KAPITEL 3
Die COG ist keine blutleere Maschine, du Idiot. Sie bedeutet Gesellschaft, gegenseitige Unterstützung, gegenseitige Abhängigkeit. Individualität hört sich vielleicht superedel und nach Freiheit an, aber eigentlich bedeutet es nichts anderes, als auf seine Nachbarn zu scheißen, und wenn du auf deine Nachbarn scheißt – brauchst du nicht zu erwarten, dass sie dir helfen. Regeln halten Menschen zusammen. Entweder zusammenhalten oder sterben.
(PRIVATE DOMINIC SANTIAGO IM GESPRÄCH MIT EINEM GESTRANDETEN, IN DEM ER IHM ERKLÄRT, WESHALB ER AUFHÖREN SOLLTE, DARÜBER ZU JAMMERN, DASS ER IM ZUGE DER »OPERATION LIFEBOAT« EINGEZOGEN WIRD)
SECHSUNDZWANZIG JAHRE ZUVOR, OLAFSSON-MITTELSCHULE, EPHYRA, 12 V. A.
Er war das Kind reicher Eltern, er war anders und er war neu.
Carlos Santiago hatte wirklich richtiges Mitleid mit Marcus Fenix. Ohne sich umzusehen, suchte er Zuflucht hinter einem der Schultische, so als könne er unbemerkt bleiben, wenn er nur niemandem in die Augen sah. Er sah nicht reich aus – keine schicken Klamotten, nur eine Schuluniform wie alle anderen sie auch trugen –, aber alle wussten, wer sein Vater war und wo er wohnte.
Außerdem war er groß und dürr, dazu blass, und er hatte gespenstisch hellblaue Augen, die überhaupt nicht zu seinen schwarzen Haaren passten. Er hätte sich ebenso gut eine Zielscheibe an den Rücken heften können.
Ihr Mathelehrer, Major Füller, war genauso altmodisch wie das Schulgebäude und unterrichtete, als wäre er noch bei der Armee. Er hatte sogar einen dieser Stöcke mit Messingspitze wie die Sergeants, die die Gears für Paraden drillten. Jeder Mann aus der Familie Santiago hatte in der Armee gedient, daher wusste Carlos alles darüber. Aber die Armee war sowieso überall. Sie war ein Teil des Lebens selbst, ganz besonders in der Schule. Hier, so sagte Carlos’ Vater, würde der Ethos des Militärs einen Mann aus einem machen. Carlos musste zur Welt aufschauen.
»Stell dich vor, Junge«, sagte Füller.
Marcus stand hinter seinem Tisch auf, sah sich aber nicht um. »Marcus Fenix, Sir.«
»Alter, Eltern, Geschwister?«
»Ich bin zehn Jahre alt. Meine Eltern sind Professor Adam Fenix und Doktor Elain Fenix. Ich bin ein Einzelkind.«
Oh Mann, Fenix war so was von tot. Carlos Herz wurde noch einen Tick schwerer. Marcus redete nicht einmal wie der Rest von ihnen. Er hatte einen vornehmen Akzent. Sie würden ihn ordentlich einseifen.
Füller sah aus, als würde er darauf warten, dass Marcus noch etwas sagte, aber nach längerem angespanntem Schweigen gab er es auf. »Klasse, ihr werdet ihm das Gefühl geben, Teil des Teams zu sein«, sagte er in seiner Majorsstimme. »Und ihr werdet ihn höflich behandeln. Ihr werdet euch nicht wie Straßenrüpel aufführen. Ihr werdet euch wie ordentliche Bürger benehmen. Haben wir uns verstanden?«
Ein gelangweilt murmelnder Chor antwortete: »Ja, Major Füller.«
Joshua Curzon hob die Hand. »Sir, warum ist er hier, wo er doch reich ist?«
»Glaubst du, dass hier ist eine arme Schule?«
»Na ja, wir sind alle arm …«
Füller knallte seinen Stock mit dem Krachen eines Gewehrschusses auf sein Pult. »Fenix ist hier, weil die Gesellschaft darauf aufbaut, dass alle am gleichen Strang ziehen und sich nicht in einzelne Gruppen aufspalten. Einigkeit. Denn niemand kann allein existieren. Auch kein Land. Deswegen gibt es die Koalition Ordentlicher Regierungen.« Füller wiederholte diese Ansprache so oft, dass Carlos sie auswendig konnte, und vielleicht war gerade das der Grund dafür. Wenn er aufhörte, darüber nachzudenken, ergab es absolut Sinn. »Wenn ihr euch um euren Nachbarn kümmert, wird er sich auch um euch kümmern. Vorangegangene Generationen haben euch eine reiche Welt hinterlassen, also werdet ihr denen, die nach euch kommen, auch eine reiche Welt hinterlassen. Wer immer nur am Rand steht und nur an sein eigenes Wohl denkt, wird sich nie einen Mann nennen können.«
Jep, auch das machte Sinn.
Aber Carlos wusste das alles schon, daher interessierte es ihn viel mehr, wie viel Sachen Marcus so hatte und wie groß sein Zimmer war. Wahrscheinlich hatte er den ganzen Flügel einer Villa nur für sich. Das Anwesen der Fenix’ war riesig. Einmal war Carlos zusammen mit Dom um das gesamte Grundstück herumgerannt und dabei hatte er sich überlegt, ob er über die Mauer klettern sollte, um nachzusehen, wie der Garten aussah. Aber er hatte sich das nie getraut. Wenn er Dom in Schwierigkeiten gebracht hätte, wäre seine Mom ausgenippt. Eigentlich sollte er auf seinen kleinen Bruder aufpassen und ein gutes Beispiel abgeben.
Das Anwesen sah sowieso wie ein Gefängnis aus.
»Schlagt eure Bücher auf«, sagte Füller. »Curzon, da du ja so an finanzieller Statistik interessiert bist, wirst du uns bestimmt sagen können, was du gestern darüber gelernt hast, einen Durchschnitt zu errechnen …«
Carlos zählte die Stunden bis zur Mittagspause und sah dabei dem Flug der Staubpartikel zu, die in den Lichtstrahlen der Sonne kreisten, die durch die hohen Fenster in den holzgetäfelten Wänden hinunterschien. Der Raum roch nach Beständigkeit und Bohnerwachs. Das Gebäude war mehrere hundert Jahre alt und es würde noch weitere Jahrhunderte bestehen, Krieg hin oder her. Sein Großvater konnte sich noch an den Beginn der Pendelkriege erinnern, aber Carlos nicht. Alles in allem erschien der Krieg nur halb so wild, wie alle immer behaupteten. Das Leben ging weiter.
Außerdem fand der wahre Krieg hier an der Olafsson-Mittelschule statt. Beim Mittagessen behielt Carlos Marcus genau im Auge, nur für den Fall. Niemand hatte sich an dem langen Tisch im Speisesaal neben ihn gesetzt. Sie beobachteten ihn alle nur. Er sagte kein einziges Wort. Schließlich hielt Carlos es nicht mehr aus, nahm sein Tablett und setzte sich neben ihn.
»Ich bin Carlos Santiago«, sagte er. »Was ist hinter der Mauer um euer Haus? Die Mauer an der Allfathers Avenue.«
»Obstgarten«, antwortete Marcus, ohne ihn anzusehen.
»Cool.« Carlos nickte anerkennend. »Wo bist du bisher zur Schule gegangen?«
»Privatlehrer.«
Das erklärte einiges. »Ist gar nicht so schlecht hier. Hey, ich hab deinen Vater mal in den Nachrichten gesehen. Der ist berühmt. Ein Wissenschaftler.«
Marcus drehte sich zu Carlos und sah ihn an. »Er sagt immer, er wäre Ingenieur und meine Mutter wäre die Wissenschaftlerin. Er war einmal ein Gear.«
»Mein Dad war auch ein Gear. Und mein Großvater auch. Und meine Onkels und Tante Rosa. Ich werd auch mal einer.« »Das hast du schon entschieden?« »Ist voll cool. Wie in einer Familie, ehrlich.« Marcus schien eine Weile darüber nachzudenken. COG-Offiziere wie sein Vater – der konnte nur ein Offizier und kein gewöhnlicher Gear sein – sahen das vielleicht anders.
Carlos blieb das ganze Mittagessen über bei Marcus. Er wollte den anderen nicht die Chance lassen, ihn zu schikanieren. Das passierte noch, aber so oder so wäre es schnell wieder vorbei. Carlos hatte das Gefühl, Marcus habe eine härtere Zeit vor sich als jeder andere. Er war nicht sonderlich gesprächig. Carlos fragte sich, ob Marcus ihn einfach nicht mochte, aber es schien eher, als würde er nur nicht wissen, was er tun oder sagen sollte.
Als alle der Reihe nach ins Hauptgebäude gingen, versperrten Joshua Curzon und sein Bruder Roland – ein Jahr älter – Carlos den Weg. »Der glaubt also, er war was Besseres als wir …« Damit hätte er Carlos, Marcus oder beide meinen können. Carlos wusste, dass er sich bei einer Prügelei behaupten konnte, also beschloss er, Joshua gleich mal den Kopf zurechtzurücken. Er leistete Marcus vom Fleck weg Schützenhilfe, genau so, wie er es für Dom tat. »Er ist in Ordnung. Lass ihn zufrieden.« »Du schleimst dich doch bloß bei ihm ein, weil er reich ist«, spottete Joshua. »Snob. Du bist ein arschkriechender Snob, Santiago.« »Und du bist ein Vollidiot. Lass ihn in Ruhe.« Damit hatte Carlos ihm den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen. Joshua nahm die Herausforderung an. »Das nimmst du zurück.«
»Du kannst mich mal.«
»Ach ja?«
»Ja.« Carlos drängelte sich an ihm vorbei, aber damit war die Sache noch nicht vorbei. Das wusste er.
Die letzte Stunde des Nachmittags wurde für gewöhnlich damit zugebracht, Thrashball zu spielen. Carlos nahm an, das läge daran, dass die Lehrkräfte vor Dienstschluss noch eine ruhige Kugel schieben wollten, aber es war auch eine günstige Gelegenheit, um Streitigkeiten zu klären, die sich über den Tag angesammelt hatten. Carlos sorgte dafür, dass Marcus in sein Team kam, damit er nicht darauf warten musste, ausgewählt zu werden. Joshua starrte Carlos mit diesem »Du bist tot«-Blick an.
Es dauerte nicht lange, bis sich Joshua im Strafraum auf den Ball stürzte und Carlos dabei seinen Ellbogen in den Rücken rammte. Carlos wartete, bis die Sichtlinie des Spielleiters kurz unterbrochen war, und trat Joshua mit dem Stiefel gegen den Knöchel, was ihm sogar einen Schrei entlockte.
Das tut weh, was?
»Hör aufzujammern, Curzon.« Der Spielleiter gab das Zeichen zum Weiterspielen. Vielleicht war er der Meinung, das Ganze diene sowieso nur dazu, sie härter zu machen. »Sonst versetze ich euch in die Mädchengruppe.«
Marcus rannte vor, um Carlos zu decken. Er war nicht gerade der sportliche Typ, aber er war groß und konnte einen Pass mit Leichtigkeit abfangen. Er schien jedoch überrascht, den Ball gefangen zu haben, und hielt für eine Sekunde inne. Joshua attackierte ihn mit sehr viel mehr Wucht, als nötig war, und Marcus fiel kopfüber zu Boden. Er sprang wieder auf und sah eher verwirrt als verletzt aus, aber Carlos wollte das nicht durchgehen lassen.
Als sie das Spielfeld verließen und außer Sichtweite des Spielleiters waren, ging Carlos direkt zu Joshua. »Ich hab dir gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen …«
»Oh, hab ich ja ganz vergessen, du bist ja sein bester Freund.«
»Das ist sein erster Tag. Gib ihm ’ne Chance.«
Damit hätte es eigentlich zu Ende sein sollen, aber das war es natürlich nicht. Marcus setzte sich im Umkleideraum neben Carlos auf die Bank. Sie waren die letzten beiden.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte Marcus. »Ich komm schon klar.«
»Aber es ist nicht fair.«
Marcus zuckte mit den Schultern. Es sah nicht so aus, als wolle er aufgeben. Vielmehr schien es ihm einfach egal zu sein. »Ich geh besser nach Hause.«
Carlos verkniff sich den Vorschlag, Marcus nach draußen zu begleiten, damit es nicht so aussah, als würde er ihn wie ein kleines Kind behandeln. Es war schwer zu erklären, weshalb er sich für Marcus verantwortlich fühlte, aber so war es nun mal, und jetzt, wo er den Job übernommen hatte, konnte er ihn nach nur ein paar Stunden nicht wieder aufgeben. Das wäre ihm feige und einfach nur falsch vorgekommen.
Er ging sowieso als Erster, nur um sicherzugehen, dass die Luft rein war.
Das war sie nicht. Draußen, im Schatten des Säulenganges, warteten Joshua und Roland Curzon, die Hände in den Taschen vergraben und einen ihrer Kumpels neben sich. Carlos richtete sich auf und blieb standhaft.
»Du glaubst echt, du wärst knallhart, was, Santiago?«, sagte Joshua. Er zog die Hände aus den Taschen und Carlos wusste, was jetzt kam. »Du musst immer den Chef spielen, der uns sagt, was wir tun sollen.«
»Und was willst du dagegen tun?«
»Das hier«, sagte Joshua, als hätte er den Spruch in einem Film gehört und schlug zu.
Carlos war vorbereitet, aber es tat trotzdem weh. Und es war laut. Sofort hatte er den Geschmack von Blut im Mund und das Krachen von Knochen auf Knochen ließ seine Ohren klingeln. Wie automatisch schlug er zurück, folgte einfach seinen Fäusten, und während er blindlings auf Joshua eindrosch, spürte er jemanden hinter sich.
Ich kann’s mit zweien von ihnen aufnehmen. Oder? Mom bringt mich um, wenn ich wieder komplett abgerissen nach Hause komme.
Aber es war nicht Roland, der sich einmischte, und auch nicht der andere Typ. Eine unbekannte Hand schnellte vor, packte Joshua am Kragen und riss ihn seitwärts zu Boden.
Es war Marcus.
Roland Curzon sprang vor, um seinen kleinen Bruder zu verteidigen, und landete einen Treffer direkt über Marcus’ Auge. Für einen Sekundenbruchteil erstarrte Carlos und überlegte, ob er auf Roland losgehen oder Joshua am Boden halten sollte. Aber er hatte Marcus Fenix völlig falsch eingeschätzt.
Marcus rächte sich an Roland mit einem gezielten Schlag ins Gesicht, platziert, als wäre es ihm wirklich ernst, wie ein Boxer, und Carlos konnte hören, wie er dabei vor Anstrengung ächzte. Roland torkelte zurück. Für einen Augenblick trat eine schauderhafte Stille ein, bevor Roland sich mit blutender Nase und tränenfeuchten Augen wieder aufrichtete und Joshua wieder vom Boden aufstand. Ihr Kumpel stand immer noch wie angewurzelt da. So kämpften die Jungs hier nicht. Sie kämpften einfach … nicht so. Carlos hatte noch nie jemanden so zuschlagen sehen, nur Erwachsene.
Marcus wirkte völlig ruhig, als ob nichts passiert wäre. Seine Hand musste jedoch ganz schön wehtun.
»Bleib mir vom Hals«, sagte er leise. »Und Carlos auch. Sonst tu ich’s wieder.«
Und damit war es zu Ende, genauso schnell, wie es begonnen hatte. Die Curzons traten zusammen mit ihrem nutzlosen Kumpel den Rückzug an und Carlos konnte Marcus einfach nur anstarren, erschreckt von der Art und Weise, wie er gerade zugeschlagen hatte. Er sah nicht stark genug aus, um irgendjemandem so einen Hieb zu verpassen.
Marcus sah sich seine Hand an und betastete dann vorsichtig seine Braue. »Sieht man was?«, fragte er. »Ich will nicht, dass mein Dad wieder anfängt, sich Sorgen zu machen.«
»Noch nicht«, erwiderte Carlos, der gerne gesagt hätte, wie beeindruckt er war, aber nicht genau wusste, wie er reagieren sollte. »Sag ihm, es wäre beim Thrashball passiert.« Warum sollte sich sein Dad wieder Sorgen machen? Aha, vielleicht war Marcus wegen einer Prügelei von der Schule geflogen und hatte deswegen einen Hauslehrer bekommen. »Warum bist du nicht auf der Militärakademie? Dein Dad könnte den ganzen Laden kaufen.«
»Er möchte, dass ich mit Leuten in Kontakt komme.«
»Wie? Gewöhnliche Typen wie Dom und ich?«
»So hab ich’s nicht gemeint. Ich bin nur oft allein.«
»In so einem großen Haus ist das kein Wunder. Hat dein Dad dir beigebracht, zu boxen?« Die Frage lag nahe. Carlos Vater hatte ihm beigebracht, wie er auf sich aufzupassen hatte, wie man eine Faust ballt, mit der man sich nicht die Finger brach, und wie man Ärger aus dem Weg ging, es sei denn, man hatte keine andere Wahl. »Ich meine, das war heftig.«
»Nein, hat er nicht.« Marcus hörte sich einsam an. »Trotzdem danke.«
»Hey, du warst klasse. Du hast mir beigestanden. Wie echte Freunde es tun.«
Marcus hatte sich für jemanden eingesetzt, der sich für ihn eingesetzt hatte, und Carlos war der Meinung, das wäre das Beste, was man überhaupt tun konnte. Er hatte keine Angst davor, einzustecken. Und er glaubte nicht, er sei etwas besonderes oder dass Carlos unter seiner Würde wäre. Carlos hoffte, Marcus würde verstehen, dass er sich auch auf ihn verlassen konnte. Vielleicht musste er es ihm auch erst sagen. Marcus kam aus einer anderen Welt und es würde nicht einfach werden, herauszubekommen, wie er über irgendetwas dachte.
Marcus blinzelte nur ein paar Mal, so als würde das Wort »Freunde« keinen Sinn ergeben. »Wer ist Dom?«, fragte er schließlich.
»Dominic, mein kleiner Bruder. Er ist acht. Aber er ist in Ordnung.«
»Muss schön sein, einen Bruder zu haben.«
Carlos hatte sofort Mitleid mit ihm. »Hey, du kannst ihn dir ja mal ausborgen, wenn du deprimiert bist.«
»Danke.«
Vielleicht würde Marcus die ganze Sache morgen schon wieder vergessen haben oder nächste Woche, wenn er sich etwas besser eingelebt hatte.
Aber Marcus vergaß nicht. Als er am nächsten Tag zum Unterricht kam, wirkte er entspannter. Er hatte eine ziemliche Schramme über dem Auge und blieb immer noch still, aber er benahm sich, als ob er das Recht hatte, da zu sein, und sich nicht dafür entschuldigen musste, dass er anders war.
Die Curzons beherzigten die Warnung und ließen sie beide in Ruhe. Niemand musste je wieder daran erinnert werden, dass man sich mit Santiago und Fenix nicht anlegte.
DREI JAHRE SPÄTER: CARLOS SANTIAGOS ZUHAUSE
»Ich könnte schwören, der Junge wächst jedes Mal ein Stück, wenn ich wegschaue.« Eva Santiago deckte den Tisch und blieb zwischendurch immer wieder stehen, um aus dem Fenster in den Hinterhof zu sehen. »Ich kann gar nicht glauben, dass das der gleiche Bursche ist.«
Dom war unentschlossen, ob er seiner Mutter beim Mittagessen helfen oder sich bei seinem Vater, Carlos und Marcus rumtreiben sollte, die gerade einen alten Motor auseinander nahmen. Es stimmte, Marcus hatte sich in den letzten drei Jahren, seit er sich mit Carlos herumtrieb, ziemlich verändert. Er war nicht mehr so mager, er sprach anders und von Zeit zu Zeit lachte er sogar. Tatsächlich war er inzwischen größer als Carlos, so groß wie Major Füller. Er war dreizehn, aber auf Dom wirkte er jetzt schon wie ein Erwachsener.
»Dein Essen schmeckt ihm«, meinte Dom. »Du bist die beste Köchin der Welt.«
Seine Mutter fuhr ihm durchs Haar. »Was sind seine Eltern denn so für Leute?«
Dom zuckte mit den Schultern. Ein Besuch auf dem Fenix-Anwesen – in Gedanken sah er es immer in seiner ganzen Größe vor sich – war nicht so, als würde man bloß zu einem Freund nach Hause gehen, und Marcus’ Eltern waren keine Leute. Der Ort war gewaltig, voll mit teurem antikem Kram, aber es kam einem so vor, als würde dort niemand leben. Dom hatte Carlos immer versprechen müssen, bloß nichts umzuwerfen, wenn sie dort hingingen. Das geschah nicht sehr häufig.
»Sie sind nett«, antwortete Dom. »Aber ich glaube, sie wissen nicht viel über Marcus.«
»Wie kommst du denn darauf, Liebling?«
»Sie behandeln ihn nicht so, wie ihr uns behandelt.«
Mom setzte ihre Ich-will-versuchen-dich-nicht-zu-ängs-tigen-Miene auf. »Sind sie böse zu ihm?«
»Nö. Mir kommt’s nur so vor, als würden sie versuchen, herauszubekommen, wer er ist. Und er ist auch anders, wenn er zu Hause ist. Seine Stimme klingt dann anders. Du weißt schon, voll vornehm und so.«
Sie setzte ein Lächeln auf, aber es war eines von diesen traurigen, aus denen Dom nie richtig schlau wurde. »Du bist ganz schön clever, wenn es um Leute geht, Dom. Ich denke, Marcus fühlt sich oft einsam, deswegen bin ich stolz darauf, dass du und Carlos für ihn da ist.«
Dom legte die Messer und Gabeln auf den Tisch und trat dann einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern, bevor er von Mom das Nicken erhielt, das ihm erlaubte, hinaus in den Hof zu gehen. Er war nicht nur gespannt darauf, bei der Bastelei an dem Motor mitzumachen, er war auch neugierig auf die neuen Nachbarn, die zwei Häuser weiter eingezogen waren und deren Tochter schneller auf die Bäume in ihrem Hinterhof klettern konnte als irgendjemand sonst. Er meinte, gehört zu haben, dass sie Maria hieß, aber bisher hatte er noch nicht den Mut gefunden, sie anzusprechen. Er arbeitete noch daran.
Er schaute immer wieder hinauf in den Baum, aber es war nichts von ihr zu sehen. Schließlich rief Mom hinaus, dass sie aufräumen und zum Essen kommen sollten. Sie war wirklich eine tolle Köchin. Marcus bekam immer eine zweite Portion, manchmal sogar eine dritte, wahrscheinlich, weil es viel besser war als das Essen, das er zu Hause bekam, und er jedes Mal damit umging wie mit einer seltenen Delikatesse, die er nie wieder vorgesetzt bekommen würde. Mom war begeistert, dass er jedes Mal seinen Teller leer aß, und Dad war beeindruckt davon, wie viel scharfe Sauce er verputzen konnte.
»Wenn scharfe Sauce dran ist, kann man alles essen.«, sagte Dad und gab noch mehr Reis auf Marcus’ Teller. »Als ich bei den Gears war, haben wir immer darauf geachtet, dass wir bei unseren Rationen welche dabeihatten, denn manchmal war das Essen nicht so gut, weißt du? Eine ordentliche Dosis scharfe Sauce – Problem gelöst.«
Mom lachte. »Ed, meine Mahlzeiten müssen doch nicht gelöst werden, oder?«
»Natürlich nicht, Süße. Ich liebe halt scharfe Sauce.«
»Würden Sie sich wieder verpflichten lassen, Mr. Santiago?«, wollte Marcus wissen. »Es hört sich so an, als würden Sie den Dienst vermissen.«
»Oh ja, das würde ich. Die beste Zeit und die besten Freunde, die ich je gehabt habe. Und man lernt auch sein Handwerk dabei. Aber jetzt habe ich einen guten Job und ich bin auch kein Junge mehr, von daher …«
Die Armee hatte etwas Magisches an sich. Dom konnte sehen, wie sein Vater jedes Mal anfing zu strahlen, wenn er von ihr sprach. Er erzählte tolle Geschichten von den Dingen, die sein Trupp angestellt hatte, und selbst wenn er sich dann an Freunde erinnerte, die gefallen waren, und seine Augen feucht wurden, hörte es sich immer noch so an, als wollte er keine Sekunde davon missen. Es war eine Welt für sich. Und alles hörte sich so lebendig an, als wäre es der einzige Platz, an dem man wahrhaft lebte, auch wenn man nicht wusste, ob man nicht schon am nächsten Tag umkam.
»Du hast deinen Dienst erfüllt.« Mom konnte es nicht gutheißen. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Du musst dich für deinen Austritt nicht entschuldigen. Das Land muss in Schwung bleiben, und den Verkehr am Laufen zu halten, ist dabei genauso wichtig wie kämpfen.«
Dad lächelte, aber er sah nicht so aus, als würde er das glauben. »Hast du schon mal ans Militär gedacht, Marcus?«, fragte Dad.
Marcus zögerte. »Das habe ich, Sir.«
Carlos unterbrach, so als wollte er nicht, dass Marcus weitersprach. »Also, ich melde mich, sobald ich achtzehn bin. Vielleicht schon mit sechzehn.«
»Du wirst die Schule nicht vorzeitig abbrechen«, sagte Mom mit Nachdruck. »Du bleibst, bis du achtzehn bist. Wenn der Krieg schlimmer wird, wirst du vielleicht sowieso eingezogen.«
»Ich muss nicht eingezogen werden.« Carlos redete, als würde es schon morgen geschehen. Aber es waren noch fünf Jahre hin, eine Ewigkeit. Fünf Jahre in die Zukunft konnte sich Dom überhaupt nicht vorstellen. »Ich will es tun.«
Marcus sagte nichts, aber ganz gleich, wie schwer es für gewöhnlich war, herauszufinden, was er fühlte, so war es doch an seinem kurzen Stirnrunzeln und der Art, wie er mit seiner Gabel herumspielte, klar erkennbar. Dom hatte nicht das Gefühl, an der Unterhaltung teilnehmen zu können, die plötzlich um beunruhigenden Erwachsenenkram kreiste, der ihm zu hoch war. Eines stand jedoch fest: Carlos würde zur Armee gehen und dann wäre Dom allein.
Und Marcus auch.
Deswegen der Ausdruck auf seinem Gesicht. Er musste aufs College gehen, weil sein Vater wollte, dass er Ingenieur wurde, eine Art wissenschaftlicher Ingenieur, nicht ein Mechaniker wie Eduardo Santiago.
Er und Carlos würden getrennte Wege gehen müssen und Dom konnte sehen, dass ihn diese Erkenntnis erschütterte. Die beiden waren unzertrennlich. Genau dieses Wort gebrauchte seine Mutter: unzertrennlich.
Nein. Wir sind wie Brüder. Das ist noch viel extremer.
»Darüber müsst ihr euch noch eine ganze Weile nicht den Kopf zerbrechen«, sagte Dad. »Ihr seid noch jung. Genießt eure Jugend, solange ihr könnt.«
Der Themenwechsel hob die Stimmung ein wenig, aber Dom fing jetzt an, den Krieg nicht mehr als etwas anzusehen, was sich im Hintergrund abspielte und keinen Einfluss auf sein Leben hatte, sondern als eine reale Bedrohung für alles, was ihn glücklich machte. Er wäre gerade mal sechzehn, wenn Carlos sich zum Militär melden würde, und Mom hatte klargestellt, dass sie die Schule zu Ende bringen mussten. Der Gedanke nagte für den Rest des Tages an ihm.
Nach dem Mittagessen gingen sie zurück in den Hinterhof, um den Motor wieder zusammenzusetzen. Dom versuchte, nicht mehr über den Krieg und die Armee nachzudenken, aber selbst die Frage, wann Maria wohl auftauchen würde, konnte ihn nicht von seiner Grübelei ablenken.
Dazu musste erst etwas Schlimmes passieren.
Mom kam mit weit aufgerissenen Augen aus der Hintertür, so als hätte sie irgendetwas zutiefst erschreckt.
»Marcus«, rief sie. »Marcus, mein Lieber, kommst du bitte mal? Dein Vater will mit dir sprechen. Es ist wichtig.«
Marcus erstarrte. Seine Eltern riefen sonst nie hier an, also war die Sache ernst. Sollte er wegen irgendetwas Ärger bekommen? Nein, Marcus machte nie etwas falsch. Er legte sein Werkzeug hin und ging ins Haus, um den Anruf entgegenzunehmen, und Carlos wollte ihm folgen, aber Mom legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten.
»Sei später für ihn da«, sagte sie leise. »Er wird ziemlich aufgewühlt sein. Ich bleibe bei ihm, bis sein Vater ihn abholt.«
Sie winkte Dad zu sich und sie gingen ins Haus.
»Was ist los?«, wollte Dom wissen.
»Ich weiß nicht.« Carlos ging zur Hintertür, trat aber nicht über die Schwelle. Er versuchte, zu lauschen, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kann nichts hören. Muss wirklich schlimm sein, ganz egal, was es ist.«
Marcus kam nicht wieder nach draußen. Kurze Zeit später hörte Carlos vor dem Haus einen Wagen vorfahren und dann kamen Mom und Dad wieder in den Hof.
»Es geht um seine Mutter«, erklärte Mom. »Sie wird vermisst. Sein Vater sagt, sie sei nicht wieder von der Arbeit zurückgekommen.«
»Vermisst … etwa entführt?«, fragte Carlos. »Oder ermordet?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Menschen verschwinden aus den verschiedensten Gründen, Sohn. Normalerweise tauchen sie wieder auf. Es wird schon alles gut gehen. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein, was wir zu Marcus sagen. Er wird eine schwere Zeit haben, bis sie wieder zurück ist.«
Dom folgte Carlos’ Beispiel und sagte nichts. Er dachte zuerst nicht an eine Entführung, sondern dass Marcus’ Mutter es vielleicht so gemacht hätte wie Mrs.. Garcia, die eine Straße weiter gewohnt hatte und die abgehauen war, weil sie ihren Mann nicht mehr leiden konnte. Sie hatte auch ihre Kinder sitzen lassen. Mütter taten so etwas manchmal.
Carlos ließ den Motor Motor sein und ging auf sein Zimmer. Dom gab ihm fünf Minuten und folgte ihm dann.
»Wann werden wir Marcus denn wieder sehen?«
»Ich rufe ihn später mal an«, erwiderte Carlos. Er sah verängstigt aus. »Er muss ja auch zum Unterricht kommen.«
»Was, wenn sie nicht einfach fortgelaufen, sondern tot ist?«
»Dann werden wir uns um ihn kümmern«, antwortete Carlos. »So machen es Freunde. So machen es Brüder.«
Mrs. Fenix tauchte am nächsten Tag nicht wieder auf und auch nicht in der nächsten Woche. Ganz wie es seine Art war, erschien Marcus nach einem Tag Abwesenheit wieder zum Unterricht und verlor kein Wort über die Angelegenheit. Carlos wartete geduldig darauf, dass er etwas sagen würde, und Dom musste ihm versprechen, dass er ihm keine Fragen stellen würde, solange er nicht bereit wäre, darüber zu sprechen.
Nach dem Mittagessen aßen die drei auf den Treppenstufen zum Schulhof und starrten schweigend in die Schulbücher auf ihren Knien.
»Sie kommt nicht zurück«, sagte Marcus plötzlich.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Carlos.
»Dad will mir nicht sagen, wo sie hätte sein sollen.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Dom.
Marcus starrte auf seine Hände. »Du weißt doch, wie es in Filmen läuft. Wenn jemand vermisst wird, dann verfolgt man seine Schritte zurück. Ich wollte wissen, wo sie hätte sein sollen, aber Dad wollte es mir nicht sagen. Und warum nicht? Weil er wissen muss, wo sie hingegangen ist, und glaubt, es würde mich noch mehr beunruhigen, wenn er es mir sagt.« Für Marcus’ Maßstäbe war das eine ziemlich lange Erklärung. »Also ist sie vielleicht einfach abgehauen. Vielleicht war sie wegen irgendetwas verärgert.«
Er brauchte nicht hinzuzufügen, dass er sich Sorgen machte, das »irgendetwas« könne er sein. Dom sah es ihm an. Marcus’ Beziehung zu seinen Eltern war nicht so unbekümmert wie die der Santiagos, trotzdem kam es Dom seltsam vor, zu glauben, es könnte seine eigene Schuld sein, wenn sie wirklich abgehauen wäre. Dom war schon im Begriff, zu sagen, dass es wahrscheinlich die Schuld seines Vaters war, so wie bei Mrs. Garcia, aber Carlos hielt ihn davon ab, noch bevor er den Mund öffnen konnte.
»Ich glaub nicht, dass sie wirklich abgehauen ist, Marcus«, sagte Carlos. »Sucht die Polizei nach ihr?«
»Dad hat sie als vermisst gemeldet, also müssen sie’s wohl.« Mrs. Fenix blieb verschollen und an Marcus’ vierzehntem Geburtstag, vier Monate später, hatte man sie immer noch nicht gefunden. Marcus sprach nicht mehr von ihr. Dafür verbrachte er sehr viel mehr Zeit mit Dom und Carlos, so als wolle er überhaupt nicht mehr nach Hause. Mom und Dad ließen ihn bleiben, solange er wollte, aber manchmal hörte Dom, wie sie sich spät nachts in der Küche darüber unterhielten, was für eine Schande es wäre, dass der Junge so tief gekränkt war, dass er nicht einmal bei seinem eigenen Vater sein wollte. In der Familie Fenix schien man nicht besonders viel miteinander zu sprechen. Aber das ging in Ordnung. Marcus hatte die Santiagos und die hatten genug Zeit und Worte für einen weiteren Bruder übrig.