KAPITEL 8
Vielleicht will ich ja gar nicht von der COG beschützt werden. Vielleicht bin ich ja besorgt, dass ich deswegen zu viel für euch Arschlöcher aufgeben muss. Und wenn jemals wieder alles normal wird, bin ich nicht sicher, ob mir euer »normal« überhaupt gefällt.
(FRANKLIN TSOKO, EINER DER GESTRANDETEN, BEI DER ABLEHNUNG EINER WEITEREN EINLADUNG VON DOM, SICH DER COG ANZUSCHLIESSEN)
LANDWIRTSCHAFTSDEPOT NORTH GATE, HEUTE, 14 N. A.
Es waren die Hühner, die Dom wieder an die Vergangenheit erinnerten.
Als der Armadillo durch die Sicherheitstore auf das Gelände rollte, konnte er sie riechen, aber nicht sehen. Geflügel aus Käfighaltung roch nach beißender, ammoniakdurchtränkter Scheiße, ein fremdartiger Geruch für seine Stadtnase, aber er wusste genau, was es war.
Ein Pionier kam im Laufschritt zu dem APC gerannt, als Dom ausstieg, um seine Befehle entgegenzunehmen.
»Immer den Marshals folgen, Kettensäge«, bellte er. Er sah älter als Hoffman aus. Auf seinem Namensschild stand PAR-RY L. und er hatte hier den Oberbefehl, ein Mann, dem man besser nicht blöd kam. »Haltet den Verladebereich frei. Die Laster brauchen Platz zum Manövrieren. Parkt eure Dillos bei den Toren.« Parry legte Daumen und Zeigefinger an den Mund und gab einen gellenden Pfiff ab. Wie aus dem Nichts erschien ein Haufen Männer und Frauen in gammeligen COE-Arbeitsanzügen. »Okay, Leute, so schnell ihr könnt!«
Es war das Ingenieurkorps der Koalition, Soldaten, die Dom nur selten zu Gesicht bekam, ganz zu schweigen davon, dass er mit ihnen redete. Sie sahen nicht so aus, als würden sie drei anständige Mahlzeiten am Tag bekommen, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie dünn und ausgemergelt sie im Vergleich zu Gears wie ihm aussahen. Auch in der Armee gab es eine, wie Hoffman es bezeichnete, Bedarfshierarchie; zuerst die Fronttruppen, dann die Unterstützung. Dom fragte sich, ob sie die Kampf-Gears genauso hassten, wie die Gestrandeten es taten.
Er sprang wieder auf den Fahrersitz und setzte den APC zurück zum Absperrungszaun, mit der Schnauze nach draußen zur raschen Abfahrt. Marcus stieg aus und sah sich auf dem Gelände um. Es erinnerte Dom an das Deck eines Flugzeugträgers: Die Pioniere hatten einen Plan, und ganz gleich wie chaotisch es für ihn aussah, war er geprüft und erprobt. Der Bereich füllte sich allmählich mit einer bunten Mischung an Fahrzeugen, die alle an eine exakt bestimmte Position dirigiert wurden und sofort wieder umparken mussten, wenn sie ihren Platz nicht auf Anhieb genau trafen.
Er konnte jetzt auch sehen, warum. Die Gabelstapler konnten sich kaum durch die Lücken zwängen. Wo nicht gerade ein Gabelstapler Paletten voller Kisten verlud, wurden Menschenketten gebildet, um Kartons und Säcke zu verladen. Er stieg aus und kletterte mit Rojas auf die Haube des APC, um einen besseren Blick zu haben.
»Scheiße, das ist choreographiert«, staunte Rojas. »Voll geil.« Ein riesiger Kran schwenkte glänzende Stahlfässer auf die Ladefläche eines Achtachsers. »Ich seh die Typen sonst nie. Wie zum Teufel haben die das ganze Zeug in ein paar Tagen zusammengepackt?«
Ein Pionier ging an dem APC vorbei. »Indem wir nicht geschlafen haben«, knurrte er. »Was glaubt ihr Wichser eigentlich, wer die Stadt am Laufen hält, wenn die Maden die Wasserleitungen zerlegen?«
Oh, und wie sie die Gears hassten. Es war aber auch ein Scheißjob, unsichtbar und unbesungen. Dom sah zu, wie Marcus ein paar Schritte mit dem Pionier mitging, ein paar Worte mit ihm wechselte, die Dom nicht verstand, und ihm dann etwas aus seiner Gürteltasche gab. Dom hätte voraussagen können, was er tun würde. Verpackungsfolie glitzerte auf. Rationsriegel waren nicht nur Schwarzwährung, sie bedeuteten Kommunikation, Entschuldigung, Ermutigung, Kameradschaft, Sympathie – ja, sogar Schuld.
»Können wir ihnen unter die Arme greifen?«, rief Dom hinüber. »Acht stramme Jungs hier, die ’nen ordentlichen Satz Schultern auf den Rücken montiert haben, und da schließe ich Bernie mit ein.« Natürlich konnte sie ihn über Funk hören. »Nichts für ungut, Sergeant.«
»Nein, er meint, sie kommen zurecht. Die Lastermannschaften können die Lücken füllen.« Marcus schlenderte zurück und winkte Dom von der Haube herunter, damit er Jack losschicken konnte. Der Bot hob aus seinem Gehäuse ab, schwebte geduldig in der Luft und probierte seine Arme aus, während er auf Instruktionen wartete. Marcus legte Zeige- und Mittelfinger an seinen Ohrstöpsel. »Delta an Zentrale, stehen abgesichert in North Gate. Wie sieht’s mit der Zeit aus?«
»Delta, der letzte gemeldete Locust-Überfall liegt eine Stunde zurück. Außerdem erhalten wir Berichte über Absenkungen zwei Klicks östlich von euch.«
»Ich schicke Jack auf eine Aufklärungsrunde. Steuerung übergebe ich an dich, Lieutenant.«
»Danke, Marcus.«
Dom sagte kein Wort und Rojas schien den Rutsch in die Ungezwungenheit gar nicht zu bemerken. Doms und Marcus’ Blicke kreuzten sich, gerade als Hoffmans APC heranfuhr und neben ihnen anhielt.
»Zu viel Schnee von gestern, Kumpel«, murmelte Marcus. »So ist es gnädiger.«
Für sie oder für dich? Dom fragte nicht. Hoffman stolzierte zu Marcus herüber und sah zu, wie Jack in der Luft drehte und über den Absperrungszaun verschwand. Die letzte Abteilung der Laster rollte mit dem dritten APC als Nachhut durch die Tore.
»Die Maden bewegen sich mit zehn bis fünfzehn Metern pro Stunde«, sagte Hoffman. »Das gibt uns sehr viel mehr Zeit als erwartet. Aber es sind hinterhältige Bastarde, also werden wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Die können den Boden sehr viel schneller aufreißen.«
Baird gesellte sich zu der Unterhaltung. »Vielleicht wühlen sie tiefer.«
»Haben Sie eine Theorie, Corporal?«
»Ja, Colonel, die hab ich. Wir stellen hier jede Menge Vermutungen darüber an, was sie tun. Nur weil sie sich in diese Richtung bewegen, heißt das noch lange nicht, dass das auch das Ziel ist. Das ist Menschen-Denke, aber nicht Maden-Denke.«
Hin und wieder musste Dom daran erinnert werden, warum Baird die täglichen Essensrationen von drei netten, normalen Menschen wert war. In Wirklichkeit war er ein Plus. Er konnte knallhart kämpfen und er war ein außergewöhnlicher Mechaniker, aber er wusste auch eine Menge über die Maden.
Cole meinte, das käme daher, dass er mal was mit einer gehabt hatte. Dom wusste nicht, wie er es anstellte, aber wenn es um die Locust ging, hatte Baird genauso oft recht wie die Wissenschaftler. Dass er immer noch am Leben war, bewies das.
Hoffman sah ihn für einen langen, schweigsamen Moment an. Baird zog seine Schutzbrille hinunter und erwiderte seinen Blick.
»Also umso mehr Grund, hier so schnell wie möglich zu verschwinden«, sagte Hoffman und stiefelte in die Richtung von Parry, der an der Heckklappe eines Lasters stand und ein Klemmbrett abhakte. »Spieß, haben Sie ’nen Augenblick Zeit?«
Der normale Arbeitstag des Delta-Trupps war für gewöhnlich unkompliziert und ließ kaum Zeit zum Nachdenken. Dom wartete entweder darauf, zu sehen, was ihn an der nächsten Ecke umlegen wollte, legte an der nächsten Ecke selbst irgendwas um, schlug sich vor dem nächsten Feindkontakt den Bauch so voll wie möglich oder fiel vor Erschöpfung in einen so tiefen Schlaf, dass er selten aufwachte, ohne dass ihn jemand rüttelte oder ihm eine Alarmsirene in die Ohren plärrte. Er wusste nicht, was er mit diesem Moment des Nichtstuns anfangen sollte. Freizeit, wenn er sich welche abkneifen konnte, wurde damit verbracht, nach Maria zu suchen. Dann wanderte er durch die schuttübersäten Straßen und sprach mit Gestrandeten, in der Hoffnung, sie hätten sie vielleicht gesehen.
Zehn Jahre. Scheiße, zehn Jahre. Wie sie jetzt wohl aussieht?
Aber er würde nicht aufgeben.
Bernie Mataki war vierzehn Jahre nach Tag A wieder aufgetaucht. Dom ertappte sich dabei, diese Zeitspanne mit einzuberechnen, um sich Hoffnung auf eine Verlängerung bei der Suche nach Maria zu machen, denn so lange konnten Menschen überleben. Vierzehn Jahre. Noch vier übrig.
Aber Bernie ist eine Überlebensexpertin.
Maria war jünger. Sie befand sich in ihrer Heimatstadt. Sie könnte vielleicht -
Scheiße, er hatte schon viel zu oft auf diese Weise mit sich geschachert. Er starrte hinunter auf sein Gewehr, das an seinem Riemen baumelte, und fuhr mit den Fingerspitzen über die Zähne der Kettensäge. Bernie legte ihm ihre Hand aufs Handgelenk.
»Ich kann dir meine Nagelfeile borgen, Dom.«
Manchmal half es, gestört zu werden. »Hey, ich hab mich wieder erinnert. Du und dieses verdammte Huhn.«
»Ich hab mich schon gefragt, wie lange du dazu brauchst.« Bernie lachte. »Wer war noch gleich der Junge bei dir, der, dem ich helfen musste? Georg Soundso …«
»Timiou«, sagte Dom. »Er wurde ein Jahr nach Carlos getötet.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum mir das noch Bauchschmerzen macht. Die meisten Gears, die ich ausgebildet oder mit denen ich gedient habe, sind inzwischen wahrscheinlich tot. Ich will es einfach nicht zur Routine werden lassen. Wenn ich einfach nur mit den Schultern zucke, könnte ich genauso gut auf ihre Gräber pissen.«
Dom erhaschte einen Blick auf Marcus, Rojas und Cole, die gerade Kisten in einen gepanzerten Laster luden und sich dabei wahrscheinlich mit schlechtem Gewissen langweilten. Neben all den anderen sahen sie aus wie eine völlig andere Art Mensch. Baird lehnte an einem Zaun und schaute dem Treiben zu und Kaliso schaute Baird zu, so als würde er gleich zu ihm hinübergehen, um ihm einen seiner verrückten philosophischen Vorträge über Leben, Tod und Locust-Eingeweide zu halten. Diese paar Sekunden verrieten Dom alles, was er über seinen Trupp wissen musste.
Aber es gab noch tausend Dinge, die er nicht über Bernie wusste. »Wie schwer war es, die ganze Zeit auf der Straße zu überleben? Oder bekomme ich jetzt den Preis für die beknackteste Frage des Jahres?«
»Schwer«, antwortete sie. »Selbst für mich. Selbst für einen Gear.«
»Inwiefern?«
»Nicht zu wissen, wer noch da draußen ist. Keinen Funk zu haben. Festzustellen, wie schnell sich Menschen in Scheißköpfe und Vergewaltiger und Ungeziefer verwandeln, wenn niemand da ist, der ihnen etwas Zivilisation einhämmert.« Bernie spreizte ihre rechte Hand ein paar Mal, so als müsse sie ausprobieren, ob sie noch funktionierte. »Auf der positiven Seite habe ich eine Menge interessanter Tiere gegessen.«
»Du weißt, warum ich frage.«
»Deine Frau, nicht wahr?«
»Ja.« Er schluckte schwer. »Sie hat wirklich üble Depressionen bekommen, nachdem unsere Kinder gestorben waren. Ich meine übel. Sie hat wochenlang nicht gesprochen, nichts gegessen. Und dann, als ich eines Tages nach Hause kam, war sie nicht mehr da.«
Für einen Sekundenbruchteil verriet Bernies Gesichtsausdruck alles, aber sie steckte es wie ein Profi weg und strahlte gleich wieder volle Zuversicht aus. Sergeants waren im Allgemeinen gut darin, einem das Gefühl zu geben, man könne alles schaffen. Sogar Marcus konnte das, auch wenn er dazu keine fröhlichen Aufmunterungen aussprach.
»In Ordnung, ich werde dir bei deiner Suche helfen«, sagte sie. So einfach ging das. »Du wirst sie finden.«
Selbst nach zehn qualvollen Jahren hoben diese Worte im Nu Doms Stimmung. »Danke«, sagte er. »Carlos hat wirklich viel auf dich gehalten. Er hat sich nie in jemandem getäuscht. Versprich mir, dass du mir die Geschichten von ihm erzählst.«
Bernie nickte. »Klar werd ich das.«
Sie schien jedoch nicht bereit, es gleich zu tun. Da sie keinen weiteren Gesprächsstoff hatten, halfen sie dabei, einen Laster zu beladen. Es war wie beim Verfrachten von Munition und die Pioniere passten auf, dass auf jeden Laster eine Mischung an Vorräten geladen wurde.
»Für den Fall, dass wir ein paar Fahrzeuge verlieren«, erklärte einer der Corporals. »Auf diese Weise kommt von allem etwas durch.«
Sogar Hoffman packte mit an und schleppte Säcke mit Korn. Cole stupste Dom im Vorbeigehen an. Colonels taten so etwas nicht.
»Scheiße, dem Kerl kann man echt nie vorwerfen, sich den Arsch breitzusitzen oder sich zu fein für die Schwitzerei zu sein …«
Aber er wollte Marcus verrecken lassen. Seine Befehle. Lasst ihn im Gefängnis, nicht evakuieren.
Dom wartete immer noch darauf, dass Marcus es zur Sprache brachte.
Alles lief bestens, bis plötzlich die Stimme von Anya Stroud in seinen Ohrstöpsel platzte, sodass er zusammenzuckte.
»Zentrale an Delta. Ich bekomme Bildübertragungen von Jack – es sind Drohnen an der Oberfläche und sie bewegen sich in eure Richtung. Ein Raven ist unterwegs zum Abfangen.«
Hoffman fiel ihr ins Wort. »Schicken Sie ihn hierher, Lieutenant. Sammeln Sie uns ein und wir greifen sie an.«
»Ja, Colonel. Fünf bis sechs Minuten. Bereithalten.«
Hoffman schien zum Leben zu erwachen, als würde er sich plötzlich erinnern, wer er bei Aspho Point gewesen war.
Es machte ihn um Jahre jünger. »Rojas – Sie bleiben bei den APCs. Die müssen mobil bleiben. Der Rest von euch – mit mir.«
Sein Tonfall war beinahe freundlich – jedenfalls für Hoffmans Maßstäbe. Zuerst dachte Dom, dass er keinen unerfahrenen Jungen bei sich haben wollte, aber dann kam ihm ein anderer Gedanke. Vielleicht dachte er, die Familie Rojas hätte schon genug Söhne verloren.
Scheiße, ich muss immer noch feststellen, dass ich niemanden so gut kenne, wie ich dachte.
Der Mann war auf penible Weise fair. Und dadurch war seine Einstellung Marcus gegenüber umso schwerer zu ergründen.
KING RAVEN A-108, ZWEI KILOMETER ÖSTLICH VON NORTH GATE
»Colonel«, sagte der Bordschütze und lehnte sich auf die Bordkanone, »wir können Sie direkt auf dem Boden absetzen. Gehört alles zum Service.«
Hoffman überprüfte sein Gewehr. »Bringt nichts, wenn Sie sich unnötigem Beschuss aussetzen, Barber. Halten Sie sich nur bereit, um uns wieder rauszuholen.«
Hoffman kam nicht halb so oft dazu, einen Lancer zu benutzen, wie er es nötig gehabt hätte. Er wusste, dass die Gears ihn anstarrten und wahrscheinlich dachten, er wäre ein erbärmlicher alter Sack, der versucht, den jüngeren Kerlen zu beweisen, dass er es immer noch draufhat.
Vielleicht verstand nur Mataki wirklich, worum es ging. Ein ähnlicher Drang hatte sie über halb Sera geführt. Wenn man mehr Leben hinter sich hatte als vor sich – nicht die Möglichkeit, im Gefecht zu sterben, sondern die unmittelbare Gewissheit endgültigen Verfalls, da ließ das Schicksal sich kein Schnippchen schlagen –, sahen die Dinge anders aus.
»Sir, sind Sie sich da ganz sicher?« Der Pilot, Sorotki, mischte sich ein. Offenbar wollte er einen toten Colonel in seinem Dienst vermeiden.
»Was ist denn los? Angst, die Menschheit hätte am Ende etwas noch Verrückteres als einen Raven-Flieger hervorgebracht?«
Sorotki drehte sich so weit in seinem Sitz herum wie er konnte. Die Kabine war voll besetzt mit Gears, ziemlich eng bei sieben Personen, auch wenn eine von ihnen eine Frau war. Hoffman konnte gerade so die Oberseite von Sorotkis Helm sehen.
»Das ist biologisch gar nicht möglich, Sir«, erwiderte Sorotki und tauchte den Raven knapp unter die Dachlinie.
Er folgte den Überresten der Hauptstraße nach Süden Richtung Küste, überflog zerklüftete Stümpfe ehemaliger Büroblocks und ging auf fünf Meter hinunter, um eine Weile zwischen den Gebäuden hindurchzufliegen. Es fiel nicht immer leicht, die Locust aus der Luft aufzuspüren. Die Zentrale verließ sich darauf, dass Jack das Gebiet aufklärte und Koordinaten zurücksendete, aber auch das war nicht bombensicher. Der kleine Bot konnte nur ein begrenztes Gebiet erfassen. Wenn er dem Feind zu nahe kam, war er dem Risiko, Feuer auf sich zu ziehen, ebenso ausgeliefert wie Menschen und heutzutage war es unmöglich, diese Maschinen zu ersetzen. Hoffman konnte sich an Zeiten erinnern, in denen es diese fliegenden Schraubeneimer kistenweise gab.
»Colonel, meinen Sie, wir haben den Wendepunkt erreicht?«, fragte Barber. »Die Gestrandeten scheinen es zu glauben. Die sind wie Ratten. Die spüren allen möglichen Kram lange vor uns. Und wir sehen nicht mehr annähernd so viele Maden wie früher.«
Hoffman sehnte sich danach, zur Abwechslung mal etwas Hoffnungsvolles zu sagen, aber er konnte nicht. »Das wurde ich in den letzten Tagen häufig gefragt. Und meine Antwort ist immer die gleiche. Ich weiß es nicht. Ich dachte, die Pendelkriege wären vorbei, als wir den Hammer der Morgenröte in die Finger bekamen, aber sie gingen trotzdem noch jahrelang mit Gott weiß wie vielen Verlusten weiter.«
»Dreißigtausend«, sagte Kaliso ruhig. Er hielt seinen Lancer mit dem Kolben am Boden und beiden Händen um die Mündung, wie die Ehrengarde bei einer Beerdigung. »Dreißigtausendfünfhundertundzehn.«
Niemand fragte, wie er die Zahl mit solcher Leichtigkeit angeben konnte, aber Hoffman hatte das Gefühl, er hätte sie ebenfalls im Kopf haben müssen. Er sah sich in der Kabine um und fragte sich erneut, was zum Teufel in Fenix’ Kopf vorging. Es lag nicht nur daran, dass der Mann kaum sprach. Es waren seine Augen. Sie schauten verunsichernd, raubtierhaft, aber nicht wütend – und genau das verwirrte Hoffman.
Er rechnete immer noch mit einem Messer zwischen den Rippen.
Wenn ich vier Jahre in diesem Scheißloch von einem Gefängnis gesessen und Besuch von gereizten Maden bekommen hätte, wäre ich drauf aus, mit was Scharfem zuzustechen.
Das Kriegsgericht im House of Sovereigns hatte Tage mit der Anhörung verbracht, wie und weshalb Fenix seinen Posten verlassen hatte, um seinem Vater zu helfen. Hoffman hatte von Anfang bis Ende dabeigesessen: Fenix, ein verdammter Kriegsheld, ausgezeichnet mit den höchsten Ehren, ignoriert seine Befehle und löscht somit Leben aus. Hoffman hatte immer noch keine Erklärung dafür. Die Urteilsbegründung enthielt nicht das Warum, nach dem er suchte.
Fenix schaute ohne jede Spur von Emotion von ihm weg und schien sich mehr für Kalisos eindrucksvolle, aber vorschriftswidrige Lippenpiercings zu interessieren. Cole studierte sie ebenfalls nachdenklich, aber mit dem offenen Blick eines Kindes.
»Macht’s der ganze Metall-Scheiß eigentlich schwierig, an Frauen ranzukommen?«, fragte Cole schließlich. »Ich meine, es will doch keine Alte das Maul zugetackert bekommen, oder?«
Alle lachten und für einen Augenblick wünschte sich Hoffman, immer noch Teil dieser Kameradschaft zu sein. Sie bildete sich sofort. Sie hielt Armeen zehnmal besser zusammen als jede Flagge.
»Hey, Tai.« Bernie streckte ihre geöffnete Hand aus. »Leih mir die Dinger mal. Ich will Baird die Fresse zunageln, damit wir alle mal ’n bisschen Ruhe bekommen.«
»Warum hast du keine Tattoos im Gesicht, Bernie?«, fragte Cole.
»Andere Insel.« Sie schien auf Santiagos rechten Bizeps zu schauen. Dort hatte er den Namen seiner Frau eintätowiert. Hoffman war nie auf die Idee gekommen, Margaret auf diese Weise unsterblich zu machen, und jetzt würde er es bestimmt auch nicht mehr tun. »Andere Kultur.«
»Durch die ganzen Falten könntest du sie sowieso nicht sehen«, knurrte Baird.
»Und du wirst mit meinem Stiefel in deinem Arsch nicht mehr sitzen können, Blondie.«
»Feind direkt voraus, Sichtkontakt, fünfhundert Meter«, meldete Sorotki. »Eine Gruppe Maden, vielleicht zehn oder mehr, bewegen sich Richtung Westen auf uns zu.«
Die Locust würden ihrerseits ebenfalls wissen, dass sie kamen. »Setzen Sie uns einfach hier ab und halten Sie Abstand«, ordnete Hoffman an.
Der Raven konnte wegen des unebenen Schutts auf der Straße nicht landen, aber Sorotki hielt ihn einen Meter über den Trümmern, sodass die Gears hinausspringen konnten.
»Sie müssen verrückt sein, das zu tun«, murmelte Fenix, als er mit einem dumpfen Schlag neben Hoffman landete.
Hoffman schlug seine Faust mit einem hohlen Donk gegen seine Brust. »Ich bin gepanzert, Sergeant.«
»Ich würde nur ungern den ganzen Papierkram erledigen, wenn Sie’s nicht schaffen.«
Fenix meinte es wahrscheinlich genau so, wie er es sagte, und nicht als Codeausdruck für Mitgefühl.
Sie bildeten eine gestreckte Linie, um die Straße hinunterzumarschieren, und bahnten sich ihren Weg über umgestürzte Säulen und zerschmettertes, schmutzgetrübtes Glas. Links von hier, irgendwo weiter vorn, lag ein Militärfriedhof. Hoffman wollte gar nicht sehen, in was für einem Zustand er sich heute befand, denn er brauchte die Locust nicht noch mehr zu hassen, als er es sowieso schon tat. Es fiel schwer, die Gegend wieder zu erkennen. Nur ein paar verrostete schmiedeeiserne Balkone erinnerten daran, dass hier einmal alles mit prächtigen Blumenkästen geschmückt gewesen war. Die meisten von ihnen hingen schräg an einem einzigen Träger und drohten jeden Moment hinunterzufallen. Nur einer klammerte sich noch entschlossen an das verbliebene Mauerwerk.
Hoffman legte die hohle Hand ans Ohr, das Signal, stehenzubleiben und zu lauschen. Vor ihnen rutschte und knirschte Schutt, so als würde er herumgekickt werden. Die Maden konnten hier nicht graben. Das Überraschungsmoment hatten sie verloren. Er konnte immer noch die tiefe Stimme in seinem Ohrstöpsel hören.
Genau, warum tue ich das?
Weil es in der neuen Weltordnung kein Altem in Würde mehr gab. Ganz gleich, was Prescott sagte, die Definition dessen, was zivilisiert war, hatte sich verschoben. Man war nützlich oder man war tot.
Der Delta-Trupp verschmolz mit der Umgebung und ging in Nischen und hinter massiven Steintrümmern in Deckung. Hoffman kniete sich neben Bernie. Der nervöse Finger, den sie am Schalter der Kettensäge behielt, zeigte, dass sie offenbar Zweifel an deren Funktionsfähigkeit hatte. Fenix ging auf der anderen Seite von ihr in die Hocke, so als wolle er nicht, dass Hoffman in seinem Team mitmischte.
»Du hast noch nie ’ne Made aus nächster Nähe plattgemacht, oder?«, flüsterte Fenix ihr zu.
»Für mich ist alles unter sechshundert Metern Nahkampf.«
»Vertrau mir, näher ist befriedigender.«
Für einen Moment dachte Hoffman, es wäre Fenix* Art, sie auf humorvolle Weise zu beruhigen, aber die Art, wie er die Zähne zusammenbiss, sagte etwas anderes. Das war kein normales Kriegshandwerk mehr. Das war ein persönlicher Rachefeldzug.
Dann kamen die ersten drei Maden in Sicht.
»Die gehören mir«, sagte Fenix.
Doch es waren mehr als drei. Es waren mehr als zehn. Es war ein ganzer Arschvoll von ihnen und sie waren fast schon an ihnen dran, nur noch ein paar Meter entfernt. Hoffman zählte mindestens zwanzig. Er legte aus der Deckung einer zertrümmerten Mauer heraus an.
Und er fühlte sich gut. Er hatte Angst und das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte er sich lebendig.
»Dann wollen wir ihnen mal den Tag verderben«, knurrte er und feuerte.
Die ersten fünf Maden fielen um wie Steine und dann standen die Restlichen auf einmal, ganz plötzlich, überfallartig in Hoffmans Weg. Widerwärtig verzerrte graue Parodien von Gesichtern als Standbilder im aufflackernden Mündungsfeuer, scheinbar schweigend im ohrenbetäubenden Meer aus Donner. Er leerte ein Magazin und wich zurück, um nachzuladen, während Baird aus einem Eingang weiter Feuer gab. Als Hoffman sich wieder umdrehte, konnte er weder Fenix noch Cole sehen, aber Kaliso sprang geradewegs über einen Schutthaufen, feuerte beim Landen und brachte die Kettensäge dann mit einem routiniertem Schwung ins Ziel, als er in die Locust-Drohne hineinrannte. Beide stürzten, Kaliso obenauf, mit seiner Kettensäge schräg und mit brüllendem Motor in die Brust der Made gefräst. Nein, er machte den Lärm, er brüllte der Made vor Wut ins Gesicht, während er sie zerstückelte.
Bernie befand sich jetzt auf halbem Weg die Straße hinunter, huschte von einer Deckung zur nächsten und gab dabei ununterbrochen Feuer. Lange konnte das nicht andauern. Ein Teil von Hoffmans Gehirn schrie: Die Magazine halten nicht so lange, nur noch Sekunden, aber alles zerfiel zu einer Reihe lebhafter, detaillierter Eindrücke, unzusammenhängend wie Bilder in einer Galerie, Licht und Lärm und Gestank. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er mitten ins Gedränge hineinrannte, nahm die Salven wahr, die wie Hagel in die Mauern prasselten, die Tatsache, dass er vielleicht getroffen worden war, aber absolut nichts spürte. Eine Made ging vor ihm mit klaffendem Kopf zu Boden, aber er hielt trotzdem an, um mit seinem Bajonett nachzuhaken.
Hoffman besaß jetzt keine bewusste Kontrolle mehr. Es war die vertraute Besessenheit durch primitive Hormone, immer wieder aufs Neue schrecklich und schockierend und berauschend. Sein Körper sagte: Überlass es mir.
Er tat es.
Plötzlich befand sich eine Drohne direkt vor ihm und hinter ihr Fenix. Fenix packte sie um den Hals und wirbelte mit ihr herum, um sie als Schild zu benutzen. Die Wucht der Einschüsse trieb ihn ein paar Schritte zurück, aber er feuerte um die sterbende Made herum und machte ihren Kumpel auch noch platt. Cole, Gesicht und Rüstung mit glitzerndem Blut verschmiert – nicht seines, mit Sicherheit nicht sein eigenes –, packte Fenix am Arm, als die tote Made auf den Boden rutschte.
»Ein paar von ihnen sind uns durch die Lappen gegangen«, brüllte Cole. »Ich hasse es, einen Job halb erledigt liegen zu lassen. Wie Kacken ohne abwischen …«
Hoffman kam zum Stehen. Er hatte das Gefühl, die Straße und Gebäude um ihn herum würden sich bewegen. Baird und Dom trotteten durch den Schutt, drehten mit Tritten tote Maden um und gaben gelegentlich noch eine Salve ab, um sicherzugehen, dass sie erledigt waren.
Baird hörte sich so an, als sei er persönlich beleidigt. »Stirb, du Bastard«, sagte er immer wieder. »Ich will jetzt Dienstschluss. Also stirb, verfickt noch mal!«
Job erledigt.
Erst jetzt blickte Hoffman nach unten und sah, dass seine Hosenbeine und Stiefel nass und durchlöchert waren. Er war scheißsauer. Nicht wegen der Schmerzen – die würde er später noch spüren, wenn er wieder in der Basis war –, sondern weil sich heutzutage selbst ein Colonel erst verbiegen musste, bevor er neue Ausrüstung zugeteilt bekam.
Er schaltete sein Funkgerät ein, um den Raven zu rufen, und hielt inne, um nach Luft zu schnappen. Scheiße, eigentlich sollte er fitter sein. Dann fiel ihm auf, dass er Bernie nirgends sehen konnte.
»Wo steckt Mataki?«, keuchte er. Auf einer verlassenen Straße wie dieser konnte es ja wohl nicht so viele Stellen geben, an denen man einen gottverdammten Gear verlieren konnte. »Wo zum Teufel steckt Mataki?«
* * *
Bernie konnte die Locust-Drohne immer noch vor sich sehen. Diese Viecher konnten verdammt schnell rennen, wenn ihnen danach war, aber diese hier war auf Schutt ein Weltklasse-Sprinter. Sie blieb wieder stehen, um zu feuern. Ihr Lancer stotterte jedoch nur und hörte auf, leere Hülsen auszuspucken. Als sie in die Beintasche ihrer Hose fasste, wusste sie, dass sie keine Munition mehr hatte.
Der Made ging es genauso.
Sie blieb stehen, sah zurück und kam dann auf sie zugerannt.
»Versuch’s doch, du Wichser«, brüllte sie. »Werden ja sehen, wie weit du kommst.«
Sie hatte noch nie im Zorn das Kettensägen-Bajonett benutzt. Die Drohne kam direkt auf sie zu und Bernie wurde immer noch von einer Welle animalischer Aggression und Furcht aufgeputscht.
Du oder ich, du hässlicher Bastard, und meine Zeit ist noch nicht gekommen!
Sie schaltete den Motor ein und die Säge sprang brummend an. Die Drohne hielt nicht an und Bernie trat ihr auf Reichweite entgegen. Sie hatte eine Hand am Griff das Lancers, führte mit der anderen die Mündung und versuchte die Kettensäge in die Brust der Made zu drücken. Das Vieh schlug mit seinen klobigen Armen nach ihr und traf sie voll auf den Mund. Für eine Sekunde war sie wie betäubt und rührte sich nicht, aber dann kochte ein Instinkt aus ihrer Magengrube hoch und trieb sie blindlings auf ihren Gegner. Sie besaß nicht das Gewicht eines männlichen Gears und auch nicht die Größe, aber sie war auf Anhieb wie wild vor Wut und das macht eine Menge wett. Sie rammte die Säge in die am besten geeignete Stelle, die ihr einfiel: seitwärts in den Hals und durch das Schlüsselbein runter in die Brust, sodass Fetzen durch die Luft flogen.
Der verdammte Locust schien ewig mit seinen Armen um sich zu schlagen. Die Stücke, die die Säge herausriss, sahen dunkel und metallisch aus. Dann änderte sich ihre Farbe. Der Arm der Made fiel zur Seite und ein erschreckend starker Strahl Blut schoss ihr direkt ins Gesicht, heiß und merkwürdig beißend, wie eine Gischt aus Nadeln. Die Säge bockte und kreischte, als wäre sie auf Metall gestoßen, und drückte Bernie zurück. Aber sie wagte nicht, aufzuhören. Sie konnte nicht. Sie wollte nicht. Sie wollte Vernichtung, Zerstörung, ein Ende dieses animalischen Geschreis, das ihr entfuhr. Sie konnte nichts außer dem aufgerissenen Maul der Drohne sehen. Und dann ging das Biest endlich in die Knie und klatschte auf den Boden.
»Bernie!«, rief jemand. Cole, es war Cole. »Bernie, Made direkt hinter dir!«
Sie drehte sich um und versuchte die Kettensäge aus der Drohne herauszureißen, aber ihr blieb nur, mit der Linken ihre Pistole zu ziehen und festzustellen, dass der ebenfalls die Muni ausgegangen war. Wie aus dem Nichts kam Cole in einem Riesensatz über eine Mauer gesprungen und eröffnete das Feuer. Blut spritzte aus der Brust der Made, während sie um sich schießend zu Boden ging. Dann war alles vorbei.
Zum ersten Mal konnte Bernie wieder sich selbst hören, das ah-ah-ah angestrengten Keuchens.
»Scheiße«, sagte sie. Sie konnte keinen anderen Gedanken fassen, als ihr Bajonett wieder freizubekommen. Sie hielt immer noch den Griff des Lancers in ihrer rechten Hand. »Scheiße, was ist das?«
Sie spuckte aus, um ihren Mund sauber zu bekommen. Ihr Kinn fühlte sich nass an. Erst jetzt, als sie ihre Pistole wieder holsterte und sich mit der freien Hand übers Gesicht wischte, spürte sie die Splitter von etwas Hartem und Scharfem.
»Bernie, du lernst langsam, zu kochen«, meinte Cole anerkennend. »Das ist übrigens nicht dein Blut.«
Nein, das war es nicht. Das konnte sie schmecken. Irgendetwas stach ihr wie ein Spreißel in den Finger.
»Das ist Knochen, verfickt noch mal.«
»Jau, das kommt vor, wenn man sie aufschlitzt …« Cole fummelte an seinem Gürtel herum und zog einen schmuddeligen Lumpen hervor. Dann fing er an, ihr das Gesicht abzuwischen, als hätte er ein Kind mit einer Rotznase vor sich, und gab das Tuch dann schließlich ihr. »Pass auf, dass du keine Knochensplitter in die Augen bekommst. Das ist kein Spaß, glaub mir. Geh mal zum Arzt, wenn wir zurück sind.«
»Scheiße, normalerweise spritzen mich meine Opfer nicht an.« Sie fühlte sich auf einmal ermutigt und war froh, weil sie es instinktiv richtig gemacht hatte. Selbst bei diesen völlig unmenschlichen Kreaturen wusste sie, wie man einen Schnitt anbringt, um am schnellsten zu töten: durch die großen Arterien, durch die Brusthöhle und runter in den Bauchraum. »Ich hatte diesen persönlichen Touch vergessen …«
Mit einem Stiefel auf der Brust der Drohne, riss Bernie ihren Lancer vor und zurück, bis sich die Kettensäge mit einem plötzlichen Ruck löste. Sie hätte wissen müssen, was für eine Sauerei dabei herauskam. Man konnte nicht eine Hochgeschwindigkeits-Kettensäge durch Metall, Fleisch und Knochen jagen, ohne an die Folgen herumfliegender Stücke zu denken. Schutzbrille. Jetzt verstand sie, weshalb die meisten Gears Schutzbrillen trugen.
Hat mir kein Schwein gesagt. Danke, Marcus …
Was sie aber wirklich schockierte, war die Tatsache, dass sie es wieder tun wollte. Sie wollte jede einzelne Made auf dem Planeten zerlegen, alle von ihnen, jetzt gleich. Es schockierte sie, weil ihr Job darin bestand, einen ruhigen, emotionslosen Schuss auf weite Entfernung abzugeben, nichts Persönliches, einfach nur nach langem, geduldigem Warten die Arbeit zu Ende bringen. Eine Schuss, ein Toter. Das hier war etwas völlig anderes, gegen einen Feind, der sehr viel schwerer zu erledigen war als ein Mensch. Sie hatte Schwierigkeiten, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen und sich zu beruhigen.
»Danke, dass du auf meinen Arsch aufgepasst hast, Cole.« Sie klopfte ihm auf seinen kräftigen, sehnigen Unterarm. Er war schlichtweg das größte menschliche Wesen, das sie je gesehen hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er es sich leisten konnte, so ein unbekümmerter Bursche zu sein. Auf die meisten Leute hätte seine Größe einschüchternd gewirkt, aber sie hatte das Gefühl, als stünde sie im einladenden Schutz eines riesigen, liebenswerten Eichenbaumes. Mit einem Gewehr. »Das ist wirklich harte Arbeit, dieses Kettensägen-Geschäft.«
»Du musst ein bisschen Fleisch auf die Rippen kriegen, Lady. Du brauchst Masse. Kümmer dich nicht drum, wie breit dein Arsch wird, du brauchst Masse, damit du dich richtig in dieses Teil reinlegen kannst.« Er demonstrierte die optimale Haltung mit seinem Lancer. »Ich werde persönlich drauf achten, dass dein Speiseplan besser wird. Nicht mehr an Katzen und Ratten knabbern. Bringt zu wenig Kalorien.«
»Eine Maus hat dreißig Kalorien«, erwiderte Bernie und spürte endlich, wie das Adrenalin nachließ. Sie konnte das Tschakka-tschakka-tschakka des zurückkehrenden Ravens hören, aber aus dem Augenwinkel konnte sie eine Bewegung ausmachen, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Marcus. »Was zum Teufel hat er da jetzt?«
Er kam im Laufschritt auf sie zu und hielt irgendwelche nicht identifizierbaren Teile eines Schaltkreises in der Hand, die noch zur Hälfte in ihrer Verkleidung steckten. Eine abgerissene Locust-Hand hing auch noch dran.
»Das Arschloch wollte nicht damit rausrücken«, sagte Marcus und hielt sein Gewehr zur Seite. Der Lancer sah aus, als hätte er damit Steaks zerlegt. »Ich weiß nicht einmal, was das ist. Baird soll mal damit rumspielen.«
»Sind alle okay?«
»Nicht, wenn du die Maden mitrechnest. Und Hoffman hat’s ein Stück aus der Wade gefetzt. Das muss behandelt werden.«
Bernie versuchte, etwas Befriedigung aus seiner Stimme herauszuhören, aber da war nichts. Sie konnte immer noch nicht beurteilen, wie er jetzt über Hoffman dachte.
Der King Raven warf seinen Schatten auf sie und wirbelte Staub und Kies auf, als er zwanzig Meter weiter weg aufsetzte. Der Trupp kam um die Ecke gerannt, bis auf Hoffman, der von Dom gestützt hinterherhinkte und vor sich hin fluchte.
Corporal Barber lehnte sich aus der Kabine, hielt sich mit einer Hand am Haltegurt fest und streckte ihnen die andere entgegen. Auch wenn sie nicht in aller Eile extrahiert werden musste, verspürte Bernie immer wieder die gleiche Woge der Erleichterung, wenn sie den Bordschützen sah. Die Kabine des Ravens war ein Portal in sofortige Sicherheit aus einer mordenden, brennenden, schreienden Welt. Ein Zuhause.
Dom half Hoffman in den Raven hoch. »Ihr Senioren«, sagte er mit einem Grinsen zu Bernie, »müsst immer beweisen, wie verdammt zäh ihr seid.«
Auf dem Flug zurück nach Norm Gate zeigten sich die Nachwirkungen der kurzen Berührung mit dem Vergessenwerden in zittrigem Kichern. Schon ein kleiner Stups hätte die Stimmung wieder in Richtung Nullpunkt lenken können. Dom zwängte sich in den Sitz neben Bernie, wobei er von Cole auf der anderen Seite beinahe zerquetscht wurde.
»Komm schon, Mataki«, sagte Dom. »Erzähl mir von meinem Bruder.«
»Das werde ich«, sagte sie und wich erneut dem Unvermeidbaren aus. Ihr Blick wanderte zu Marcus: Er wandte den Kopf ab, resigniert und grimmig. Die Erwähnung von Carlos musste irgendwo da drin noch schmerzen. »Ich werde dir alles erzählen, was du wissen musst. Und du musst wissen, dass dich ein Teil davon ganz schön aus der Fassung bringen könnte.«
Das war ihr Handel, sowohl mit sich selbst als auch mit Marcus. Wie viel musste irgendein Bruder wissen?
»Das ist mir klar«, sagte Dom.
Bernie bezweifelte das. Er hatte keine Ahnung, was sie ihm zu erzählen hatte.