.«

»Helikopter.« Das war Kaliso. Bisher war er sehr still geblieben. »Keine Ravens.«

Sie warteten immer noch auf Verwundetenevakuierung. Carlos fiel keine sichere Landestelle ein. Ganz egal, wo, sie würden nur unter Beschuss zur Landung ansetzen können.

»Sani«, sagte Stroud. »Wie geht’s Kennen?«

»Er ist tot, Ma’am.«

Carlos konnte die plötzliche Stille spüren. Es schien, als hätte jede Frau und jeder Mann auf dem Schlachtfeld für einen Moment den Atem angehalten – nicht ein Hauch über Funk, kein einziges Wort. Selbst inmitten eines Feuergefechts lähmte sie der Schock für einen Augenblick. Es war schlimmer, als nur einen Kameraden zu verlieren. Mit Kennen hatten sie einen Dreh- und Angelpunkt der ganzen Kompanie verloren.

Stroud sprach es für sie aus. »Scheiße. Scheiße.« Sie hielt inne. »Mataki? Sie sind jetzt der zuständige Uffz. Schließen Sie mit Kennens Zug auf. Überqueren Sie den Kanal und halten Sie sich von den Panzerfahrzeugen fern. Schalten Sie sie aus.«

»Jawohl, Ma’am.«

»Longstop, hier Kaliso. Ich höre UIR-Helis, nähern sich von See. Noch bekomme ich sie nicht angepeilt.«

Kennen ist fort. Er hat uns praktisch abgestillt. Mein Sarge.

Der Schock, einen Mann zu verlieren, der unsterblich zu sein schien, setzte Carlos für einen Moment heftig zu. Die Erkenntnis, dass jeder von ihnen der Nächste sein könnte, riss ihn wieder zurück ins Gefecht, aber ein kleiner Winkel in seinem Verstand wiederholte es immer wieder: Kennen ist tot, Dan Kennen ist tot …

Carlos lauschte angestrengt den Motorgeräuschen, die der Wind mal stärker, mal schwächer mit sich trug, und hoffte, Kalisos hyperscharfes Gehör würde sich wenigstens ein Mal täuschen und es wären doch Ravens, aber der Kerl behielt recht.

Marcus rutschte ein Stück zur Seite und griff nach einem weiteren Longspear.

»Ich hab noch zwei übrig«, sagte er. »Selbst wenn der andere Zug noch einen ganzen Stapel hat, haben wir mehr Ziele als Raketen.«

»Marcus, Kennen hat’s erwischt.«

»Hab’s gehört.«

»Scheiße.«

»Konzentration. Wir müssen diese verdammte Kavallerie da draußen zurückhalten.« Carlos konnte nicht fassen, dass Kennens Tod Marcus nicht zusetzte. Aber er zog wahrscheinlich einfach die Rollläden runter, auf die gleiche Art, wie er auch nicht wegen seiner Mutter geweint hatte. Carlos war sich nicht sicher, ob er vielleicht keine Worte für seinen Kummer fand, oder ob er einfach zu viel Angst hatte, es rauszulassen, weil es ihn auffressen könnte. Jetzt legte er einfach nur den Kopf in den Nacken, so als wollte er ihn schütteln, und schloss für einen Moment die Augen, weiter nichts. Carlos fragte sich, was alles zusammenkommen musste, um ihn zum Weinen zu bringen.

»Okay, wir müssen über diesen Kanal rüber und ein paar Granaten schmeißen«, meinte Carlos. Der Kanal war zu flach, als dass man ihn als Fluss hätte bezeichnen können, aber er war breit und sumpfig genug, um ein ernstes Hindernis darzustellen. »Ein paar von den Fahrzeugen auf die harte Tour ausschalten. Ich kann jetzt vorrücken.«

»Wir warten, bis Stroud es befiehlt.«

»Jawohl, Corporal Fenix …«

Das war Marcus; ganz der Vorzeige-Gear, der genau nach Lehrbuch handelt. Stroud war die Beste, aber selbst die Besten konnten sich jetzt kein Bild von diesem Schlachtfeld machen – dunkel, nur aus flacher Bodenhöhe zu sehen und durch hohes Ried und Gras. Das Gefecht verlief – wie immer – überhaupt nicht nach Plan. Tat es nie. Ruckzuck-Entscheidungen mussten getroffen werden und im Nachhinein würden sie sich vielleicht als richtig oder falsch erweisen, doch gab es eine, die immer falsch war: Auf dem Arsch sitzen und nichts tun.

Carlos hatte auf einmal einen persönlichen Hass auf diese zwei Asps entwickelt. Sie standen immer noch außerhalb der maximalen Reichweite der Longspears und hatten sich so weit voneinander entfernt, dass er das Visier seines Lancers wandern lassen musste, um sie zu erfassen.

Ich könnte in null Komma nichts da drüben sein und Sprengstoff durch die Luke schmeißen …

»Fenix an Longstop«, sagte Marcus. »Ich kann den linken Asp erwischen. Er ist gerade so in Reichweite.«

»Warten Sie einen Augenblick, Fenix.«

Tschokka-tschokka-tschokka. Carlos konnte es jetzt hören. Definitiv keine Ravens. Das waren Khimera-Angriffshelikopter, die entweder anrückten, um der Kavallerie die Arbeit zu ersparen und Hackfleisch aus der C-Kompanie zu machen, oder direkt nach Aspho Point flogen. Einen davon mit einem Longspear runterzuholen, war nicht leicht.

»Verdammt laute Arschlöcher«, murmelte Marcus, ohne seinen Blick von der grünen Landschaft auf dem kleinen Schirm der Zieloptik abzuwenden. »Komm schon, Dom, schnapp die verdammten Daten und lauf …«

Der Sturm hatte abgeflaut. Der Sturm, der jetzt an seine Stelle trat, war gänzlich von Menschenhand gemacht.

 

ASPHO POINT

»Kleine Planänderung«, flüsterte Hoffman. »Wir haben einen Feind im Haus, der unsere Stärke und Bewegungen weitergibt. Ich werde ihn finden. Bai Tak, nehmen Sie sich die beiden Scherzkekse am Strand vor.«

Der zweite Wachmann saß also irgendwo auf dem Dach und irgendwoher wusste er auch, wo sich die Gears im Gebäude aufhielten. Inzwischen wäre Unterstützung unterwegs – wenn sie nicht schon in Position war –, um fortzusetzen, was der erste UIR-Trupp nicht zu Ende gebracht hatte.

»Bereit, sah.«

Bai Tak, Shim und vier weitere Pesangas zogen wieder ihre Macheten. Die hohen Grasbüschel am Strand zitterten im Wind und Hoffman konnte die beiden Maschinengewehrschützen sehen, die fünf Meter voneinander entfernt auf der Lauer lagen. Außerdem konnte er Helikopter hören. Schlechte Nachrichten, ganz gleich, ob sie Spezialkräfte oder Raketen mitbrachten.

»Alle Rufzeichen – wie weit sind die Bots?«

»Noch zehn Minuten, Sir«, antwortete Dom Santiago.

»Wo stecken Sie?«

»Obergeschoss, bei den Bots.«

»Bin auf dem Weg zu Ihnen.«

Hoffman blieb kurz stehen, weil er auf einmal die Pesangas nicht mehr sehen konnte. Sie hatten sich im Ried und Gras aufgelöst. Selbst mit Nachtsicht konnte er sie nicht mehr aufspüren. Hören konnte er sie ganz bestimmt nicht.

Und den Maschinengewehrschützen ging es genauso.

Er hätte nicht länger warten dürfen, tat es aber trotzdem. Als Nächstes sah er, wie der rechte Schütze ein klein wenig hochfuhr, so als wäre vielleicht irgendein widerliches Insekt unter ihm entlanggekrabbelt. Eine Hand hatte sich über sein Gesicht gelegt, er zuckte und schlug kurz um sich und rutschte dann zur Seite. Als Hoffman daraufhin zu dem Schützen auf der linken Seite schaute, war der nicht mehr da. Die beiden Maschinengewehre standen unbesetzt herum. Zwei Köpfe, Pesang-Gesichter voller Tarnfarbe, erschienen kurz über dem Gras und verschwanden wieder, dann rutschten die Maschinengewehre wie von Geisterhand gezogen ins Dickicht.

Jedes Mal, wenn Hoffman die Pesangas im Einsatz erlebte, wurde er von Ehrfurcht ergriffen. Sie taten nichts nach Art der Gears.

»Zwei erledigt, sah.«

»Gute Arbeit, Sergeant«, antwortete Hoffman. »Bleiben Sie in der Nähe der Boote und halten Sie nach Helis Ausschau.«

»Brauchen Sie Hilfe, Sir?«, fragte Benjafields Stimme in seinem Ohrstöpsel. Er hörte sich frustriert an. »Sie haben alle Hände voll zu tun.«

»Und Sie haben die Boote. Sie wissen, was zu tun ist, wenn sich alles in Scheiße verwandelt. Die Bots schnappen und raus.«

Hoffman huschte durch die Doppeltüren zurück ins Hauptgebäude und machte einen großen Schritt über die Reihe des unbedeutenden Aspho-Personals, das immer noch gefesselt und geknebelt am Boden der Lobby saß. Er konnte ihre erschreckten Augen sehen. Manche blickten nach oben, so als würden sie erwarten, dass irgendetwas herabregnen würde, andere sahen einander an und wieder andere kniffen ihre Augen einfach zu. Wenigstens schrien sie sich nicht die Lungen aus dem Leib.

Ich hätte sie erschießen sollen. Aber ich kann einfach nicht.

Morgan und der Pesang-Soldat waren immer noch in den Feuerwechsel mit den beiden Unabhängigen auf der Rückseite des Gebäudes verwickelt. Dom war ihnen zur Seite getreten, aber Hoffman nahm ihn am Arm und zog ihn mit sich.

»Das ist ein Ablenkungsmanöver, Sir«, sagte Morgan. »Die bewegen sich kein Stück. Es wird eine zweite Welle kommen.«

»Ich weiß.« Hoffman sprintete geduckt mit Dom zusammen die Treppe hinauf. »Halten Sie sie noch ein paar Minuten bei Laune.«

Im oberen Stockwerk sah Young gerade nach Bruce-Bot. Hoffman suchte nach einem Weg zum Dach und konzentrierte sich auf die Decke und die Notausgänge. In den Plänen, die Settile ihm gegeben hatte, war kein Dachzugang verzeichnet, und auf den Luftaufnahmen war nichts zu sehen gewesen, was sich als Versteck geeignet hätte. Er zog Dom zu sich.

»Die Wache sitzt da oben in einem Technikraum oder so und gibt Signale. Finden Sie einen Weg hinauf.«

Young tätschelte Bruce-Bots Gehäuse. »Er ist fertig, Sir.«

Er. Young fiel es schwer, den Bot mit »es« zu bezeichnen. »Okay, raus damit zu Benjafield. Joe-Bot?«

»Wird grade fertig. Die Daten scheinen hauptsächlich auf dem Server gespeichert zu sein. Das hier ist nur Kram vom lokalen Laufwerk, aber wird haben’s trotzdem rausgenuckelt. Man weiß nie, wofür man’s brauchen kann.«

Hoffman winkte Young und gab ihm Handsignale: oben auf dem Dach, Feind, wir übernehmen das, raus jetzt. Young nickte. Es war schon komisch, dass die entbehrlichen Kriegsmittel, die Bots, die ursprünglich dazu konstruiert worden waren, den Gears gefährliche und zeitraubende Aufgaben abzunehmen, jetzt wichtiger waren als Fleisch und Blut. Dom kam zurück und zeigte auf die Schwingbewegung einer Tür.

»Außentreppe«, sagte er.

Die beiden Männer drückten sich an die Wand.

»Wir müssen davon ausgehen, dass er weiß, wir kommen.« Hoffman horchte erneut nach Helikoptern. Er erwartete einen Angriff über das Dach. »Ich weiß nicht, wie, aber er verfolgt unsere Bewegungen.«

»Meinen Sie, er gehört Spezialkräften an, Sir?«

»Na ja, bis jetzt hat er es geschafft, uns aus dem Weg zu gehen …« Hoffman hatte nur einen Plan. »Okay, Grundkurs: Tür auf, Feuer eröffnen.«

Als sie das obere Ende der schmalen Außentreppe erreichten – ein schrecklich enger Winkel, um darin festzusitzen, falls alles schief ging –, sah die kleine Tür vor ihnen aus wie der Eingang zu einem Puppenhaus. Es war winzig, von der Größe her eher ein Geschirrschrank, und das Dach schien viel zu niedrig zu sitzen.

Die Tür war außerdem sehr dünn. Dom deutete mit seinem Lancer darauf. Von hier aus durchlöchern?

Hoffman schüttelte den Kopf. Das garantierte nicht den Tod des Mannes, der sich darin versteckte. Ein schwer Verwundeter konnte immer noch das Feuer erwidern oder Sprengfallen auslösen. Die Tür hatte einen einfachen Hebel und ein Einsteckschloss, aber Hoffman hatte nicht vor, auszuprobieren, ob sie sich öffnen ließ. Er deutete auf das Schloss, hob eine Hand und zählte still herunter, während Dom anlegte.

Auf drei zerschoss Dom das Schloss, sodass. er die Tür einrammen konnte. Die Bilder vor seinen Augen gerieten ins Stocken und zogen sich in langsamen, scharfen Einzelaufnahmen hin, unzusammenhängende, starre Eindrücke von erschreckender Klarheit, so als wolle sein Gehirn absolut sichergehen, dass er niemals vergaß, was er als Nächstes tat, und es niemals verdrängen konnte.

Er stürzte. Er stürzte schwer.

Wo ist der Boden? Wo ist der Scheiß-Boden?

Der Sturz hatte Hoffman den Atem aus den Lungen getrieben. Er lag flach auf dem Rücken und versuchte, sich aufzurichten. Der Strahl von Doms Gewehrscheinwerfer fiel auf einen Mann in Wachuniform. Ein Kerl Mitte zwanzig, der auf einem Stapel Kisten balancierte, um an eine Lüftungsöffnung über ihm zu kommen. Er hatte eine Hochleistungstaschenlampe in die schmale Öffnung geklemmt – eine Lampe, um dunkle Winkel zu durchsuchen, eine Lampe, um Signale zu geben.

Für einen Sekundenbruchteil erstarrte er wie ein Tier im Scheinwerferlicht. Er hielt eine Pistole in der Hand. Er ließ die Lampe noch ein Mal aufblitzen, dann eröffneten Hoffman und Dom das Feuer.

Er gab bis zum allerletzten Moment Signale.

Hoffman und Dom hörten auf zu schießen. In der plötzlichen gellenden Stille erkannte Hoffman, dass der winzige Raum nicht mehr als ein überbauter Schacht war, dessen Boden ein ganzes Stück unterhalb des Daches lag. Er war tiefer als einen Meter gestürzt, die Decke lag beinahe auf gleicher Ebene mit dem Dach, sodass sich nur die Lüftungsöffnung daraus hervorhob. Kein Wunder, dass es anhand der Luftaufnahmen nicht zu erkennen gewesen war.

»Da haben wir also den Bastard«, sagte Dom, während er durchatmete und auf den verrenkten Körper des Wachmanns blickte.

»Da haben wir also den Helden«, sagte Hoffman und bemerkte erst jetzt, dass seine Kniescheibe durch den Sturz wie verrückt schmerzte.

Durch Training und Drill bewegte sich der Körper eines Gears unabhängig von langsamen, bewussten Gedanken. Muskelgedächtnis und Adrenalin hielten einen am Leben, keine Zeit für Diskussionen, Denken, im Handbuch nachschlagen oder irgendeinen anderen Scheiß – bloßes Reagieren. Aber Hoffmans Gehirn lag im Streit, schrie seine Beine an, dass er die Leiche des Mannes hier nicht einfach liegenlassen konnte und wohin zum Teufel dachte er eigentlich, gehen zu wollen?

In der COG hätte der junge Wachmann eine Medaille bekommen. Jetzt war er bloß ein toter Feind. Hoffman ertappte sich dabei, wie er ein Profil erstellte: ein Mann, der jung genug für den Dienst in der Armee war, aber nicht diente. Ein Mann, der Signalcodes beherrschte. Ein Mann mit genügend Geistesgegenwart, um in aller Ruhe einen Aussichtspunkt zu finden, während um ihn herum die Hölle losbrach, und Signale zu geben, die den Truppen von Ostri einen frühen Gegenangriff ermöglichten.

Ein ehemaliger Soldat.

Dom nahm Hoffman am Ellbogen. »Wir müssen, Sir. Alles in Ordnung?«

Ehemalig. Vielleicht, weil er verwundet wurde?

»Ja, alles klar.« Hoffman blieb stehen. Er musste nachsehen. Er drehte den Mann um und sah ihm ins Gesicht, denn das war das Mindeste, was er im schuldete. Als er sich in dem engen Raum nach einem Funkgerät und anderer Ausrüstung umsah, wurde die ganze banale Wahrheit offenkundig: Der Kerl hatte ein einfaches Brandschutzsystem überwacht, das Türbewegungen und Körperwärme registrierte, um zu sehen, ob Räume besetzt waren. Es war immer lästiger Kleinkram, der einen überrumpelte. »Er hat einen kühlen Kopf bewahrt, die Initiative ergriffen und uns die Armee und Luftwaffe von Ostri auf den Hals gehetzt.«

Vielleicht gibt es noch eine andere Erklärung dafür, wer er war. Ich habe einen Helden getötet.

Dom untersuchte die Leiche nach nützlichen Dokumenten und Schlüsseln, aber der Kerl hatte vorgesorgt. Er musste genauso gedacht haben wie Hoffman. »Zeit, abzuzischen, Sir.«

»Ja.« Ich werde einen Bericht abgeben. Ich werde die Unabhängigen wissen lassen, was dieser Mann zustande gebracht hat. Dafür muss ich überleben. »Zeitzünder aktivieren und raus.«

Die Unabhängigen würden keine Chance bekommen, Aspho Point in Schutt und Asche zu legen. Das würde Hoffman für sie erledigen.