VIER

Sah man einmal davon ab, dass nicht wenige Personen noch etwas verkatert waren, brach der Tag nach dem Seefest ruhig und friedlich an. Doch sollte er Anne Loop und mit ihr das ganze Tal in gehörige Aufregung versetzen.

Wie jeden Morgen hatte Anne ihre Tochter mit dem Fahrrad in die Schule gebracht. Das Mädchen war zwar müde, weil es erst so spät ins Bett gekommen war, aber das war nicht weiter schlimm, denn bis zu den Sommerferien war es nicht mehr lang. Als Anne schließlich ihr Mountainbike vor der Polizeidienststelle abgesperrt und sich umgezogen hatte, stieg sie die Treppe ins Erdgeschoss hinauf.

Doch weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment rannte ihr ein ziemlich aufgeregter Sepp Kastner entgegen. Drei Stufen auf einmal nehmend, hastete er die Treppe hinunter, packte Anne am Arm und riss sie mit sich zum Einsatzwagen. Dass etwas wirklich Schlimmes passiert sein musste, hatte Anne erst so richtig begriffen, als sie neben ihm im Auto saß. Dank Blaulicht und Sirene standen die beiden nur Minuten später im Uferkies an der Nordspitze des Sees, ziemlich genau unterhalb des Guts Kaltenbrunn, dessen Zukunft von Gemeinderat und Bevölkerung so hitzig diskutiert wurde.

Auf dem Boden lag eine Leiche. Die junge Frau war zweifellos hübsch und bis auf ein Spitzenhemdchen unbekleidet. Ihr Körper wies keine Spuren von Gewalt auf, sofern sich das, ohne die Leiche zu bewegen, beurteilen ließ.

Der Mann, der sich neben der Frau aufhielt, gab zu Protokoll, er heiße Veit Höllerer, Jahrgang 1932, und bis zur Rente habe er als Schneider gearbeitet.

Anne verständigte sofort die Kripo in der Kreisstadt und sperrte das Gelände mit einem rot-weißen Band weiträumig ab. Den Rentner, der behauptete, die Leiche lediglich gefunden, sonst aber nichts mit dem Mord zu tun zu haben – insbesondere die Frau auch nicht zu kennen –, schickte Anne nach Aufnahme der Personalien nach Hause. Warum der Mann von einem Mord sprach, leuchtete ihr zu diesem Zeitpunkt nicht ein. War es ein Fehler gewesen, ihn gehen zu lassen? Sonderbar fand sie auch, dass der Mann im Weggehen gelacht und etwas gemurmelt hatte wie: »Schon komisch, diese Teufelshörner, schon komisch …«

Natürlich war auch Anne von den markanten Tätowierungen im Schambereich der Toten irritiert, aber wie konnte man angesichts der Situation darüber lachen? Immerhin war hier ein Mensch viel zu jung gestorben!

Anne machte erste Fotos von der Auffindesituation der Leiche und den Spuren, von denen der Zeuge Höllerer behauptet hatte, sie seien dadurch entstanden, dass er die leblose Frau aus dem Wasser gezogen habe. Da sei sie aber schon tot gewesen. Jedenfalls habe sie sich im Wasser nicht bewegt. Auch den Birkenast, mit dem Höllerer den Körper ans Ufer gezogen haben wollte, fotografierte Anne und suchte nach weiteren Spuren im Kies. Doch dieser Teil des Ufers, das wusste sie, wurde von vielen Spaziergängern frequentiert. Und wer sagte denn, dass es stimmte, was der Zeuge behauptet hatte, dass die Leiche auf dem See getrieben sei? War das Mädchen ertrunken? Oder war es schon vorher tot gewesen und womöglich dann ins Wasser geworfen worden? Handelte es sich um einen Unfall oder um Mord? Gerade im Sommer hörte man ja immer wieder davon, dass Menschen beim Schwimmen einen Herzinfarkt erlitten und dann im Wasser starben. Zu diesen Fragen würde die Rechtsmedizin ihnen aber sicherlich bald mehr mitteilen können. Wann kamen die Kollegen nur endlich?

Anne war heilfroh, als nach etwa einer Stunde das Kripoteam aus der Kreisstadt am Fundort eintraf. Wie schon bei den Ermittlungen um den mysteriösen Tod des Milliardärs Kürschner vor zwei Jahren war es Sebastian Schönwetter, der die Leitung innehatte. Er, die Spurensicherer und der Arzt verrichteten routinemäßig ihre Arbeit. Anne stand etwas abseits, beobachtete die Kollegen aber genau. Wie sie mit Klebestreifen Stoff- und andere Materialreste sicherten, wie sie mit Handschuhen herumliegende Gegenstände wie Zigarettenkippen, Kronkorken und Getränkedosen in Tüten steckten und diese beschrifteten. Wie sie fotografierten und die Temperatur der Toten festhielten. Sepp Kastner kümmerte sich währenddessen mit anderen Kollegen um die noch weiträumigere Absperrung des Geländes, denn nichts konnte man jetzt weniger brauchen als Touristen, die dumme Fragen stellten oder wichtige Spuren vernichteten.

Wenige Stunden später fand im Besprechungsraum der Polizeidienststelle ein Treffen mit der Kripo statt. Anne Loop spürte sofort, dass Sebastian Schönwetter etwas irritiert war, als Kurt Nonnenmacher mit einem Löffel gegen die vor ihm stehende Kaffeetasse klopfte und sich derart übertrieben räusperte, dass alle Gespräche verstummten.

»Also dann«, sagte der Leiter der Polizeidienststelle vom See. »Ich begrüße euch zur Lagebesprechung und bitte darum, Bericht zu erstatten. Die Kripo bitte ich aber, sich kurz zu fassen, weil mir ja gleich nachher auch noch die zweite Lagebesprechung wegen dem Scheich machen müssen und von daher nicht ganz so viel Zeit haben. Der Fall scheint mir ja eh klar zum sein.« Nonnenmacher spürte die befremdeten Blicke der anderen und fügte deshalb erklärend hinzu: »Das Madel wird halt nach dem Seefest knalldicht in den See gesprungen sein und ist dann dersoffen.«

Schockiert betrachtete Anne ihren Chef. Was bildete Nonnenmacher sich ein? Sich hier aufzuplustern, die Kripokollegen unter Druck zu setzen und zudem noch irgendwelche gewagten Theorien zu äußern, obwohl er keine Ahnung von den Sachverhalten hatte! Er war noch nicht einmal am Fundort gewesen, und die Leiche hatte er auch nicht gesehen. Gespannt wartete sie auf Schönwetters Reaktion.

Der ließ sich aber nichts anmerken, sondern dankte Nonnenmacher vielmehr dafür, dass sie »seinen« Konferenzraum nutzen durften und dass er sich für die Lagebesprechung Zeit nehme, obwohl er danach noch eine viel wichtigere abzuhalten habe. Die Identität des Mädchens stehe noch nicht fest, konnte Schönwetter noch erklären, doch weiter kam er nicht.

»Die kommt garantiert nicht von hier«, unterbrach ihn nämlich Nonnenmacher. »So was passiert normalerweise bloß Auswärtigen, dass die besoffen dersaufen.«

Anne zog peinlich berührt den Kopf ein, Schönwetter aber referierte ungerührt weiter: »Es wäre wichtig, herauszufinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Womit wir auch schon beim zentralen Punkt unserer heutigen Besprechung wären.« Er sah Nonnenmacher ernst, aber freundlich an. »Ich habe bereits mit dem Präsidium telefoniert. Man hat uns grünes Licht für eine intensive Zusammenarbeit mit Ihrer Dienststelle gegeben, Herr Nonnenmacher.«

»Das hätt’ ich Ihnen auch sagen können«, meinte der Polizeichef vom See überheblich. »Das ist ja eh klar, dass in so einem Fall mir die Schaltzentrale sein müssen, schon wegen unserer Ortskenntnis, unserem Wissen über die Einheimischen etceterapepe.«

»Außerdem hat man mich aufgefordert, einen Kollegen auszuwählen, der hier vor Ort als Verbindungsbeamter für unsere Kripoeinheit fungiert.« Ehe Nonnenmacher etwas sagen konnte, fuhr Schönwetter fort: »Ich habe mich dafür entschieden, Frau Loop zu fragen, ob nicht sie diese Funktion übernehmen will.«

Als Anne dies hörte, durchfuhr sie ein kurzes, warmes Glücksgefühl. »Das mache ich gerne«, sagte sie schnell und mit fester Stimme.

»Halt, halt, halt!«, rief da Nonnenmacher. »An diesem Tisch bin noch immer ich der Chef. Und die Frau Loop ist meine Mitarbeiterin, für die ich die Verantwortung trage. Außerdem hat die Frau Loop überhaupts keine Zeit, sie muss ja die Bewachung von dem Scheich koordinieren. Und alleinerziehend ist sie auch noch, also eher eingeschränkt«, schob er hinterher.

»Ich denke, dass die privaten Lebensumstände von Frau Loop hier keine Rolle spielen sollten. Ich habe Frau Loop bei unserer letzten Zusammenarbeit – als es um die Aufklärung der beiden Todesfälle Fichtner und Kürschner ging – als verantwortungsbewusste und kriminalistisch begabte Kollegin kennengelernt. Ich würde es begrüßen, sie hier vor Ort und ständig im Zentrum des Geschehens zu wissen.«

»Die Bewachung des Hotels, in dem der Scheich wohnt, läuft jetzt sowieso ganz gut«, schaltete Anne sich wieder in das Gespräch ein. »Unsere Dienstpläne funktionieren reibungslos – und dass dort oben Ausnahmezustand herrscht, daran kann man wahrscheinlich sowieso nichts ändern, solange Emir Raschid bin Suhail sich hier im Tal aufhält.«

Nonnenmacher schnaufte laut auf, und weil alle betreten schwiegen, konnte jeder das wüste Grummeln hören, das eindeutig vom Dienststellenleiter ausging. Wenn Nonnenmacher litt, litt in erster Linie sein Magen. Auch deshalb hätte keiner erwartet, dass er noch einmal das Wort ergreifen würde, aber genau das tat Nonnenmacher jetzt.

»Also, Herr Kollege, das geht mir jetzt, ehrlich gesagt, alles ein bisserl zu schnell. Wie gesagt, bin ja hier immer noch ich derjenige, der wo sagt, was Sache ist. Und ihr von der Kripo seid’s hier quasi zu Gast. Und wenn ich jetzt sag’, dass die Frau Loop ausreichend mit dem Ölscheich und dem ganzen Haremsschmarren beschäftigt ist, dann ist das die kompetente Einschätzung ihres direkten Vorgesetzten, der es ja wissen muss. So schaut’s nämlich aus.«

Ohne Nonnenmachers triumphierenden Blick zu erwidern – der Inspektionschef fand, dass er sich gut und souverän ausgedrückt hatte –, richtete Schönwetter mit ruhiger Stimme das Wort an die Runde, wobei er jeden Einzelnen der Anwesenden kurz ansah. »Es ist mir höchst unangenehm, Ihnen zu widersprechen, Herr Nonnenmacher, aber es handelt sich bei der Abordnung von Frau Loop zur Verbindungsbeamtin um eine Entscheidung des Polizeipräsidenten, die wir hier nicht zu diskutieren haben. Auch kann ich Ihrem Einwurf, es gehe Ihnen alles ein wenig zu schnell, nicht verstehen – wir haben es hier mit einem alles andere als alltäglichen Todesfall zu tun. Es könnte sich auch um ein Verbrechen handeln!«

»Ach wo!«, schrie Nonnenmacher. »Besoffen dersoffen ist das Madel halt. Warum springt’s auch nachts nach dem Seefest und voll wie eine Panzerhaubitze in den kalten See? Das ist genauso deppert, wie wenn man nachts in den Nil springt, wo es nur so von Krokodilen wimmelt.« Dann meinte er noch, dass ein kalter bayerischer Gebirgssee »kein Kindergeburtstag« sei, was einige Anwesende trotz der angespannten Situation zum Schmunzeln brachte. Immerhin konnte Nonnenmacher mit seiner Meinung, dass der Polizeipräsident von Oberbayern ein Bazi sei, der doch eh bloß auf die Loop setzte, weil sie ihn an die Mireille Mathieu oder die Uschi Obermaier erinnerte, hinter dem Berg halten.

»Können wir jetzt bitte zur Sache kommen?«, fragte Schönwetter, nun schon nicht mehr ganz so geduldig. »Wir halten fest: Die Identität der Toten ist schnellstmöglich herauszufinden. Frau Loop, Sie kümmern sich darum.« Anne nickte. »Gut, dann kommen wir zu den medizinischen Aspekten des Falls. Bitte berichten Sie.« Mit einer auffordernden Handbewegung erteilte er dem Rechtsmediziner das Wort. Und was der zu sagen hatte, sorgte sehr schnell für konzentrierte Ruhe im Raum. Sogar Nonnenmachers Magen schwieg. Dieses Organ war ein Wunder.

»Wir konnten Spermaspuren aus der Scheide der jungen Frau isolieren und haben auch andere, nicht von der Toten stammende DNA gesichert. Die Spermaspuren beweisen eindeutig, dass das Mädchen kurz vor seinem Tod noch Geschlechtsverkehr hatte. Dies könnte ein wichtiger Ermittlungsansatz sein: Derjenige, der mit der Toten Geschlechtsverkehr hatte, könnte uns möglicherweise etwas über die Todesursache mitteilen.«

»Ist sie vergewaltigt worden?«, platzte es aus Sepp Kastner heraus, der bislang geschwiegen hatte.

»Dafür gibt es derzeit keine Anzeichen«, erwiderte der Rechtsmediziner. »Zwar fanden wir feine Risse an den kleinen Schamlippen der Vagina …« Kastner wurde bei diesen Worten knallrot – so genau hatte er es gar nicht wissen wollen. Doch der routinierte Arzt ließ Annes blondem Kollegen keine Zeit, sich zu schämen, und fuhr fort: »… aber wir sind uns nicht sicher, ob diese Risse tatsächlich Zeichen eines gewaltsamen Eindringens sind. Denn auch ein einvernehmlicher Geschlechtsakt kann unter Umständen zu solchen Verletzungen führen. Zum Beispiel, wenn der Geschlechtsakt sehr heftig und hastig vollzogen wird.« Der Rechtsmediziner blickte Kastner ernst an. »Auch beim einvernehmlichen Beischlaf kann es sein, dass die Vagina nicht ausreichend Scheidenflüssigkeit produziert. Und dass dann durch die sehr starke Reibung zwischen eindringendem Geschlechtsorgan und aufnehmender Scheide kleine, mit bloßem Auge nicht sichtbare Risse entstehen, die man nur unter dem Mikroskop erkennen kann.«

Während Kastner den Ausführungen des Rechtsmediziners lauschte, beschloss er insgeheim, sich bei der Diskussion solcher Sexualthemen künftig zurückzuhalten; das sollten lieber die Profis von der Kripo übernehmen. Zumal er sich noch präzise an das letzte Mal erinnern konnte, als er mit einer Frau geschlafen hatte. Das war ziemlich genau vor sechs Jahren mit der Gröbner Irene gewesen. Die Reni, die ihm schon damals viel zu dick gewesen war, hatte ihn nach dem Rosstag, einer bedeutenden Feierlichkeit im Tal, mit zu sich nach Hause genommen und seine Wehrlosigkeit, die von exzessivem Biergenuss herrührte, ausgenutzt, um sein Geschlechtsorgan aus der Lederhose zu holen und in ihres hineinzustecken. Dabei war sie genauso hastig zu Werke gegangen, wie der Rechtsmediziner eben berichtet hatte; nicht einmal ihr Dirndl hatte die Reni ausgezogen. Das folgende Liebesspiel war dann auch eher reibungsvoll gewesen, wenn man das so sagen konnte. Schön war es jedenfalls nicht gewesen. Kastner wäre aber nie so weit gegangen zu behaupten, dass er von der Reni vergewaltigt worden sei.

Da er seinen Erinnerungen nachhing, hätte Kastner beinahe verpasst, was Anne sagte. Die schien keine Scheu zu haben, ihre Ansichten auch bei derart unangenehmen Diskussionen zu äußern, dazu noch vor einer reinen Männerrunde. Sie meinte, dass ja auch die Situation, in der die Leiche aufgefunden worden war, durchaus für einen hastigen Geschlechtsverkehr spreche. »Denn, diese Erfahrung wird wohl jeder von uns hier schon einmal gemacht haben – wenn man im Freien Sex hat, geht man nicht so ruhig und entspannt vor, wie man es von zu Hause her gewöhnt ist.«

Kastner sah, dass einige der Anwesenden verschmitzt lächelten – was ihn ärgerte, weil er nicht wollte, dass Anne in den Mittelpunkt schmutziger Phantasien rückte. Aber zumindest der Rechtsmediziner blieb sachlich und sagte jetzt: »Ich sehe das genauso, Frau Loop. Beim Geschlechtsakt im Freien besteht – ganz gleich, ob es sich um einen freiwilligen oder erzwungenen handelt – situationsbedingt immer eine latente Entdeckungsgefahr. Und die führt zu Hast, welche wiederum zur mangelnden Produktion von Scheidenflüssigkeit respektive zu Rissen führen kann.«

»Und da das Ganze vermutlich nachts stattgefunden hat, war es obendrein auch noch kalt«, fügte Anne hinzu.

»Auch das befördert nicht gerade die Produktion von Scheidenflüssigkeit«, bestätigte der Arzt.

»Gut, dann haben mir jetzt die Sexfragen geklärt«, schaltete sich nun völlig unerwartet Nonnenmacher wieder in das Gespräch ein. »Gibt’s sonst noch Erkenntnisse, die für unsere Ermittlungen wichtig sind?«

»Sieht man von den Rissen in der Scheide ab, konnten wir keine Hinweise auf eine etwaige Gewalteinwirkung finden. Keine Schnitte, keine Hämatome«, fuhr der Rechtsmediziner leicht genervt fort.

»Und die Abschürfungen am Rücken?«, wollte Schönwetter wissen.

»… lassen sich durch das Herausziehen erklären. Der Zeuge hat doch ausgesagt, er habe die Tote aus dem Wasser gezogen. Ich habe die Spuren im Kies selbst gesehen. Für mich ergibt das ein stimmiges Bild«, erklärte der Arzt. Er reichte Fotos herum, auf denen der Rücken der Frauenleiche mit den Abschürfungen zu sehen war, sowie Bilder der Schleifspuren.

»Gut, also keine Gewalteinwirkung. Woran ist sie dann gestorben?«, fragte Schönwetter sehr direkt, woraufhin der Kollege von der Rechtsmedizin verlegen mit den Schultern zuckte. »So weit sind wir noch nicht. Tut mir leid. Ich kann eine erste Prognose abgeben, aber für alles andere bitte ich darum, die endgültigen Ergebnisse der Obduktion und die Laborwerte abzuwarten.«

»Und die Prognose wäre?«, erkundigte sich Schönwetter.

Der Arzt sah zum Leiter der Polizeidienststelle der Seegemeinden. »Ich fürchte, dass Sie nicht recht damit haben, wenn Sie meinen, dass die junge Frau ertrunken ist, Herr Nonnenmacher. Wir konnten nämlich den für Ertrunkene typischen Schaumpilz vor Mund und Nase nicht feststellen. Auch für eine etwaige Waschhautbildung fanden wir keine Hinweise. Die Leiche sah, wenn man das so sagen darf, sehr frisch aus. Sie war in einem guten Zustand. Das spricht meines Erachtens dafür, dass sie nicht ertrunken ist und auch noch nicht sehr lange im Wasser gelegen hat. Aber letztendliche Sicherheit wird uns erst die Obduktion bringen.«

»Und wann macht ihr die?«, fragte Schönwetter.

»Jetzt gleich«, erklärte der Arzt schnell. »Und die Blutwerte müssten auch jeden Augenblick vorliegen.« Anne hatte den Eindruck, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Sie konnte sich aber nicht erklären, weshalb. »Aber ich habe noch etwas«, ergänzte der Mediziner hastig. »Wir haben Schmauchspuren an der Hand der Toten gefunden.«

»Dann ist sie vielleicht an einer Zigarette gestorben, haha«, machte sich Nonnenmacher über den Arzt lustig; er fühlte sich von dem dahergelaufenen Akademikerpack aus der Stadt zu Unrecht ins Abseits gedrängt. Natürlich war das Mädchen ertrunken, und zwar dicht wie eine Wasserschnecke! Aber diese Ansicht behielt er jetzt lieber für sich.

Anne verdrehte die Augen. Manchmal war ihr Chef wirklich ein Vollidiot.

»Die Schmauchspuren stammen von einer Schusswaffe«, erläuterte der Arzt.

»Aber eine Waffe gefunden haben wir nicht«, warf Anne ein.

»Wenn es Schmauchspuren gibt, heißt das, dass die Frau geschossen hat?«, erkundigte sich Kastner jetzt.

»So ist es«, erwiderte Schönwetter. »Also sollten Sie, Frau Loop, die Leute, die sich in der vergangenen Nacht in der Nähe der Auffindestelle aufhielten, fragen, ob sie einen Schuss gehört haben.«

Jetzt lachte Nonnenmacher laut auf. »Da gibt’s garantiert welche, die wo einen Schuss gehört haben. Wenn nicht sogar Schüsse. Das haben Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen, Herr Kollege, aber gestern war bei uns nämlich Seefest. Und da gibt’s ein Brillantfeuerwerk, da knallt’s heftig. Ein einzelner Pistolenschuss fällt da ungefähr so auf wie der kalte Furz von einem Has’.«

Nonnenmachers Ausbruch folgte ein kurzer Augenblick der Stille, dann reichte Schönwetter eine weitere Serie Fotos in die Runde der Ermittler und sagte: »Hier ist noch etwas, über das wir sprechen sollten.« Die Bilder zeigten den Intimbereich der Toten. Deutlich konnte man die Tätowierungen erkennen, die wie Hörner aus der Scham der Frau hervorwuchsen. »Fällt jemandem etwas zu diesen Tattoos ein? Ich meine: Hat jemand hier am Tisch so etwas schon mal gesehen?«

»Ich halte das für eine eher unübliche Tätowierung«, ergriff Anne das Wort. »Das ist ja schon was völlig anderes als ein Arschgeweih.« Anne spürte Nonnenmachers erstaunten Blick. »So nennt man die Tätowierungen oberhalb des Gesäßes, die mal groß in Mode waren«, erläuterte sie deshalb eigens für ihn.

»Aber eine Art Geweih ist es auch«, meinte Kastner. Das Thema berührte ihn.

»Der Teufel. Das ist der Teufel«, krächzte jetzt Nonnenmacher, nachdem er noch einmal einen scharfen Blick auf die Fotos geworfen hatte, und lachte dann verrückt.

»Ich kenne mich mit Wild nicht so gut aus«, meinte Schönwetter nachdenklich, »aber es könnten auch die Hörner eines Rehs sein.«

»Hat ein Reh denn überhaupt Hörner?«, warf Anne nun ein. »Ich dachte, die Weibchen seien hörnerlos?«

»Es ist der Teufel«, wiederholte Nonnenmacher und kicherte erneut.

Nachdem er seinem Chef einen strafenden Seitenblick zugeworfen hatte, sagte Kastner, für seine Verhältnisse in sehr selbstbewusstem, aber keineswegs besserwisserischem Ton: »Das Wort ›Reh‹ sagt nichts darüber aus, ob es ein Weibchen oder ein Männchen ist. Also jedenfalls nicht wildbiologisch. Ein erwachsenes männliches Reh ist ein ›Bock‹. Und ein weibliches nennt man bei uns ›Geiß‹, bei euch in Norddeutschland«, er wandte sich Anne zu, »›Ricke‹.«

Das Rheinland liegt doch nicht in Norddeutschland!, dachte Anne, verzichtete aber darauf, ihren Kollegen darauf hinzuweisen.

»Nur der Bock trägt ein Geweih«, fuhr Kastner fort.

»Und sieht dieses Tattoo für Sie aus wie das Geweih eines Rehbocks, Herr Kastner?«, fragte Schönwetter.

»Ja, das könnte schon eines sein. Vielleicht ist es ein wenig zu geschwungen, aber das ist dann halt künstlerische Freiheit«, antwortete Kastner.

Schönwetter fragte in die Runde: »Können wir ausschließen, dass es sich um ein satanistisches Ritual handelt?«

»Ich denke schon«, meinte Kastner.

»Vielleicht sollten wir ein Gutachten einholen«, schlug einer der Kripobeamten aus Schönwetters Team vor. »Auch wenn wir mit so etwas noch nie zu tun hatten, aber es gibt doch immer wieder Verbrechen mit satanistischem Hintergrund.«

»Die treffen sich auf dem Friedhof, trinken Blut und tanzen um die Grabsteine«, sagte Nonnenmacher mit Gruselstimme. Anne wusste beim besten Willen nicht, was in ihren Chef gefahren war. Zwar sah für sie das Geweih auch eher nach einem Reh aus, aber schließlich hatten Satanisten auch schon Kinder getötet und Frauen vergewaltigt. Hier und jetzt war jedenfalls nicht der richtige Zeitpunkt, um Witze darüber zu machen.

Direkt nach der Besprechung fuhr Anne gemeinsam mit Sepp Kastner nochmals an das Seeufer, an dem die Leiche gefunden worden war. Akribisch suchten sie den Kiesstrand und die Wiesen darüber ab. Aber sie entdeckten keine weiteren Spuren oder Gegenstände. Weder fanden sie die fehlenden Kleider der Toten – es war unvorstellbar, dass die Frau lediglich mit einem Spitzenhemdchen bekleidet an das Seeufer gekommen war –, vor allem aber konnten sie keine Schusswaffe entdecken. Als sie sich einig waren, dass sie nichts weiter erreichen würden, trennten sie sich. Anne fuhr zum Scheich-Hotel, um nachzusehen, ob der wegen des überraschenden Todesfalls geänderte Plan für den Wachdienst funktionierte und eingehalten wurde. Und Kastner suchte die Bewohner der Häuser auf, die in der Nähe des Fundorts der Leiche lagen, um sie zu befragen, ob sie in der Nacht des großen Seefests einen oder mehrere verdächtige Schüsse gehört oder etwas Verdächtiges gesehen hatten.

Auf dem Weg vom ersten Anwesen, wo er niemanden angetroffen hatte, zum zweiten Objekt kam Kastner an einem auf der falschen Straßenseite parkenden Ferrari vorbei. Sofort erkannte der Polizist, dass es sich um den Sportwagen des Schlagersängers Hanni Hirlwimmer handelte. Zwar gab es am See einen Haufen Ferraris, aber der romantische Musikkünstler hatte sich für seinen Boliden eine besondere Lackierung einfallen lassen: Der ganze Wagen war schwarz grundiert, doch vorne auf der Motorhaube prangte eine tiefrote Rose samt Stiel mit Stacheln, Blüte und Blättern. Die Blume wiederum entwuchs einem Herzen, dem die vollen und natürlich rosafarbenen, zu einem Kussmund gespitzten Lippen einer Frau verpasst worden waren. Auf dem Fahrzeugheck stand außerdem der Schriftzug »I love you«. Das war zwar nicht bairisch, aber trotzdem bekam jede Frau, die hinter Hirlwimmer herfuhr, unweigerlich Herzklopfen – es war ja klar, dass der Schlagerpoet mit dieser Liebeserklärung sie ansprach, sie ganz allein.

Weil der Liebesschlitten falsch und gefährlich abgestellt worden war, blieb Kastner gar nichts anderes übrig: Er musste nach dem Rechten sehen, schlimmstenfalls war ein Strafzettel fällig. Der Polizist linste also durch das Fenster der Beifahrertür und erkannte auf einen Blick, dass Hanni Hirlwimmer persönlich im Wagen lag. Allerdings, und das war ungewöhnlich: allein; und in ziemlich verdrehter Körperhaltung. Es sah unbequem, ja beinahe yogamäßig aus, wie der Hanni da lag. Kastner klopfte an die Scheibe. Sofort hob Hirlwimmer den Kopf, rappelte sich auf und öffnete die Autotür.

»Ja, Servus Sepp!«, sagte er und strahlte dabei, obwohl er aus dem Schlaf gerissen worden war, das Charisma aus, das nur Schlagersänger haben.

»Servus«, antwortete Sepp. »Sind mir denn per Du?«

»Ja sowieso«, sagte Hirlwimmer überrascht. »Mir haben doch Brüderschaft geraucht bei den Madeln aus Sachsen.«

Kastner konnte den Schrecken, der ihn mit einem Mal durchfuhr, nicht sehr gut überspielen. Auch wenn es ihn freute, dass er nun anscheinend auf Du und Du mit einem echten Star war, wollte er nicht schon wieder an diese vermaledeite Drogensache erinnert werden. Deshalb sagte er: »So, so. Und was machst du jetzt hier? Dein Auto steht total verkehrswidrig. Das ist gefährlich und kann teuer werden.«

»Ich hatte gerade eine Eingebung«, erklärte der Hirlwimmer hierauf würdevoll.

»Eine göttliche?«, erkundigte sich Kastner, dies durchaus im Ernst, denn er war von seiner Mutter religiös erzogen worden.

»Nein, ein Lied halt. Wenn ich so eine Eingebung habe, dann muss ich sie sofort aufschreiben, sonst ist sie weg.« Der Schlagersänger konstatierte Kastners suchenden Blick – denn nirgends in der Luxuskarosse war ein Schreibwerkzeug, geschweige denn ein Blatt Papier zu sehen – und sagte deshalb schnell: »Bevor ich es aufschreibe, muss ich die Augen schließen und ein Mantra beten.«

»Ein Mantra«, wiederholte Kastner zweifelnd. »Ich hab’ gedacht, du bist katholisch.«

»Ja, schon auch.«

»Darf ich mal was sagen«, meinte der Polizist jetzt. Hirlwimmer sah ihn erwartungsvoll und mit der Unschuld eines Wiener Sängerknaben an. »Hier stinkt’s nach Schnaps. Ich glaub’, du bist hier nicht am Lied-Dichten, sondern am Rausch-Ausschlafen, und vermutlich bist du sogar besoffen hierhergefahren.« Der Polizist schob sich die Mütze aus dem Gesicht, es war ein warmer Tag.

»Ach geh, Sepp«, entgegnete der bayerische Barde nun mit wohlwollender Herablassung. »Mir sind doch Brüder seit kürzlich. War doch ein super Abend bei den Amazonen!«

»Bei wem?«, fragte Kastner und wich erschrocken zurück, denn das Wort »Amazonen« hörte sich irgendwie gefährlich an.

»Bei den Amazonen. So nennen die sich doch, die Madeln.«

»So nennen die sich also … Amazonen.« Kastner schwieg nachdenklich.

»Die sind doch das Beste, was uns seit Langem passiert ist im Tal, oder? So gut drauf, so erfrischend, echte Partypeople.« Der Sänger warf seinen Kopf mit den halblangen Haaren nach hinten und schaute dann zum Wallberg hinüber, der ein prachtvolles Bild bot, wie er da mächtig vor klarstem Himmel dastand und auf sie hinunteräugte wie ein freundlicher Riese.

»Partypeople«, wiederholte Kastner das komische Wort. Dann fing er sich wieder und erinnerte sich an den Grund, wieso er hier war. »Also, warum stinkt’s hier so nach Enzian?«

»Jetzt geh, Sepp. Steig ein, dann fahren wir zu mir, hocken uns auf die Terrasse und trinken einen Kaffee«, versuchte es der romantische Liedermacher noch einmal auf die Kumpeltour.

Doch der Polizeibeamte schüttelte ablehnend den Kopf.

Hanni Hirlwimmer aber hatte in seinem Künstlerleben schon mit vielen und verschiedensten Menschen zu tun gehabt, auch international, und deshalb wusste er, dass eine gute Geschichte noch jeden auf andere Gedanken brachte. Besonders Geschichten, in denen intime Details ausgeplaudert wurden. Deshalb senkte er seine Stimme zu einem Raunen und sagte: »Weißt fei schon, die Amazonen sind alle tätowiert.« Kastner starrte ihn an, sodass er fast ein wenig dümmlich aussah. Gekonnt schob der Schlagerprinz vom Bergsee hinterher: »Im Intimbereich!«

Hatte der Hirlwimmer doch den richtigen Riecher gehabt. Denn jetzt fragte Sepp Kastner ganz aufgeregt: »Im Intimbereich?!«

»Ja!«, bekräftigte Hirlwimmer. »Und zwar Hörner!«

»Hörner?«

»Ja!«, sagte der Schlagersänger noch einmal. »Im Intimbereich, also weißt’ schon, ›intim‹ heißt da unten.« Er zeigte auf die Lade seiner schwarzen kurzen Lederhose.

Kastner entwich hierauf ein knappes »Depp«, das der Musiker aber ignorierte. Vielmehr fuhr er fort: »Und weil die Damen alle keine rasierte Muschi haben, wie das ja sonst heute bei mir im Musikbusiness üblich ist, schaut das Schamhaar zusammen mit den Hörnern aus wie der Kopf von einem Rehbock.«

»Du sagst Sachen«, stammelte Kastner, der seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wie ein Rehbock im Intimbereich …«

»Nein, nicht wie ein Rehbock im Intimbereich«, korrigierte der Schlagersänger mit verkaterter Ungeduld. »Der Intimbereich plus das Tattoo schaut aus wie ein Rehbock.«

»Ja, ja«, erwiderte der polizeiliche Ermittler ungehalten, »ich hab’ das schon verstanden. Und du sagst, dass die alle so tätowiert sind?«

»Alle. Durch die Bank.« Hirlwimmer nickte.

Kastner dachte kurz nach, dann meinte er: »Aber woher willst du das denn wissen? Ich meine, das sind an die dreißig Frauen. Hast du …?«

Da lachte der Hirlwimmer Hanni laut auf. »Nein, nein, nicht alle, aber eine Handvoll schon. Und bei denen allen war das so.«

»Fünf?«, fragte der Polizist erschüttert.

»Ja, so was werden’s schon gewesen sein. Fünf oder sieben oder was weiß ich, weißt ja selber, wie’s zugeht im Zeltlager bei denen.«

Kastner nickte. Das wusste er. »Aber woher weißt du, dass die alle so tätowiert sind?«

»Die haben’s mir halt gesagt. Weil, wie ich die zweite ausgepackt hab, du weißt schon … da hab’ ich mich natürlich schon gewundert, wieso die jetzt auch so Hörner da hat. Und die hat’s mir dann erklärt.«

Sepp Kastner verzichtete an diesem Tag auf die Ausstellung eines Strafzettels zulasten des weltbekannten Schlagersängers Hanni Hirlwimmer, er hatte Wichtigeres zu tun.

Minuten später stand er auf der anderen Seite des Sees zwischen den Zelten der Reisegruppe aus Ostdeutschland und beschoss deren inoffizielle Leiterin Pauline mit Fragen. Am Ende der Vernehmung wusste Kastner, dass tatsächlich eines der Mädchen fehlte: Madleen Simon, einundzwanzig Jahre alt, geboren in Chemnitz, dunkelblondes, brustlanges Haar, leichte Naturwelle, blaue Augen. Sofort verfrachtete er Pauline in den Streifenwagen und fuhr sie zur Polizeiinspektion. Wenig später hatten die Ermittler Gewissheit: Die Identität der Toten stand zweifelsfrei fest. Pauline hatte sie als ihre Mitkommunardin Madleen identifiziert.

Zur zweiten Lagebesprechung mit den Kripoleuten an diesem Tag hatte Nonnenmacher sich seine Polizeikellen-Fliegenklatsche mitgenommen, hatte ihn doch am Morgen eine Fliege arg gepiesackt. Da Anne Loop sich Sorgen um den Kaffee machte, den sie sich für die Konferenz geholt hatte, wählte sie einen Platz in sicherer Entfernung zum Dienststellenleiter. Wie ein Tennisspieler fegte er die Insekten, die im Umkreis von etwa eineinhalb Metern um ihn herumflogen, über ein nicht vorhandenes Netz. Es war fast wie in Wimbledon. Trotzdem meinte Sebastian Schönwetter nach einer Weile, in der alle schweigend den Topspin-Vorhänden und Slice-Rückhänden, den Schmetterbällen und Aufschlägen des Polizeichefs zugesehen hatten, höflich: »Können wir dann mal?«

»Ihr könnt’s ja schon mal anfangen«, meinte Nonnenmacher. »Ich kümmere mich derweil um die Sauviecher.«

»Also, würden Sie dann bitte«, wandte sich Schönwetter an den Kollegen aus der Rechtsmedizin.

Nachdem dieser noch einen befremdeten Blick in Richtung des Dienststellenleiters geworfen hatte, begann er seinen Vortrag. »Die Sache ist eindeutig. Das Opfer ist, wie ich es bereits vermutet hatte, nicht ertrunken.«

Sofort hielt Nonnenmacher mit seinem Schlagtraining inne und warf ein: »Wer sagt das? Na logisch ist die ertrunken!«

»Nein, Herr Nonnenmacher, sie ist nicht ertrunken«, erwiderte der Arzt genervt. »In der Lunge fand sich kein Tropfen Wasser. Damit können wir einen Tod durch Ertrinken eindeutig ausschließen.« Ehe der Dienststellenleiter weiteren Unsinn von sich geben konnte, fuhr der Arzt fort: »Viel interessanter aber ist für uns, was wir im Blut gefunden haben: Neben Alkohol …«

»Hab’ ich’s doch gewusst!«, fiel der Polizeichef ihm ins Wort. »Hab’ ich’s doch gewusst: Besoffen in den See gefallen …«

»Jetzt ist es aber gut, Herr Nonnenmacher!«, fuhr Schönwetter dazwischen. »Fangen Sie meinetwegen Ihre Fliegen, aber lassen Sie jetzt bitte den Kollegen hier berichten, verdammt! – Also, bitte«, erteilte er dem Arzt erneut das Wort.

»Abgesehen von Alkohol konnten wir im Blut der Toten neben verschiedenen anderen Drogen das Rauschmittel Gammahydroxybuttersäure feststellen, kurz auch GHB genannt. Besser bekannt ist es als …«

»Liquid Ecstasy«, sagte Anne Loop leise.

»Genau!« Der Arzt lächelte ihr zu, was in Sepp Kastner, der direkt neben Anne saß, ein kurzes Eifersuchtsgefühl hervorrief, und fuhr dann fort: »Liquid Ecstasy ist eine Substanz mit euphorisierender Wirkung, die in den vergangenen Jahren immer mehr den Ruf einer Vergewaltigungsdroge bekommen hat. Entdeckt 1961 in Frankreich, sollte der Stoff zunächst als Antidepressivum eingesetzt werden. Doch GHB hat massive Nebenwirkungen. Auch deshalb hat man es verboten. Heute werden vor allem die artverwandten Substanzen GBL oder BDO konsumiert. Sie haben annähernd die gleiche Wirkung, erzielen aber insbesondere in Verbindung mit Alkohol völlig unkontrollierbare und gefährliche Wechselwirkungen. Mit Ecstasy hat das Ganze in chemischer Hinsicht übrigens rein gar nichts zu tun. Allerdings wirkt es ähnlich wie diese viel bekanntere Droge. Zum Beispiel nimmt man während des Rauschs Sinneseindrücke verstärkt wahr. Auch soll Liquid Ecstasy die sexuelle Leistungsfähigkeit erhöhen.«

Kastner horchte auf, allerdings nicht lange, denn just in diesem Moment schmetterte Nonnenmacher eine kapitale Schmeißfliege mit einem Überkopfschlag quer durch den Raum an die Fensterscheibe, wo ihre Überreste grün und rot schimmernd kleben blieben.

»In höheren Dosen verabreicht kann GHB zu komatösem Schlaf führen. Die Wirkung tritt nach fünfzehn bis dreißig Minuten ein. Wir alle haben schon von Fällen gehört oder gelesen, in denen das Betäubungsmittel Frauen in der Disco ins Getränk gemischt wurde. Nach dem Konsum werden diese dann bei vollem Bewusstsein willenlos und zu wehrlosen Objekten ihrer Peiniger. Sie können sexuell missbraucht werden, wissen hinterher aber nicht mehr, was war.«

»Könnte es sein, dass Madleen Simon eine Überdosis bekommen hat?«, erkundigte sich Anne nun; sie hatte trotz Nonnenmachers lächerlicher Aktion die ganze Zeit aufmerksam zugehört.

»Das ist gut möglich. Denn je nach Dosierung kann Liquid Ecstasy auch tödlich wirken«, antwortete der Mediziner.

»Haben wir eine Möglichkeit, das herauszufinden – ob sie daran gestorben ist oder nicht?«, schaltete sich jetzt Sebastian Schönwetter ein.

»Ich fürchte, nein. Der Nachweis ist überhaupt schwierig. Der Körper baut GHB innerhalb von zwölf Stunden ab. Wir konnten wirklich nur eine minimale Menge feststellen.«

»Aber dadurch, dass Sie noch Reste der Substanz feststellen konnten, muss Madleen Simon das Zeug spätestens in den frühen Morgenstunden eingenommen haben«, warf Anne in die Runde. »Oder sehe ich das falsch?«

»Nein, das sehen Sie ganz richtig«, meinte der Arzt.

»Die Frage ist also, wie das Gift in den Körper des Opfers kam«, hielt Anne fest.

»Und das finden wir am ehesten heraus über die Person, die vor ihrem Tod bei ihr war«, sagte Schönwetter.

»Und das ist vermutlich auch die gleiche Person, die wo mit ihr Sex gehabt hat«, ergänzte Kastner und fragte dann in die Runde: »Wie ist das mit so DNA-Tests? Man könnt’ ja alle Männer im Tal dazu auffordern, dass sie eine Probe abgeben. Freiwillig natürlich.«

»Unmöglich!«, polterte Nonnenmacher. »Das gibt einen Mordsaufruhr. Außerdem gibt’s viel zu viele Männer im Tal. Da sitzen mir ja nächstes Jahr noch da und sammeln Sperma.«

»Ich glaube auch, dass es für einen DNA-Test noch zu früh ist«, stimmte Schönwetter dem Dienststellenleiter zu, was diesen zu einem gewichtigen Nicken veranlasste. »Wir sollten zunächst versuchen, den infrage kommenden Personenkreis einzugrenzen.«

»Müssten wir nicht als Erstes die DNA dieses Mannes überprüfen, der die Leiche gefunden hat?«, schlug Anne vor.

»Der Veit?«, blaffte Nonnenmacher die Kollegin an. »Der hat mit der Sache garantiert nix zum tun. Außerdem ist es ja klar, dass von dem DNA an der Leiche sein muss, weil der hat sie ja schließlich rausgezogen aus dem Wasser.«

»Schon, aber dann dürften die Spermaspuren in ihrer Vagina zumindest nicht von ihm sein, darum geht es mir doch«, meinte Anne beschwichtigend.

»Rein routinemäßig sollten wir tatsächlich die DNA des Zeugen mit den an der Leiche vorgefundenen Spuren abgleichen«, sagte Schönwetter in Richtung des Arztes und nickte diesem zu.

»Es waren aber auch viele Fremde im Tal«, gab Nonnenmacher zu bedenken. »Ich bin ziemlich sicher, dass das keiner von uns war. Vom Tatprofil her ist das ziemlich eindeutig eine Sache, die wo von außen kommt, Norddeutschland, vielleicht sogar Polen«, schwadronierte der Inspektionsleiter.

»Also bitte!«, rief Anne empört aus.

»Mit deinen Einschätzungen in dem Fall ist das ja schon so eine Sache …«, versuchte Kastner beruhigend auf den Chef einzuwirken.

Sofort wollte Nonnenmacher wieder aufbrausen, aber Schönwetter kam ihm zuvor. Mit fester Stimme sagte er: »Jetzt lassen Sie uns mal weitermachen. Wer kommt als Täter infrage?«

»Ein Mann«, sagte Kastner.

»Jemand, der an diese Vergewaltigungsdroge kommt«, ergänzte Anne.

»Muss es einer gewesen sein, der das Mädchen kannte?«, fragte Schönwetter.

»Nicht zwingend. Er könnte sie auch nur an diesem Abend kennengelernt haben. Es war ja immerhin Seefest …«, antwortete Anne nachdenklich. »Dann müsste man die beiden aber zusammen gesehen haben … und Zeugen müsste es dann eigentlich auch jede Menge geben.«

Alle schwiegen eine Weile, sogar Nonnenmacher. Dann fragte Schönwetter: »Wie sind Sie, Herr Kastner, eigentlich darauf gekommen, dass es sich um eines der ostdeutschen Mädchen aus diesem Zeltlager handeln könnte?«

Umgehend wechselte die Hautfarbe von Kastners Gesicht in ein dunkles Rot. »Ich, hmm, äh, also …« Er war wie gelähmt. Was sollte er jetzt sagen? Wenn er den Hirlwimmer erwähnte, dann würde man ihn zwangsläufig vernehmen. Und dabei könnte er möglicherweise verraten, dass Kastner das Zeltlager schon einmal besucht hatte und bei dieser Gelegenheit mit illegalen Drogen in Kontakt gekommen war. Aber wenn er den berühmten Schlagersänger aus dem Spiel ließ, wie sollte er dann erklären, woher er wusste, dass alle Hippiemädchen im Intimbereich tätowiert waren? Wie würde er vor den Kollegen – und vor allem: vor Anne – dastehen?

»Alles okay, Seppi?«, fragte Anne, die neben ihm saß.

»Ja, ja, schon.«

»Gibt’s ein Problem mit meiner Frage, Herr Kastner?«, erkundigte sich jetzt Schönwetter.

»Nein, nein, gar nicht.« Kastner fasste sich verlegen an die Nase, dann an die Stirn. »Wie bin ich da draufgekommen?« Wie von Sinnen grübelte Kastner. Dann kam ihm plötzlich ein genialer Einfall: »Es war eine Eingebung.«

»Eine Eingebung«, wiederholte der Kripochef ungläubig.

»Ja«, meinte Kastner.

»Eine göttliche, oder was?«, schaltete sich nun schallend lachend Nonnenmacher wieder in das Gespräch ein.

Kastner zuckte mit den Schultern. »Ich bin halt religiös – Mantras und so …« Erleichtert spürte er, dass sich die Temperatur seiner Gesichtshaut wieder normalisierte. Der Hirlwimmer war gar nicht so blöd.

»Ich glaub’, dass es einer von den Arabern war«, grunzte Nonnenmacher jetzt und blickte in die Runde. »Ich tät’ als Allererstes von denen allen DNA-Proben abnehmen. Die Araber haben die Madeln gekannt. Außerdem sind das Lustmolche ersten Grades, denen jeder Respekt vor Frauen fehlt. Wer Frauen das Autofahren verbietet und normale Frauen zu Nutten macht, der schreckt auch nicht vor anderen schrecklichen Taten zurück.«

»Aber ganz ehrlich, Herr Nonnenmacher, so ein Emir hat es doch gar nicht nötig, ein Mädchen zu etwas zu zwingen, die laufen ihm ja von ganz allein in Scharen zu«, widersprach Anne ihrem Chef.

»Dem Ober-Ölscheich schon, aber da sind ja noch ein paar andere Araber-Hanseln mit von der Partie. Die werden schon allweil mit gierigen Augen auf die Madeln schauen, die der Chef tagtäglich vernascht. Da werden die sich denken, Sakra, ich tät’ mir auch gern einmal so eine fesche Dirn zu Gemüte führen. Und daraufhin spricht dieser oder jener Mohammed eine an, fragt sie, wie es wär’ mit … Dings … Geschnaxel … ihr wisst schon …, muss dann aber feststellen, dass das Madel nur auf den Ölscheich scharf ist und nicht auf den Ölscheich-Diener. Und was macht der Ölscheich-Diener oder der Leibwächter oder dieser Aladdin-Hansdampf dann? Er wendet Gewalt an.«

»In Form von Liquid Ecstasy«, fügte Kastner hinzu, der die Theorie des Chefs gar nicht so abwegig fand.

»Gut, dann halten wir das mal fest«, sagte Schönwetter. »Der Emir von Ada Bhai und seine Mitarbeiter müssen vernommen werden.«

»Vernommen werden!«, rief Nonnenmacher vorwurfsvoll aus. »Sperma sollen’s hergeben. Dann haben mir gleich Klarheit!«

»Na ja, also erstens brauchen wir ja nicht das Sperma, sondern nur eine DNA-Probe, und zweitens geht es so schnell nun auch wieder nicht. Erst wenn Vernehmungen ergeben, dass hier tatsächlich ein begründeter Verdacht besteht, können wir so etwas wie einen DNA-Test ins Auge fassen.«

»Pff«, machte Nonnenmacher verächtlich. Er war es einfach nicht mehr gewohnt, sich unterzuordnen.

»Wen sollten wir noch überprüfen?«, wollte Schönwetter jetzt wissen.

»Die ostdeutschen Mädchen«, sagte Anne.

»Auf jeden Fall«, stimmte Schönwetter zu.

»Und die Partyszene im Tal. Nachtklubs, Diskotheken, alle Orte eben, wo Drogen konsumiert werden«, ergänzte die Polizistin, was ihr einen anerkennenden Blick von Schönwetter einbrachte.

»So machen wir das. Sie übernehmen das, Frau Loop«, bestimmte dieser und erklärte die Sitzung für beendet.

Am selben Abend brachte Anne ihre Tochter Lisa zu deren bester Freundin Emilie, wo sie die Nacht verbringen sollte. Anne wollte gemeinsam mit Sepp Kastner in die Kneipenszene der Gemeinde am Südzipfel des Sees eintauchen.

Als Kastner das Bar-Restaurant betrat, das für seinen extrabreiten Flachbildschirm, der die hiesige Bergwelt zeigte, bekannt war, raubte ihm Annes Anblick beinahe die Sprache. Die Polizistin saß auf einer der mit braunem Leder bezogenen Bänke und trug einen sehr kurzen Rock und ein braunes Trägertop. Unter dem Eichentisch erblickte Kastner die langen Beine seiner Kollegin, welche in eleganten hochhackigen Sandalen steckten. So hatte er Anne noch nie gesehen. Kastner war froh, dass er sich für diesen Abend ein neues rosafarbenes Polo-Shirt geleistet hatte, wie es gemeinhin vermeintlich jung gebliebene Topmanager trugen.

Die beiden bestellten sich etwas zu essen und beobachteten, wie sich der Laden allmählich füllte. Das Publikum war jung, allerdings wirkten die Leute auf Anne nicht wie typische Drogenkonsumenten, schon gar nicht wie welche, die mit Liquid Ecstasy experimentierten. Als sich zwei Mädchen an den Nebentisch setzten, wartete Anne kurz und sprach die beiden dann an. Ob sie sich hier auskennen würden? Die zwei, die Anne auf etwa achtzehn Jahre schätzte, bejahten Annes Frage. Wo man denn im Tal hingehe, wenn es später werde?

»Entweder man bleibt hier …«, meinte die eine.

»… oder man geht in die Disco, da ist heute Chica’s Night«, ergänzte die andere lässig.

»Chica heißt doch Mädchen«, meinte Kastner erstaunt. »Dürfen da Männer nicht rein?«

»O Mann! Aber klar doch«, antwortete jetzt wieder die Erste. »Das wäre ja wohl total uncool, wenn da keine Typen reindürften.«

»Klar, logo«, sagte Kastner; er wollte auch so lässig wie möglich »rüberkommen«. Aber die Girlies konzentrierten sich ohnehin schon wieder auf ihre lackierten Fingernägel und auf ihre Mixgetränke, die, wie Kastner fand, derart bunt leuchteten, dass einem schon vom Anschauen schlecht wurde.

Kastner versuchte mit Anne ins Gespräch zu kommen, aber diese konzentrierte sich lieber darauf, den Raum nach Leuten abzuscannen, die aussahen, als hätten sie Erfahrungen mit Liquid Ecstasy oder anderen illegalen Drogen. Lustlos rührte der Ermittler in dem Cappuccino, den er sich als Getränk zu seinem Gulasch bestellt hatte. Alle seine Kumpels waren längst verheiratet. Und er? Würde er jemals eine abbekommen, die attraktiver war als die dicke Reni vom Rosstag? Am Morgen noch hatte ihn seine Mutter schon wieder mit der Frage genervt, wann er ihr denn endlich ein Enkelkind schenken würde.

Nach zwei Stunden, die die beiden Polizeibeamten mehr oder weniger schweigend verbracht hatten, schlug Anne vor, noch in den Klub an der Hauptstraße zu gehen. Dort wies Kastner Anne zu ihrer Überraschung und in bester James-Bond-Manier an, sich etwas abseits zu halten. Dann ging er mit zielstrebigem Schritt auf ein paar Jugendliche zu, die vor dem Eingang herumstanden und rauchten. Ob er mal was fragen dürfe?

»Was denn?«, fragten die Halbstarken und musterten den Mann im Polo-Shirt abschätzig von oben bis unten.

Kastner glaubte zu hören, dass einer der Kerle »Was will denn der Kasper?« murmelte. Egal, er hatte einen Auftrag und wählte den direkten Weg. »Wisst’s ihr zufällig, wo man hier Liquid bekommt?«

»Was für Liquid?«, fragte der Kräftigste der Teenager, er war braun gebrannt und genauso angezogen, wie sich Kastner einen Surfprofi aus Hawaii vorstellte. Vermutlich war es aber nur ein neureicher Pinkel. »Bier oder was? Gibt’s drin.« Der Junge zeigte auf die Eingangstür.

»Nix Bier, ich meine richtigen Stoff«, präzisierte Kastner, so cool er konnte, denn eigentlich war er ziemlich aufgeregt.

Die Teenager sahen ihn befremdet an. »Drogen oder was?«

Kastner nickte.

»Bist’n Bulle?«, fragte ihn jetzt ein Kleinerer mit kurz rasierten Haaren und machte einen großen Schritt auf Kastner zu.

»Nein, nein, mich interessiert’s bloß. Also, ihr wisst’s nix?«

»Nö.«

»Okay, also dann …«, sagte Kastner und wandte sich ab.

Der Polizist war froh, als er wieder neben Anne stand. »Die wissen auch nicht, wo’s Liquid Ecstasy gibt«, meinte er. Sein Blick wanderte zu Boden und blieb an Annes Füßen hängen. Sie waren wunderschön, die Nägel dunkelbraun lackiert. Kastner hätte sie gerne geküsst. »Ich glaub’, da brauchen wir gar nicht reinzugehen.« Er dachte nach. »Komm, jetzt gehen wir noch in diesen Klub mit dem französischen Namen, und dann machen wir Schluss«, schlug er vor. Zwar hätte Anne gerne noch herausgefunden, um welche Art des Nachtvergnügens es sich bei der Chica’s Night handelte, aber sie war erschöpft. Die Anstrengungen der vergangenen Tage waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen, und es war schon ganz schön spät.

Umso überraschter war sie, dass es ihr im zweiten Klub des Abends tatsächlich gelang, an der Tanzfläche und bei wummernden Bässen mit einigen jungen Kerlen ins Gespräch zu kommen. Während ihr Kollege finster dreinblickend an der Bar stand, gaben ihr die fünf Jungs, die schon ein wenig angetrunken waren, bereitwillig Auskunft: GHB kenne ja wohl jeder. Es komme auch »ganz cool«, und obendrein sei es praktisch, weil man es relativ unproblematisch selbst herstellen könne. Letztlich müsse man nur Lackabbeizer und Kloreiniger zusammenkippen, und fertig sei die Soße. Natürlich müsse das Mischungsverhältnis stimmen.

Anne war erstaunt. War sie mit ihren vierunddreißig Jahren schon zu alt, zu weit weg vom Lebensalltag dieser Jugendlichen, um sich vorstellen zu können, dass man so jung schon mit derart gefährlichen Drogen jonglierte? Lackabbeizer? Und Kloreiniger? Liquid Ecstasy war ein Betäubungsmittel mit tödlicher Wirkung! Oder wollten die Jugendlichen, die im Laufe des Gesprächs immer zudringlicher wurden und sie das eine ums andere Mal scheinbar zufällig an ihren nackten Armen berührten, sie einfach nur beeindrucken? Als ihr gegen ein Uhr einer von ihnen, ein eigentlich ganz smart aussehender Jungspund mit blond gelocktem Haar, ins Ohr schrie – die Musik war sehr laut –, dass er gerne mit ihr schlafen würde, fühlte sie sich zwar jung und angeschickert, gleichzeitig war ihr aber klar, dass es Zeit war, den Klub zu verlassen.

Auf dem Heimweg, der sie am See entlang führte, war Anne froh, dass Sepp an ihrer Seite ging. Man konnte nie wissen, auf welche abstrusen Ideen ihre betrunkenen Gesprächspartner noch kommen konnten. Kastner hatte genau beobachtet, wie die jungen Typen Anne angebaggert hatten, und war deshalb ziemlich empört.

»Ich hab’ schon überlegt, ob ich dir helfen soll. Die haben dich ja voll angegrapscht!« Anne zuckte mit den Schultern, sie war müde. »Unglaublich, wie aufdringlich manche Männer sind, oder?«

Anne machte nur »mmh«. Sie gingen schweigend weiter und lauschten den Grillen, die in der milden Sommernacht zirpten. Ab und an rauschte ein Auto auf der nahen Straße vorbei. Dann war es wieder still, und man hörte hier und da ein Plätschern im See, weil ein nassforscher Fisch kurz die Wasseroberfläche durchbrochen hatte. Auch Wassertiere haben eine romantische Ader und schauen sich gerne einmal den sternenklaren Himmel an.

Als das ungleiche Ermittlerteam beinahe Annes Haus erreicht hatte, fragte Kastner: »Soll ich noch auf einen Kaffee mitkommen?«

Anne fand diesen Einfall derart verrückt, dass sie ihn schon fast wieder gut fand. Wie unbeholfen Sepp das gesagt hatte, war doch irgendwie süß. Und sie sehnte sich auch nach körperlicher Nähe. Sie kuschelte zwar gern mit ihrer Tochter, aber das war etwas völlig anderes. Doch Sepp, so nett er auch war, kam nicht als Partner für sie infrage, nicht einmal für eine verschmuste Nacht. Warum dies so war, konnte Anne sich nicht erklären. Manche Männer waren einfach nicht dazu geeignet, mehr zu sein als gute Freunde.

»Ach Sepp, ich glaube, ich mag heute keinen Kaffee mehr machen.« Anne gähnte. Sie spürte, wie Kastner in sich zusammensackte, und musste gegen den unwillkürlichen Impuls ankämpfen, ihn zu trösten. Es würde ja doch nichts bringen.

Später im Bett dachte sie an Bernhard. Je mehr es sich herumgesprochen hatte, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen war, desto häufiger hatten ihr Freunde und Bekannte gesagt, dass das doch gut sei. Der »lahmarschige« Bernhard – ja, derart drastisch hatte es einer formuliert – habe ohnehin nicht zu ihr gepasst. Viel zu lange habe sie ihn mitgeschleppt. Der habe doch eh nur genervt. Sie habe einen Besseren verdient. Sie sei schließlich auch keine Therapeutin.

Vermisste sie Bernhard? Sollte sie ihn mal wieder anrufen? Als Anne der Müdigkeit nichts mehr entgegenzusetzen hatte, galt ihr letzter Gedanke aber nicht Bernhard. Vielmehr freute sie sich, dass sie im Besitz der Handynummer und Adresse eines Gymnasiasten war, von dem die Jungs aus dem Klub behauptet hatten, er sei ein Ass in Chemie und wisse, wie man GHB herstelle. Dieses Bewusstsein ließ die junge Ermittlerin mit einem guten Gefühl einschlafen.

Zwar blieb Sebastian Schönwetter formell weiterhin der Leiter der Arbeitsgruppe »Madleen«, aber da er in seiner Position für eine Vielzahl von Fällen zuständig war, hatte er die Verantwortung für die nächsten Ermittlungsschritte an Anne delegiert. Die attraktive Polizistin wusste, dass er ihr telefonisch jederzeit zur Verfügung stand, doch die vielen mühsamen Vernehmungen, die jetzt nötig waren, sollte sie, so hatte er es entschieden, in Eigenregie und unterstützt von Sepp Kastner und Kurt Nonnenmacher übernehmen. Da Letzterer sich nicht sehr engagiert zeigte, wollte Anne an diesem Tag mit Kastner allein das Zeltlager, in dem Madleen zuletzt gewohnt hatte, aufsuchen. Doch als sie den Kollegen mit ihrem Vorhaben konfrontierte, legte dieser zu ihrer Überraschung ein sehr merkwürdiges Benehmen an den Tag und flüchtete sich in abstruse Ausreden, die in dem Ausruf mündeten, dass Anne das mit den Vernehmungen im Zeltlager doch auch alleine hinbekommen werde.

»Ich will aber, dass du mitkommst, Sepp!«

»Ich kann doch derweil den Gymnasiasten vernehmen.«

»Aber der ist doch jetzt in der Schule, Sepp.«

»Dann halt den Ölscheich …«

»Sepp! Ich möchte, dass du mich zu den Hippiemädchen begleitest!«

»Ich mag aber nicht.«

Anne verstand die Welt nicht mehr. War er beleidigt, weil sie keine Lust gehabt hatte, mitten in der Nacht mit ihm Kaffee zu trinken? Das musste er doch verstehen!

»Sepp, wir machen das jetzt zusammen. Auch den Gymnasiasten und die Araber werden wir gemeinsam vernehmen. Vier Ohren hören mehr als zwei.«

Mit einem zur Schau getragenen Widerwillen, wie ihn Anne noch nie an ihrem Kollegen beobachtet hatte, kam Kastner schließlich mit.

Anne stellte das Einsatzfahrzeug am Rand von Vitus Koflers Feld ab und stieg aus. Auch Kastner verließ den Wagen, allerdings ließ er sich sehr, sehr viel Zeit damit. Anne hätte ihm am liebsten in den Hintern getreten.

Es war noch nicht einmal neun Uhr, im Zeltdorf war alles ruhig.

»Die schlafen alle noch. Komm, gehen wir wieder«, schlug Sepp vor – und er meinte das ernst!

Doch Anne ging stattdessen zu einem der Zelte, klopfte an den Stoff und sagte mit leiser, singender Stimme: »Hallo, guten Morgen, wir sind von der Poliz-aaa-iii.«

Im Zelt raschelte es hektisch, der Reißverschluss ratschte nach unten, und eine vom Schlaf zauberhaft zerknitterte Pauline blinzelte in die bayerische Morgensonne. »Polizei?«

»Ja, guten Morgen«, sagte Anne. »Wir hätten da ein paar Fragen.«

»Oh, ich bin ja noch gar nicht richtig wach.« Dann entdeckte Pauline hinter Anne deren Kollegen Kastner und sagte erstaunt: »Hey, Seppi! Du hier?«

Anne starrte zuerst Pauline Malmkrog, dann ihren Begleiter an. Staunend wiederholte sie: »Seppi?« Das »i« betonte sie dabei ganz besonders.

»Ich hab’ doch den Bus hergefahren«, versuchte Kastner abzulenken. Auf der anderen Seite des Wegs ratterte der Bauer Vitus Kofler mit seinem Traktor über das Feld.

»Ja, und du warst doch auch mal zur Party da, Seppi!«

Wieder sah Anne erst Pauline, dann Kastner an. Der tat jetzt aber so, als hätte er den letzten Satz nicht gehört.

»Wollt ihr Kaffee?« Ohne eine Antwort abzuwarten, kam Pauline – sie trug nur ein schlichtes hellblaues T-Shirt und blauweiß karierte Shorts – aus dem Zelt gekrochen, rieb sich die Augen und ging barfuß in die Mitte des Zeltdorfs, wo neben dem erloschenen Lagerfeuer einige Campingkocher standen.

Bei dem dann folgenden Gespräch erfuhr Anne alles über die Amazonen: wo sie herkamen, warum sie nun hier in Bayern waren und dass sie von einem anderen Leben träumten. Anne fand die patente Pauline auf Anhieb sympathisch. Auch beeindruckte sie, dass die Amazonen sich von allen Konventionen befreit hatten, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dann kamen sie auf die tote Madleen zu sprechen, und Pauline begann zu weinen. Es sei ihr unerklärlich, wie das habe passieren können. Ob man denn schon wisse, an was Pauline gestorben sei?

Anne sagte, dass man so weit noch nicht sei. Falls die Hippiemädchen in den Fall verstrickt sein sollten, war es besser, sie verriet ihnen nicht zu viel mögliches Täterwissen.

Dann erkundigte sich Anne, ob die Mädchen im Lager Drogen konsumierten. Pauline zögerte mit der Antwort, suchte Blickkontakt mit Kastner, doch der studierte die Schwingungen der Schnürsenkel an seinen schwarzen Dienstschuhen, als wären es hochgiftige Wasserschlangen.

Anne spürte Paulines Unsicherheit und sagte deshalb schnell: »Nicht dass du mich falsch verstehst. Es geht mir bei dieser Frage nicht darum, euch wegen irgendwelcher harmloser Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz dranzukriegen. Fragen wir also anders: Hat Madleen Drogen konsumiert?«

»Ja«, sagte Pauline jetzt rasch.

»Und welche?«

»Haschisch, Marihuana, auch mal Pillen«, zählte Pauline auf.

»Was für Pillen?«

»Weiß ich nicht mehr, ist schon länger her. In Bayern haben wir da eher die Finger von gelassen. Ihr seid hier ja ’n bisschen krass drauf in der Hinsicht …« Pauline nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse; ihre Antwort klang glaubwürdig.

»Hat Madleen, seit ihr hier am See seid, andere Drogen außer Haschisch oder Marihuana konsumiert?«

»Na ja, ich war ja nun nicht die ganze Zeit mit ihr zusammen …«, meinte Pauline. »Wir kontrollieren uns natürlich nicht dauernd gegenseitig. Soweit ich weiß, hat sie nichts genommen, seit wir hier sind. Aber …«

»Kennst du Liquid Ecstasy?«

Pauline sah Anne verächtlich an. »So ’nen Chemiedreck würde ich nie nehmen.«

»Und Madleen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

Anne warf Kastner einen Blick zu, den Pauline nicht zu interpretieren wusste.

»Wo war Madleen in der Nacht, in der sie gestorben ist?«

»Auf dem Seefest?« Paulines Antwort klang mehr wie eine Frage.

»Wart ihr alle zusammen dort?«

»Wir sind gemeinsam rübergefahren, mit dem Bus. Da war Madleen auch dabei. Auf dem Fest sind wir dann aber nicht zusammen geblieben.«

»Wann hast du Madleen zum letzten Mal gesehen?«

Pauline dachte lange nach, nahm wieder einen Schluck von ihrem Kaffee, drehte sich eine Zigarette.

»Vielleicht so um neun?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau, also ich meine, ich war ja auch nicht … ganz … nüchtern. Wir hatten hier schon was getrunken – und …«, sie zögerte, »… geraucht … und dann dort auch noch, und dann kriegt man ja manches nicht so richtig mit. Aber wir können ja die anderen fragen, ob sie mehr wissen.«

Es dauerte noch eine Weile, bis Anne und Kastner auch die anderen Mädchen vom Zonenhof befragt hatten. Aber keine konnte sich daran erinnern, Madleen nach neun oder zehn Uhr noch gesehen zu haben. Auch über etwaige Feinde Madleens wussten die Hippiemädchen nichts zu berichten. Wenngleich Pauline einräumte, dass das Männer-Konzept, nach dem ihre Gruppe auf dem Bauernhof gelebt hatte – Sex mit Männern ja, aber keine festen Beziehungen –, in der Vergangenheit durchaus zu Eifersüchteleien geführt hatte. Auch Drohbriefe enttäuschter Liebhaber hätten sie mitunter bekommen. Die Frage, ob sie sich vorstellen könne, dass ein enttäuschter Liebhaber Madleen umgebracht habe, verneinte Pauline aber eindeutig. Auch die Typen aus dem Dorf, die hier in den vergangenen Tagen, zumeist abends, aufgekreuzt seien, hätten einen eher harmlosen Eindruck gemacht. Pauline warf Kastner einen Blick zu, den Anne nicht so recht einzuordnen wusste. Zwar habe es da schon auch hin und wieder Diskussionen gegeben, aber das sei alles im grünen Bereich geblieben. Das sei halt so, wenn man bekifft herumknutsche. Anne nickte und wunderte sich. Was denn das so für Typen aus dem Dorf gewesen seien, die hier in den vergangenen Tagen aufgekreuzt seien?

»Also, das kann er dir eigentlich besser erklären«, meinte Pauline und deutete zu Annes Überraschung auf Kastner.

»Ich war auch einmal da«, gestand dieser nun hastig ein. »Ich wollt’ halt nach dem Rechten sehen, gell.«

»So so, nach dem Rechten sehen.« Anne nickte vieldeutig in Richtung ihres Kollegen. »Na ja, seine Sicht der Dinge kann mir der Sepp dann ja nachher noch erzählen. Aber jetzt sag du mir mal, wer sonst noch so alles hier war.«

Pauline berichtete von den Besuchen des Schlagersängers Hanni Hirlwimmer, des Gleitschirmfliegers Heribert Kohlhammer, auch ein Gemeinderat sei mal dagewesen, soweit sie das mitbekommen habe; die Männer hätten ja teilweise schon auch ein wenig mit ihrer Wichtigkeit geprotzt. Aber nicht nur prominente, auch ganz normale Männer, verheiratete und unverheiratete, junge und alte, hätten sie besucht.

Anne kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Und da gab es nie Streit, aus dem man auf ein Motiv schließen könnte – also dass ein Mann Madleen …?«

»Nö«, behauptete Pauline. »Nie.«

Auf der Rückfahrt in die Dienststelle war Sepp Kastner ungewöhnlich still, was mit der Äußerung seiner Kollegin zusammenhängen mochte, nachdem sie wieder in den Wagen gestiegen waren: »Dass du da mit denen Party machst, Sepp, das finde ich jetzt aber schon den totalen Hammer. Jetzt verstehe ich auch, wieso du partout nicht mitkommen wolltest.« Sie zögerte einen Augenblick und meinte dann trocken: »Sepp, du bist schon eine Vollpfeife!«

Dass ein Gymnasium im selben Gebäude untergebracht ist wie eine urige Wirtschaft mit Bierschwemme, darf man ebenso als bayerische Einzigartigkeit ansehen wie die Tatsache, dass bei den bajuwarischen Einheiten der Bundeswehr auch während des Dienstes der Genuss von Bier erlaubt ist. Dennoch ist dies nicht weiter verwunderlich, denn in Bayern wird das Bier als mineralstoff- und vitaminreiches Grundnahrungsmittel angesehen, das der Ertüchtigung der Soldaten dient. Auch verfügt der bayerische Körper im Gegensatz zum bundesdeutschen über einen vollkommen anderen Stoffwechsel: Er hat – die Hintergründe dieses biochemischen Mysteriums sind noch nicht vollständig erforscht – einen ungemein starken Bierdurst. Deshalb hat sich im Freistaat auch eine äußerst facettenreiche Braukunst entwickelt. Der Nachwuchs für diese Kunst wird bis zum heutigen Tag an den bayerischen Schulen herangezogen, insbesondere auch an den bayerischen Gymnasien.

Daher konnte das hiesige Gymnasium für sich beanspruchen, an einem idealen Ort zum Lernen untergebracht zu sein. Hier war alles Wichtige unter einem Dach: nicht nur die Schule und eine Gastwirtschaft, sondern auch die katholische Kirche und obendrein eine Wohnung für die herzogliche Familie.

Mehrfach hatten bayerische Kultusminister in der bundesdeutschen Kultusministerkonferenz angeregt, ein Gesetz zu verabschieden, das alle Gymnasien in Deutschland dazu verpflichtete, ihre Infrastruktur ebenso vorbildhaft zu optimieren. Aber leider werden bayerische Vorschläge in der Bundespolitik zumeist überhört. Auch die Aussage eines bayerischen Ministerpräsidenten, dass man mit zwei Maß Bier noch gut Auto fahren könne, fand in Norddeutschland wenig Anklang. Seit vielen Jahren rätselt man in Bayern, worin diese Taubheit begründet liegen könnte, und der ein oder andere Bayer möchte einen Minderwertigkeitskomplex nicht ausschließen.

Der Schüler Anton Graf jedenfalls hatte keine Komplexe. Eben erst hatte er sich ein neues Mobiltelefon gekauft. Zwar war das bisher in Gebrauch gewesene Modell erst ein paar Monate alt gewesen, aber es hatte nicht über die Fähigkeit verfügt, herannahende Menschen an ihrem Schrittmuster zu erkennen. Das formidable neue Handy konnte das, Gott sei Dank! Viele hielten diese innovative Funktion für Schnickschnack, aber für Graf war sie extrem wichtig. Als Drogenproduzent musste er nämlich ständig auf der Hut sein. Näherten sich im Flur des elterlichen Hauses Schritte in Richtung seines zum Labor umgemodelten Kinderzimmers, meldete sich das Telefon zu Wort und sagte: »Mama«, »Opa«, »Onki« oder »Achtung«. »Achtung« bedeutete, dass ein Fremder im Anmarsch war.

An diesem Tag war es die Polizei in Gestalt von Anne Loop und Sepp Kastner. Als die beiden Beamten ins Zimmer des katholischen Elftklässlers kamen, hatte der bereits alle für seine wissenschaftlichen Experimente notwendigen Utensilien in dem selbst geschreinerten Wandschrank verschwinden lassen und übte sich scheinbar konzentriert in der Ermittlung von Stammfunktionstermen und der Ableitung gebrochen-rationaler Funktionen.

Dass die Polizisten Anton Graf am frühen Nachmittag zu Hause antrafen, war nicht selbstverständlich, denn seit der Einführung des achtstufigen Gymnasiums hielten sich die Schüler meist nur noch in den späten Abendstunden und während der Nacht zu Hause auf, denn die Schule war zum Fulltime-Job geworden. Aber Anton Graf kam dieser Stress zugute, denn je mehr Leistungsdruck seine Altersgenossen verspürten, umso interessierter waren sie an den chemischen Erzeugnissen seines Labors – dienten jene doch allesamt der rauschhaften Entspannung.

»Grüß dich«, sagte Kastner, der ohne anzuklopfen das Zimmer betreten hatte. »Mir sind von der Polizei.«

»Das seh’ ich«, erwiderte der Schüler gelassen. »Sie tragen ja schließlich Uniform.«

»Hallo«, grüßte auch Anne und warf einen interessierten Blick auf das über dem Bett hängende Poster. Es zeigte eine Frau mit leuchtend grüner Perücke, die in eine transparente Ganzkörper-Seidenstrumpfhose gewandet war, sodass man unschwer fast alle primären Geschlechtsmerkmale studieren konnte. Anne erkannte die Person sofort, es handelte sich um die Popmusikerin, die sich selbst und aus freien Stücken einen Gaga-Namen verliehen hatte und – aus Anne nicht nachvollziehbaren Gründen – als Stilikone galt.

Der Schüler verzichtete auf weitere Worte und wartete ab. Mit Verhörsituationen kannte er sich bestens aus. Denn natürlich hatte er erwartet, eines Tages Besuch von der Polizei zu bekommen, und hatte deswegen auf einem allseits beliebten Online-Portal für Filmschnipsel stundenlang solche Situationen analysiert. Sein Fazit: Ganz gleich, ob es sich um Darth Vader, den guten alten Kottan oder die Tatort-Filme handelte – für die Verhörten war es immer dann gut gelaufen, wenn sie wenig geredet hatten.

»Wir haben gehört, dass du gut in Chemie bist«, begann Anne vorsichtig die Vernehmung.

Der Elftklässler nickte. »Stimmt.«

»Und dass du manchmal auch zu Hause Versuche machst, stimmt ebenso, oder?«, fragte Anne weiter.

Doch da sagte der Schüler »Stopp« und hob die flache Hand. »Das war eine Suggestivfrage.«

»Ja und?«, blaffte Kastner ihn an.

»Ich werde mir von Ihnen keine Aussagen unterjubeln lassen«, sagte der Schüler abgebrüht.

»Aber das ist doch jetzt albern«, meinte Anne ebenso ruhig. »Also, was ist mit deinen Versuchen? Machst du welche?«

»Schon«, meinte der Schüler jetzt.

»Was sind denn das für Versuche?«, fragte Anne vorsichtig weiter.

»Alles Mögliche.«

Jetzt verlor Kastner, der durch den morgendlichen Einsatz im Zeltlager schon reichlich Nerven eingebüßt hatte, die Geduld. »Ja, was bist du denn für ein Brezensalzer! Was soll das blöde Getue? ›Alles Mögliche!‹ Dann fragen mir jetzt halt einmal direkt: Hast du auch schon einmal Liquid Ecstasy gemacht?«

»Sie haben mich nicht über mein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt«, wehrte der Schüler geistesgegenwärtig die Frage ab; Brezensalzer hatte ihn noch keiner genannt.

Nun rückte ihm Kastner auch körperlich näher. Er ging direkt vor dem Schüler, der auf seinem Schreibtischstuhl saß, in die Knie und schnaubte ihm ins Gesicht: »Jetzt pass einmal auf, Burschi. Mir ermitteln hier in einem Mordfall. Und du bist verdächtig, weil mir nämlich erfahren haben, dass du hier im Tal einer der besten Liquid-Ecstasy-Hersteller bist. Wenn du jetzt nicht kooperierst, dann kannst’ eh einpacken. Dann nehmen mir dich mit, und du kommst in Untersuchungshaft. Dann kannst’ dir deine Ferien, die demnächst anfangen, sonst wo hinstecken.«

»Ich fliege mit meinen Kumpels nach Ibiza.«

»Dann würde ich an deiner Stelle jetzt lieber mal ein bisschen mitmachen«, schaltete Anne sich wieder in das Gespräch ein. »Sonst ist Ibiza gestrichen. Weißt du denn, wie man Liquid Ecstasy macht?«

»Das weiß doch jeder«, meinte der Junge aufmüpfig. »Das ist total einfach. Steht sogar im Internet.«

»Wo warst du am Abend vom Seefest?«, fragte jetzt wieder Kastner.

»Ebendort«, antwortete der Schüler.

»Was ›ebendort‹?«, wollte Kastner wissen.

»Na ja, im Internet halt!«, lautete die trotzige Antwort.

»Kennst du dieses Mädchen?« Anne hielt dem Teenager ein Foto der toten Madleen Simon vors Gesicht.

Ohne zu zögern, schüttelte Anton Graf den Kopf und fragte: »Wieso?«

»Weil die tot ist!«, fuhr Kastner ihn an.

»Ich habe ein Alibi«, sagte der Schüler jetzt schnell, denn er hatte sich wieder an seine Filmschnipsel-Studien im Netz erinnert: »Ich war den ganzen Abend beim Günni.«

Gleich nachdem Anne Loop und Sepp Kastner den Schüler verlassen hatten, suchten sie dessen Kumpel Günni auf. Der bestätigte Anton Grafs Alibi: Sie hätten bei ihm die ganze Nacht »gegamet«, Ballerspiele und so. Auf die Frage, warum sie nicht auf dem Seefest gewesen seien, antwortete der Gymnasiast, das sei doch eher was für Touris. Und nein, eine Madleen Simon kenne er nicht.

Zurück in der Dienststelle, rätselten Anne und Kastner, ob es sein könnte, dass die beiden Schüler ihnen etwas vorgelogen hatten. Zwar gab es keine Hinweise darauf, dass etwas mit dem Alibi nicht stimmte, aber es konnte genauso gut auch alles erfunden sein. »Jeder lügt«, meinte Kastner gewichtig, das wisse man als Mordermittler, jedenfalls habe er das irgendwo einmal gehört.

Günnis Eltern konnten das Alibi der beiden Jungen auch nicht bestätigen, denn sie waren auf dem Seefest gewesen – und hatten sich direkt nach dem Heimkommen zu Bett begeben. Sie konnten also nicht zweifelsfrei bestätigen, ob Günni zu diesem Zeitpunkt zu Hause gewesen war, obwohl sie das natürlich nur allzu gerne getan hätten.

Andererseits, fand Anne, wirkten die beiden Jungs noch ziemlich grün hinter den Ohren. Liquid Ecstasy herzustellen war das eine. Es aber einer fremden jungen Frau zu verabreichen, um sie hinterher zu missbrauchen, das erforderte doch ein wesentlich höheres Maß an Skrupellosigkeit.

»Machen mir halt einen DNA-Test, dann wissen mir gleich Bescheid«, meinte Kastner, nachdem die beiden Ermittler eine Weile über den neuen Erkenntnissen gebrütet hatten. Doch Anne hielt es für ziemlich ausgeschlossen, dass ein Richter eine DNA-Analyse genehmigen würde nur aufgrund der Tatsache, dass der Schüler in der Lage war, den im Blut der Toten gefundenen Stoff herzustellen. »Wenn wir da nicht mehr auf der Pfanne haben«, meinte sie zu Kastner, »machen wir uns nur lächerlich, Sepp.«

Ohne anzuklopfen, betrat in diesem Moment Kurt Nonnenmacher den Raum. »Mir haben ihn!«, rief der Dienststellenleiter. »Ich habe ja gesagt, dass man dem Araber nicht trauen kann!« Die beiden Untergebenen schauten den Dienststellenleiter irritiert an. »Der Cousin vom Ölscheich war’s, da wett’ ich einen Kasten Bier!«

»Wie kommst’ jetzt da drauf?«, erkundigte sich Kastner.

»Eben ruft mich ein Mädchen an, das bei dem Casting mitgemacht hat, und sagt, dass der Aladdin bin Dingsbums sie gefragt hat, ob sie mit ihm schlafen will.«

»Ja und?«, meinte Anne.

»Ja, macht man denn das?«, fragte der Dienststellenleiter empört. »Tät’ ich die Antje von der Metzgerei einfach so fragen, ob sie mit mir schlafen will? Tätst du, Sepp, die Frau Loop einfach so fragen, ob sie mit dir schlafen will? Macht man so was?« Er wartete kurz und sagte dann scharf: »Niemals! Es sei denn, man ist ein Verbrecher.«

»Gut«, versuchte Anne beruhigend auf den triumphierenden Inspektionschef einzuwirken. »Natürlich fällt man nicht so mit der Tür ins Haus, wenn man ein erotisches Verlangen nach jemandem verspürt.«

»Ich würd’ so was nie machen«, stammelte Sepp Kastner. »Also, ganz ehrlich …«

»Aber …«, fuhr Anne fort, »kann man denn jemanden, der so direkt fragt, gleich des Mordes verdächtigen? Mir ist das auch schon passiert, dass Männer mich so direkt angemacht haben.«

Kastner wirkte kurz wie vom Blitz getroffen.

»Wenn’s ein Araber ist, schon«, knurrte Nonnenmacher. »Von Anfang an habe ich mir gedacht, dass dieser Aladdin ein ganz ein scheinheiliger Kamerad ist. Und wie diese Sami nicht wollen hat, hat er sie erpresst. Das muss man sich einmal vorstellen!«

»Wie hat er sie erpresst?«, wollte Kastner wissen. Auch er war nun fassungslos.

»Er hat gesagt, dass sie beim Casting bloß mitmachen darf, wenn sie mit ihm Sex hat. Und von wem anderen habe ich gehört, dass man den Madeln Opium und andere Rauschgifte verabreicht hat, um sie wehrlos zu machen. Wenn das die Leut’ hören, dann kann sich der Ölscheich fei warm anziehen. Unsere Leut’ im Tal, die bringen den glatt um.« Der Inspektionschef klang nicht so, als würde ihn das über die Maßen stören. Dennoch fügte er hinzu: »Mir müssen handeln. Der Scheich und die ganzen anderen Araber müssen ins Gefängnis. Zu ihrem eigenen Schutz. U-Haft. Und dann machen mir ihnen den Prozess.«

»So ein Quatsch«, antwortete Anne empört. »Selbst wenn Herr bin Suhail Frauen dazu gebracht hat, mit ihm zu schlafen, weil sie dachten, dass sie dadurch beim Casting bevorzugt werden, ist das doch noch kein hinreichender Grund, um ihn einzusperren!«

»Dass Sie jetzt auch noch diese Araber-Lumpen verteidigen, Frau Loop! Aber das ist mir wurscht. Ich werde mir die jetzt vorknöpfen, eigenhändig, die ganze Bagage. Mir sind nämlich hier immer noch in Bayern. Und wir sind nicht umsonst ein Freistaat. In diesem Land hat die Frau Rechte!« Er zögerte kurz und meinte dann leiser: »Zwar weniger als der Mann, weil das geht ja gar nicht anders, weil … schon aus biologischen Gründen …, aber auf jeden Fall darf nur der eigene Ehemann Intimitäten von ihr einfordern. Und nicht irgendein dahergelaufener Hallodri aus Arabien.« Zu seinem Kollegen gewandt sagte er dann: »Sepp, kommst du mit, dann heben mir diese Räuberhöhle auf’m Berg droben aus. Und für die Rädelsführer beantragen mir Haftbefehl. Die Saudis müssen ein für allemal kapieren, wo der Bartel den Most holt.«

Kastner zögerte. Er war sich nicht sicher, ob sein Chef gerade dabei war, beträchtlich über das Ziel hinaus zu schießen. »Vielleicht sollten mir denen erst noch ein paar Fragen stellen, Kurt, bevor mir den Haftbefehl beantragen. Ziehe nie mit leeren Händen vor Gericht!, heißt es doch.«

Anne hatte Nonnenmachers Bauerntheater regungslos verfolgt. Da der Dienststellenleiter es aber ganz offensichtlich ernst meinte, sah sie sich gezwungen einzuschreiten.

»Herr Nonnenmacher, darf ich Sie daran erinnern, dass Herr Schönwetter mich und nicht Sie mit den Ermittlungen im Fall ›Madleen‹ beauftragt hat? Sie werden ohne meine Zustimmung ganz sicher keinen Haftbefehl beantragen, geschweige denn irgendwelche Vernehmungen oder Festnahmen erwirken.«

Nonnenmacher starrte Anne fassungslos an. Er konnte es nicht glauben. Was ging hier vor sich? Musste er, der seit sechzehn Jahren für die Sicherheit und Ordnung am See einstand, sich wirklich von dieser dahergelaufenen Rheinländerin, die vielleicht sogar lesbisch war – oder warum hatte sie keinen Mann? –, sagen lassen, was zu tun war bei Gefahr im Verzug? Und Gefahr war hier im Verzug. Nicht nur für die Menschen im Tal, für die er die Verantwortung trug, sondern für ganz Bayern! Der Araber versuchte, Bayern zu übernehmen. Aber da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Allerdings hatte Nonnenmacher seit dem letzten Kriminalfall im Tal dazugelernt. Damals hatte er es versäumt, die Kripo aus der Kreisstadt rechtzeitig in die Ermittlungen mit einzubeziehen, was ihm viele schlaflose Nächte beschert hatte. Eine derartige Blöße würde er sich dieses Mal nicht geben. Wenn die Loop ihn jetzt blockierte, dann würde er sich seinen Freifahrtschein für die notwendigen Nachforschungen eben beim Leiter der Ermittlungen persönlich holen.

Nach all diesen gedanklichen Umwälzungen hatte Nonnenmacher sich ein wenig beruhigt und konnte mit beinahe normaler Stimme sagen: »Gut, dann werde ich mir eben vom Herrn Schönwetter direkt die Genehmigung für den Einsatz geben lassen. Fest steht: An einer Hausdurchsuchung führt kein Weg vorbei!«

Es kam dann aber doch anders, als Nonnenmacher es sich gedacht hatte: Schönwetter unterstützte Anne Loop in ihrem Vorhaben, erst einmal umfassende Vernehmungen zu veranlassen. Und diese brachten zutage, dass der Assistent und Cousin des Emirs von Ada Bhai tatsächlich sechzehn Mädchen mehr oder weniger unverblümt nahegelegt hatte, Sex mit ihm zu haben, wenn sie beim Casting in die engere Auswahl kommen wollten. Es gab auch zwei Mädchen, die dem Willen des Mannes nachgekommen waren. Anne fand dieses Vorgehen zwar verwerflich, sah allerdings keine ausreichenden Anhaltspunkte für den Tatbestand einer strafrechtlich relevanten Nötigung.

Seit der Kripochef ihn ausgebremst hatte, litt Nonnenmacher wie ein Hund. Sein Magen gab bei den unmöglichsten Gelegenheiten noch unmöglichere Geräusche von sich, und der Inspektionsleiter fand nicht mehr zur Ruhe. Umso mehr triumphierte er, als er Anne die Nachricht überbringen durfte, er habe Sami Kneip, das Mädchen aus dem Zeltlager, das ihn damals verständigt hatte, zufällig – ja, es sei wirklich zufällig gewesen – im Ort getroffen, und bei dieser Gelegenheit habe er von ihr etwas ziemlich Bedeutsames erfahren: Aladdin Bassam bin Suhail habe auch mit Madleen schlafen wollen, was diese aber abgelehnt habe. Nun spreche ja wohl alles dafür, dass er, weil er sein Ziel auf diesem Weg nicht erreicht habe, »versucht hat, das arme Madel mit diesem Ecstasy gefügig zu machen«. Aus seiner, Nonnenmachers, Sicht sei es deshalb absolut notwendig, das Hotel zu durchsuchen. Wenn man dort GHB oder andere Drogen finde, habe man ja wohl Eindeutiges gegen die Araber in der Hand. Und ein glasklares Motiv sei somit ebenfalls gegeben.

Nachdem auch Anne mit dem Mädchen gesprochen und sich Nonnenmachers Behauptungen bestätigt hatten, bat sie Sebastian Schönwetter schweren Herzens, eine Durchsuchung des Hotels, in dem der Scheich wohnte, zu veranlassen.

Als der Kripomann aus der Kreisstadt nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft sein telefonisches Okay gegeben hatte, stürmten Kastner, Anne und zwei weitere Kollegen, darunter auch der Allgäuer Schmiedle, das Hotel.

Vor allem Schmiedle war unglaublich froh über die Abwechslung, denn die Vernehmung aller Verkäufer arabischer Bauchtanz-Goldketten, die an der Seepromenade täglich aufgegriffen wurden, ödete ihn schon lange an. Außerdem plagte ihn das Heimweh. Und er freute sich schon darauf, seinen Allgäuer Freunden zu Hause vom Inneren des Serails des Emirs von Ada Bhai erzählen zu können, den er sich wie eine mit vielen Tüchern und Baldachinen verhängte Höhle voller unbekannter Düfte, exotischer Klänge und sich lasziv rekelnder Frauen vorstellte. Daher war Schmiedle ziemlich überrascht, als er die erste Suite betrat: Das Hotelzimmer war offensichtlich kaum umgestaltet worden. Stattdessen lief auf dem Fernsehbildschirm kitschiger asiatischer Karaoke-Pop, zu dem eine der Ehefrauen des Scheichs Gesangsübungen machte.

Während Schmiedle die Suite durchstöberte, knöpfte Anne sich eine der Ehefrauen des Emirs vor. Sie hieß Fahda und war wie Anne vierunddreißig Jahre alt. Allerdings hatte sie, wie sie zu Protokoll gab, bereits sechs Kinder zur Welt gebracht, darunter zwei Jungen. In der Thronfolge würden die Söhne jedoch erst einmal keine Rolle spielen, erklärte die dunkelhäutige Schönheit, die in ihrer Suite keinen Schleier trug, sondern einen bequemen rosafarbenen Hausanzug mit Puschelhausschühchen. Sie sei die dritte Frau, und die zweite habe dem Scheich auch schon vier Söhne geschenkt.

Die beiden Frauen unterhielten sich auf Englisch über Verschiedenes. So erfuhr Anne zum Beispiel, dass eine arabische Prinzessin ihren Mann nicht von sich aus ansprechen dürfe, sondern warten müsse, bis jener sich ihr zuwende. Auf die Frage, ob das nicht reichlich unpraktisch sei, erwiderte Fahda Anne im Vertrauen, dass man mit dem Emir und seinen Kameraden ohnehin wenig Interessantes bereden könne. Die Männer hätten doch nur große Autos, Wolkenkratzer, Finanzanlagen und anderen belanglosen Kram im Sinn. Es sei wesentlich entspannter, gestand sie, wenn die Männer nicht dabei seien. Da müsse man auch nicht dauernd darauf achten, dass man niemandem aus Versehen die Fußsohlen zeige, das sei nämlich in der arabischen Welt eine absolute Unhöflichkeit.

Anne staunte auch nicht schlecht darüber, was Fahda über die Beziehung der einzelnen Scheichsehefrauen untereinander berichtete. Die Haremsdame erläuterte, dass der ganze Königshof durchsetzt sei von Intrigen und dass man höllisch aufpassen müsse, wem man was erzähle, weil jede der Frauen versuche, die Lieblingsfrau des Emirs zu werden. Mit allen zu Gebote stehenden Mitteln würden die einzelnen Haremsdamen und die gelegentlichen Edelprostituierten, die der Emir sich in den Palast bestelle, versuchen, einander zu schaden. Sie selbst habe auf dieses Theater schon lange keine Lust mehr. Zwar bekomme sie, seit sie sich nicht mehr so sehr um das Wohlwollen des Scheichs bemühe, auch weniger Schmuck, Brillanten und Taschengeld, aber erstens habe sie ohnehin schon alles, was sie brauche, und zweitens müsse sie so auch nicht mehr dauernd mit ihm Sex haben. Das sei eine Wohltat, denn der Emir habe aufgrund des Wasserpfeife-Rauchens Mundgeruch.

Anne horchte auf. Was der Emir denn in seiner Wasserpfeife so rauche, erkundigte sie sich vorsichtig. Das seien hauptsächlich süßlich stinkende Fruchttabake, erläuterte die arabische Prinzessin, von denen sie selbst Kopfweh bekomme. Ob nicht auch manchmal Haschisch, Marihuana oder gar synthetische Drogen zum Einsatz kämen?, wollte Anne hierauf wissen. Doch dies verneinte die Araberin.

Ob der Scheich auch Alkohol trinke?, fragte Anne interessiert. Aber sicher doch, erwiderte die Haremsdame. Auf die alten religiösen Gebote pfeife man in Ada Bhai schon lange. Dies sei ja auch mit ein Grund dafür, dass der Emir Bayern so liebe: Seiner Ansicht nach gebe es hier das beste Bier der Welt.

Dann erkundigte sich Anne, ob denn immer nur die Männer sich dem Rausch hingäben? Nein, nein, meinte da die Prinzessin mit entwaffnender Offenheit, es gebe natürlich auch Frauen im Harem, die regelmäßig tranken und rauchten. Dies treffe aber eher auf diejenigen zu, die der Scheich und seine Freunde nur mit der Absicht in den Palast holten, um mit ihnen Spaß zu haben, nicht aber, um sie zu heiraten. Aber bei ihr und den anderen vier echten Ehefrauen des Scheichs komme so etwas im Normalfall nicht vor. Schließlich trügen sie als Erzieherinnen der zukünftigen Führer des Emirats von Ada Bhai eine große Verantwortung.

Anne war wirklich überrascht über die Offenheit, mit der ihr Fahda begegnete. Dennoch verzichtete sie darauf, konkret danach zu fragen, ob Fahda sich vorstellen könne, dass der Scheich Liquid Ecstasy verwende, um sich eine Frau gefügig zu machen. Allerdings erkundigte sie sich listig, ob jemand im Harem sich mit Chemie auskenne. Hier musste die Scheichsehefrau passen. Zwar seien die Haremsdamen alle sehr gut ausgebildet, allerdings hätten sie ihre Studienschwerpunkte eher auf Fremdsprachen, Politik und Ökonomie gelegt, weil dies letztlich auch die Fächer seien, in denen die Scheichssöhne brillieren müssten, um später einmal die Schaltstellen der Macht im Emirat von Ada Bhai besetzen zu können. Da sei man nicht nur als Mutter, sondern auch als Nachhilfelehrerin gefragt.

Am Schluss wollte Anne von Fahda noch wissen, was sie von Aladdin halte, dem Cousin des Scheichs. Der sei ein feiner Mann, erläuterte die Haremsdame. Ob Anne Interesse an ihm habe? Nein, nein, antwortete Anne hastig, ihre Frage habe einen rein dienstlichen Hintergrund. Schließlich müsse man einen mysteriösen Todesfall aufklären. Ob Fahda wisse, wie es Aladdin mit den Frauen halte? »Nun, er pflückt sich die schönsten Blumen, die seinen Weg säumen«, antwortete die dunkeläugige Schönheit geheimnisvoll. Und wenn eine Blume mal nicht gepflückt werden wolle?, fragte Anne ebenso bildhaft zurück. Dann verfüge Aladdin über ähnliche Mittel wie der Scheich, um sie sich gefügig zu machen, er mache teure Geschenke. Was Frauen angehe, müssten die Männer, die zum Palast gehörten, auf nichts verzichten, stellte die Araberin klar. Dies gelte sogar für den nichtsnutzigen Chauffeur.

Als Nächstes knöpfte Anne sich Aladdin Bassam bin Suhail vor. Wieder trug der gut aussehende Mann einen eleganten dunklen Anzug und versuchte die Polizistin mit feinsten Umgangsformen und Komplimenten zu beeindrucken. Doch Anne blockte seine Bemühungen ab.

»Stimmt es, dass Sie mit Casting-Bewerberinnen Sex hatten?«, fragte sie den Araber geradeheraus.

Dieser antwortete nicht sofort, sondern stand auf und ging zum Fenster. Nachdem er eine Weile hinausgeblickt hatte, sagte er mit kalter Stimme und ohne Anne anzusehen: »Es ist in unserem Land nicht üblich, dass Frauen Männern Fragen stellen.«

Anne war es höchst unangenehm, sich dies einzugestehen, aber die Unnahbarkeit des Mannes und seine mit einem Mal so kühle Art zeitigten auch bei ihr Wirkung. Sie fühlte sich unwohl. Beging sie gerade einen Fehler, indem sie uralte Regeln arabischer Lebenskultur verletzte? Doch nach kurzem Überlegen kam sie zu einem anderen Schluss. Sie richtete sich noch aufrechter auf ihrem gepolsterten Sessel auf und sagte mit fester Stimme: »Wir sind aber nicht in Ihrem Land, Herr bin Suhail. Wir sind hier in Deutschland. Und bei uns ist es durchaus üblich, dass Frauen Männern Fragen stellen, insbesondere wenn diese in Verdacht stehen, Sex mit einem Mädchen gehabt zu haben, das kurz darauf starb.« Als der Araber weiter schwieg, meinte Anne: »Sagen wir es mal so: Dass Sie Sex mit Casting-Bewerberinnen hatten, wissen wir bereits. Das wurde uns von mehreren Mädchen bestätigt. In dieser Frage brauche ich von Ihnen also gar kein Geständnis, und wenn ich dies auch moralisch verwerflich finde, so ist es strafrechtlich vermutlich nicht relevant und hat mich nur am Rande zu tangieren. Wo ich allerdings eine Antwort von Ihnen benötige, das ist die Frage, ob Sie mit Madleen Simon Sex wollten, aber nicht bekommen haben.«

Aladdin bin Suhail schwieg, allerdings konnte Anne an seiner Körperhaltung erkennen, dass es in ihm arbeitete. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell: Der Cousin des Scheichs zog den Vorhang zu, drehte sich blitzartig um, ging drei Schritte auf Anne zu, beugte sich zu ihr hinunter, packte sie fest an den Schultern und brachte sein Gesicht ganz nah an ihres heran. So nah, dass sie sein männliches Rasierwasser riechen konnte. Dann sagte er: »Ja, ich wollte mit diesem Mädchen Madleen schlafen. Genauso, wie ich mit jedem schönen Mädchen schlafen möchte. Auch mit Ihnen, am liebsten sofort.« Anne fühlte sich, als blickte sie in die Augen eines Tigers. Ihr war, als würden die dunklen Augen sie lähmen. »Aber glauben Sie mir, Frau Loop, niemals würde ich einer Frau gegenüber Gewalt anwenden oder ihren Willen missachten. Ich frage mich, für wie blöd Sie uns eigentlich halten. Natürlich sind wir reich, und natürlich bringt dieser Reichtum mit sich, dass wir uns Dinge erlauben können, die für andere Menschen undenkbar sind. Aber wir respektieren die Gesetze. Und es gibt genug schöne Frauen, die uns freiwillig in unsere Gemächer folgen.«

Nachdem Aladdin Bassam bin Suhail diese Worte gesprochen hatte, wandte er sich ab und verließ den Raum. Anne brauchte noch eine ganze Weile, um sich von der Intensität der Situation zu erholen. Dieser Mann war wie ein wildes Tier. Und was geschah, wenn das Tier die Kontrolle über sich verlor?

Auch Kastner und Schmiedle waren, während Anne Fahda und Aladdin bin Suhail vernommen hatte, nicht untätig geblieben. Die beiden Ermittler hatten das komplette Schlösschen mit all seinen Suiten durchsucht. Von Liquid Ecstasy oder den zu seiner Herstellung geeigneten Gerätschaften entdeckten sie aber nicht die Spur, nicht einmal einen Fingerhut voller Opium konnten sie aufstöbern. Dafür fanden die beiden ein gutes Dutzend Wasserpfeifen und andere orientalische Rauchgeräte.

Bei der Audienz, die der völlig überraschte Emir den beiden engagierten Polizisten gewährte, erklärte dieser, wie auch schon seine dritte Frau Fahda, dass die Wasserpfeifen lediglich zum Genuss harmloser Fruchttabake verwendet würden.

»Wer’s glaubt, wird selig«, brummte Nonnenmacher verächtlich, als man ihm einige Stunden später davon berichtete. Doch der entmachtete Dienststellenleiter wollte dem Frieden nicht trauen. Vielmehr vermutete er eine undichte Stelle bei der Kripo der Kreisstadt – oder womöglich sogar im Polizeipräsidium. Hatte man die Araber vor der Hausdurchsuchung gewarnt? Der alte Ermittlerhase Nonnenmacher hielt es für gut möglich, dass in diesem Fall höchste politische Instanzen mitmischten. Schließlich waren seit der Rettung des Fußballvereins 1860 München auf einmal alle scharf auf das Geld aus Arabien. Warum sollte da nicht auch ein brisanter Mordfall von höchster bayerischer oder gar bundesdeutscher Stelle vertuscht werden? Nonnenmacher dachte an die mysteriösen Todesfälle von Uwe Barschel, Michael Jackson und des Spions Alexander Litwinenko. Hatte man es auch hier, im Fall Madleen, mit einer Verschwörung zu tun?

Annes Spürsinn dagegen sagte ihr, dass derjenige, der mit Madleen Simon vor ihrem Tod Sex gehabt hatte, in anderen Kreisen als den arabischen zu suchen war.