SECHS
Als Sepp Kastner am nächsten Morgen in den Besprechungsraum kam, schnupperte er kurz, verzog das Gesicht und trabte dann mit großen Schritten zum Fenster, um es aufzureißen. Während dieser für ihn ungewöhnlich resoluten Aktion entfuhr ihm der Satz: »Ja, mein lieber Schwan, wie riecht’s denn hier!«
Es war in der Tat eine interessante Geruchsmischung: Die sonst eher staubige Duftnote des Raums wurde ergänzt durch Kurt Nonnenmachers kraftvolle Bierfahne und durch eine feinere, von Barrique- und Beerentönen getragene Geruchsnote des aus Spanien stammenden Rotweins, den Anne am Vorabend nach dem Telefonat mit Bernhard in größerer Menge als üblich zu sich genommen hatte. Heute war nicht nur Nonnenmacher verkatert, sondern auch seine attraktivste Mitarbeiterin.
Beide studierten mit aller zur Verfügung stehenden Konzentration die vor ihnen liegenden Papiere, was Kastner ein wenig verwunderte, weil es sich um unbeschriebene Blätter handelte.
Vorsichtig fragte der Junggeselle: »Alles in Ordnung mit euch?«
»Ja«, erwiderte Anne knapp, während Nonnenmacher lediglich grunzte. Erstaunlicherweise war der Magen des Dienststellenleiters, seit dieser noch mehr Bier als für gewöhnlich zu sich nahm (und auch tagsüber), verstummt. Dennoch hatte es Nonnenmacher bisher nicht in Erwägung gezogen, die Gesundheitsredaktion der Frauenzeitschrift, welcher seine Frau die Reisdiät zu verdanken hatte, über diese interessante medizinische Entwicklung zu informieren.
Weil seine wichtigsten Partner aus der Ermittlungsgruppe ihm heute etwas angeschlagen erschienen und man in der alkoholgeschwängerten Luft und mit so einsilbigen Antworten unmöglich weiterkommen konnte, beschloss Kastner – ganz gegen seinen sonstigen Charakter –, die Initiative zu ergreifen, und sagte: »Ich habe heute Nacht etwas geträumt.«
Sofort blickten ihn Nonnenmacher und Anne schockiert aus zwei leicht geröteten Augenpaaren an. Von seinen Träumen – jedenfalls den nächtlichen – hatte der Kollege Kastner noch nie erzählt. Anne bereute die abrupte Kopfbewegung auch umgehend, denn ihre Kopfschmerzen waren trotz zweier Tabletten noch so stark wie der 360-PS-Motor eines Großtraktors der Firma Fendt.
»Jetzt kommt was«, meinte Nonnenmacher süffisant.
»Na, jetzt kommt nix«, erwiderte Kastner, »jedenfalls nicht das, was du denkst. Mir ist im Traum quasi eine Idee gekommen.«
»A-ha«, sagte Nonnenmacher leicht abgehackt, was ironisch klang, aber Kastner nicht weiter irritierte. Annes Kollege hatte längst kapiert, warum es hier im Raum derart bestialisch stank. Und erstaunlicherweise war es ihm sogar vollkommen gleichgültig, weshalb jetzt auch die sonst so solide Kollegin Anne Loop unter die Säufer gegangen war. Sollte sich doch alle Welt zuschütten, er würde die Stellung halten und diesen vermaledeiten Fall, in dem es so viele Verdächtige und Ungereimtheiten gab, aufklären.
»Und zwar«, fuhr Kastner daher fort, »ist mir aufgefallen, also im Traum …«
»Wie soll einem denn bitte im Traum was auffallen?«, raunzte Nonnenmacher ihn an.
Kastner ungerührt: »… dass es doch eine komische Sache gibt: Zum einen haben mir den Streit um Gut Kaltenbrunn. Da gibt’s ja doch einige, die nicht wollen, dass es an den Scheich verkauft wird.«
»Was du nicht sagst«, höhnte Nonnenmacher.
»Jetzt lassen Sie ihn halt mal!«, blaffte Anne den Chef an. Mit Kopfschmerzen waren solche Kabbeleien noch viel schlechter zu ertragen als an normalen Tagen.
»Zum anderen«, Kastner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, »wurde die Leiche direkt unterhalb von Gut Kaltenbrunn gefunden.«
»Ja und?«, fragte Kastners Chef unwillig.
»Da muss es doch eine Verbindung geben!«, antwortete Kastner, nun seinerseits etwas gereizt. »Zweimal Kaltenbrunn! Das hat doch miteinander zu tun – der Tod und die Verkaufsgerüchte!«
»Ach, und wie soll das bitte etwas miteinander zum tun haben?« Nonnenmacher war an diesem Tag wirklich zu nichts zu gebrauchen.
»Tja, das habe ich leider nicht geträumt«, räumte Kastner ein. Er war eben doch eine ehrliche Haut und kein Showman, weshalb Anne ihn trotz ihres üblen Katers in diesem Moment irgendwie süß fand. Alle drei schwiegen vor sich hin, dann ergriff Kastner noch einmal das Wort.
»Meine Mutter hat im Kiosk jemanden über einen neu gegründeten Geheimbund reden hören. ›KGB‹ soll der heißen, was für ›Gut Kaltenbrunn‹ steht.«
»Dann müsste das aber ›GKB‹ heißen«, meinte Anne.
»Wenn KGB stimmen tät’«, ergänzte Nonnenmacher, »dann würde es Kaltengut Brunn heißen, was ein Schmarren wär’.«
»Ist ja wurscht«, meinte Kastner. »Wahrscheinlich nennen die sich so, weil sich KGB einfach besser anhört, agentenmäßiger, geheimer, gefährlicher – was weiß denn ich!«
»Und was wollen die mit ihrem KGB erreichen?«, erkundigte sich Nonnenmacher.
»Das Land vor den Osmanen retten«, sagte Kastner und trug dabei eine staatstragende Miene zur Schau, woraus Anne folgerte, dass Kastner den merkwürdigen Geheimbund samt seiner kuriosen Zielsetzung ernst und für bare Münze nahm. Hätten Annes Schläfen nicht gepocht wie die Spielmannszug-Trommler vom Seefest, hätte sie sich über Kastner lustig gemacht. So aber hielt sie sich zurück.
Kastner seinerseits spürte, dass man ihn nicht wirklich für voll nahm, und führte daher im Weiteren aus, weshalb man das Ganze nicht unterschätzen sollte: Schließlich habe man ja auch hier in Polizeikreisen schon öfter darüber gesprochen, dass es genügend Gegner der Pläne um Gut Kaltenbrunn gebe. Auch habe seine Mutter ihm erzählt, dass die Freundin einer Bekannten von ihrer Cousine gehört habe, dass ein Gemeinderat …
»Die Cousine einer Freundin der Bekannten von deiner Mutter«, zählte Nonnenmacher auf und reckte für jede der Zwischenstationen einen Finger in die Höhe: »Das macht vier Zwischenstationen. Mit dir sind’s fünf, und die Frau Loop und ich sind quasi Nummero sechs und sieben. Das ist einmal eine richtig gute, weil total direkte Ermittlung, Sepp.«
»… dass ein Gemeinderat«, fuhr Kastner unbeirrt fort, »am Stammtisch gesagt hat, dass er denjenigen persönlich umbringt, der aus Kaltenbrunn einen Haremstempel machen will.«
»Und?«, blaffte Nonnenmacher ihn an. »Lebt der Scheich noch, oder lebt er nicht mehr?«
»Aber es ist eine tot, die das Gut vielleicht gewonnen und in einen Haremstempel verwandelt hätt’!« Kastner war jetzt zutiefst verärgert. »Kapiert’s ihr das denn nicht? Da gibt’s doch einen Zusammenhang – und zwar einen mysteriösen«, schob er langsam und leiser hinterher.
»Na ja, Seppi«, sagte Anne besänftigend, »einen Zusammenhang gibt’s da sicher. Aber warum sollte denn jemand eines der Mädchen umbringen, wenn er doch dem Scheich schaden will?«
»Weil er damit natürlich auch dem Scheich schadet. Den will doch jetzt erst recht keiner mehr hier. Die ganze Sache wäre doch niemals passiert, wenn der Scheich nicht dieses Casting veranstaltet hätte. Dann wären doch auch die ganzen Frauen gar nicht erst ins Tal gekommen!«
»Wenn einer dem Scheich schaden will, dann geht der dem doch persönlich an den Kragen«, meinte nun Nonnenmacher. »So würd’s jedenfalls ich machen. Aber als Polizist sind einem ja leider die Hände gebunden.«
»Aber Anne, Kurt, jetzt denkt’s doch einmal nach: Der Scheich wird rund um die Uhr bewacht, dazu noch von unseren eigenen Leuten«, gab Kastner verzweifelt angesichts der Uneinsichtigkeit seiner Kollegen zu bedenken. »Da ist es doch viel schlauer, jemanden anzugreifen, der ihm nahesteht, aber nicht so gut bewacht wird.«
»Aber diese Madleen stand dem Araber-Kini doch überhaupts nicht nahe!«, bellte Nonnenmacher zurück.
»Wer sagt das? Woher willst du das wissen, Kurt?« Kastner suchte Annes Blick. »Ich jedenfalls weiß es nicht.« Dann stand er auf. »Aber ich werde es herausfinden. Und ihr zwei schlaft’s vielleicht erst einmal euren Rausch aus. Ihr riecht’s ja schlimmer wie der Bierleichenfriedhof auf’m Oktoberfest.«
So stark wie nach dieser Lagebesprechung hatte sich Sepp Kastner schon lange nicht mehr gefühlt. Auf ihn war eben doch Verlass. Alle anderen konnten ausfallen, doch er hielt die Stellung. Schwungvoll lenkte er den Streifenwagen auf die Wiese des Bauern Vitus Kofler, dann schritt er auf das Lagerfeuer zu, das trotz des noch jungen Tages bereits loderte und um das einige der Mädchen saßen. Immer noch empfand er ein gewisses Unbehagen, weil er sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern konnte, mit welcher der Sächsinnen er an besagtem Abend, an dem er seine erste Erfahrung mit qualmenden Kräutern gemacht hatte, nach hinten in die Wiese gekippt war. Immerhin kannte er diese Pauline, die offensichtlich so etwas wie die Chefin oder Sprecherin der Amazonen war. Und genau sie war es auch, die ihn nun freundlich begrüßte. Dass sie jetzt wieder »Seppi« zu ihm sagte, ging in Ordnung – Anne war ja nicht dabei.
»Was führt dich zu uns?«
»Ich habe einen Verdacht«, erklärte Kastner wichtig. »Ich glaube nämlich, dass der- oder diejenige, wo die Madleen umgebracht hat, eigentlich den Scheich umbringen wollte.«
»Aha«, meinte Pauline. »Magst du einen Kaffee und ein Croissant?«
Kastner dachte kurz nach, sah sich um, aber da war niemand außer den Amazonen, nicht einmal der Kofler oder seine Frau, und entschied schließlich: »Ja, gerne.« Dann fragte er: »Kannst du dir vorstellen, dass es jemanden gibt, der das ganze Harems-Casting nicht gut findet, sich aber an den Scheich nicht herantraut, weil der so gut bewacht wird, und deshalb die Madleen umbringt, als Denkzettel quasi?«
»Du meinst, dass Madleen dann völlig zufällig zum Opfer geworden wäre?«, fragte Pauline zurück und reichte Kastner eine Kaffeetasse, auf der »Rondo Melange« stand, was dieser seltsam fand.
»Zum Beispiel«, antwortete der Ermittler und rührte sich Zucker in das Getränk.
In den nächsten Minuten befragte der Polizist Pauline noch einmal präzise nach den Kontakten, die Madleen mit Angehörigen der Scheichsentourage, aber auch mit möglichen Feinden des Castings gehabt hatte. Viel konnte ihm Pauline zu diesem Thema allerdings nicht berichten. Immerhin erfuhr Kastner, dass die Mädchen nach Madleens Tod beschlossen hatten, sich nicht mehr für eine Stelle als Scheichsehefrau zu bewerben.
»Irgendwie ist das scheiße gelaufen«, stellte Pauline fest. Sie hörte sich dabei ein wenig traurig an.
»Und was habt ihr jetzt vor?«, erkundigte sich Kastner. »Ihr wolltet’s doch eigentlich, dass eine von euch gewinnt, und dann hättet’s ihr Gut Kaltenbrunn gehabt, plus einen Haufen Geld im Sack.« Pauline nickte. »Dann wärt’s ihr alle versorgt gewesen, auf einen Schlag.« Kastner biss in sein Croissant. »Und jetzt?«
Pauline hob ratlos die Schultern. »Unsere Utopie von einem neuen Leben ist jedenfalls gestorben.«
»Aber vielleicht tut sich ja eine neue …«, Kastner zögerte, weil ihm das Wort komisch vorkam, »… Utopie auf.«
»Weißt du, woran alle Utopien scheitern, Seppi?« Kastner schüttelte den Kopf. »Am Geld.« Jetzt nickte der Polizist übertrieben. Und Pauline schob hinterher: »Geld und Freiheit, das passt irgendwie nicht so richtig zusammen.«
»Aber vielleicht tut sich ja doch noch was auf«, wiederholte Kastner, der bislang nicht häufig über den Zusammenhang zwischen Geld und Freiheit nachgedacht hatte.
Ihm taten die Amazonen leid. Sie hatten so etwas Natürliches und Unverstelltes an sich, das er mochte. Lag es an ihrer ostdeutschen Herkunft? Oder daran, dass sich eine Truppe von Freiheitsliebenden zusammengefunden hatte, um den Traum von einem neuen Leben zu verwirklichen?
»Du, ich kann jetzt nicht mehr so lange bleiben«, sagte er sanft. »Ich muss zurück in die Dienststelle. Aber eines tät’ ich noch gern.« Pauline sah ihn fragend an. »Mir die persönlichen Sachen von der Madleen noch einmal durchschauen.«
Gemeinsam gingen sie zu Madleens Zelt. Pauline kroch als Erste hinein, dann Kastner.
Das Zeltinnere war erfüllt von Blumenduft, ein Aroma, wie es der Ermittler noch nie gerochen hatte. Vorsichtig blickte er unter Madleens Kopfkissen und schlug die Bettdecke zurück. Unter der Luftmatratze fand er einen weiß-blau-gestreiften Slip. Am rechten Zeltrand lag ein Stapel Kleider. Kastner faltete sie vorsichtig auseinander und hielt sie der Reihe nach hoch. Der alles überdeckende Blumenduft machte ihn ganz wirr im Kopf, doch kam ihm eine Frage in den Sinn, die er schon eine ganze Weile mit sich herumtrug: »Sag mal, Pauline …« Das Hippiemädchen sah ihn erwartungsvoll an. »Ich habe da so was gehört …«, er räusperte sich verlegen, »also von so Tätowierungen …« Pauline lächelte, sagte aber nichts. Deshalb setzte Kastner von Neuem an. »Also, die Madleen war ja tätowiert – und ich hab’ gehört, dass ihr alle … also mit so … Teufelshörnern …« Der Polizist schaute Pauline hilflos an.
Ehe Kastner es sich versah, schob das Mädchen sein dünnes Sommerkleid nach oben und den darunter auftauchenden roten Slip nach unten, und vor Kastner enthüllte sich ein lebendes Kunstwerk: Aus der knapp rasierten Scham der jungen Frau wuchsen zwei dunkle tätowierte Hörner, genau so, wie er es bei Madleen Simons Leiche gesehen hatte.
»Sieht das etwa nach dem Teufel aus?«, fragte Pauline den konsternierten Ermittler. Der schüttelte, weiterhin wie hypnotisiert auf den Unterleib der jungen Frau starrend, den Kopf. »Die Hörner«, erklärte Pauline jetzt in beinahe lehrerinnenhaftem Tonfall, »sind ein Symbol.« Kastner nickte benommen. Der Blumenduft, die Nacktheit, war das nicht alles verrückt und unbegreiflich? »Ein Symbol unserer Wehrhaftigkeit«, ergänzte Pauline. »Die haben wir uns stechen lassen, als wir den Zonenhof gegründet haben. Wir wollten ein Zeichen setzen. Dass fortan für jede von uns ein neues Leben beginnt.«
»Ach so, ja dann …«, meinte Kastner und wandte sich mit starrem Blick wieder den Kleidern der Toten zu.
Als eines der letzten Kleidungsstücke hielt er eine ausgewaschene Jeans hoch. Er wollte sie schon beiseitelegen, da überlegte er es sich anders und legte sie sich auf die Oberschenkel. Aus der rechten Gesäßtasche der Hose zog er einen Fünf-Euro-Schein. Nachdem er diesen wieder hineingesteckt hatte, stießen seine Finger in der linken hinteren Tasche auf ein Blatt Papier. Kastner zog es heraus und entfaltete es. Es war ein Zeitungsartikel.
Kastner las laut vor, was handschriftlich über dem Gedruckten hingekritzelt stand: »›Für den Fall, dass du doch von mir schwanger bist / oder auch sonst. Gruß F.‹ – von wem ist das?«, fragte er in Richtung Pauline.
Diese ließ sich den Zettel geben, sah ihn genau an und sagte dann: »Das ist schon mal nicht Madleens Schrift.«
»Wer ist F.?«, erkundigte sich Kastner. »Und wieso ›schwanger‹?« Auf einmal war er ganz aufgeregt. Hatte ihn sein kriminalistischer Spürsinn doch nicht getäuscht! »Wo ist Madleens Handy?«
»Das müsstet ihr doch haben.«
»Nein, die hatte doch nur ein Spitzenhemdchen an, als man sie gefunden hat. Wo sollte sie da ein Handy hinstecken?«
»Dann wird es der Täter haben. Oder es liegt auf dem Grund des Sees«, mutmaßte Pauline. »Für was brauchst du das Handy denn?«
»Damit ich sehen kann, ob Madleen diese Nummer schon mal gewählt hat. Oder ob sie in ihrem Handy gespeichert ist.«
Hektisch begann Kastner jetzt das ganze Zelt zu durchwühlen. Vielleicht hatte Madleen das Handy ja gar nicht aufs Seefest mitgenommen. Aber die Suche war vergeblich. Madleens Handy blieb verschwunden.
Obwohl sich Kastner heute »ermittlungsmäßig Weltklasse« fühlte, wie er insgeheim befand, bat er doch Anne, den Anruf bei ominöser Person F. zu übernehmen. »Das mit der Schwangerschaft«, hatte der Polizist befunden, war doch eher Frauensache.
Die Anspannung im Büro der beiden Ermittler war groß, als Anne die Handynummer wählte. Dank Freisprechfunktion konnte auch Kastner hören, wie es achtmal läutete. Dann meldete sich eine männliche Stimme einfach nur mit »Ja«.
»Hallo«, antwortete Anne.
»Wer ist da?«
»Anne. Ich bin ’ne Freundin von Madleen«, log sie. Wenn der Typ etwas mit Madleens Tod zu tun hatte, dann würde er jetzt eine auffällige Reaktion zeigen. Oder er war ein guter Schauspieler.
Der Typ am anderen Ende der Leitung fragte jedoch nur: »Madleen vom Zonenhof?«
»Ja genau.« Fieberhaft überlegte Anne, wie sie das Gespräch weiterführen sollte. Dann entschied sie sich. »Wo bist du ’n gerade?«
Sofort merkte Anne, dass ihrem Gesprächspartner diese Frage komisch vorkam, denn er erkundigte sich jetzt misstrauisch: »Warum ruft eigentlich nicht Madleen mich an?«
»Sie kann nicht.« Wenn der Typ namens F. von Madleens Tod wusste, dann musste er spätestens jetzt irgendein verdächtiges Verhalten zeigen.
Die Reaktion des Mannes, der sich sehr jung anhörte, kam tatsächlich schnell, aber irgendwie war es nicht der Tonfall eines Verbrechers, in dem er fragte: »Ist was passiert? Ist sie schwanger?«
Fuck, dachte sich Anne, was soll ich denn jetzt noch fragen? Ihr Kopf pochte immer noch von ihrem Frustsuff nach dem Telefonat mit Bernhard, sie fühlte sich unfit, und neben ihr saß Kastner, der beide Hände zu Fäusten geballt hatte und sie lautlos anfeuerte, was auch nicht gerade hilfreich war. Sollte sie ihr Inkognito lüften und sagen, dass sie von der Polizei und Madleen vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war? Aber wenn der Typ etwas mit der Sache zu tun hatte, dann verbauten sie sich dadurch alle Wege zu einer vernünftigen Vernehmung.
Dem Gesprächspartner dauerte die Pause anscheinend zu lange, denn er fragte: »Was ist jetzt eigentlich los? Woher hast du meine Nummer?«
»Von Madleen«, sagte Anne. Sie spürte, wie sich der am Vorabend konsumierte Rotwein durch alle Poren ihres Körpers drückte, die erfrischende Wirkung ihrer Morgendusche war viel zu lange schon verpufft. Anne war plötzlich alles zu viel. Zum Teufel mit der Taktik, dachte sie, und sagte: »Sie ist tot.« Jetzt war es draußen. Und Kastner war bestürzt. Hatte Anne gerade alles vermasselt?
»Was?«, schrie der Angerufene entsetzt. Und, darüber waren sich Anne und Kastner hinterher einig, die Überraschung in seiner Stimme hörte sich überhaupt nicht gespielt an.
Auch was dann folgte, klang glaubwürdig. Freimütig gab sich F., nachdem Anne ihn über die wesentlichen Fakten aufgeklärt hatte, als Felix zu erkennen und berichtete über sein kurzes Erlebnis mit Madleen. Offen sprach er darüber, wie sehr Madleen ihn verletzt hatte und wie sehr ihn der Gedanke beschäftigt hatte, das Mädchen könnte – wie es in den alten Mythen von den Amazonen überliefert wurde – tatsächlich nur darauf aus gewesen sein, von ihm geschwängert zu werden. Er gab zu, »einen Hass auf Madleen geschoben« und durchaus auch finstere Gedanken gewälzt zu haben. Als Anne ihn erneut fragte, wo er sich denn gerade aufhalte, stellte sich aber heraus, dass er von einer anderen Bauernhofkommune aufgenommen worden war, und zwar in Südthüringen.
Felix reagierte nicht gerade begeistert, als Anne ihn aufforderte, innerhalb der nächsten zwei Tage zu einer Zeugenvernehmung nach Bayern zu reisen, aber Anne erklärte ihm, dass an seinem Kommen kein Weg vorbeiführe.
»Und?«, fragte Anne in Richtung ihres Kollegen, nachdem sie aufgelegt hatte.
Der zuckte mit den Schultern. »Klingt alles schlüssig.« Kastner überlegte. »Allerdings ist Thüringen jetzt nicht so weit weg, dass er nicht doch als Täter infrage käme, rein technisch, theoretisch.«
»Weißt du was, Sepp«, meinte Anne jetzt forsch. »Ich glaube, es ist jetzt Zeit für ein paar gezielte DNA-Tests. Dieser Felix, der Bürgermeister, der Scheich und dieser schmierige Aladdin …«
»Ich tät’ gleich alle von der Scheichsbagage abchecken, auch die Leibwächter, Fahrer und so weiter«, unterbrach Kastner sie unwirsch. »Auf einen mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht an.«
»Und den Schlagersänger«, ergänzte Anne.
»Aber der Hirlwimmer ist doch gar nicht da!«, meinte Kastner, augenblicklich hatte sich seine Selbstsicherheit verflüchtigt. Es wurmte ihn immer noch, dass er wegen seines ungeschickten Verhaltens blöderweise auch persönlich in den Fall verstrickt war und dass er dies zu einem guten Teil dem nichtsnutzigen Hirlwimmer zu verdanken hatte.
»Dann besuchen wir eben seine Mutter und holen uns dort ein Haar aus seinem Kamm oder etwas Vergleichbares, das die Jungs von der Gerichtsmedizin verwenden können.«
Da die Liste der Verdächtigen nun wirklich überschaubar und man offensichtlich mit den Ermittlungen ins Stocken geraten war, gelang es Sebastian Schönwetter nach langer Diskussion, das richterliche Einverständnis zu einem personell begrenzten Gentest zu bekommen.
»Da seht’s ihr’s«, war Kastners einziger Kommentar, als er mit Nonnenmacher und Anne sprach. »Hätt’ man gleich am Anfang so einen Gentest gemacht, dann hätt’ man sich den ganzen Firlefanz sparen können.«
»Ja, so einem Gentest hätt’ ich auch zugestimmt«, rechtfertigte sich der Dienststellenleiter daraufhin, obwohl er sich bisher als heftiger Gegner eines Massentests hervorgetan hatte. »Der betrifft ja jetzt vor allem Fremde, also Individuen, die wo von Haus aus verdächtig sind. Es geht aber nicht, dass man alle Männer in unserem Tal in Sippenhaft nimmt. Es ist ja sowieso ziemlich klar, dass das keiner von uns gewesen sein kann.«
»Und der Herr Wax?«, fragte Anne kritisch nach.
»Ach der«, meinte Nonnenmacher verächtlich. »Klar könnt’s sein, dass der was mit dem Scheich gedreht hat, weil ein Sauhund ist er schon. Aber bittschön: Wo soll ein bayerischer Bürgermeister denn so eine gefährliche Vergewaltigungsdroge herbekommen? Der geht ja nicht einmal in die Drogerie, weil das die Frau für ihn übernimmt!«
Die Reaktionen der Männer, die von den Ermittlern dazu aufgefordert wurden, eine Speichelprobe abzugeben, fielen sehr unterschiedlich aus. Am wenigsten Probleme machte der junge Felix. Schwierig erwies es sich, die arabischen Feriengäste dazu zu überreden, an der Prozedur teilzunehmen. Raschid bin Suhail, der Emir von Ada Bhai, der von der Begutachtung der vielen Frauen und dem damit verbundenen Stress fix und fertig war (insgeheim dachte er bereits darüber nach, ob es nicht doch sinnvoller war, den Harem bei seiner bisherigen Größe zu belassen, weil Frauen ja doch auf gewisse Weise anstrengend sind und er schon fünf solcher anspruchsvollen Exemplare bei Laune zu halten hatte), empfand die Aufforderung zu einer Speichelabgabe als Attacke auf seine majestätische Integrität, um nicht zu sagen als Unverschämtheit. Die arabischen Worte, die er von sich gab, als Kurt Nonnenmacher ihm höchstpersönlich die Nachricht überbrachte, hörten sich für die Ohren des Ermittlers in etwa so an: »Jolifanto bambla ô falli bambla! Grossiga m’pfa habla horem. Blago bung, blago bung!«
Dieser beeindruckende Wortschwall verließ sehr lautstark den Mund des arabischen Machthabers, und der Assistent des Scheichs, der mit vollem Namen und trotz aller Vorkommnisse immer noch Aladdin Bassam bin Suhail hieß, weigerte sich auch strikt, eine genaue Übersetzung zu liefern. Die Erklärung, dass es sich um Worte königlichen Unbehagens handle, quittierte Nonnenmacher trocken mit dem Satz: »Da wär’ ich jetzt nicht drauf gekommen.«
Aber Nonnenmacher ließ keine Gnade walten. Jetzt war Schluss mit lustig. Als der Emir voller Verachtung in ein Reagenzglas spuckte, kam Nonnenmacher ein Film über Wüstenkamele in den Sinn. Allerdings behielt er diese Assoziation im Sinne reibungsloser Ermittlungsarbeit und natürlich auch um des bayerisch-arabischen Friedens willen für sich. Womöglich hatte der Scheich mit der ganzen Sache wirklich nichts zu tun.
Den im Rahmen der Speicheltests unerlässlichen Besuch beim Bürgermeister der nördlichsten Seegemeinde schob Nonnenmacher allerdings auf die Kollegin Loop ab. Der kommunale Würdenträger Alois Wax hatte sich in den vergangenen Tagen nämlich aufgeführt wie eine trächtige Wildsau. Zum Glück gab es in der Zelle im Keller der Polizeiinspektion nur wenig Möglichkeit zum Randalieren. Da außer der Wolldecke kaum lose Gegenstände vorhanden waren, mit denen der wütende Wax hätte um sich werfen können, hatte sich der durchaus bauernschlaue Politiker darauf verlegt, Radau zu machen.
»Hilfe!«, schrie der verzweifelte Mann, der alle Träume von einer goldenen Zukunft mit schönen Frauen und den Lederhosentaschen voller Geld wie arabisches Wüstenöl zwischen seinen Fingern zerrinnen sah, immer wieder, »Hilfe, hier wird ein ehrbarer Mann seiner Freiheit beraubt!« Mitunter skandierte er auch »Freiheit statt Korruption!« oder »Es lebe der Freistaat! Lasst’s mich raus, ich bin immer noch euer Bürgermeister«. Alois Wax verstand sich einfach auf die Vermittlung simpler Parolen, weshalb er auch so häufig als Gemeindevorsteher wiedergewählt worden war.
Immerhin hatte sein Gebrüll zur Folge, dass regelmäßig besorgte Urlauber die Polizeistation betraten und sich erkundigten, ob alles in Ordnung sei.
Nonnenmacher hatte seine Mitarbeiter angewiesen, ihnen zu erklären, dass man im Keller einen seit Jahren gesuchten Psychopathen festhalte. Auf diese Aussage hin waren noch alle Urlauber beruhigt wieder von dannen gezogen. Einmal mehr bewies die bayerische Polizei, dass sie dank ihrer speziellen bayerischen Methoden auch mit schwierigsten Charakteren gut zurande kam und schnell für allumfassende Sicherheit sorgte.
Als Anne, begleitet von Kastner, die Zelle betrat, machte der Bürgermeister gerade eine Pause mit Brüllen. Die letzte lautstarke Tirade, in der er »Gerechtigkeit für einen Unschuldigen« gefordert hatte, hatte ihn viel Energie gekostet.
»Guten Tag«, grüßte Anne den über eine Mischung aus übergroßer Libido und geschäftlicher Selbstüberschätzung gestolperten Mann. »Wir würden jetzt gerne eine Speichelprobe von Ihnen nehmen«, sagte die Polizistin freundlich. Der Würdenträger lag reglos auf seiner Pritsche.
»Der hat die Augen zu«, meinte Kastner, und sofort durchzuckte ihn ein Schreck. »Ist er tot?«
Vorsichtig näherten sich die beiden Polizisten dem Kommunalpolitiker, der eben noch so getobt hatte, dass man es in der gesamten Dienststelle hatte hören können.
»Herr Wax«, sprach die Polizistin den Liegenden an. Kastner rüttelte am Oberkörper des Bürgermeisters. Doch der Angesprochene regte sich nicht.
»Miss mal den Puls«, schlug Anne vor.
Kastner legte eine Hand auf das Herz des Bürgermeisters und sagte nach wenigen Sekunden: »Schlägt.«
»Puh!«, meinte Anne. »Das wäre jetzt noch was gewesen … Wenn der einen Herzinfarkt bekommen hätte …«
»Lassen mir ihn schlafen?«, schlug Kastner vor. »Der wird halt müd’ sein von seiner Schreierei.«
»Das geht nicht«, meinte Anne. »Bis wir die Auswertung des Speicheltests haben, dauert es ein paar Tage. Wenn wir den Speichel jetzt nicht bekommen, verlieren wir kostbare Zeit.« Und an den Inhaftierten gerichtet: »Herr Waaax! Aufwachen! Wir brauchen Sie! Speichelprobe! Halllooo!« Keine Regung.
»Ich hab’ eine Idee«, sagte Kastner daraufhin. »Mir brauchen ja gar nicht unbedingt seinen Speichel. Ein Haar tut’s auch.« Und schon hatte er dem Politiker ein ganzes Büschel ausgerissen, was diesen erstaunlich schnell mit einem lauten »Au!« aus dem Tiefschlaf erwachen ließ. Dass der Bürgermeister sie in der Folge als »korrupte Saubande« beschimpfte, verziehen die beiden Ermittler dem Mann. »Wenn einer so tief gefallen ist«, konstatierte Kastner weise, als er die Zellentür wieder zusperrte, »muss man nicht noch auf seiner Seele herumtrampeln.« Durch die Tür wimmerte derweil der Bürgermeister wie ein kleines Kind. Wer mit viel zu jungen Gespielinnen turtelt und obendrein ins arabische Ölbusiness will, braucht eine Psyche, die cool ist wie der Zugspitzgletscher und noch unverrückbarer als ihr Gipfel.
Mit Anspannung sah die gesamte Ermittlergruppe der Bekanntgabe der Ergebnisse des DNA-Tests entgegen. War es sonst üblich, eher knapp vor der Besprechung das Sitzungszimmer aufzusuchen, saßen an diesem Tag alle Polizisten bereits eine Viertelstunde zu früh im Raum.
Nonnenmacher hatte sogar schon eine halbe Stunde vorher – unter Mithilfe des schwäbischen Kollegen Schmiedle und des Polizeilehrlings Hobelberger – den Raum fliegenfrei gemacht. Schmiedle, der als Allgäuer technischen Neuerungen besonders offen gegenüberstand, hatte eine Spraydose mitgebracht, die aus seinem letzten Campingurlaub in Kroatien stammte und die neben ihrer tödlichen Wirkung auf alle in dem staubigen Raum wohnhaften Insekten im wahrsten Sinne atemberaubend war: Es stank derart nach Chemie, dass sogar der eher unempfindliche Nonnenmacher befahl, die Fenster zum Lüften zu öffnen. Binnen Sekunden waren neue Fliegen im Raum, und der knickrige Allgäuer Schmiedle maulte wegen der Sprayverschwendung herum: »Der hot fei einsneinaneinzig koschtet.« Doch dann verstummte auch er, weil Sebastian Schönwetter mit seiner Kripomannschaft den Raum betrat und dem Rechtsmediziner das Wort erteilte.
Allerdings war das, was dieser zu berichten hatte, nichts weniger als eine Hiobsbotschaft, und zwar vor allem für Anne Loop, Sepp Kastner und Kurt Nonnenmacher: Die DNA keines einzigen Verdächtigen, der zum Test gebeten worden war, stimmte mit derjenigen überein, welche der Arzt in der Vagina von Madleen Simon sichergestellt hatte.
»Das gibt’s ja nicht!«, platzte es aus Nonnenmacher heraus. »Nicht einmal die vom Scheich ist gleich?«
»Nein«, stellte der Arzt kategorisch fest.
»It amol a bissle?«, wollte Schmiedle wissen.
Ohne auf die Ausrufe des Erstaunens einzugehen, wandte sich Schönwetter mit ernster Stimme an Anne. »Da muss ich Sie jetzt natürlich schon einmal fragen, Frau Loop, wie Sie das rechtfertigen können. Ein Gentest ist ein massiver Eingriff in die Privatsphäre der Verdächtigen!« Anne wurde rot. Zum ersten Mal in ihrer Laufbahn hatte sie mit einer Entscheidung vollkommen falsch gelegen. »Hinzu kommt, dass wir seit bald zwei Wochen einen Mann in U-Haft halten, der offensichtlich mit dem Todesfall rein gar nichts zu tun hat.«
»Aber mir haben den Wax doch nicht bloß wegen der Mordsache eingesperrt«, sprang Kastner seiner Kollegin bei. »Sondern weil bei dem zusätzlich höchster Korruptionsverdacht besteht. Der ist doch geschmiert worden vom Araber, und das nicht wenig!«
»Herr Wax ist umgehend freizulassen«, befahl Schönwetter, der nun gar nichts mehr von seiner surflehrerhaften Lockerheit an sich hatte, sondern nun ganz der strenge Vorgesetzte aus der Stadt war, der vermutlich selbst von oben gewaltig Druck bekam.
So kurz wie diese war selten eine Besprechung ausgefallen, seit das Verbrechen das Tal heimgesucht hatte. Alle Teilnehmenden waren froh, den noch immer nach kroatischem Mückengift stinkenden Raum verlassen und sich in ihr Dienstzimmer zurückziehen zu dürfen. Keiner fühlte sich wohl.
Am schlimmsten aber ging es Anne. Letztlich trug sie die Verantwortung für diesen völlig überflüssigen Gentest. Und die junge Polizistin ahnte, dass es nicht lange dauern würde, bis höchste Stellen – vom Polizeipräsidenten aufwärts – sie direkt rügen würden. Schließlich hatte man mit dieser Aktion nicht irgendwelche unbedeutenden Personen eines Sexualverbrechens verdächtigt, sondern einen arabischen Monarchen vom Rang eines Königs, zudem einen weltbekannten Schlagerstar und einen zumindest bislang als unbescholten geltenden, angesehenen Bürgermeister. Derartige Vorkommnisse waren üblicherweise nicht nur ein gefundenes Fressen für die Boulevard-Medien, sondern konnten auch zu diplomatischen Verwerfungen, mithin zu Kriegen führen.
Ratlos starrte Anne auf die Blätter mit den DNA-Sequenzen, die sie sich von Schönwetter hatte aushändigen lassen und die nun ausgebreitet vor ihr auf dem Bürotisch lagen. Gab es nicht vielleicht doch eine Ähnlichkeit zwischen den Genstrukturen der Verdächtigen und den Spermaspuren in der Vagina des Opfers? Eine Ähnlichkeit, die die Wissenschaftler einfach nur übersehen hatten?
»Jetzt hör doch mal auf mit diesem Scheiß!«, fuhr Anne ihren Kollegen Sepp Kastner an, der noch immer mit seiner Dienstwaffe herumfuhrwerkte, als gälte es, sich auf einen Einsatz in Afghanistan vorzubereiten. Aber Kastner war wie paralysiert und klickte und klackte ungerührt weiter. Denn auch ihm war klar, dass ihnen mit diesem niederschmetternden DNA-Ergebnis alle Felle davongeschwommen waren, und zwar nicht im gemütlichen Tempo der Mangfall, sondern mindestens in Lichtgeschwindigkeit. Und auch wenn es Anne war, die die Hauptverantwortung für die ganze Aktion trug, so hing er als ihr wichtigster Helfer und Unterstützer irgendwie mit drin. Was konnten sie tun? Sollte er ihr vorschlagen, gemeinsam mit ihm durchzubrennen? Einfach alle Ersparnisse zusammenzukratzen und irgendwo anders ein neues Leben zu starten? Was wäre mit Jamaika, Bali, Feuerland?
»Jetzt hör endlich mit diesem nervtötenden Geklacker auf!«, schimpfte Anne erneut.
Sofort stoppte Kastner sein Geschraube an der Heckler & Koch, träumte aber dennoch weiter von unendlichen Sandstränden und dem mit sanftem Wellenschlag darauf brandenden türkisfarbenen Meer. Die Sonne schien, und er baute eine Sandburg, während Anne ihm dabei zusah und aus einer Kokosnuss trank. In seiner Vorstellung war ihre wunderschöne Oberlippe schon ganz weiß davon. Und Kastner wusste: Wenn die Sandburg erst einmal fertig wäre, würde er ihr die Kokosmilch von der Lippe küssen, was schmecken würde wie …
»Ich glaub’, ich spinn’!« Mit diesem beinahe gekreischten Ausruf riss Anne den Kollegen nun endgültig aus seinen märchenhaften Gedanken. Während Kastner die ganze Kraft seiner Phantasie dazu aufgewandt hatte, um sich in eine Südseelagune zu träumen, hatte Anne ihren Blick weiter in tiefster Konzentration über die Tabellen und Diagramme gleiten lassen. Und dann war eine Art Wunder geschehen. Denn just in dem Moment, in dem ihr alles vor den Augen verschwommen war, weil es nichts zu erkennen gab auf diesen nichtsnutzigen, völlig überflüssig angefertigten DNA-Sequenzen, just in diesem Moment war ihr Blick auf ein anderes Blatt gefallen, das zufällig auch noch auf ihrem Schreibtisch lag: Es war der Zeitungsartikel, auf dem Felix für Madleen seine Handynummer notiert hatte.
Bislang hatte Anne immer nur die Handschrift des nun nicht mehr Verdächtigen studiert und versucht, aus der Form der Schrift Schlüsse auf seinen Charakter zu ziehen. Doch nun, da ihr Blick an Konzentration verloren hatte, nahm sie plötzlich den Inhalt des Zeitungsartikels wahr: Er berichtete von einem Kriminalfall aus München.
Dem zufolge hatte die dortige Kripo schon vor Monaten bei einem Mann, den sie wegen eines Drogendelikts verhaftet hatte, ein Handyvideo gefunden, auf dem zu sehen war, wie dieser und ein weiterer Täter sich an einer offensichtlich bewusstlosen Frau sexuell vergingen. Laut Fahndungsbericht vermutete die Polizei, dass die beiden Männer – der deutsche Student Tom Garner und der italienische Pizzabäcker Silvio Massone – ihr Opfer auf dem Oktoberfest kennengelernt, ihm heimlich K.-o.-Tropfen eingeflößt und es dann missbraucht hätten. Die Polizei suche bereits seit Monaten erfolglos nach dem Opfer, ohne dessen Aussage eine Verurteilung äußerst schwierig erscheine, las Anne wie elektrisiert. Am Ende des Berichts stand, dass die Kripo München nun erstmals die Öffentlichkeit um Hilfe bitte. Dies auch, weil man die Männer – mangels Opfer und erhärteter Hinweise – kürzlich aus der Untersuchungshaft habe entlassen müssen.
»Das ist es!«, rief Anne mit einer Bestimmtheit, wie Kastner sie an ihr noch nie beobachtet hatte. »Die waren es, da bin ich mir sicher, hundertprozentig!«
Kastner legte seine Waffe beiseite und rannte um den Tisch herum zum Platz seiner Kollegin. Nachdem auch er den Bericht gelesen hatte, meinte er nachdenklich: »Könnte schon sein. Von der Entfernung her wäre es denkbar. Von München hierher sind’s bloß fünfzig Kilometer. Und ob Seefest oder Oktoberfest, das ist g’hupft wie g’schprungen.«
»Ein Täter, der Erfolg mit einem Tatkonzept in München hat, der kann durchaus auf die Idee kommen, das Ganze auch hier bei uns am See auszuprobieren«, fügte Anne hinzu. Sie war wie elektrisiert. Mit einem Ruck schob sie ihren Stuhl vom Tisch weg und sprang auf. »Los, wir müssen handeln!«
»Aber wie?«, fragte Kastner, auch er war plötzlich ganz nervös. »Was müssen mir als Erstes tun? Was als Zweites?«
»Die Kollegen in München«, erwiderte Anne aufgeregt. »Wir brauchen die Kollegen in München. Wir müssen herausfinden, ob diese zwei Typen noch im Land sind. Sonst hauen die uns noch ab!«
Dann ging alles sehr schnell. Denn wie sich herausstellte, war es der Münchner Kripo bislang tatsächlich nicht gelungen, den Studenten Tom Garner und den Pizzabäcker Silvio Massone zu überführen. Es klang verrückt, aber das Mädchen, das die beiden missbraucht hatten, hatte sich noch immer nicht gemeldet. Zuerst hatten die Kripobeamten über alle Medienkanäle mögliche Tatzeugen des Wiesn-Verbrechens dazu aufgerufen, sich zu melden. Als hierauf keine verwertbaren Hinweise eingetroffen waren, war man schweren Herzens sogar so weit gegangen, Bilder der bewusstlosen missbrauchten Frau zu veröffentlichen. Aber auch dieser extreme Schritt hatte nicht dazu geführt, dass sich das Opfer oder jemand, der es kannte, an die Ermittler gewandt hätte.
Jetzt gab es möglicherweise ein weiteres Opfer. Das veränderte die Situation grundlegend. Entsprechend nervös war auch die Münchner Kripo, als Anne und Kastner zur Vernehmung der beiden Verdächtigen ins Polizeipräsidium an der Münchner Ettstraße kamen. Doch der Ausgang war enttäuschend: Tom Garner und Silvio Massone leugneten hartnäckig, etwas mit der Tat am See zu tun zu haben, geschweige denn überhaupt auf dem Seefest gewesen zu sein. Die Verdächtigen, die für Annes Begriffe eine Coolness an den Tag legten, die »zum Kotzen war«, verweigerten nicht nur einen freiwilligen Speicheltest, sie behaupteten obendrein, am Tatabend bei einem befreundeten Wirt in München zu Abend gegessen zu haben und danach sofort nach Hause gegangen zu sein.
Natürlich glaubte Anne den beiden kein Wort. Allerdings ergab eine Überprüfung durch die Münchner Kripo, dass besagtes Essen tatsächlich am Abend des großen Seefests stattgefunden hatte. Und auch die Mutter des noch zu Hause wohnenden Studenten bestätigte, dass jener in der betreffenden Nacht zu Hause genächtigt habe; jedenfalls, so erklärte sie, müsse er, als sie um sieben Uhr aufgestanden sei, bereits zu Hause gewesen sein. Denn die Tür zu seinem Zimmer sei verschlossen gewesen, und sie meine auch, dass seine Schuhe im Hausflur gestanden hätten.
Doch ganz gleich, was die zwei Männer behaupteten: Annes Bauchgefühl sagte ihr, dass sie es hier mit den Tätern zu tun hatte. Wütend, aber immerhin ausgestattet mit den Fotos der Tatverdächtigen, kehrte sie gemeinsam mit Kastner an den See zurück und konfrontierte Nonnenmacher mit ihrer Theorie. Der aber ließ sie zunächst gar nicht zu Wort kommen, so sehr regte er sich darüber auf, dass Anne und Kastner, ohne ihn zu informieren, in die Landeshauptstadt gefahren waren.
»Ja, wo kommen mir denn da hin?«, brüllte der Dienststellenleiter empört. »Wenn jede Henn’ frisst, wann’s mag?«
»Ich bin keine Henne«, antwortete Anne trotzig. »Und wir hatten Sorge, dass wir zu viel Zeit verlieren. Dass die Täter über alle Berge sind, ehe wir in München eintreffen.«
»Ja, und jetzt?«, fragte Nonnenmacher höhnisch. »Jetzt seid’s genauso schlau wie vorher!«
»Nein!«, wehrte sich Anne. »Immerhin haben wir jetzt Fotos von den beiden. Ich werde diese Typen überführen, das verspreche ich Ihnen!«
»Und warum beantragt’s keinen Gentest?«, wollte der Inspektionschef wissen, und es klang nach wie vor abfällig und respektlos.
»Einen freiwilligen haben sie abgelehnt, und ich … ich will …« Anne stammelte plötzlich. »Ich möchte nicht …«
»Das muss man doch auch verstehen«, sprang ihr Kastner bei. »Dass man jetzt nicht noch einmal einen Gentest veranlassen will, wo doch die letzten nicht das erwünschte Ergebnis gebracht haben. Das musst du doch verstehen, oder, Kurt?«
Als Anne den Raum verlassen hatte, meinte Nonnenmacher achselzuckend zu Kastner: »Die ist doch verrückt, oder? Verrückt ist die! Es ist doch erstens total unwahrscheinlich, dass solche Typen so was serienmäßig machen. Die wären ja schön blöd. Zweitens würden bei uns im Tal solche Verbrecher ja wohl sofort auffallen. Und drittens ist für mich sowieso jemand ganz anderer hauptverdächtig.«
»Wer?«, fragte Kastner interessiert.
»Die Araber«, sagte Nonnenmacher, und seine Stimme klang dabei so scharf wie ein herabsausendes Fallbeil.
»Ach Kurt, die haben mir doch alle abgecheckt mit dem Gentest«, setzte Kastner ihm hilflos entgegen. Was der Dienststellenleiter nur immer mit den Arabern hatte! Natürlich hatte so ein Afrikaner insgesamt andere Lebensgewohnheiten als ein Bayer, aber deswegen musste er ja noch lange kein Vergewaltiger sein.
»Einen Schmarren haben mir. Erstens haben mir bloß von dem Scheich und dem halbscharigen Aladdin den genetischen Fingerabdruck. Es kann also durchaus der Koch oder der Diener oder ein Leibwächter gewesen sein. Und zweitens trau’ ich dem Araber auch zu, dass der seine Gene irgendwie manipuliert hat, sodass das nicht übereingestimmt hat, obwohl’s das in Wahrheit müsste. Wer so einen Haufen Geld hat, der kann sicher auch da rumtricksen – wenn’s sogar bei der Tour de France geht.«
»Jetzt red’ doch nicht so einen Schafsscheiß! Erstens arbeiten die bei der Tour de France nicht mit Genmanipulation, sondern mit Blutaustausch, Hormonen und Dings. Und zweitens geht das gar nicht«, meinte Kastner. Der Chef nervte ihn. »Außerdem, wie oft soll ich es noch sagen, haben die Araber das doch überhaupt nicht nötig, sich auf so unmenschliche Art Sex zum holen.«
»Denkst du!«, schnauzte Nonnenmacher zurück. »Für den Araber ist der normale Mensch nix wert, und eine Frau schon gar nicht. Das sieht man ja schon daran, wie der seine Frauen aussucht; als wären’s Rindviecher auf der Kälberauktion.«
Kastner gab auf. Aber auch er war sich nicht hundertprozentig sicher, ob nicht doch einer der Araber der Täter war. War es ein Fehler, sich auf Annes Bauchgefühl zu verlassen? In seinem tiefsten Inneren musste er sich eingestehen, dass seine unumwundene Begeisterung für die schöne Kollegin durch den negativ ausgefallenen Abgleich zwischen dem Sperma aus dem Intimbereich des Opfers mit dem Speichel der Verdächtigen einen Dämpfer erhalten hatte. Allerdings waren für ihn die Araber eigentlich aus dem Rennen. Eher kam für ihn der Hirlwimmer Hanni infrage, der gar so überstürzt ins Ausland abgehauen war. Der Schlagersänger mit den Cowboystiefeln war ein hinterlistiger Fuchs. Aber wie war es zu erklären, dass der Gentest auch ihn eindeutig entlastet hatte?