DREI

Einem jeden vernünftigen Menschen – und davon lebten trotz aller verrückt erscheinenden Ereignisse in dem idyllischen Tal nicht wenige – musste einleuchten, dass die Nachricht, dass eine Gruppe junger und hübscher Hippiemädchen sich bis auf Weiteres am See niedergelassen habe, nicht zur Beruhigung der Gemüter beitragen konnte.

Mit der Ankunft von Pauline, Madleen und ihren Freundinnen vom Zonenhof geriet die Situation derart aus der Balance, dass an manchen Stammtischen schon befürchtet wurde, der See könnte überschwappen und sich in Richtung der Landeshauptstadt entleeren. Aber diese Welle blieb das Gedankenspiel von Stammtischbrüdern.

Die Amazonen hatten auf ihrem Weg durch Sachsen, Thüringen und Bayern eine Spur der Liebe, mancherorts aber auch der emotionalen Verwüstung hinterlassen. Waren sie in den östlichen Bundesländern noch relativ gut vorangekommen, weil das Interesse an dem alten Bus nicht so groß war, so stellte sich die Weiterfahrt ab dem Überschreiten der Grenze zu Bayern als nicht ganz einfach dar. Zahllose Jungbauern aus strukturschwachen Gebieten, aber auch vielversprechende Firmengründer aus der Online-Szene und Handlungsreisende aus dem Solargeschäft versuchten, die eine und andere Amazone von ihren Qualitäten zu überzeugen und zum Dableiben (die Bauern) beziehungsweise zur Weiterfahrt im schmucken, meist bayerischen Sportwagen (die IT- und Sonnen-Fuzzis) zu überreden.

Aber die Mädchen vom Zonenhof hatten sich, ehe sie dem verklemmten Anwalt Droste die Hofschlüssel überreicht hatten, geschworen zusammenzubleiben. Und so gab es zwar jede Menge Sex und Liebeskummer auf deutschen Äckern und Wiesen, aber keine einzige Verlobung. Und das, obwohl meist mehrere Heiratsanträge am Tag abgeschmettert werden mussten.

Natürlich gestaltete sich auch die Ankunft am See als äußerst aufregend. Die am Steuer sitzende Antje rammte nämlich gleich einmal das Einsatzfahrzeug, mit dem Anne Loop und Sepp Kastner an diesem Morgen zum Wachdienst am Hotel vorgefahren waren.

Klar, dass dies nicht das erste Auto war, das die Mädchen auf ihrem Weg durch drei deutsche Bundesländer touchiert hatten, aber es war das erste Polizeifahrzeug. Man sollte dennoch nicht zu streng urteilen: Wenn man niemals eine Busfahrschule besucht und niemals Fahrstunden zum Üben genossen hat, ist es schier ein Ding der Unmöglichkeit, ein derart großes Gefährt auf einem engen Parkplatz zu rangieren, ohne dem einen oder anderen Auto eine Ecke wegzufahren. Antje, die das letzte Stück der Fahrt die Verantwortung für das Steuer übernommen hatte, war schon stolz, die enge Bergstraße zum Casting-Hotel bewältigt zu haben, ohne an einem Zaunpfahl oder einem Strommast hängen geblieben zu sein.

Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien, als hätte es nie eine Schulden- oder Eurokrise gegeben, und so sprangen die Mädchen fröhlich aus dem Bus und machten ihrer Begeisterung für die Einzigartigkeit des bayerischen Bergtals mit seinem wunderbaren See ausführlich Luft.

Ausrufe wie »Oh, ist das schön!«, »Guck mal, die hohen Berge!« oder »Schau mal, da unten fährt’n Boot!« hörte man mehr als einmal, was dazu führte, dass Sepp Kastner, der den Unfall genau beobachtet hatte, in einen gewissen emotionalen Zwiespalt geriet: Einerseits freute er sich, dass diese Girlie-Truppe in Sommerkleidern ganz offensichtlich seine Heimat schön fand, andererseits empfand er es als Unding, dass die Damen aus Sachsen – die Herkunft hatte er sofort am Dialekt erkannt – sich überhaupt nicht um den Schaden kümmerten, den sie mit ihrem Bus angerichtet hatten.

Bei näherer Betrachtung fiel Kastner auch auf, dass das Vehikel nicht zum ersten Mal auf Tuchfühlung mit anderen harten Gegenständen gegangen sein konnte, denn die Karosserie wies überall Beulen und Kratzer auf. Auch die Lackierung des Gefährts fand der Polizist ungewöhnlich. Pauline, Madleen und die anderen hatten den Bus nämlich vor ihrer Abfahrt noch knallrot grundiert und danach mit gelb-weißen Blumen bemalt, von denen die meisten so groß waren wie Autoräder oder sogar noch größer. Aber davon konnte Kastner sich jetzt nicht ablenken lassen, er musste die Unfallverursacherin und den Schaden feststellen.

Dies war aber gar nicht so einfach, denn in dem allgemeinen Tohuwabohu war ihm entgangen, welches der Mädchen am Steuer gesessen hatte. Außer den Damen aus dem Bus war der Platz vor dem Hotel ja auch noch von den üblichen Haremsanwärterinnen bevölkert. Die Sächsinnen standen mittlerweile wie Perlen an einer Kette aufgereiht am Rand des Parkplatzes und bestaunten den See, als wäre er das Kaspische Meer. Kastner zählte siebenundzwanzig bunte Sommerkleider, deren Röcke im bayerischen Wind wehten, und die doppelte Anzahl an Waden. Dann rief er: »Wer ist hier die Fahrerin?«

Die Mädchen drehten sich um und lächelten ihn an. Aber nur Pauline antwortete: »Wieso?«

Jetzt wurde der gutmütige Kastner doch ein wenig grantig: »Weil die gerade einen sauberen Unfall gebaut hat!«

Pauline ging einen Schritt auf ihn zu: »Ist das denn so wichtig, wer gefahren ist? Wir zahlen den Schaden in bar. Wie viel kostet das denn?«

»Tja, das kann ich jetzt noch nicht sagen«, meinte Kastner erstaunt. »Da muss erst einmal ein Gutachter her.«

»Können wir das nicht einfach so unter uns und gleich hier regeln?« Pauline bot ihr verführerischstes Lächeln auf.

»Unmöglich!«, entfuhr es Kastner. »Ich glaub’, ich spinn’! Das ist ein Einsatzfahrzeug der bayerischen Polizei, da geht mit Bargeld gar nix. Wo kommt’s denn ihr überhaupts her?«

»Aus Sachsen.«

»Ach so«, erwiderte Kastner, der sich das ja schon gedacht hatte. Die Herkunft der Damenriege erklärte für ihn einiges. In der DDR, das hatte er schon seinerzeit in der Volksschule gelernt, war es üblich gewesen, sich in möglichst vielen Situationen selbst zu helfen. Aber die DDR gab es nicht mehr, nur die an sich sympathische Überlebensfähigkeit ihrer Einwohnerinnen und Einwohner schien überlebt zu haben. Nicht unfreundlich wiederholte er daher seine Frage von gerade eben: »Also, wer ist gefahren?«

»Niemand«, versuchte die entwaffnend lächelnde Pauline es jetzt auf diesem Weg.

Kastner war ratlos. Eine derartig fröhliche Respektlosigkeit war ihm noch nie untergekommen. Und er hatte schon mit vielen Menschen, auch mit Ostdeutschen, zu tun gehabt, denn der See war gerade auch bei Menschen aus dem Osten ein beliebtes Urlaubsziel. Deshalb war der Polizist froh, dass Anne Loop in diesem Augenblick zu ihm stieß.

»Guten Morgen«, sagte sie freundlich zu Pauline.

»Hi«, antwortete diese.

»Was gibt’s denn für ein Problem?«, erkundigte sich die Polizistin.

»Die wollen nicht sagen, wer den Bus gefahren hat«, erklärte Kastner.

»Das werden wir gleich haben«, meinte Anne. »Dann zeigen jetzt mal bitte alle ihre Führerscheine her, dann werden wir schon sehen, wer überhaupt infrage kommt.«

»Gute Idee«, kommentierte Kastner.

Doch wenige Minuten später war klar, dass dadurch nicht herauszufinden war, wer den Bus gefahren hatte. Zwar zeigten alle siebenundzwanzig Mädchen ihre Führerscheine vor, aber kein einziger berechtigte zum Fahren eines Busses.

»Gut«, meinte Anne immer noch freundlich, »dann ist jetzt Schluss mit lustig. Auf Fahren ohne Führerschein gibt es bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe.«

»Außerdem können mir die Fingerabdrücke der Fahrerin kriminaltechnisch sichern und mit euren abgleichen, dann haben mir die Fahrerin auch. So hat unsere Dienststelle hier schon Mordfälle aufgeklärt«, fügte er selbstbewusst an. Ein bisschen Aufschneiderei konnte nicht schaden.

Pauline glaubte zwar nicht, dass man wegen eines Führerscheindelikts kriminaltechnische Spurensicherung betreiben würde, aber erstens lernte sie die bayerischen Gepflogenheiten gerade erst kennen, und zweitens war es ja eigentlich egal, wenn eine von ihnen ihren Führerschein für eine Weile abgeben musste. Nur das mit der Gefängnisstrafe wollte sie verhindert wissen. Deshalb sagte sie: »Aber das mit dem Gefängnis ist ein Scherz, oder?«

»Nein, so steht es in Paragraf 21 Straßenverkehrsgesetz«, beharrte Anne auf ihrer Drohung.

»Und einen Unfall habt’s ja auch gebaut!«, hielt Kastner der Amazone vor. »Und in den war auch noch ein Polizeiauto verwickelt. Mein lieber Schwan, da kommt ein ganzer Haufen Straftatbestände zusammen.«

»Okay, dann war’s eben ich«, gestand plötzlich Antje und trat vor.

Während Anne die Personalien aufnahm, dokumentierte Kastner den Schaden. Als die Polizisten damit fertig waren, meinte Anne, dass man jetzt nur noch ein Problem habe. Kastner, Antje und Pauline blickten sie überrascht an.

»Na ja, der Bus kann ja hier schlecht stehen bleiben. Und von euch darf ihn keiner mehr bewegen.«

»Stimmt«, meinte Kastner. Aber da fiel ihm etwas ein: »Ich kann den Bus wegfahren. Ich hab’ beim Bund den Busführerschein gemacht. Wo wohnt’s ihr denn? Ich fahr’ euch hin.«

»Also, wir dachten eigentlich, dass wir …« Pauline überlegte. »Gibt’s hier irgendwo ’ne Wiese oder so was?« Anne und Kastner sahen sie amüsiert an. Wiesen gab es im Tal in Hülle und Fülle. »Na ja, wir wollten eigentlich hier campen. Wir wollen auch bei diesem Casting mitmachen, und das wird ja wohl ein paar Tage dauern.«

»Gut, dann fahr ich euch zum Campingplatz«, meinte Kastner großzügig. Die Vorstellung, siebenundzwanzig sächsische Sommerfrischlerinnen durch die Gegend zu chauffieren, gefiel ihm auf Anhieb.

Bereitwillig stiegen die Damen ein, und Kastner setzte sich ans Steuer. Doch als sie am Campingplatz ankamen, stellte sich heraus, dass dort jetzt, zur Hochsaison, auch bei aller Liebe für ostdeutsche Spontaneität, kein Platz mehr war für die Amazonen.

Aber auch hier wusste Kastner Rat. Die ganze Angelegenheit stimulierte seine Kreativität, und so fuhr er mit dem geblümten Bus einfach beim Hof des Kofler Vitus vor. Er fragte ihn ganz direkt, ob er gegen ein entsprechendes Entgelt für einige Zeit ein Zeltlager auf der Wiese neben seinem Hof dulden würde. Der Kofler Vitus, einer der größten Bauern der südlichsten Seegemeinde, erklärte sich gern dazu bereit, fand er doch die Madeln durchwegs fesch, und gegen das Geld hatte er auch nichts einzuwenden. Außerdem konnte er sich auf diese Weise das Mähen sparen. Die Kühe, das gab er aber nur zu, wenn er am Stammtisch schon ein paar Halbe intus hatte, die Kühe hatte er sowieso nur noch, damit das mit dem »Urlaub auf dem Bauernhof« auch halbwegs glaubwürdig wirkte. Auf Milchproduktion setzten seit dem Preisverfall nur noch Phantasten oder Deppen.

Seine Frau war von der Aktion weniger begeistert, doch als sie davon erfuhr, war es ohnehin schon zu spät, etwas dagegen zu unternehmen, denn da waren die zwanzig Zelte schon neben dem alten, aber gut erhaltenen Bauernhof aufgestellt worden. Die Kofler Leni war, als die Amazonen ankamen, gerade beim Friseur im Ort gewesen. Dies nicht in erster Linie der Haarpracht wegen, als vielmehr, um zu erfahren, was es aus dem Orgienhotel Neues gab. Denn so wurde das schönste Haus am See zwischenzeitlich und vollkommen unfreiwillig bezeichnet.

Doch das, was aus dem Hotel an Informationen nach außen drang, waren ja nur Gerüchte. Von den freizügigen Verhältnissen im Zeltlager der Amazonen konnte sich hingegen jedermann fortan höchstpersönlich überzeugen.

Pauline und die anderen sechsundzwanzig Sächsinnen ließen es richtig krachen. Die unverstellte, natürliche Art, durch die sich die Mädchen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR wesentlich von den bayerischen Frauen unterschieden, beeindruckte vor allem auch die Männerwelt im Tal.

Bereits am zweiten Abend nach der Ankunft der Amazonen saßen über ein Dutzend einheimische Männer am Lagerfeuer zwischen den Zelten der Hippiemädchen. Hoteliers und Gastronomen waren keine vertreten, die hatten in den Sommermonaten für solche Späße keine Zeit. Dafür hatten sich mit dem Schlagersänger Hanni Hirlwimmer und dem Gleitschirmweltmeister Heribert Kohlhammer auch zwei veritable Prominente eingefunden.

Die Sächsinnen zeigten sich beeindruckt von der perlenden Frische des bayerischen Biers, das ein Mitarbeiter der hiesigen Brauerei mit Liebe und Sachverstand aus einem eigens bei seinem Arbeitgeber abgestaubten Fass zapfte. Doch nicht nur dem Bier wurde ausgiebig zugesprochen, die partyerprobten Girls fuhren auch ein ganzes Arsenal an Rauchgeräten und -waren auf. Hier zeigte sich, dass Hanni Hirlwimmer aufgrund seiner Karriere auch drogenmäßig ein Mann von Welt war, denn ganz gleich, ob man ihm Wasserpfeife, Bong oder einen umgebauten Staubsauger anbot, der Hirlwimmer ließ sich nicht lumpen. Bereits um elf Uhr abends glänzten seine Augen wie die eines Fünfjährigen an Heiligabend, und er kuschelte sich bekifft, besoffen und verträumt an die resche Brust einer Amazone. Hirlwimmer war in diesem Augenblick der glücklichste Mensch der Welt, wenngleich er sich an den Namen der Schönen später nicht mehr erinnern konnte.

Auch Kohlhammer zeigte Sportsgeist. Doch da für ihn als Gleitschirmflieger der Sommer Wettkampfsaison war, kiffte und trank er nur ganz wenig, schmuste dafür aber mit drei Frauen gleichzeitig. Dies sorgte kurzzeitig für schlechte Stimmung unter den anderen, nicht so berühmten Partygästen, denn eigentlich hatte man in Bayern bislang nach der Grundregel gelebt, dass eine Frau, egal ob Sächsin oder nicht, für einen bayerischen Mann genügen sollte. Es gab also eine kurze Diskussion, in der Kohlhammers Eloquenz und die Muskelkraft des Beschwerdeführers ins Feld geführt wurden. Kohlhammer lenkte schließlich ein und erklärte sich bereit, nur noch mit maximal zwei Frauen zu knutschen. Da aber nach Mitternacht sowieso ein gewisser Frauenüberschuss herrschte, weil die anwesenden Männer entweder im Koma lagen, zurück zu ihren Ehefrauen mussten oder aber zum Knutschen und zu sonstigen Verlustigungen wegen ausgiebigen Betäubungsmittelgebrauchs technisch nicht mehr imstande waren, gab es im weiteren Verlauf der Nacht keine Diskussionen mehr über Sinn und Gerechtigkeit der Vielweiberei. Ein Sieg der Vernunft unter widrigsten Bedingungen.

Aber auch andere Probleme lösten sich in der bayerischen Luft auf wie Zucker in Caipirinha.

Sepp Kastner hatte den Mädchen, nachdem er sie auf Vitus Koflers Feld abgeladen hatte, schärfstens eingebläut, sich auf keinen Fall noch einmal ans Steuer zu setzen. Doch wie sollten die Amazonen dann zum mehrere Kilometer entfernten Harems-Casting in der Stadt kommen?

War es Zufall, Schicksal, Vorsehung, was den Mädchen daraufhin widerfuhr?

Just als die Mädchen vom Zonenhof begonnen hatten, ihre Zelte aufzubauen, wanderte jedenfalls ein sehr stark und schwarz behaarter Mann mit braun gebrannter Haut am Feld des Bauern Kofler vorbei. Es handelte sich um einen von Beduinen abstammenden Libyer mit Namen Mohammed, der nicht mit ansehen konnte, dass Frauen Zelte aufbauten. Einmal mehr wunderte er sich über die Europäer – warum sprang den Damen niemand helfend bei? Spontan verschob der Nordafrikaner und Menschenfreund seinen ursprünglichen Plan, über München und Köln nach Schweden zu laufen, und half den Sächsinnen bei der Errichtung ihres Lagers. Obwohl Mohammed, der von sich behauptete, erst zweiunddreißig Jahre alt zu sein, aber viel älter aussah, nur ein schwer verständliches Deutsch sprach, fand Pauline heraus, dass er auf einem Flüchtlingsschiff vor den Unruhen in seinem Land geflüchtet und zu Fuß durch halb Europa marschiert war. Mehrmals sei er fast verhungert, und außerdem habe er Heimweh, gestand er, doch seit er dieses Zeltlager gesehen habe, gehe es ihm schon viel besser. Ein Zeltlager, so der gute Mann, verströme für ihn den Duft der Geborgenheit. Pauline hatte sofort Mitleid mit dem natürlich in einem Zelt geborenen Nomaden, hatten doch auch sie den Zonenhof so überstürzt verlassen müssen, und bot ihm eine Stelle als Hausmeister in der frisch gegründeten Zeltstadt an. Dies widersprach zwar der Hauptregel, dass die Amazonen männerlos zu leben hatten, aber zum einen war man nun in Bayern, wo, wie jeder weiß, eigene Gesetze gelten, und zum anderen handelte es sich bei Mohammed um einen humanitären Notfall. Erst später am Lagerfeuer stellte sich heraus, dass der Flüchtling über einen libyschen Busführerschein verfügte. Hier hatte wahrlich Gott – oder zumindest der bayerische Papst – die Hand im Spiel!

Und so hielt der rote Blumenbus voller fröhlicher Mädchen gleich tags darauf wieder vor dem Casting-Hotel, was bei Sepp Kastner, der an diesem Tag ohne Anne Dienst schob, für einen kurzen, aber intensiven Augenblick des Schreckens sorgte.

Sofort stellte er den am Steuer sitzenden Mohammed zur Rede. Pauline sprang dem radebrechenden Libyer bei, was auch nötig war, denn der Beduine hatte ganz offensichtlich schreckliche Angst vor dem deutschen Polizeibeamten. Pauline erklärte ihm, dass der Polizist nur seinen Busführerschein sehen wolle. Als Mohammed verstanden hatte, verschwand seine rechte Hand vorn in seiner Hose, was dem Flüchtling entsetzte Blicke sowohl von Sepp Kastner als auch von Pauline eintrug. Aber dann zog der Wüstenbürger aus den Tiefen seiner Unterhose ein brieftaschengroßes Päckchen hervor, das sich als eine in echtes libysches Ziegenleder gewickelte Sammlung wichtiger Dokumente entpuppte. Da staunten Pauline und Kastner. Noch mehr staunten sie, als sie den Busführerschein sahen. Egal, ob man der arabischen Schrift mächtig war oder nicht, es ließ sich auf dem Lappen, den Mohammed dem Polizisten freudestrahlend entgegenreckte, praktisch nichts erkennen.

»Und das soll ein Busführerschein sein?«, fragte Kastner ungläubig.

»Ja ja«, erwiderte der Libyer, »aber viel waschen mit Wasser von Meer. Mohammed Lampedusa schwimm schwimm.«

»Er meint«, übersetzte Pauline, die ja Mohammeds Geschichte vom gestrigen Abend am Lagerfeuer schon kannte, »dass der Führerschein unter der Tatsache gelitten hat, dass er den Weg vom Schiff zur italienischen Insel Lampedusa schwimmen musste.«

»Ja, da kann ich auch nix machen«, meinte Kastner und zuckte mit den Schultern. »Aber lesen können muss man so einen Führerschein schon, sonst bringt der nix. Außerdem ist eh fraglich, ob ein libyscher Führerschein hier in Bayern gilt. Können Sie, Herr Mohammed, nicht die Ausstellung eines neuen Dokuments beantragen, zu Hause bei Ihnen?«

Mohammed schüttelte heftig den Kopf. »Zu Hause Kanone bumm bumm.« Dann spreizten sich die Finger seiner rechten Hand zu einer imaginären Pistole, die er sich an die Schläfe hielt, und er machte noch einmal »bumm«.

Kastner sah den Nordafrikaner fasziniert an. Er hatte hier am See schon viele fremde Menschen kennengelernt, aber so ein Exemplar wie der Mann aus dem einstigen Gaddafi-Staat war ihm noch nie untergekommen.

»Er meint«, schaltete sich Pauline wieder ein, »dass in seinem Land Krieg ist. Dass dort die Regierung auf ihre eigenen Bürger mit Kanonen schießt, dass Mord und Totschlag herrschen.«

»Ja, ja, schon klar«, meinte Kastner nachdenklich, »dass in so einer Situation kein Führerscheinantrag bearbeitet werden kann. Das tät’ man nicht einmal bei uns Bayern schaffen. Jedenfalls nicht zeitnah.«

»Können Sie nicht ein Auge zudrücken, Herr Kriminalkommissar?«, fragte Pauline nun und klimperte mit den Wimpern.

Kastner wurde es sofort ganz warm ums Herz, dann sagte er so laut, dass es auch sein Kollege, mit dem er heute Dienst vor der »Reception« schob, hören konnte: »So, Herr Mohammed, dann packen’S jetzt Ihren Führerschein wieder ein. Es scheint ja alles in bester Ordnung. Aber stehen bleiben könnt’s ihr hier mit dem Bus fei nicht. Das ist euch schon klar, oder?«

»Aber wir wollten doch beim Casting mitmachen«, entgegnete Pauline überrascht.

»Ja, aber mir haben jetzt hier ein neues System.«

Kastner erklärte der Chefin der Amazonen, dass fortan jede junge Frau, die bei der Haremsauswahl mitmachen wollte, eine Nummer ziehen müsse. Dies sei eine Idee des Hoteldirektors Geigelstein gewesen, der als Gymnasiast mal einen Schnuppertag beim Kreisverwaltungsreferat in München absolviert habe. Man könne des Ansturms der Frauen sonst nicht mehr Herr werden. Deshalb müssten auch Pauline und ihre Freundinnen eine Nummer ziehen – und dann heiße es erst einmal warten. Denn die Nummern, die heute gezogen würden, seien erst ab übermorgen dran. Der Scheich habe nämlich schon über dreihundert Frauen gecastet. Und der Herr Aladdin, der Assistent und Cousin des Scheichs, habe gesagt, dass der Emir erschöpft sei und sich etwas schonen müsse, weshalb er beim besten Willen nicht mehr so produktiv und zügig casten könne wie bisher. »Drei Herzinfarkte hat der Raschid bin Suhail schon gehabt«, fügte Kastner dramatisch hinzu. »Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn man nicht nur die Verantwortung für ein Königreich, sondern auch zusätzlich noch für fünf Ehefrauen trägt.«

Pauline sah ein, dass sie und ihre Gefährtinnen Geduld haben mussten. Sie verabschiedete sich von Kastner und lud ihn ein, sie am Abend im Zeltlager zu besuchen.

Sepp Kastner überlegte lange, ob er der Einladung in das Zeltlager wirklich folgen sollte. Am See genoss er als allzeit seriöser Polizist ja ein gewisses Ansehen. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, ging es im Zeltlager recht freizügig zu. Zudem war eines der wichtigsten Gebote für den Erfolg seiner Arbeit das der unbedingten Neutralität. Und schließlich konnte ihm ein Besuch bei den Hippiemädchen womöglich dabei schaden, Anne Loop von seinen Qualitäten als Mann zu überzeugen. Doch gerade was den letzten Punkt anging, lief die Sache derzeit ohnehin nicht rund. Sosehr er sich auch um Annes Gunst bemühte, über einen rein freundschaftlichen Umgang mit der »Angelina vom Bergsee«, wie man Anne in Anspielung auf den berühmten Filmstar Angelina Jolie nannte, kam er nicht hinaus. Und dann fragte ihn seine Mutter bei der Abendbrotzeit mit gesalzenem Radi und kaltem Leberkäs auch noch, ob er jetzt eigentlich schon ein »anständiges Madel« gefunden habe, das er heiraten und mit dem er ihr Enkelkinder schenken werde – sie wisse schließlich nicht, wie lange der Herrgott sie noch auf Erden weilen lasse.

Das alles schlug sich auf Kastners Gemüt, und so erklärte er seinen Besuch im Zeltlager zum Ermittlungsauftrag, mithin zu einem dienstlich notwendigen Termin. Sollte Nonnenmacher oder irgendjemand anderer ihn später danach fragen, was er, Kastner, an einem lauen Sommerabend auf einer frisch gemähten Wiese mit siebenundzwanzig leicht bekleideten und unverheirateten Mädchen aus Ostdeutschland verloren gehabt habe, würde die Verhinderung von Gefahren für die Bevölkerung sicherlich ein Grund sein, den man nennen konnte.

Im Nachhinein muss man sagen, dass vor allem Kastner sich durch diese Entscheidung in Gefahr begab. Denn kaum war der Polizist in den Kreis, der sich um das Lagerfeuer scharte, aufgenommen worden, spürte er schon links und rechts seines Gesäßes zwei weiche sächsische Hüften. Von den beiden Damen neben ihm ging zudem ein die Sinne betörender Duft nach Natur und Abenteuer aus, den Kastner so noch nie gerochen hatte.

Auf der anderen Seite des Lagerfeuers erkannte Kastner den berühmten Gleitschirmprofi Heribert Kohlhammer, der allerdings mit Knutschen beschäftigt war. Und als Kastner sah, dass der Hanni Hirlwimmer, der so harmlose Lieder über die Liebe sang, gerade an einer großen trichterförmigen Zigarette zog, welche er dann an seine Nachbarin weitergab, wollte der Polizeibeamte schon aufspringen und sich so schnell wie möglich nach Hause absetzen. Doch weil die Arme der beiden Sächsinnen neben ihm ihn mit geradezu unwiderstehlicher Zärtlichkeit umschlangen, geriet der durch und durch geradlinige Polizist ein wenig aus der Spur. Man kann durchaus behaupten, dass dieser Kontrollverlust noch dadurch gesteigert wurde, dass ihm eine seiner Nachbarinnen einen Joint in den Mund steckte. Zwar tat es Kastner dem einstigen amerikanischen Präsidenten gleich und inhalierte nicht, aber dennoch konnte sich der standhafte bayerische Polizist nicht gänzlich der Wirkung des Betäubungsmittels entziehen; die Dame, welche rechts von ihm saß, pustete ihm nämlich auch noch eine ganze Ladung von dem Kräuterrauch ins Gesicht. Das Erstaunliche dabei war, dass Kastner diesen Vorgang als überhaupt nicht unangenehm empfand. Auch im weiteren Verlauf des Abends kam er immer mehr zu dem Schluss, dass diese Frauen aus Ostdeutschland schon wussten, wie man den Glauben an das katholische Lebenskonzept, das leider Gottes vor allem auf irdischer Entsagung gründete, mit ein paar qualmenden Bio-Kräutern, Liebe und nach Reinheitsgebot gebrautem Bier erschüttern konnte.

Was noch alles in der Nacht passiert war, daran konnte sich Sepp Kastner später nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls erschien ihm unvorstellbar, dass stimmte, was ihm sein Chef Kurt Nonnenmacher am nächsten Morgen ins Gesicht schrie: In Kastner müsse der Teufel eingefahren sein. Oder wie er sonst erklären könne, dass er, Kastner, bekifft und besoffen geheime Interna der Polizeiarbeit verraten habe, am Lagerfeuer mit dreißig ostdeutschen Nymphomaninnen?

Es seien nur siebenundzwanzig gewesen, brachte Anne Loops größter Verehrer zaghaft vor. Seine Denkfähigkeit war an diesem Morgen aber tatsächlich etwas eingeschränkt. Zu welchen Handlungen hatte er sich hinreißen lassen? Aufgewacht war er am Morgen jedenfalls in seinem eigenen Bett.

»Ich habe heut’ früh den Hirlwimmer getroffen, und der hat mir erzählt, was du dir gestern geleistet hast, Sepp! Unglaublich! Wie sollen mir denn die Sicherheit von diesem dahergelaufenen Araber-Kini gewährleisten, wenn du alles verrätst? Warst du denn komplett dicht, oder was?«

»Was soll ich denn verraten haben?«, erkundigte sich Kastner vorsichtig.

»Du Depp! Dienstpläne hast du verraten und sogar angeboten, dass du dafür sorgen kannst, dass die Sächsinnen beim Casting bevorzugt behandelt werden. Das stimmt doch überhaupt nicht. Mir haben doch mit dem Casting gar nix am Hut. Und mir sind doch auch heilfroh, dass mir damit nix am Hut haben!«

Kastner wusste nicht, was er antworten sollte. Der Chef hatte ja recht. Hatte er wirklich derart kühne Reden geschwungen? Sein Schädel brummte dumpf, aber der Inspektionsstellenleiter schrie weiter: »Und morgen ist Seefest! Und mir haben einen Sauhaufen Arbeit. Und du feierst Orgien mit Schlampen. Sepp, das geht nicht. Du musst dich jetzt am Riemen reißen!« Nonnenmacher dachte kurz nach, sah zum Fenster hinaus. Dann fragte er scharf: »Sag mal, hast du auch Drogen genommen?«

»Na-in.« Kastner stöhnte auf. »Also sicher … ziemlich sicher nicht.« Er zögerte. »Warum? Hat das der Hirlwimmer behauptet?«

»Sepp, du machst einen Drogentest. Jetzt sofort. Mir kommen sonst in Teufels Küche. Wenn du Cannabis im Blut hast, musst du Sonderurlaub beantragen, ganz ehrlich.«

Sepp Kastner räumte kleinmütig das Feld. Statt zum Drogentest ging er allerdings erst einmal in sein und Anne Loops Dienstzimmer, goss sich einen Filterkaffee mit extra viel Süßstoff ein und ließ sich auf den Bürostuhl fallen.

Dass Nonnenmacher nicht nur wegen Kastners Eskapaden so erzürnt war, sondern auch wegen Vorkommnissen in seinem privaten Umfeld, konnte Kastner ja nicht wissen.

Just zu dem Zeitpunkt nämlich, als Kastner am Lagerfeuer nach hinten ins Gras gesunken war und sich sofort die Lippen seiner zwei Nachbarinnen im Rahmen einer relativ frei interpretierten Mund-zu-Mund-Beatmung auf die seinen gesenkt hatten, hatte Helga Nonnenmacher ihren Mann zur Rede gestellt: Ob es stimme, dass er sich am Stammtisch für die Vielweiberei ausgesprochen habe? Ob er sie denn überhaupt noch liebe?

Auf die erste Frage hatte Nonnenmacher eher ausweichend geantwortet, war er doch der Auffassung, dass es durchaus Vorteile haben konnte, mit mehreren Frauen verheiratet zu sein – auch für die betroffenen Frauen. Aber wie sollte er die Komplexität dieses Phänomens, das womöglich von einem weiblichen Gehirn ohnehin nicht vollkommen durchblickt werden konnte, jetzt seiner Gattin erläutern, die sich offensichtlich in einem Zustand äußerster Streitlust befand?

Die zweite Frage hatte er von Herzen und ohne Zögern mit einem deutlichen »Ja« beantwortet. Denn so eine wie die Helga, das war ihm klar, würde er selbst als Scheich nicht noch einmal finden. Sollte es in Bayern also mit der Vielweiberei vorerst nichts werden, würde er mit seiner Helga auch weiterhin sehr gut auskommen können.

Allerdings hatte seine zutiefst glaubwürdige Liebeserklärung dazu geführt, dass Helga den sofortigen Vollzug des Geschlechtsakts eingefordert hatte, was Nonnenmacher an jedem anderen Tag in einen Zustand höchster Freude versetzt hätte. Aber ausgerechnet heute Abend hatte er sich zwei Halbe mehr genehmigt als sonst, insgesamt sechs Bier waren es, also drei Liter, was in der Nacht zu gewissen Komplikationen im ehelichen Schlafzimmer führte.

Der Besuch des Scheichs und die Ankunft der Hippiemädchen hatten im Tal für so viel Aufregung gesorgt, dass das wichtigste Ereignis des Jahres beinahe ein wenig in den Hintergrund gerückt war. Aber natürlich sollte auch in diesem Sommer das berühmteste Seefest der Republik stattfinden. Es wurde nur an einem einzigen Tag im Jahr gefeiert und verwandelte die Gassen und Straßen der Stadt in einen Rummelplatz der Gefühle, einen Tanzboden des Glücks. An diesem Tag ritten auch Menschen, die sonst über Selbst- oder Gattenmord nachgrübelten, elegant wie Surfweltmeister auf einer Woge von Genuss, Liebe und Frohsinn. Bereits am Vormittag bauten die heimischen Wirtsleute Tische und Bänke, Stände und mobile Küchen, Bierzapfanlagen und Musikbühnen auf. Sogar auf dem Wasser lag schon bald ein hölzernes Floß für den Auftritt der Trachtentanzgruppe bereit. Die Musiker der Blaskapellen und die Alphornbläser kontrollierten und polierten ihre Instrumente. Die einheimischen Mädchen und Frauen gingen noch schnell zum Friseur und bügelten die Falten aus ihren Dirndln, die Mannsbilder schlüpften in ihre zum Teil eigens für den Anlass gekauften maßgeschneiderten Trachtenjoppen und Lederhosen. Dafür konnte man schon ein kleines Vermögen ausgeben, aber das Geld verlor wegen der dauernden Krisen sowieso jeden Tag an Wert, und eine handgefertigte Hose aus Hirschleder galt als lebenslange Geldanlage, ähnlich wertstabil wie Gold, aber mit dem Vorteil, dass man mit ihr größere Teile des Körpers bedecken konnte als nur ein Stück von Hals, Fuß oder Finger.

Das Seefest genoss im Tal einen ähnlichen Stellenwert wie in München das Oktoberfest. Für die Polizeitruppe um Anne Loop, Kurt Nonnenmacher und Sepp Kastner stellte der mit dem traditionellen Fest verbundene Ansturm auswärtiger Gäste eine gewaltige Herausforderung dar. Bis aus Kiel, Rostock, Hamburg und sogar Amerika und China reisten dafür die Menschen an. Und die Polizisten mussten für die Sicherheit sorgen, die wichtigsten Straßen der Stadt sperren und sinnvolle Umleitungen planen, Parkplätze ausweisen, fliegende Händler ohne Genehmigung festnehmen et cetera. Für die Gewährleistung des reibungslosen Ablaufs auch auf dem Wasser besaß die Polizeidienststelle sogar ein eigenes Motorboot, auf das man verständlicherweise mächtig stolz war.

Insbesondere um die Sicherheit der Teilnehmer des Sautrogrennens sorgte sich Kurt Nonnenmacher, denn er selbst hatte als junger Mann mehrmals an diesem Wettkampf teilgenommen, der mit mehr oder minder schwimmfähigen Bottichen ausgetragen wurde. Regelmäßig havarierten die teilnehmenden Teams und drohten zum Hechtfraß zu werden. Nonnenmacher hoffte, dass in diesem Jahr alles gut ausgehen würde und man keinen Sautrogruderer vor dem Tod im Wasser würde retten müssen. Für die Beaufsichtigung des Fackelschwimmens des Tauchvereins hatte er Anne Loop und Sepp Kastner eingeteilt. Schwimmen würde er an diesem Abend sicher nicht mehr müssen. Ein richtig gutes Gefühl hatte er für dieses Seefest!

Wie man sich nur täuschen kann …

Anne Loop hatte den Dienst beim Seefest gerne übernommen, denn der Dienststellenleiter hatte ihr erlaubt, ihre Tochter Lisa auf die Streifengänge mitzunehmen. Und so wohnten die beiden gemeinsam mit Sepp Kastner dem atemberaubenden Auftritt von Hanni Hirlwimmer bei. Wie immer trug er Cowboystiefel zur bayerischen Lederhose, und wie immer riss er die Menschen mit. Das Lied, das er eigens für das diesjährige Seefest komponiert hatte, hieß »Tausendundeine Seenacht«. Es handelte von Romantik, Reichtum und Liebe, eben jenen Dingen, die die Menschen bewegen. Wie gut Hanni Hirlwimmer sein Handwerk verstand, mögen diese beispielhaft aufgeführten Verse illustrieren:

 

Sei mein Scheich, ich will dich gleich.
Du sollst mich heiraten und ich dein Geld.
Ich will ein Schloss, die ganze Welt.
Ich will tanzen, bis ich glücklich bin und reich.

 

Viele Nächte, tausendundeine,
will ich mit dir sein und nicht alleine.
Sei mein Held, halt meine Hand,
ich zieh mit dir ins Märchenland.

 

Dort bin ich Prinzessin,
und zwar nur für dich.
Das wird sich lohnen,
für dich und mich.«

 

Auch einen Refrain hatte sich Hanni Hirlwimmer ausgedacht, der – dessen war sich der Schlagerbarde sicher – in diesem Sommer jedes Bierzelt zwischen Berchtesgaden und Konstanz in ein Tollhaus der guten Laune verwandeln würde:

 

Hey, hey, ihr lieben Leute,
wir feiern hier und heute
tausendundeine Nacht,
wir feiern, dass es mächtig kracht,
ja, wir feiern, dass es mächtig kracht.

 

Der Song war nun nicht ganz das, was Anne Loop sich privat anhörte, aber zumindest Lisa fand das Lied lustig. Sepp Kastner befand, dass der Hirlwimmer es einfach »auf dem Kasten« habe, ja, er verwendete genau dieses Wort, und er erholte sich dank der frischen Luft und der guten Stimmung bis zum abschließenden Feuerwerk wieder ganz ordentlich von der Nacht im Zeltlager.

Neben dem eigens für das Fest geschriebenen Lied des einheimischen Schlagerstars war das neue Auto des Bürgermeisters der nördlichsten Seegemeinde ein gern gewähltes Gesprächsthema an den Biertischen. Der Sportwagen, darüber war man sich einig, musste ein Vermögen gekostet haben. Allerdings war in der vergangenen Zeit in der Bürgermeisterfamilie niemand gestorben, weshalb man eine Erbschaft ausschloss und wilde Spekulationen über den plötzlichen Geldsegen anstellte.

Alle Diskussionen wurden aber zur Nebensache, als der Himmel über dem schwarzen, nur von Lampions erleuchteten See in bunte Farben zersprang. Nicht nur das Brillantfeuerwerk, das in diesem Jahr erstmals musikalisch begleitet wurde, war – so die einhellige Meinung sowohl unter den Feiernden als auch unter den verantwortlichen Polizeikräften und Würdenträgern wie Bürgermeistern und Räten – gelungen, nein, das ganze Seefest war das schönste seit vielen Jahren. Nicht einmal das Privatfeuerwerk des Prominenten vom anderen Seeufer, das dieses Mal ein wenig aufschneiderisch und arg lang geraten war, konnte da stören. Der Bernbacher Franz vom Organisationskomitee, der bislang den ganzen Abend nur umhergehetzt war und es vermieden hatte, Alkohol zu trinken, genehmigte sich vor lauter Erleichterung gleich eine ganze Maß auf ex.

Auch Anne war froh, dass das Seefest ohne größere Zwischenfälle abgelaufen war, und brachte nun, so schnell es ging, ihre todmüde Tochter nach Hause und ins Bett. Kastner seinerseits spielte kurz mit dem Gedanken, noch einen Abstecher ins Zeltlager der Hippiemädchen zu machen, doch dann besann er sich und ging lieber nach Hause, wo seine Mutter trotz der späten Stunde schon mit einer heißen Rindfleischbrühe und den üblichen Vorhaltungen auf ihn wartete.