KAPITEL 10

 

Sie mögen glauben, es wären die Truppen der Regierung, Herr Vorsitzender, aber auf dem Schlachtfeld gehören sie mir. Sie unterliegen meiner Verantwortung. Es sind meine Kameraden und sie sind mein Gewissen.

 

(MAJOR HELENA STROUD, 20STE ROYAL TYRAN INFANTERIE)

 

MARINESTÜTZPUNKT FESOR, NORDZIPFEL VON JETTY; 0500, ZWEI TAGE VOR OPERATION LEVELER, 16 V. A.

Carlos fragte sich, ob die C-Kompanie wohl jemals wieder das Tageslicht sehen durfte.

Bis zum Tagesanbruch hatte er noch ein paar Stunden Dunkelheit vor sich, es war eiskalt und die Luft stank nach Öl und verbrannter Farbe. Er starrte an der grauen Stahlklippe hinauf, die sich über dem Kai erhob, und legte den Kopf immer weiter in den Nacken, bis die metallene Wand die Gestalt eines Kriegsschiffes annahm, an dessen Bug in abblätternder roter Farbe die Aufschrift CMS KALONA prangte.

Sie war nicht gerade der Stolz der Flotte. Sie war klein, schmutzig und hässlich. Wäre da nicht die COG-Flagge gewesen, die schlaff vom Göschstock hing, hätte er sie für ein Frachtschiff gehalten. Die Kalona sah aus, als hätte man ihr das Hinterteil abgesägt und stattdessen eine halbe Fähre angeschweißt, denn es handelte sich bei ihr um ein amphibisches Angriffsschiff - ein schwimmendes Dock für Landungsboote mit einem Helikopterdeck, das gut ein Drittel ihrer Länge ausmachte. Sie war nicht dazu gebaut worden, elegant auszusehen. Sie war gebaut worden, um Truppen und Fahrzeuge an Landeköpfen abzusetzen.

»Wenigstens hat sie Treppen«, sagte er und nickte in Richtung der Gangway. »Diesmal werde ich mich nicht ersäufen.«

Aus der Reihe der Gears, die darauf warteten, einzuschiffen, war so gut wie kein Laut zu hören. Die meisten schliefen, saßen zusammengekauert auf ihren Rucksäcken und stützten ihre Köpfe auf ihre Hände oder verschränkten Arme, bereit, jederzeit von einem Kumpel wachgestoßen zu werden, falls ein Offizier daherkam oder sich die Reihe in Bewegung setzte.

Gears bekamen alles, was sie brauchten in großzügiger Menge – Ausrüstung, Essen, Zuwendungen –, nur nicht Schlaf. Schlaf gab es nie genug, also gönnten sie ihn sich, wo und wann immer es ging.

Carlos überlegte, ob er zu ihnen gehen sollte, um eine Runde zu dösen.

»Das nennt sich Laufplanke«, sagte Marcus schließlich. »Nicht Treppe.«

»Oh danke, Admiral Fenix.«

»Hast du letzte Nacht was von Dom gehört?«

»Er hat ’ne Nachricht hinterlassen, ich hab ’ne Nachricht hinterlassen. Was immer er treibt, es ist total geheim. Maria hat gesagt, sie hätte ’nen Dreißig-Sekunden-Anruf von ihm bekommen.«

»Beschissenes Timing.«

»Du sagst es.« Carlos beugte sich ein Stück vor, um das Gewicht seines Rucksacks besser zu verteilen. »Und sonst?«

»Was?«

»Du bist wegen irgendwas angepisst. Ich hör’s doch. Du hast deinen Alten angerufen, oder?«

Marcus wandte ihm noch immer den Rücken zu. Carlos konnte lediglich die hohe Wölbung seines Schulterpanzers und den festen Knoten des Kopftuchs sehen. »Jep.«

»Und?«

»Ich hab ihm gesagt, dass wir in See stechen. Er wurde ganz still. Ende der Geschichte. Wie immer.«

Carlos musste Marcus nicht daran erinnern, dass sein Vater es nicht über sich brachte, zu sagen, wie sehr er sich um ihn ängstigte oder sorgte oder dass er wünschte, Marcus wäre nie zur Armee gegangen. Aus welchem Grund Adam Fenix auch wegen Marcus’ Mutter dichtmachte – Schuld, Stolz, Schmerz, irgendein Macho-Scheiß, wen interessierte das schon –, es war dieselbe Sache, die ihn jetzt wieder daran hinderte, ehrlich zu sein. Und Marcus war auch nicht besser darin, die Dinge beim Namen zu nennen, als sein Vater.

Was für ’ne kaputte Familie.

Carlos wusste auch ohne zu fragen, dass seine Familie bei der alten Geschützstellung am Hafeneingang von Fesor stehen würde, um der Kalona zum Abschied zu winken. Es war eine maßvolle Einschiffung aus einem kleinen Logistikhafen, keine Medien und keine Kapelle, und die Gears würden auch nicht in Reih und Glied an Deck antreten, damit die Leute nicht anfingen, sich zu fragen, was vor sich ging. Aber die Familien wussten es. Und sie würden da sein.

»Du hast ihm gesagt, dass es die Kalona ist, oder?«

Marcus schwieg einen Moment und drehte sich dann um.

»Nein, hab ich nicht.« Marcus sah eher verwirrt als verärgert aus. Nein, er sah gekränkt aus. »Und er hat auch nicht gefragt.«

»Ihr könnt das immer noch geradebiegen, wenn du zurück bist«, sagte Carlos in dem Versuch, das Gespräch zu retten. »Du wirst du ein echter Kriegsheld sein und er wird erleichtert und froh sein, dass du am Leben bist. Es wird anders sein.«

»Klar.« Marcus wandte sich ab und starrte wieder das Schiff an. »So wie es nach jedem Einsatz anders war.«

Eine Gruppe Matrosen lehnte an der Reling des Schiffes und schaute auf die Gears hinunter, die darauf warteten, an Bord zu gehen. »Hey, ihr Landkrabben«, rief einer von ihnen hinunter. »Für den Luxusdampfer hat’s wohl nicht gereicht, ihr fetten, überfütterten Arschlöcher!«

Es gab schlimmere Schimpfworte als Landkrabben und fröhliche Beleidigungen unter den Abteilungen wirkten mitunter beruhigend. Unterkühlte Höflichkeit – das war etwas, worüber man sich Sorgen machen musste. Für die Seemänner war die sperrige Gear-Rüstung saukomisch und der durch die Oberschenkelgurte und Stiefel verursachte breitbeinige Gang setzte dem ganzen die Krone auf – sie waren Krabben. Der Ausdruck wurde ohne Ende benutzt.

»Was hat Dom denn gesagt?«, fragte Marcus, der gegen Spott immun war. »In seiner Nachricht, meine ich.«

»Nur Gelaber über irgend so ’n abgefahrenes Zeug, das er beim Drill mitmacht, von dem er uns aber nichts erzählen darf. Der geht richtig auf in diesem Commando-Kram. Langsam fühle ich mich wie der kleine Bruder.«

»Hört sich für mich glücklich an.«

Oh ja, Dom war glücklich. Er hatte ein Fertig-Leben: schöne Frau, gesunde Kinder – Carlos wusste, dem kommenden Baby würde es gut gehen – und einen Job, den er liebte, alles schön und auch noch frühzeitig unter Dach und Fach. Er hatte sich einer Situation gestellt, die für die meisten Jungs seines Alters eine Katastrophe bedeutet hätte, und sie in einen Triumph verwandelt. Das war typisch Dom. Carlos war enorm stolz auf ihn und fühlte sich nur ein ganz kleines bisschen in den Schatten gestellt.

Er hatte Dom noch nichts zu seinem Geburtstag gekauft. Darum würde er sich kümmern müssen, wenn er wieder zurück war.

»Sie kommt«, murmelte Marcus mit einem Blick über seine Schulter. Er holte tief Luft. »Gears – Achtung!«

Marcus konnte Major Stroud auf einen Klick Entfernung hören. Aber das fiel auch nicht schwer. Wenn es nicht die Stiefel waren, dann war es die Stimme. Sie schritt an den Gears vorbei, salutierte zurück und stolzierte dann die Gangway hinauf, um den Offizier zu begrüßen, der am oberen Ende wartete. Erst jetzt, als Carlos zur Seite blickte, sah er, wer ihr zusammen mit Kadetten aus Führungsstab und Zentrale folgte: ihre Tochter mal wieder, dieses Mal in der grauen Arbeitsmontur des Führungsstabes.

»Die ist wie ’ne praktische Reisegröße-Version ihrer Mutter. Anscheinend leiten sie die Operation vom Schiff aus. Scheiße, das ist hart: Kadetten auf Frontposten setzen …«

Marcus gelang es, zuzuschauen, ohne den Kopf zu bewegen. Er sah Anya hinterher, wie sie in hochhackigen schwarzen Pumps die Gangway hinaufstakste. »Wieso lassen die weibliche Unterstützungsoffiziere Stöckelschuhe tragen? Die bricht sich noch den Hals.«

Der Gear vor Marcus – der eigentlich ziemlich geistesabwesend gewirkt hatte – stieß einen theatralischen, schmachtenden Seufzer aus.

»Dann können Sie ein bisschen tatkräftige Erste Hilfe leisten, Fenix. Wir wissen doch alle, dass Sie nur drauf brennen …«

Marcus Tonfall wurde eine Spur härter und er selbst sogar noch etwas ruhiger. »Na sieh mal an, ich glaube, wir haben einen echten Komiker eingeschifft.«

Der Typ sagte kein Wort mehr.

Die Reihe der Gears setzte sich endlich in Bewegung und die Planke, die die Kalona mit dem Kai verband, erzitterte unter Carlos’ Stiefeln. Der Weg zum Messedeck schien sich ewig hinzuziehen. Beladene Gears in voller Rüstung durch enge Gänge und über steile, offene Treppen – Niedergänge, wie Marcus ihn belehrte – zu lotsen, brauchte seine Zeit. Sie befanden sich in Messe 1E2, denn genauso stand es in schwarzer Schablonenschrift über dem Schott.

Das war alles, was Carlos und Marcus zu diesem Zeitpunkt wussten. Wohin die Kalona fahren würde, wussten sie immer noch nicht.

»Ich hab auf Klos gesessen, in denen mehr Platz war.« Mit seiner Rüstung konnte sich Carlos auf dem Messedeck nicht einmal umdrehen. Die Schotten entlang zogen sich Gestelle mit Kojen, die aussahen, als müsste man sich zusammenfalten können, um sich hineinzuzwängen. »Pass mit deinem Rücken auf, Tai.«

Kaliso hätte ein ganzes Deck für sich gebraucht. Er sah über seine tätowierte Nase hinunter auf einen Schiffsmann, der versuchte, die Gears an die ihnen zugewiesenen Plätze zu dirigieren. »Das ist ein Schiff für … sehr kleine Leute.«

»Beachten Sie ihn gar nicht«, sagte Carlos. Er brauchte jemanden, der ihm einen Gefallen tat. »Der hat noch nie was Sinnvolles gesagt. Gibt’s hier irgendwo einen Platz, von dem aus man den Hafeneingang sehen kann, wenn wir lossegeln?«

Der Matrose zeigte einen Gang voller Gears hinunter, die versuchten, ihre Rüstungen abzulegen, ohne sich dabei auf die Füße zu treten. »Den Niedergang rauf und nach achtem. Die Luke führt zum Flugdeck, unter dem Sie übrigens gerade genau drunter sind. Gehen Sie nicht auf das offene Deck. Achten Sie auf die Durchsage.«

Die Lautsprecheranlage des Schiffes brabbelte im Hintergrund und das gesamte Schiff summte und vibrierte. Es gab nichts zu tun, außer zu warten, die neuartigen Gerüche einzuatmen und zu versuchen, die fremdartige Sprache zu entschlüsseln, die über die Decks schallte.

»Besatzung an Hafenstationen«, sagte eine körperlose Stimme. »Bootsmänner auf Posten.«

»Heißt das, wir fahren los?«, fragte Carlos.

Marcus gab ein Knurren von sich und starrte von seiner Koje aus an die Deckbalken, so als würde er einen Sarg auf seine Größe testen. Wie er es geschafft hatte, sich dort hineinzuzwängen, war Carlos unbegreiflich.

»Mehr oder weniger.«

»Komm schon. Ich muss nachschauen, ob meine Alten gekommen sind.«

Als sie die Tür zum Deck öffneten und hinaussahen, war es gerade hell genug, um erste Einzelheiten zu erkennen. Es gab keine Feierlichkeiten, keine schneidigen Matrosen in Reih und Glied, nur Kerle in blauen Overalls, die Taue und Kabel verstauten.

»Ist das eine Tür oder eine Luke?«, fragte Carlos.

»Tür«, antwortete Marcus. »Luken sind im Deck. Normalerweise.«

»Du musst ein bisschen mehr rauskommen.«

»Schau einfach, ja?«

Carlos ließ seinen Blick über die Kais und Landungsbrücken wandern und konzentrierte sich dann auf die alte Hafenmauer. Er konnte eine kleine Menschengruppe erkennen, die sich in der Kälte zusammendrängte. Scheiße, warum hob ich keinen Feldstecher mitgenommen? Er kniff seine Augen zusammen.

Ob sie mich überhaupt sehen können?

»Da ist deine Mom«, sagte Marcus. »Schau.«

Er hatte recht. Carlos freute sich. Seine Mutter, sein Vater und Maria – verdammt, was machte eine hochschwangere Frau bei diesem Wetter draußen? – standen dort bei den anderen. Carlos war es egal, ob er den Matrosen auf den Wecker ging. Er ging an die Reling und winkte wie ein Irrer.

Und sie sahen ihn. Sie sahen ihn. Sie winkten zurück.

»Scheiße«, sagte Marcus.

Carlos glaubte, es sei nur seine Allzweck-Reaktion auf alles, was sich auf dem gefährlichen Terrain von Gefühlsduseleien bewegte, aber dann sah er, was Marcus sah.

Adam Fenix stand links von den Santiagos – nicht bei ihnen, nur in ihrer Nähe – und hob eine Hand in einer langsamen, traurigen Abschiedsgeste.

Carlos sah nicht zu Marcus. Er musste jede Sekunde, die ihm von seiner eigenen Familie blieb, in sich aufsaugen, und ihm blieb keine Zeit, um nachzuschauen, ob Marcus seinem Vater ein Zeichen gab. Er hörte nur das Rascheln von Stoff hinter sich und einen schwachen Seufzer.

Du hast also zurückgewinkt. Ist doch schon mal ein Anfang, Marcus.

Carlos winkte, bis sie die Kardinalstonnen passiert hatten, die eine Sandbank markierten, und er die Menschen an Land nicht mehr als einzelne Umrisse erkennen konnte. Als er sich umdrehte, sah er, dass auch Marcus noch zurück an Land schaute.

»Ist das scheißkalt«, sagte Marcus voller Verweigerung. Sein Blick wirkte immer brutal gefühllos, auch wenn jede andere seiner Gesten Carlos verriet, dass es nicht so war. »Lass uns runtergehen.«

»Du hast gesagt, du hättest deinem Vater nicht erzählt, wo und wann, und trotzdem hat er dich gefunden.« In Carlos wuchs die Hoffnung, er könnte die beiden eines Tages dazu bewegen, sich wie normale Menschen aufzuführen, damit sie begriffen, dass sie eine Familie waren. Das Leben war zu kurz für diesen Scheiß. »Er gibt sich Mühe, Marcus.«

Marcus ging bereits wieder ins Schiff hinunter.

»Ja«, sagte er. »Er hat mich gefunden. Nicht uninteressant, wie er das geschafft hat …«

 

HANGARDECK, »KALONA«; ZWEI STUNDEN SPÄTER

Jetzt wusste Bernie Mataki wenigstens endlich, wohin es ging.

Die Soldaten der C-Kompanie saßen oder hockten in mehreren Reihen vor einem großen Bildschirm am Hangarschott und sahen aus, als würden sie darauf warten, dass das Unterhaltungsprogramm anfing. Die Kadetten und die Bootsführer der Landungsboote standen neben Major Stroud, als diese den Schirm einschaltete.

»Dies sind Sendungen von ein paar Nachrichtenkanälen der UIR«, kommentierte sie. »Wir haben ihre Aufmerksamkeit.«

Alle Türen und Luken waren fest verschlossen und wurden bewacht. Bernie konnte sich nicht vorstellen, wozu all die Sicherheitsvorkehrungen gut sein sollten – noch dazu auf ihrem eigenen Schiff – , wenn das Ganze bereits in den Nachrichten lief. Verwackelte Luftaufnahmen zeigten Kriegsschiffe der COG, die nördlich von Ostri durch den Ozean stampften. Dazwischen sah man Einblendungen von UIR-Truppen, die an der Grenze zu Pelles mobilmachten. Bernie musste ihre Sprache nicht sprechen und auch nicht die Untertitel lesen, um zu verstehen, dass die Politiker von Ostri und Pelles mächtig angepisst waren.

Major Stroud trat vor den Bildschirm und schaltete den Ton ab.

»Das ist alles kompletter Schwachsinn«, sagte sie in ihrem vornehmen Tonfall. »Euch ist wahrscheinlich klar, dass wir keine Küstenlandung vorantreiben würden, wenn im Fernsehen bereits die Vorschau dafür läuft. Während die also damit beschäftigt sind, uns im Norden ihre Ärsche zu zeigen, steuern wir nach Süden, um einen Angriff auf Aspho Point zu unterstützen, den unsere Commando-Einheiten durchführen. Diese Aktion wird in kleinem Maßstab und in minimaler Zeit durchgeführt. Eure Aufgabe ist es, im Norden von Aspho Point einzurücken und jeden Versuch, die Einrichtung zu verteidigen, zu unterbinden, damit die Commandos genügend Zeit haben, um das zu tun, was sie eben tun, wenn niemand hinsieht. Sie zischen ab, ihr zischt ab und alle sind wieder zurück an Bord, bevor die UIR überhaupt mitbekommt, dass wir sie verarscht haben. Willkommen zur Operation Leveler – jetzt kommt näher und seht euch die Karten an.«

Stroud kam immer gleich zum Punkt, also dachte Bernie sich, es würde nichts kosten, zu fragen. »Ma’am, welche Bedeutung hat Aspho Point?«

»Waffenforschung«, antwortete Stroud. »Müsste ich mehr erklären, brauchte ich ein ordentliches Physikstudium. Belassen wir es daher bei Kampfmittelentzug.«

Marcus saß rechts von Bernie, gleich neben Carlos. Sie hörte ihn laut seufzen. Carlos rollte den Kopf herum, so als wolle er ihn gleich schütteln, und murmelte vor sich hin: »Also, das wollte er uns nicht erzählen.«

»Was erzählen?«, flüsterte Bernie.

»Dom«, antwortete Carlos. »Das muss es sein, worauf er geschult wurde.«

Auf dem Bildschirm waren jetzt Aufnahmen der Luftaufklärung zu sehen und Stroud zeigte auf Flüsse und Brücken. Auf der Karte stand ASPHO FIELDS, aber es sah nicht nach weitläufigem Ackerland aus. Es sah nach Marschland aus, platt wie ein Pfannkuchen und nur hie und da ein Loch, das Deckung bot. Aber Major Stroud hatte schnell gesagt und das bedeutete, sie würden nicht tagelang in irgendwelchen Sumpflöchern voller Wasser ausharren müssen.

»Aktuell plus sechsundzwanzig Stunden«, sagte Stroud. »Wenn sie uns entdecken und reagieren, müssen sie über diese Routen kommen, wenn sie Landstreitkräfte einsetzen. Die jüngsten Satellitendaten zeigen, dass sie, seit die Flottille Position bezogen hat, ungefähr fünfzig Klicks nordöstlich eine Brigade aufgestellt haben und eine Geschützbatterie nahe Berephus. Und das ist bis jetzt die unmittelbarste Gefahr. Die zwei Basen bei Aspho Point besitzen immer noch bestenfalls Kompaniestärke. Doch es besteht immer das Risiko eines Luftschlags. Es dreht sich alles um Geschwindigkeit. Rein, Job erledigen, raus – möglichst innerhalb einer Stunde, auf jeden Fall innerhalb zwei.«

Anya Stroud ergänzte die Einweisung. »Der Wetterbericht meldet starke Winde und raue See, daher wird das Timing ausschlaggebend sein.«

Marcus starrte mit tiefem Stirnrunzeln auf die Luftaufnahmen von Aspho Point. »Ma’am, wenn wir nicht bei der Annäherung entdeckt werden, wann werden sie dann zum ersten Mal bemerken, dass Aspho Point angegriffen wird? Irgendwann zwischen der ersten Kugel im Kopf einer Wache und dem Hochgehen der Sprengsätze. Sie könnten innerhalb von ein paar Minuten Schützentrupps vor Ort haben, einen Helikopter in zwanzig, also warum nicht einfach aus der Luft draufhauen und dann ein paar Ravens hinterherschicken, um aufzuräumen?«

Stroud fing mit gesenktem Kopf an, eine Landkarte auf einem kleinen Klapptisch auszubreiten. »Weil wir wollen, dass ein paar Souvenirs heil bleiben.«

»Hört sich nach der Sorte Souvenir an, die mein Vater sammelt.«

Er sagte es fast beiläufig, aber die Art, auf die Carlos ihn dabei ansah, verriet Bernie, dass eine Menge mehr dahintersteckte. Sie war jetzt nicht sein Zugführer. Vielleicht würde sie sich mit Daniel Kennen, der diese Funktion jetzt innehatte, unter vier Augen unterhalten, nur um sicherzugehen, dass es nichts gab, was Marcus in den nächsten paar Tagen ablenken würde.

Sie kannte Marcus seit zwei Jahren auf diese familienähnliche Art der Kameradschaft innerhalb eines Trupps und trotzdem wusste sie über seine wirkliche Familie noch weniger als über die Hoffmans. Marcus behielt alles für sich.

Ihnen blieben jetzt nur noch Stunden, keine Tage, um den Plan auszufeilen. Stroud vertraute auf den Stomper, ein Granatgewehr mit Gurtzuführung, das auf das Fahrzeug eines jeden Zuges montiert war. Und sie legte sich auch selbst ins Zeug und erledigte zusammen mit den Gears die schwere Arbeit beim Bereitmachen der Landungsboote und der Waffen. Das wirkte enorm motivierend. Bernie, die eigentlich niemals wirklich ein Gear sein wollte, bis ihr eines Tages ein Rekrutierungsoffizier gesagt hatte, dass Frauen sowieso beschissene Soldaten und noch beschissenere Scharfschützen abgaben, bemerkte, dass sie für Stroud extragute Arbeit erledigen wollte.

Motivation. Dazu gab es eine Million Wege. Man musste nur richtig einschätzen, welchen Hebel man bei der betreffenden Person umlegen musste.

»Ausgekochter Hund«, murmelte sie, als ihr aufging, welchen Hebel der Rekrutierungsoffizier vor all den Jahren bei ihr umgelegt hatte.

Carlos blieb mit einer Munitionskiste im Arm stehen. Er schwitzte. Diese Arbeit war eine gute Methode, um sich auf dieser eiskalten Wanne warm zu halten. »Wer, der alte Fenix?«

»Nee, nur so ’n toter Typ. Wovon redest du?«

»Marcus’ Dad kam vorbei, um sich zu verabschieden, obwohl Marcus ihm gar nicht erzählt hatte, wo und wann er abfahren würde.« Carlos setzte die Kiste ab, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte sie dann an seiner Hose ab. »Er hat mit dieser Operation zu tun. Hat’s Marcus aber nicht erzählt.«

»Ist Marcus diesen Geheimhaltungs-Scheiß nicht gewohnt? Bei Fenix geht’s doch nur um Geheimhalten und Nacht und Nebel.«

»Naja, da gibt’s ’ne Menge Kram, die sein Dad ihm über die Jahre nicht erzählt hat. Persönlicher Kram. Scheuert, glaub ich, ziemlich an seinen Nerven.«

Bernie verstand diesen Wink, sich eine Weile zurückzuhalten. Dafür wusste sie jetzt genug: Trotz seiner scheinbaren Reife und eisernen Disziplin war Marcus ein ganz normaler Bursche, der von seinem Vater gekränkt werden konnte. Das war genau der Kram, den ein Sergeant wissen musste.

»Jep, ausgekochter Hund.«

 

FLUGBESATZUNGSQUARTIER, CMS »POMEROY«, ZWEIHUNDERT KILOMETER NÖRDLICH VON ASPHO POINT VOR ANKER

»Sir, was werden Sie meiner Familie erzählen, falls ich falle?« Hoffman hörte auf, seine Jacke zu bügeln, und sah zu dem Jungen hoch, der in der Türöffnung stand. Ludovic Young sah nicht sonderlich ängstlich aus. Diese Burschen dachten über die Möglichkeit nach, ohne sich vorzustellen, dass es tatsächlich passieren würde. Young war ein ordnungsliebender Typ, der es gerne sah, wenn alles seine Richtigkeit hatte.

»Ich werde ihnen die Wahrheit erzählen«, antwortete Hoffman. Er vermied es immer, die reflexartige Beruhigungsmasche auszuwalzen, dass schon niemand sterben würde. Das hatte er nur ein Mal getan und es hatte sich als quälend falsch erwiesen. »Soweit es mir die Geheimhaltung der Mission ermöglicht. Und wenn wir die Sache hinkriegen, wird es nicht besonders geheim bleiben.«

»Danke, Sir. Ich würde nicht wollen, dass sie Jahre später einen Schock bekommen.«

Hoffman entschied, dass seine Uniform ruhig ein paar Falten behalten konnte. Die Zeit wäre wahrscheinlich besser mit einer kleine Sitzung mit dem Trupp in Sachen Kampfmoral genutzt. Er war nicht besonders gut in so etwas. Er stand dann immer nur da und erzählte denen unter sich, was er über sie dachte und was er von ihnen erwartete, um dann einer von ihnen zu werden, während sie es taten. Es schien zu funktionieren.

»Young, trommeln Sie alle auf dem Hangardeck zusammen«, sagte er. »Ich bin dann gleich bei Ihnen.«

Hoffman war auch nicht gut im Warten. Er ging in die Operationszentrale, um nach Michaelson zu sehen und die Fortschritte der Scheinflotte und des Trägerschiffs zu überprüfen. In der Zentrale war es schummrig und still. Schiffsleute saßen vor ihren Schirmen und konzentrierten sich auf die Daten oder Pläne, die vor ihnen flimmerten. Hoffman brauchte eine Weile, um herauszufinden, welche Abteilung für die Karten zuständig war. Für ihn sah alles gleich aus.

»Also, wo ist die Kalona jetzt?«, fragte Hoffman.

Der erste Offizier der Pomeroy, Füller, zog ihn zu einem der Schirme und zeigte auf ein paar, verloren wirkende Punkte, über die sich Zahlen legten. Ein paar Kilometer nördlich von ihnen fingen sie an, sich zu sammeln, und es sah aus, als würden sie einen Angriff auf die Küstenstädte Bonbourg und Berephus vorbereiten und auf den Kanal, der durch Ostris Norden bis hinein nach Pelles schnitt.

»Also, mich überzeugt’s, Commander«, bestätigte Hoffman. »Irgendeine Idee, ob die Unabhängigen es auch schlucken? Ich hab bis jetzt noch kein Sterbenswörtchen von Iver gehört.«

»In fünfundvierzig Minuten kommt wieder ein Satellit vorbei. Dann haben wir aktuelle Luftaufnahmen.«

Für eine gründliche Aufklärung an Land durch Gears gab es keinen Ersatz. Das Beste, was sie in dieser Richtung auf die Beine gestellt bekommen hatten, war, durch Settiles Team Informationen zu sammeln, und von denen hatte Hoffman immer noch nichts gehört. Er musste sich auf ihr Netzwerk verlassen. Schließlich hatten sie die Pläne von Aspho Point und einen ganzen Haufen technischer Informationen mehr besorgt.

Aber in Zukunft – wenn wir bewiesen haben, wozu wir imstande sind – werde ich verdammt noch mal dafür sorgen, dass wir eigene Aufklärungsteams haben. Keine Infos aus dritter Hand mehr, nur Gears, die rausfinden, was Gears wissen müssen.

Es war nicht nur das Ende des Krieges, das von der Operation Leveler abhing. Eine ganz neue Militärdoktrin würde danach entstehen, eine andere Armee als die, in der Hoffman groß geworden war. Er glaubte fest an die Macht kleiner Spezialistenteams.

Die Besatzung der Operationszentrale setzte sich etwas aufrechter hin, die Augen immer noch auf die Schirme geheftet. Michaelson hatte den Raum betreten.

»Die Kalona ist unterwegs«, sagte er. »Sie sollte morgen um 2300 in Position sein und um 2530 sind ihre Landungstruppen von Bord.«

»In Ordnung. Dann sag ich’s jetzt besser meinen Jungs. Einer von ihnen hat einen Bruder und einen besten Kumpel in der C-Kompanie. War kein Spaß, damit nicht rausrücken zu können.«

»Könnte die Truppenmoral mächtig ankurbeln.«

»Um ihre Moral steht es eigentlich verdammt gut.«

»Übrigens, mein Admiral hat Dalyell gefragt, wie sein endgültiger Befehl lautet, falls dein Team aus dem Spiel ist«, sagte Michaelson ruhig.

Hoff man hatte diese Frage nicht nur erwartet, er kannte auch die Antwort. Es gab nur eine Möglichkeit. »Und Dalyell hat ihm gesagt, jede Rakete und jedes Fluggeschoss, das er hat, draufzuschmeißen und das ganze Areal zu versenken, richtig?«

Michaelson nickte. »Ich dachte nur, du solltest es wissen.«

»Hätte mich enttäuscht, wenn er was anderes gesagt hätte«, erwiderte Hoffman. »Wenn sie erst einmal mit Sicherheit wissen, worauf wir es abgesehen haben, können wir nicht noch mal zurück. Der Laden muss geplättet werden.«

»Natürlich hängt alles davon ab, wie Dalyell »aus dem Spiel« definiert. Mit anderen Worten, was er unter einer gescheiterten Mission versteht.«

Vielleicht war das die wahre Botschaft, die Michaelson vermitteln wollte. Etwas, was er mitgehört hatte oder auch abgefangen oder nur gefolgert, und das ihn zu der Überzeugung gebracht hatte, dass sie alle einen Chef mit einem nervösen Finger am roten Knopf hatten.

»Ich dachte, es wäre Ivers Operation.«

»Iver denkt das vielleicht auch immer noch«, erwiderte Michaelson. »So viel zum Thema, einfach nur der UIR den Hammer wegzunehmen.«

»Dann lassen wir besser keinen Spielraum für eine Fehlinterpretation unseres Erfolgs.« Hoffman hatte all die Doppelzüngigkeiten der Führungsetagen gelernt, aber es war nicht seine Muttersprache. »Ich habe ihnen von Anfang an gesagt, es so zu machen. Sich in den eigenen Arsch beißen zu müssen, ist immer ernüchternd.«

Als Hoffman auf das Hangardeck kam, waren die Commandos dabei, ihre Lancer auseinander zunehmen und die Pesang-Soldaten saßen geduldig im Schneidersitz auf dem Boden wie eine Schulklasse artiger Kinder.

»Rühren«, sagte Hoffman. »Es geht jetzt nur noch ums Warten. Die Kalona ist unterwegs und morgen Nacht wird sie eine Infanterie-Kompanie absetzen. Die werden euch den Rücken decken, falls die Unabhängigen einen Gegenangriff starten. Wenn alles nach Plan läuft, seid ihr alle rein und raus, bevor die Säcke überhaupt merken, was los ist.« Er schaute zu Dom, aus dessen Gesichtsausdruck ausnahmsweise einmal nichts herauszulesen war. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht eher warnen konnte, Santiago. Es ist die C-Kompanie.«

Dom schien die Neuigkeit einen Moment zu überdenken, dann lächelte er. »Und wurde ihnen gesagt, wer ihnen Unterstützung gibt?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Hoffman. »Ich werde es nachprüfen.«

Tja, damit bin ich noch mal davongekommen. Hoffman mochte es nicht, im Dunkeln gelassen zu werden, und er ging davon aus, dass es anderen ebenso ging. Manchmal war es nicht so. Er konnte sich nicht vorstellen, warum. Er wandte sich an die Pesang-Soldaten.

»Brauchen Sie sonst noch etwas, Sergeant?«

Bai Tak lächelte breit und zeigte auf die riesige Lederscheide, die an seinem Gürtel hing. Sie war so lang, dass ihre Spitze über seine Hüfte hinausging und den Boden berührte. »Wir haben, was wir brauchen, Hoffman-san.«

Die Pesangas waren kleine Menschen mit Mandelaugen, die unaufhörlich grinsten, ein stets vergnügtes Volk aus einem entlegenen Gebiet der COG, das Hoffman niemals besucht hatte. Im Allgemeinen hüteten sie auf Berghängen Vieh, aber dabei musste es sich um eine ziemlich raue Art der Landwirtschaft handeln, denn sie trugen die größten Messer, die Hoffman jemals gesehen hatte. Es waren jedoch keine Zeremonienklingen. Die Pesangas waren Stoßtruppen und ihre Aufgabe war das Töten, schnell und geräuschlos.

Bei der Belagerung von Anvil Gate hatten sie sich auf jeden Fall bewährt.

»In Ordnung«, sagte Hoffman. »Dann bin ich ab jetzt in meiner Kabine. Wir brauchen alle etwas Schlaf.«

Die Männer würden ihn wahrscheinlich bekommen, Hoffman jedoch nicht. Er verbrachte den Rest des Abends damit, seinen üblichen Brief zu verfassen, so wie vor jedem Einsatz, wenn er die Zeit hatte, so weit vorauszuplanen. Auf den Umschlag schrieb er in Großbuchstaben MARGARET HOFFMAN. Er würde ihn Michaelson überreichen, damit er ihn übergab, falls das Schlimmste eintreten sollte. Er hatte es schon so oft getan, dass die Worte nicht mehr das gleiche Gewicht hatten wie damals, als er das erste Mal erkannte, dass dies wahrscheinlich das Wichtigste war, was er jemals zu Papier bringen würde, Worte, die eine Bedeutung jenseits ihres Zwecks und Gehalts hatten, denn sie würden seine letzten an sie sein. Manchmal dachte er daran, sie einen lesen zu lassen, nur um ihre Reaktion zu sehen, aber jedes Mal, wenn er ihn von der Person zurückholte, die er um die Übergabe gebeten hatte, verbrannte er ihn.

Die Gefühle, die er in diesen Briefen äußerte, hatten sich über die Jahre stark verändert. Was er vor Anvil Gate niedergeschrieben hatte, kam von tiefstem Herzen. Spätere Briefe waren einfach nur dazu da, die Dinge nicht noch schlimmer zu machen.

Einen von diesen Briefen, den letzten, würde sie wahrscheinlich eines Tages dem RTI-Museum stiften. Diesen Gedanken im Hinterkopf, achtete Hoffman darauf, dass seine letzten Worte ein gutes Licht auf das Regiment warfen.