KAPITEL 6
Das Militärleben übt aus vielerlei Gründen einen starken Reiz auf junge Menschen aus: Pflicht, Kameradschaft, Zweck, die Gelegenheit, die Grenzen des Lebens auszuloten, das Erlernen eines Berufs, Flucht von Zuhause, Abenteuer – und auch Patriotismus. Junge Menschen aber, die kein gefestigtes und fürsorgliches Zuhause ihr Eigen nennen können, finden hier Familie, mit all der Sicherheit und Bedeutung, die damit einhergeht. Sie sehnen sich nach Struktur, Anerkennung, Aufmerksamkeit und klaren Regeln, die ihre Eltern ihnen nicht geben konnten; und wir können ihn das bieten.
(COLONEL GAEL BARRINGTON, REKRUTIERUNGSLEITER)
AUSSENANLAGEN DER POMEROY-KASERNE, SÜD-EPHYRA, REGIMENTSHAUPTQUARTIER DER 26STEN ROYAL TYRAN INFANTERIE, SIEBZEHN JAHRE ZUVOR, DREI JAHRE VOR TAG A
»Rührt euch«, sagte die Ausbilderin und stapelte Drahtkäfige übereinander. Auf dem Namensschild ihres Trainingsanzugs stand MATAKI. »Ich werde euch beibringen, wie man sich von der Natur ernährt, denn ihr Burschen werdet ohne das Verpflegungskorps an ein paar ziemlich feindseligen Orten überleben müssen.«
Sergeant Mataki war eine groß gewachsene Frau Mitte dreißig, gebaut wie eine Kurzstreckenläuferin und das Haar straff unter ihrer Mütze zurückgebunden. Sie sprach mit einem leichten Akzent, den Dom nicht recht einordnen konnte. Sie zog ein lebendiges Huhn aus einem der Käfige und klemmte es sich unter ihren linken Arm. Es gackerte empört.
»Falls irgendwelche Vegetarier unter euch sein sollten«, erklärte Mataki, »Pech gehabt. Essbare Wurzeln und Pilze nehmen wir morgen durch.«
Dom hatte sich den Arsch aufgerissen, um zum Commando-Training zu kommen, sobald er siebzehn war; jünger ging nicht. Er genoss die anstrengende Ausbildung und stellte fest, dass er eine kämpferische Aggression besaß, von der er vorher nichts gewusst hatte. Maria war stolz auf ihn. Carlos und Marcus betrachteten ihn nicht mehr wie den kleinen Bruder, auf den man aufpassen musste. Er war, wie einer der Typen von den South Islands sagte, Stahl, so wie in hart wie.
Und jetzt machte er sich ins Hemd wegen eines kleinen, schwarzen Huhns.
Das runde Dutzend Männer, mit dem er angetreten war, schaute totenstill zu, wie Mataki dem Huhn den Kopf streichelte. Es schien jetzt ziemlich entspannt in ihrem Arm, was Dom noch mehr verstörte. Sie war keine gewöhnliche Ausbilderin. Die Abzeichen auf ihrem Arm wiesen sie als Scharfschützin aus, aber alle sagten, ihre Überlebenstechniken wären der Neid der gesamten Commando-Trainingseinheit. Irgendjemand hatte mal gemeint, sie könnte ein Sechs-Gänge-Festessen aus zwei toten Ratten und einem Büschel Gras zaubern.
»Wie man Vögel und kleine Tiere fangt, zeige ich euch später«, sagte sie. »Das ist der leichte Teil. Für die meisten von euch Stadtjungs ist das der harte Teil. Denn wenn ihr das nicht schafft, könnt ihr eure Überlebenschancen gleich begraben.«
Dom war ein Stadtjunge. Geflügel bekam man in weißen Plastikschalen im Lebensmittelgeschäft und dann war von dem natürlichen Federvieh auch schon nicht mehr viel zu erkennen. Geflügel schaute ihn nicht anklagend aus lebhaften orangefarbenen Augen mit nadelkopfgroßen Pupillen an.
»Ihr seid je alle so still«, stellte Mataki fest. »Kommt schon. Ihr wollt Commandos sein. Ihr könnt einem Typen ein Kampfmesser in die Gurgel rammen. Wo liegt das Problem?«
Als ob sie das nicht wüsste. Sie sah aus, als hätte sie das schon hundertmal gezeigt.
Georg Timiou stand direkt vor Dom und an der Art, mit der er seine Hände hinter dem Rücken ineinander presste, konnte er sehen, wie nervös er war. »Auf den Anwerbeplakaten stand nichts davon, dass wir Hühner erwürgen müssen, Sarge.«
Mataki war nicht annähernd so gestrickt wie Hoffman. Irgendwo hinter diesem Totenkopfemblem versteckte sich Sinn für Humor. Als sie für einen Moment hinunter auf ihre Stiefel blickte, konnte Dom ein kurzes Zucken in ihren Mundwinkeln sehen.
»Wir erwürgen nicht, Private«, sagte sie schließlich. »Wir brechen schnell und human das Genick. Ihr habt bereits trainiert, wie man das bei einem Menschen macht. Hühner kommen einem für gewöhnlich nicht mit einem Messer.«
Stadtjungs. Dom sah die Stofftiere seines Sohnes vor seinem geistigen Auge und fühlte sich äußerst unbehaglich. Aber sie hatte recht; sie alle kamen aus den Infanterie-Rängen und sie alle hatten unter Beschuss gelegen – und zurückgeschossen. Geflügel durfte sie nicht aus der Fassung bringen.
Mataki drehte das Huhn mit dem Kopf nach unten. »In Ordnung, ihr nehmt beide Beine so mit der linken Hand und packt den Kopf zwischen den rechten Zeige- und Mittelfinger. Wenn ihr Linkshänder seid, macht ihr’s natürlich andersrum. Dann mit einer Drehung des Handgelenks nach unten drücken, und zwar so …«
Es war das leise Knack und das Flattern, das Dom an die Nieren ging.
»Ohhh Scheiße …«, stöhnte Timiou.
»Bloß unwillkürliche Reflexe«, erklärte Mataki.
Bei ihr sah es ganz leicht aus. Sie rupfte das tote Huhn, sodass überall schwarze Federn herumflogen, und zog dann ein Jagdmesser, um es zuzubereiten, wobei sie den versammelten Commando-Azubis einbläute, dass es eine ganz schlechte Idee wäre, dabei die Gedärme aufzuschlitzen, und dass natürlich die Federn entsorgt werden mussten, um die eigene Anwesenheit zu verbergen.
»Achtet darauf, dass ihr die Leber findet«, sagte sie und zeigte die vermeintliche Delikatesse herum, die sie auf ihrer Messerspitze aufgespießt hatte. »Jetzt seid ihr dran. Ihr alle.«
Jeder von ihnen bekam ein Huhn. Dom war wie gelähmt.
Ich schaff das. Wie schwer kann es schon sein?
»Schauen wir, dass ihr das hinbekommt, bevor ich euch wieder an Hoffman übergebe«, sagte sie freundlich. »Ich will nicht, dass er irgendeinen von euch verarscht. Bei mir ist noch kein Azubi durchgefallen.«
Sie verstand etwas von Motivation. Hoffman würde keinerlei Zimperlichkeit durchgehen lassen und er würde auch bestimmt nicht die Geduld haben, das zu tun, was Mataki jetzt tat: Sie ging zu Timiou, stellte sich peinlich dicht hinter ihn und legte ihre Hände fest auf seine, die Rechte auf die Rechte, die Linke auf die Linke.
»Und … drücken«, sagte sie.
Knack.
Sie trat einen Schritt zurück. Timiou starrte auf den Vogel, der zwar tot war, aber immer noch wie wild in seinen Händen flatterte.
»Mehr Kraft brauchst du nicht«, erklärte sie, »sonst reißt du ihm glatt den verdammten Kopf ab.«
Danach ging alles viel leichter. Dom untersuchte immer noch sein totes Huhn, um sicherzugehen, dass er keinen Herzschlag mehr spüren konnte, bevor er es zerlegte, als Mataki sich über ihn beugte.
»Wir betreiben hier keine Erste Hilfe, Santiago«, sagte sie. »Das verdammte Ding wird nicht auf HLW anspringen. Jetzt rupf es, nimm es aus und koch es. Das wird nämlich das Einzige sein, was du heute zu Mittag bekommst.«
Gut, es war tot.
Dom briet die sorgfältig zerlegten gedärmfreien Stücke über einem Lagerfeuer in den bewaldeten Außenanlagen und zwang sich, sie zu essen. Allerdings mochte er keine Leber. Mataki schlenderte vorbei, spießte sie mit ihrem Messer auf und aß sie im Weitergehen. Timiou sah ihr nach, als ob er nicht glauben konnte, dass sie existierte.
»Warum war das so schwer?«, fragte Dom. »Es umzubringen, meine ich.«
Timiou nagte an einer Keule. »Weil das Huhn nicht der Feind ist und nicht versucht, uns umzubringen. Es ist, als müsste man seinen Haushund erschießen. Ist immer schwerer, etwas Unschuldiges zu töten, ganz egal, was für gute Gründe man dafür hat.«
Es war nur ein Huhn und Dom kam zu dem Schluss, dass man kein Recht hatte, ein Tier zu essen, wenn man nicht auch den Mumm hatte, es zu töten. Aber das warf Fragen auf, über die er vorher nie nachgedacht hatte – etwas töten, das ihm Ärger machte und etwas töten, das es nicht tat, wo lag da die Grenze? Wozu wäre er wirklich fähig? Das Commando-Training hatte ihn weit über seine vermeintlichen Grenzen hinausgetrieben und ihm die Gewissheit gegeben, dass er absolut alles einstecken, alles überleben und allen Widrigkeiten trotzen konnte. Aber es stellte ihn auch vor die Frage nach den Tiefpunkten, die er vielleicht auszuloten hatte, und ob er mit sich selbst noch leben konnte, wenn er es getan hatte.
Ich werde die Grenze zwischen Richtig und Falsch erkennen, wenn ich vor ihr stehe. Ich weiß, dass ich sie erkennen werde.
Dom konzentrierte sich jedoch auf das Erfolgserlebnis. Nachdem Maria wieder schwanger war, glaubte Dom, das Leben könne gar nicht besser oder perfekter auf das zugeschnitten sein, was er sich immer gewünscht hatte, auch wenn ihm diese Wünsche bisher gar nicht bewusst gewesen waren.
Er liebte es, ein Gear zu sein. Er liebte es mehr, als er es sich hatte vorstellen können. Das überaus reale Risiko, letztlich tot oder verkrüppelt zu enden, driftete irgendwo im Hintergrund, eine statistische Tatsache, die ihm aber nur sehr selten Sorge bereitete.
Er war auch nicht der Einzige, der seine Berufung in der Uniform fand. Marcus – jetzt Corporal Fenix – hatte sich verändert. Zwar würde er nie der Mittelpunkt der Party sein, aber er war glücklicher und zufriedener, als Dom ihn je erlebt hatte.
Er war der geborene Gear. Tatsächlich schien er mit dem Armeeleben sogar glücklicher zu sein als Carlos.
Carlos und Marcus wurden wieder eingesetzt, oben in Sarfuth, wo der Frost einsetzte. Dom las ihre üblichen gemeinsamen Briefe – Marcus schrieb immer die eine Hälfte und Carlos die andere – und Carlos, der sich schon Wochen vorher frustriert angehört hatte, klang noch unzufriedener:
Dieser Krieg wäre schon längst vorbei, wenn die Bürohengste im Oberkommando auf die Jungs am Boden hören würden. Manchmal glaube ich, die würden eine schriftliche Anfrage von mir verlangen, nur damit ich mal zum Pissen rausgehen kann.
Darunter hatte Marcus in kleiner, präziser Handschrift einen Kommentar geschrieben:
Er will IMMER zum Pissen rausgehen. Dabei ist es hier so kalt, dass sogar der Statue von Embry die Eier abfrieren würden.
Marcus entwickelte einen Sinn für Humor. Dom kam zu dem Schluss, dass Carlos als Commando glücklicher gewesen wäre. Die Regeln waren lockerer. Hier konnte ein Mann ein bisschen über die Stränge schlagen. Dom nahm seinen Stift, drehte das Blatt Papier um und fing an, einen Antwortbrief über die Kunst im Umgang mit Hühnern zu schreiben.
SARFUTH, NORDREGION; VORGESCHOBENE EINSATZBASIS, C-KOMPANIE 26 RTI
Es gab kalt und dann gab es noch kalt.
Carlos hatte sich den Schal über die Nase gezogen und die Hände fest unter die Achselhöhlen geklemmt, während er in der Kabine des APCs saß und den Motor im Leerlauf auf Betriebstemperatur hochfuhr. Wenn die Temperatur noch weiter fiel, würde der Treibstoff glatt im Motor festfrieren. Scheiße, jeder, der verrückt genug war, bei diesem Klima eine Imulsions-Pipeline zu sabotieren, verdiente es beinahe, zu gewinnen.
Vor der Windschutzscheibe zeichnete sich ein Schatten ab, löste sich aus dem strahlenden orangefarbenen Sonnenuntergang und dann legte sich ein Handschuh auf das Glas, um die Eisschicht herunterzuwischen. Es war Marcus. Und trotz der Minus-Arsch-abfrieren-Temperatur trug er immer noch keinen Helm. Er schwang sich auf den Beifahrersitz.
Carlos zog seinen Schal etwas hinunter, damit er besser zu hören war. Er mochte Helme genauso wenig, aber wenigstens war er schlau genug, eine Thermokappe zu tragen. »Weißt du eigentlich, wie viel Körpertemperatur man über den Kopf verliert? Bist du verrückt? Willst du dir Frostbeulen holen?«
Marcus zuckte mit den Schultern. »Zehn Prozent«, sagte er. »Und vielleicht. Und nein.«
Er trug einfach keinen Helm, es sei denn, es war ein Offizier in der Nähe, der ihm dafür ein Diszi angehängt hätte. Seit ihm der Friseur am ersten Tag den regulären Bürstenschnitt verpasst hatte, war genau eine Richtlinie aus den COC-Uniformvorschriften bei ihm hängen geblieben: Ein Kopftuch war eine zulässige Kopfbedeckung, solange es unifarben schwarz blieb, die Tuchenden eingeschlagen wurden und das Abzeichen mittig angesteckt saß. Jetzt trug er die ganze Zeit eins. Irgendwie betonte es seine kantigen Gesichtszüge und verlieh ihm das Aussehen eines richtig fiesen Scheißkerls. Und das war natürlich gar nicht so verkehrt.
»Ich konnte grad einen Blick auf die Gefallenenmeldungen vom Hauptquartier werfen«, sagte Marcus. Die Heizung des APCs dröhnte wie ein Hochofen, konnte an der Temperatur aber nicht viel ändern. »Captain Harnes ist auf der Liste.«
»Scheiße. Was ist passiert?« Harnes hatte mehr Tapferkeitsmedaillen eingesammelt als so manches ganze Regiment. Etwas so Gewöhnliches wie Sterben passte gar nicht zu ihr. Die Neuigkeit verpasste Carlos einen Dämpfer. »Ich hätte nicht gedacht, dass es irgendetwas gibt, was sie umbringen könnte.«
»Sie hat einen Angriff auf eine Geschützstellung angeführt. Hat sich ihr nicht schnell genug ergeben.«
»Wow. Irgendwann hat jede Glückssträhne mal eine Ende.«
»Wenn man’s drauf anlegt.«
»Ihr Sohn ist bei der Logistik, oder?«
Marcus’ Atem stieg in Dunstwolken auf und fror an der Windschutzscheibe fest. »Jep. Im gleichen Alter wie Dom.«
Dom. Carlos dachte für einen Moment an ihn. Jemanden allein seinem Kummer zu überlassen, wenn man sich eigentlich um ihn kümmern sollte, war ziemlich lausig. Wie Marcus’ Mom. Na toll. Carlos, der diese einseitigen Rate-mal-was-er-denkt-Unterhaltungen mit Marcus schon lange gewohnt war, wurde wieder einmal daran erinnert, dass das, was er nicht aussprach, ebenso bedeutungsvoll war wie das, was er sagte.
Carlos riss das Ruder herum. Tote Mütter waren kein Thema, über dem Marcus heute brüten sollte. »Naja, unser Glück scheint ganz gut zu halten. Wir machen uns besser auf den Weg, bevor mir die Blase einfriert.«
»Sie reden schon davon, sie mit dem Embry Star auszuzeichnen«, sagte Marcus und seine Stimme war beinahe ein Flüstern. Es war die höchste Auszeichnung für Tapferkeit und sie wurde nur denen verliehen, die sehenden Auges dem so gut wie sicheren Tod entgegentraten, um das Leben von Kameraden zu retten. In den meisten Fällen wurde sie posthum verliehen. »Wenigstens hat sie den ganzen Satz Lametta abgegriffen.«
»Genau, dafür bekommst du im Jenseits eine Garnitur Weingläser umsonst.«
Marcus gab ein kurzes Ha-Geräusch von sich und brachte ein halbes Lächeln zustande, während er das Eis wegwischte, das sich an der Windschutzscheibe bildete. Vielleicht hoffte er, seine Mutter wäre ebenfalls heldenhaft gestorben und nicht einfach abgehauen, um ihn zusammen mit einem Fremden, den er Vater nannte, in gellender Stille zurückzulassen. Er sagte es nie. Nach allem, was Carlos mitbekam, schrieb er einfach nur ein Mal im Monat einen pflichtgetreuen Brief, ohne irgendwelche Fragen oder Schuldzuweisungen, ganz so, als wäre niemals irgendetwas Ungewöhnliches in der Familie Fenix geschehen.
Der APC rumpelte am Kontrollpunkt vorbei und fuhr weiter in Richtung der Pipeline, die nahe der Grenze zu Maranday verlief. Maranday war ein neutraler Staat, der sich nur nachlässig mit Rebellen befasste, die an seiner Grenze hinein- und herausschlichen, um Angriffe zu starten. Von wegen durchlässige Grenze. Glatte Mittäterschaft. Das bedeutete, dass man sehr genau darauf achten musste, wo man stand, wenn man jemanden erschoss. Carlos wurde zunehmend stinkig wegen dieser Feinheiten der Diplomatie.
»Sie sind einen Tag überfällig«, sagte Marcus. Er wiegte seinen Lancer im Arm, als wollte er ihn warm halten. »Die Quellen vom Nachrichtendienst lassen nach. Immer noch keine Aktivitäten am Start.«
»Genau, ich war mir noch nie sicher, ob ihr Informant uns nicht einfach verscheißert.«
»Wollen doch mal schauen, was die Scharfschützen machen.« Marcus fummelte an seinem Headset herum. »Alpha fünf an Drei-Null, Lagebericht bitte, Ende.«
»Drei-Null auf Empfang.« Das war Padrick, noch so ein Kerl von den South Islands. Die Inseln schienen Scharfschützen am laufenden Band herzustellen, nur dass Padrick zur Übersiedlerbrut gehörte. Er hatte verräterisch rote Haare und Sommersprossen. Das passte zwar überhaupt nicht zu seinen Tribal-Tattoos, aber er hatte die gleiche Einstellung, wie man sie von den Inseln kannte, daher hielt es niemand für sonderlich schlau, diese Tatsache zu erwähnen. »Ich hab so ’nen Wichser beobachtet, der ’ne Stunde lang Tierfallen bei der Pipeline gegraben hat. Ist vor zwanzig Minuten abgehauen. Prüft das doch mal für uns nach, ja?«
Das hätte genau das sein können, wonach es aussah – ein Jäger, der angezogen vom relativen Schutz einer Überlandpipeline, Fallen stellt – oder aber etwas sehr viel Schlimmeres.
»Wie ist deine Position, Pad?«
»Zwo-Q-J-O-Null-Drei-Eins-Drei- Vier-Sieben-Fünf-Fünf.«
Marcus faltete bedächtig die Karte auseinander, einen Abschnitt nach dem anderen, und behielt seine Ellbogen eng am Oberkörper, während er das Papier zurückfaltete, damit er den passenden Teil des Rasters vor sich hatte. Seine Taschenlampe leuchtete auf. »Seid ihr auf dem Hügel?«
»Nein, nicht genügend Deckung. Wir liegen in einer Schneegrube gleich beim abfallenden Teil der Pipeline, Höhe ungefähr fünfunddreißig Grad von der Talebene.«
Carlos wandte seinen Blick kurz von der schneebedeckten Straße ab, um auf die Karte zu sehen, die über Marcus’ Gewehr lag. Es wurde rasch dunkel. »Die können alles sehen, was die Pipeline raufkommt.«
»Genau«, knisterte Pads Stimme in Carlos’ Ohr. »Wir warten auf die zweite Schicht. Hoffen wir mal, die trödeln nicht rum. Baz will das Thrashball-Finale gucken.« Er wartete kurz. »Jetzt hab ich Sichtkontakt mit euch. Die Grube liegt einen Meter neben der Verbindung mit der Nummer fünf-bravo-neun. Seht ihr’s?«
»Hab’s«, sagte Carlos. Die Pipeline war der Länge nach durchnummeriert, damit Wartungsteams die Teilstücke identifizieren konnten. »Wir schauen uns mal um.«
Baz war Padricks Späher. Die Scharfschützenteams konnten sich hier oben in eine Schneegrube eingraben und sich – bis auf den Sportkanal – ein richtiggehendes zweites Zuhause einrichten. Aber das mussten sie auch. Sprengladungen wurden hier in Etappen gelegt und das konnte Tage dauern, wenn es nicht genug schneite, um die Löcher zu füllen. Carlos war fasziniert von der Effizienz: Irgendein Drecksack grub ein Loch und haute wieder ab, etwas später kam dann ein anderer Drecksack vorbei und warf den Sprengstoff hinein. Noch etwas später spazierte dann der nächste vorbei und hinterließ den Zünder. Schließlich kam Drecksack Nummer vier, um alles zusammenzusetzen und scharfzumachen, bevor er – oder sie – wieder verschwand, um das Ganze nach Belieben fernzuzünden.
Niemand musste länger als eine halbe Stunde hier draußen herumhängen und es provozieren, entdeckt zu werden. Nur ein wahlloser Haufen Leute, die vorbeikamen – und zwischen den Imulsionsförderanlagen bei Denava und der Raffinerie an der Küste lagen ein paar hundert Kilometer Pipeline, von denen man sich das passende Stückchen heraussuchen konnte. Die COG-Truppen konnten sich auf nicht viel mehr verlassen als auf ihre Spürnasen, Informantentipps und die psychologische Abschreckung, indem sie jedem, der erwischt wurde, ordentlich Saures gaben.
Carlos hielt den APC an und sah sich auf der Suche nach dem Loch um. Es war ungefähr einen halben Meter tief und es befand sich tatsächlich eine Drahtschlinge am Boden. Es war durchaus denkbar, dass der Kerl wirklich nur auf der Jagd nach den hiesigen Nagern war, die sich auf der Suche nach Futter durch den Schnee wühlten.
»Es ist eine Drahtschlinge, Pad«, gab er über Funk durch. »Aber das bedeutet nicht, dass es kein Teil für ’nen Sprengsatz ist.«
»Du bist ein Paranoiker nach meinem Geschmack, Alter …«
»Lass uns noch ein Stück weiter in Richtung Stadt aufklären«, schlug Marcus vor. Sein behandschuhter Finger fuhr über die Karte. »Falls der nächste Kollege unterwegs ist, kommen wir vielleicht genau rechtzeitig.«
»Haltet den Kanal offen«, sagte Padrick. »Die letzte Patrouille hat den Funk auf Übertragung gelassen, die blöden Idioten. Wenn wir sie gebraucht hätten, hätte ich ihnen kein Signal geben können.«
»Keine Sorge, heute Nacht kümmern sich die Erwachsenen drum«, sagte Carlos. »Fenix und Santiago.«
»Klar, die Wichser, die keine Helme brauchen, weil sie kein Hirn haben, das man ihnen wegpusten kann.«
»Wir haben dich auch lieb, Pad.«
»Blast sie weg.«
Carlos stellte die Scheinwerfer ab und fuhr in gemächlichem Schneckentempo parallel an der Pipeline entlang. Der APC war für jeden zu hören, aber wenn ein Unvorsichtiger tief genug in seine Bastelei vertieft war, konnte Carlos ihn manchmal immer noch überraschen. Als sie den vermeintlichen Übergangspunkt von Maranday erreichten, war es dunkel und in der kalten klaren Nacht waren die winzigen Lichter der Stadt leicht zu erkennen. Sie lag nur zwei Klicks entfernt. Die Grenze verlief hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Pipeline.
Marcus setzte sein Nachtsichtgerät auf. »Pad hat nicht unrecht mit dem Thrashball.«
»Hast du irgend ’ne Wette am laufen?«
»Bin kein Spieler. Besonders nicht, seit die Eagles diesen neuen Typ unter Vertrag haben Cole. Der Cole Train. Ja, so nennen sie ihn.«
»Der ist ’ne Maschine. Dem möchte ich nicht in ’ner dunklen Gasse begegnen. Der reißt dir nur so zum Spaß die Birne runter.«
Das normale Leben ging weiter und dadurch blieb man bei Verstand. Selbst der Krieg konnte langweilig werden, wenn man nicht im Gefecht und nahe dran war, sich in die Hose zu scheißen. Man schwankte zwischen Extremen. Carlos konnte gut nachvollziehen, weshalb manche Kerle den Adrenalin-Kick brauchten, auch wenn sie wussten, dass sie ihre Überlebenschancen runterschraubten, und er dachte daran, wie Marcus seinem Dad gesagt hatte, die Armee sei wahrscheinlich der einzige Ort, an dem er sich lebendig fühlen würde. Es stimmte und es ging nicht nur um billigen Nervenkitzel. Es ging darum, zu wissen, dass man jede Zelle, die Mutter Natur einem geschenkt hatte, bis an die äußerste Grenze trieb.
»Zu Fuß geht’s leichter.« Marcus sprang hinaus und watete im Schatten der Pipeline durch den Schnee. Sie verlief in mehreren Metern Höhe und wurde in regelmäßigen Abständen von Betonpfeilern gestützt. Er zog sich die Kapuze seines wetterfesten Schneetarnanzugs über den Kopf. »Nur damit ich dein Genörgel nicht hören muss.«
Das Gebiet bildete ein weitläufiges seichtes Tal, ein abgeflachter Kessel in der Landschaft, und sie konnten den Blick scheinbar kilometerweit bergab wandern lassen. Carlos zog sein Nachtsichtgerät von der Stirn hinunter und sah sich um. Sie warteten beinahe eine Stunde, in der sie im Kreis oder an der Pipeline auf und ab gingen, um sich warm zu halten.
Dann hielt Carlos wegen irgendetwas den Atem an und lauschte. Er streckte seine Hand aus, um Marcus auf sich aufmerksam zu machen, und gab ihm ein Zeichen. Leise.
»Fahrzeug«, flüsterte Marcus. Das Geräusch war schriller als ein Auto, ein kleinerer Motor. Hier draußen gab es auch keine nennenswerten Wege, zumindest keine außer dem Pfad, auf dem sie sich befanden. »Irgendeine Art Schneemobil.«
Das allein war noch nicht verdächtig. Viele Einheimische besaßen Schneemobile. Sie schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und nach einer Weile sah Carlos einen kleinen wackelnden Lichtpunkt, um den sich ein dunkler Umriss abzeichnete. Je näher er kam, desto deutlicher konnte man eine dick eingemummelte Gestalt auf einem Motorschlitten erkennen. Marcus huschte in die Deckung der Pipeline und Carlos kniete sich hin und schob sich das Nachtsichtgerät wieder auf die Stirn, um durch das Zielfernrohr seines Gewehrs zu spähen. Sein Auge folgte dem Kerl, als der Schlitten innerhalb der maranday’schen Grenze parallel zur Pipeline vorbeikreischte.
Könnte natürlich genauso gut ’ne Frau sein.
Marcus funkte Padrick an. »Alpha fünf an Drei-Null, es gibt vielleicht Arbeit für euch. Ein Motorschlitten ist in eure Richtung unterwegs, parallel zur Pipeline.«
»Verstanden, Alpha fünf.«
Carlos warf den APC wieder an, schaltete aber alle Lichter aus. »Vielleicht kommt Baz doch noch dazu, sich das Spiel anzusehen.«
»Nicht so voreilig.« Marcus meldete sich bei der Basis, um den möglichen Feindkontakt zu melden. »Könnte auch nur irgend so ein Depp sein, der einen heben war und jetzt nach Hause fahrt.«
Es war gut möglich, dass der Fahrer wegen des lauten Motors seines Schlittens die entfernten Geräusche hinter sich nicht hören konnte. Außerdem trug er eine dicke Kapuze. Carlos schaltete den APC so weit rauf, wie er nur konnte, während sich Marcus aus der Kabine lehnte und den Motorschlitten durch den Sucher seines Gewehrs verfolgte. Durch die ansteigenden Hänge des Tals konnte er über die Pipeline hinwegsehen.
»Wenn der Nachrichtendienst recht hat«, meinte Marcus, »liefert dieser Typ den Sprengstoff.«
»Wir könnten ihn natürlich aufhalten und nachsehen, was er bei sich hat.«
»Nichts, solange er auf der anderen Seite der Grenze ist.«
»Wer soll schon das Maßband holen und nachmessen?«
»Wir haben unsere Einsatzregeln. Keine Grenzüberschreitungen.«
»Er muss ja hier rüberkommen, wenn er den Sprengstoff absetzen will.«
»Und dann können wir ihm das Hirn wegpusten.« Marcus spähte wieder durch den Sucher. »Ganz legitim. Zufrieden?«
Für Carlos hörte sich das ziemlich bescheuert an, aber das ging ihm bei diplomatischen Regeln immer so. Diese ganze Zuständigkeitsscheiße um die Grenze war was für Cops, nicht für Kriege. Endlich gab Marcus ein Zeichen, anzuhalten und auszusteigen.
Sie duckten sich unter der Pipeline hindurch und kamen auf der anderen Seite ungefähr fünfhundert Meter von Padricks Position entfernt raus. Der Motorschlitten hatte ziemlich genau bei dem Loch angehalten, das früher an diesem Tag gegraben worden war, und der Fahrer hockte daneben und wühlte in der Gepäcktasche. Er befand sich immer noch auf maranday’schem Boden.
»Drei-Null, seht ihr irgendetwas?«, flüsterte Marcus.
»Negativ, Alpha fünf. Solange er sich nicht zu dem Loch bewegt, bleibt er einfach nur so ’n Sack, der an seiner Maschine rummacht.«
Und wenn er hingeht, will er vielleicht wirklich nur nach der Falle sehen …
Carlos behielt sein Gewehr auf den Mann gerichtet. Die Nacht war still bis auf den Wind und die entfernten Geräusche des Typen, der an irgendetwas in seiner Gepäcktasche rummachte.
Er musste gehört haben, wie der APC angehalten hatte. Als er den Motor seines Schlittens abgeschaltet hatte, war er nicht so weit entfernt gewesen, dass er in der plötzlichen Stille den Lärm überhört haben könnte. Trotzdem wühlte er munter weiter in seinem Gepäck.
Vielleicht war er wirklich einfach nur ein Jäger.
Er hatte ihnen den Rücken zugekehrt, nicht aber Padrick und Baz.
»Alpha fünf, was immer der da rausholt, es ist ’ne ganze Menge davon.« Padricks Stimme war nur schwer zu verstehen, selbst über Carlos’ Ohrstöpsel. »Ich hab die Viecher gesehen, die die jagen – die sind winzig. Die könnte man mit ’ner Zahnbürste erschlagen.«
»Hab ihn …«
»Ich bin jetzt schussbereit. Sag Bescheid, wenn ich abdrücken soll.«
Es war Marcus’ Entscheidung. Der Schlitten-Typ stand jetzt aufrecht da, immer noch auf der Maranday-Seite der Grenze, immer noch, ohne die drei Gewehre wahrzunehmen, die auf ihn gerichtet waren und von denen jedes ihm den gesamten Tag versauen konnte. Carlos konnte verstehen, wieso es keine gute Idee wäre, einen harmlosen Maranday-Bürger mit einer COG-Kugel im Schädel liegen zu lassen, aber er meinte, es wäre das Risiko wert – Maranday war praktisch der Feind, also, was sollte schon Schlimmeres passieren, außer dass ein paar Diplomaten und Politiker an die Decke gingen.
Und auf die war eh geschissen.
»Lass uns nachsehen, was er macht«, flüsterte Marcus, stützte sich mit einer Hand ab und ging in Bauchlage, um anzulegen.
Durch den Nachtsichtfilter des Suchers hatte Carlos klare Sicht auf den Schlittentyp, aber Sprengstoff hatte normalerweise kein deutlich lesbares Etikett. Aber ganz gleich, womit der Mann da herumhantierte, es war eine Menge davon. Es sah aus, als würde er einen Stapel Bücher oder kleine Sandsäcke hervorkramen. Für Carlos war das ausreichend. Der schwierige Teil war immer die Entscheidung, wann man die Bastarde umlegte.
»Das ist Pads Schuss«, flüsterte Marcus.
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Geduld war noch nie dein Ding.«
Der Schlittentyp drehte sich vor Carlos’ Augen mit vollen Armen um und ging auf die Pipeline zu – direkt über die unsichtbare Linie, die ihn zum Freiwild erklärte. Carlos hörte Padrick ein paar Mal tief einatmen, bevor er einen langen letzten Schnaufer ausstieß. Er machte sich bereit, abzudrücken.
Jeden Moment.
Der Schlittentyp kniete neben dem Loch, das letzte Mal, dass er je in seinem Leben etwas tun würde. Eine bessere Großaufnahme von seinem Gesicht hätte Carlos gar nicht bekommen können. Es war fast vollständig von einer Skimaske und einer Schneebrille verdeckt, also wäre eine positive Sichtidentifizierung unmöglich gewesen, selbst wenn sie die dazu nötigen Infos gehabt hätten.
Mach schon, Pad, erledige ihn …
Der Schlittentyp erstarrte. Er blickte auf, sah nach links – von dort konnte er Padrick unmöglich sehen oder hören, also was zum Teufel hatte ihn aufgeschreckt? –, dann stand er auf. Er hielt immer noch ein paar der Gegenstände im Arm, die er aus seiner Gepäcktasche geholt hatte.
Er ging zurück zu seinem Schneemobil. Die ersten Schritte wirkten ganz ungezwungen, so als ob er etwas vergessen hatte, aber dann legte er Tempo zu.
»Pad, abbrechen, abbrechen, abbrechen«, sagte Marcus ohne sich an die Funkvorschriften zu halten. »Lass ihn. Wir übernehmen die Verfolgung.«
Carlos war schon losgerannt, noch bevor Marcus den Satz beendet hatte. Er jagte eine Salve in das Schneemobil, die Kleinholz aus dem Tank machte und die Lenkung zerriss, dann jagte er dem Kerl durch den tiefen Schnee hinterher.
Du gehst nirgends hin, Arschloch, dich hol ich ein …
Er konnte Padrick sagen hören: »Ich hab ihn noch im Visier, ich hab ihn noch im Visier …« Marcus schrie, er solle zurückkommen. Der Schlittentyp rannte im rechten Winkel von dem Schlitten weg und auf die Grenze zu. Wenn er sie erst einmal überschritten hatte, gab es nicht mehr viel, was sie tun konnten, und Carlos würde nicht zulassen, dass irgend so ein Unabhängiger da drüben sitzen und die COG auslachen würde wie ein Kind beim Fangenspielen.
Marcus war fast auf gleicher Höhe mit Carlos. Es war, als würde man durch Teer waten, und Carlos musste Riesenschritte machen, um durch den anhaftenden Schnee zu kommen. Der Schlittentyp ließ irgendetwas fallen, aber keiner der beiden würde jetzt anhalten, um nachzusehen, was es war.
»Der wird ein hübsches Spielzeug für den Geheimdienst abgeben«, keuchte Marcus. Die Verfolgung spielte sich fast in Zeitlupe ab. Sie hätte mit einem einzigen Schuss beendet werden können. »Leg ihn nicht um, solange es nicht sein muss.«
Der Kerl rannte weiter. Carlos konnte nicht sehen, ob er bewaffnet war, aber das musste nicht viel heißen. Die imaginäre Linie, die Carlos vor seinem geistigen Auge über den nichts sagenden Schnee legte, kam immer näher. Er hatte sein Gewehr, seine Pistole, sein Messer …
»Du bist drüber, Carlos, du bist drüber, du bist drüber.« Padricks Stimme dröhnte in seinem Kopf. Von seiner festen Position konnte er die Koordinaten besser bestimmen. »Carlos, du bist über die beschissene Grenze drüber!«
»Dumm gelaufen«, sagte Carlos und bemerkte plötzlich, dass Marcus zurückgefallen war. Als er für eine Sekunde über die Schulter schaute, war Marcus in Schießhaltung gegangen und zielte. »Ich kann ihn kriegen …«
Der Kerl war kein Gear; er war fit, aber nicht Gear-fit. Carlos warf sich von hinten auf ihn. Es war mehr ein planloser, verzweifelter Satz als eine gezielte Bewegung, aber er musste ihn aufhalten.
Als ob ein paar Meter die Sache irgendwie schlimmer machten. Wer würde das Ganze schon sehen? Wer sollte schon eine Beschwerde einreichen?
Der Schlittentyp strampelte unter Carlos’ Griff und machte den Fehler, in seine Jacke zu greifen. Carlos hatte sich schon immer gefragt, wie er darauf reagieren würde, jemanden aus nächster Nähe umzubringen. Aber ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Alles, was ihm durch den Kopf ging, war, dass nicht er derjenige sein würde, der das Sterben übernahm. Er rammte dem Kerl sein Messer in den Hals, noch bevor er realisierte, dass er es gezogen hatte.
COG-OBERKOMMANDO, HOUSE OF SOVEREIGNS, EPHYRA
Als er den Besprechungsraum in Keller des Hauptquartiers betrat, wurde Hoffman klar, dass sich etwas Bedeutendes im Verlauf des Krieges getan hatte.
Er nahm seine Mütze ab und fragte sich, ob man ihm die falsche Adresse gegeben hatte. Es war nicht ungewöhnlich, aus Sicherheitsgründen nur minimal informiert zu werden, bevor man zu einer Besprechung gerufen wurde, aber dieses Mal hatte er überhaupt keine Informationen erhalten und er konnte sehen, dass er hier ziemlich fehl am Platze war. Auch was seinen Rang betraf.
Das war nicht bloß ein Treffen von Armeeoffizieren; hohe Tiere von der Marine und der Luftwaffe warteten ebenfalls in der Lobby und kehrten mit reichlich Lametta ihr Dienstalter raus. Und natürlich die Schlipsträger – die Jungs vom Geheimdienst und politische Ratgeber der Koalition. Es war eine kleine Versammlung, aber im Hinblick auf die schiere Befehlsgewalt war es ein Gipfeltreffen.
Eine Nummer zu groß für meinen Geschmack. Vielleicht soll ich ja die Latrinen putzen.
»Du also auch, Victor?«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um und stand vor einem Marineoffizier, dem er vor ein paar Jahren mal begegnet war. Michael? Mitchell? Soweit er sich erinnerte, lautete sein Vorname Quentin und er war noch nicht der Captain gewesen, der er jetzt war.
»Quentin …«, grüßte Hoffman und streckte die Hand aus. Er deutete mit dem Kopf in die Richtung von drei Admiralen. »Was sollen wir denn hier darstellen, die Hilfsarbeiter? Kofferträger?«
Michaelson. So hieß er.
»Ich bin mir nicht sicher, ob mein Boss das überhaupt weiß.« An Michaelsons Kragen prangten die beiden unverwechselbaren Hai-Embleme der U-Boot-Fahrer. »Ich weiß auch nicht, warum ich hier bin. Ich bin nur Captain der D-Flottille. Wenn ich also an Bord gerufen werde, guck ich nach achtern und salutiere.«
Die D-Flottille war für amphibische Angriffe und Sondereinsätze zur See zuständig. Das sagte Hoffman etwas, auch wenn er sich nicht sicher war, was genau, denn soweit er sich erinnern konnte, umfasste die COG-Doktrin die Kriegsführung zu Land – Artillerie, Panzer und Infanterie. Alle anderen Aktivposten spielten nur Nebenrollen. Jetzt schienen zwei kleine Komponenten – Spezialkräfte und Amphibik – bei der großen Show einen Platz in der ersten Reihe zu haben.
»Okay, also SK und Frösche – sonst noch irgendwelche Waisenkinder?«, fragte Hoffman.
»Nur die Division für Orbitaltechnologie, soweit ich sehen kann. Komische Mixtur.«
Die großen verzierten Türen zum Hauptkonferenzraum schoben sich auf und ein Sekretär in dunkelblauem Geschäftsanzug hakte sie ein. In dem fensterlosen Raum hinter ihm glänzte eine Insel polierter Tische.
»Der Vorsitzende Dalyell wird in Kürze bei Ihnen sein, nehmen Sie bitte Platz.«
Hoffman hörte zum ersten Mal, dass der Vorsitzende erwähnt wurde. Er hatte angenommen, dies wäre eine Stabschefsitzung oder die eines Ministers. Das erhöhte den Einsatz gewaltig. Michaelson folgte ihm in den Besprechungsraum und sie sahen sich auf dem Tisch nach ihren Namensschildern um.
Was zum Teufel soll ich zu der Sache beisteuern?
Hoffman hatte kein Problem damit, dem Vorsitzenden zu sagen, was er von der Verteidigungspolitik der COG im Allgemeinen und im Besonderen hielt, solange der Vorsitzende kein Problem damit hatte, dass man es ihm sagte. Ein Teil von ihm befürchtete jedoch, er könnte außerstande sein, Antworten zu geben. Alles, was er bei sich hatte, waren seine Brieftasche, Ausweis, Stift und Schlüssel. Seine Aktentasche – die bis auf einen Schreibblock leer war – hatte ihm der Sicherheitsdienst abgenommen, so wie jedem anderen auch. Das war, gelinde gesagt, ungewöhnlich.
Selbst die Generale wirkten besorgt. Eine Feststellung, in der Hoffman etwas Trost fand.
Dalyell war ein kleiner, zur Glatze neigender Mann Mitte fünfzig, der glatt als Buchhalter durchgegangen wäre, hätte er nicht so schicke Anzüge getragen. Seine Stimme hätte jedoch ein ganzes Bataillon zum Stillstand bringen können. Begleitet von zwei Assistenten nahm er Platz und gab einem von ihnen ein Zeichen, die Türen zu schließen, während der andere einen Projektor bereit machte.
»Dieser Raum ist schalldicht, meine Damen und Herren«, begann Dalyell, »und bald werden Sie verstehen, weshalb das auch so sein muss. Diese Besprechung läuft strikt nach dem Prinzip der Wissenserfordernis, Sie erfahren nur, was für ihre Arbeit unbedingt nötig ist. Die Lichter, bitte, Maynard.«
Die Anzeigetafel leuchtete auf und in ihrem Rahmen erschien eine Landkarte – die Küstenebene der Republik Ostri, ein unabhängiger Staat, der ein halbherziges Bündnis mit seinem wesentlich größeren und auch aggressiveren Nachbarn, Pelles, eingegangen war. Der Raum verfiel in absolute Stille – kein nervöses Gezappel, kein Husten – während Dalyell den Schauplatz auf die versammelte Elite einwirken ließ.
Scheiße. Die Erkenntnis schoss ihm wie eine Kugel in den Kopf. Wir werden über Ostri nach Pelles einmarschieren. Wurde auch verdammt Zeit. Damit machen wir reinen Tisch. RTI-Spezialeinheiten gehen rein, um das Schlachtfeld vorzubereiten, bevor der amphibische Angriff vom Stapel läuft. Hab’s verstanden.
Sofort fühlte er sich besser. Er blickte zu Michaelson, aber die Augen des Mannes blieben auf die Karte fixiert, so als würde ihm etwas völlig anderes durch den Kopf gehen.
»Ich möchte, dass Sie Ihr Augenmerk auf einen ganz bestimmten Flecken auf dieser Karte richten«, sagte Dalyell und drehte sich in seinem Stuhl herum, um in dem Zwielicht einen prüfenden Blick auf die versammelten Offiziere zu werfen. »Sie werden noch eine Menge davon hören, zumindest innerhalb der Grenzen dieses Raumes. Er heißt Aspho Point und wenn wir nicht bald etwas deswegen unternehmen, wird das das Ende der Koalition sein. Agent Settile, wären Sie so freundlich, uns auf den neuesten Stand zu bringen?«
Bumm.
Das war immer das Problem bei Mutmaßungen. Es waren kurzlebige, zerbrechliche kleine Dingelchen. Hoffmans kurzer Augenblick des Triumphes, in dem er geglaubt hatte, zu wissen, was kommen würde, war verpufft. Settile trat neben die Anzeigetafel und zeigte mit einem ramponierten Metall-Lineal auf die zerklüftete Küstenlinie. Der Legende der Karte nach handelte es sich bei dem Gebiet um eine Mischung aus sumpfigen Feuchtgebieten und salzigem Marschland, durchsetzt von vereinzelten Feldern mit Weideland und Waldungen. Die einzigen Besonderheiten von militärischem Interesse waren ein paar kleine Armeebasen, eine Kette Geschützbatterien weit im Norden und eine Avionik-Einrichtung auf einer Landzunge, die in einen der vielen Meeresarme ragte: Aspho Point.
In der Union der Unabhängigen Republiken, kurz UIR, gab es haufenweise Ziele wie dieses. Und die meisten davon waren dazu auch noch wesentlich größer und strategisch interessanter. Settile wandte sich von der Tafel ab und blinzelte in das Licht des Projektors.
»Dieses Moorland um Aspho Point wurde schon vor Jahrhunderten für die Landwirtschaft trockengelegt«, erklärte sie. »Man nennt sie immer noch Aspho Fields, aber diese Felder liegen so abgelegen und sind derart unwirtlich, dass sie heutzutage eher für gesicherte Verteidigungseinrichtungen als für den Ackerbau von Nutzen sind. Die Forschungseinrichtung bei Aspho Point hat in den letzten zwanzig, dreißig Jahren Waffenleitsysteme und Avionikgeräte für die UIR entwickelt, von daher gab’s da keine Überraschungen. Aber jetzt hat sich etwas geändert. Geheimdienstberichte zeigen, dass die laufenden Avionikarbeiten Stück für Stück an andere Orte verlagert worden sind und Aspho Point sich nur noch einem einzigen Projekt widmet. Sie entwickeln dort jetzt eine Satelliten-Waffenplattform – wir haben ihr den Codenamen Hammer der Morgenröte gegeben.«
Na toll. Hoffmans Kopfhaut kribbelte. Wie weit sind uns diese verdammten Unabhängigen damit voraus?
Settile machte eine Pause, während ein allgemeines Raunen der Bestürzung um den Tisch ging. Dalyell nickte ihr zu und übernahm von da ab.
»Wenn Sie meinen, das wären die schlechten Nachrichten«, sagte er ruhig, »dann lassen Sie sich noch gesagt sein, dass die UIR innerhalb eines Jahres bereit sein könnte, diese Waffe einzusetzen. Unsere Satelliten-Plattformen stecken noch in den Kinderschuhen in Form von Computermodellen. Theorie. Jetzt wissen Sie also, weshalb Sie hier sind. Es reicht nicht aus, dieser Technologie des Feindes einen Riegel vorzuschieben. Wir müssen sie uns schnappen.«
Damit war ein Luftschlag ausgeschlossen.
Hoffman schaute wieder zu Michaelson und dieses Mal trafen sich ihre Blicke. Sie wussten jetzt beide, warum sie hier waren. Wie es aussah, war schon lange bevor irgendjemand in Uniform nach seiner Einschätzung gefragt worden war, eine Entscheidung gefallen. Der Geheimdienst der COG steckte dahinter.
»General Iver«, sagte Dalyell, »bevor heute irgendjemand diesen Raum verlässt, wünsche ich, dass ein Plan aufgestellt wird, um Aspho Point einzunehmen, die Technologie zu beschlagnahmen und die Einrichtung samt Personal zu neutralisieren. Und dieser Plan wird in den kommenden sechs Monaten umgesetzt werden. Diese Technologie wird den Krieg beenden – zu unseren Gunsten oder zugunsten der UIR, aber sie wird ihn beenden.«
Iver zögerte keine Sekunde. »Ich würde gern Ihre Prioritäten verdeutlichen, Herr Vorsitzender. Denn bei allem Respekt, eine ganze Forschungseinrichtung, abzüglich Ziegel und Mörtel, zu stehlen – und genau das verlangen Sie von uns –, ist ein wesentlich schwierigerer Auftrag, als sie einfach nur lahm zu legen.«
»Damit hätten Sie meine Prioritäten zusammengefasst, General.«
Dalyell verabschiedete sich von der Besprechung. Iver erhob sich von seinem Stuhl und starrte auf etwas, was er vor sich auf einen Notizblock gekritzelt hatte.
»Dann wollen wir mal weitermachen, Leute«, sagte er schließlich. »Heute werden wir mit der Operation Leveler beginnen. In all den Kriegsjahren, die wir nun schon hinter uns haben, stand die Koalition noch nie vor einer so entscheidenden Mission.«
Hoffman hatte oft das Gefühl, in die falsche Ära geboren worden zu sein und dass er in den stabileren und eindeutigeren Zeiten von Seras Geschichte vielleicht glücklicher gewesen wäre. Aber das hier – das war es, wozu er geboren war, auch wenn er jetzt noch nicht wusste, wie es enden würde oder was genau es war. Er fühlte sich auf sonderbare Weise glücklich.
Er hütete sich davor, zu glauben, ein einziger Sieg könnte Jahrzehnte des Kampfes abrupt beenden. Kein Krieg war so eindeutig. Und Politiker waren nicht so schlau. Aber sie konnten das Ende beschleunigen.
Er versuchte sich vorzustellen, wie eine Welt in Frieden wohl aussehen könnte und ob es für Männer wie ihn einen Platz oder eine Bestimmung in ihr gäbe.