FÜNF

»Gut, dann müssen wir den Höllerer jetzt festnehmen«, sagte Anne mit ruhiger Stimme und wandte sich Sepp Kastner zu. Die beiden saßen in ihrem Dienstzimmer, und Anne hielt ein Blatt Papier in der Hand, aus dem hervorging, dass im Intimbereich der toten Madleen Simon eindeutig DNA-Spuren des Pensionärs nachgewiesen worden waren.

»Da wird der Nonnenmacher toben«, meinte Kastner. Und auch ihm war bei der Vorstellung unwohl, einen Mitbürger aus dem Tal des Mordes zu verdächtigen. Aber Kastner erinnerte sich noch ganz genau: Der Höllerer hatte, als er und Anne ihn direkt nach dem Auffinden der Leiche befragt hatten, gesagt, er habe die Leiche nur an den Händen angefasst. Wie konnte dann sein genetischer Fingerabdruck an die Scham des Mädchens gelangen? Hatte der Höllerer gelogen? Und wenn ja: warum?

Wider Erwarten reagierte Nonnenmacher erstaunlich einsilbig auf die Nachricht, man müsse den pensionierten Schneider und Hobbyjäger Höllerer verhaften. Die Stimme des Dienststellenleiters hatte einen tieferen und raueren Klang als sonst. Auch schien er jede überflüssige Bewegung zu vermeiden. Auf die Frage, ob es ihm nicht gut gehe, ob er womöglich krank sei, antwortete der Inspektionschef aber mit einem lauten »Nein«.

Höllerer saß im Garten und kämmte seinem Hund das Fell, als die beiden Polizisten kamen, um ihn abzuholen. Mysteriöserweise reagierte der Ruheständler gelassen auf die Nachricht, dass er erst einmal festgenommen sei und zur Vernehmung mit auf die Wache müsse. Kurz informierte er seine Frau, welche ihm mit tiefer Angst im Blick hinterhersah, neben ihr der Hund, der alles wusste.

Anne hatte damit gerechnet, dass Nonnenmacher die Fragen würde stellen wollen. Doch der Dienststellenleiter saß zwar mit am Vernehmungstisch, knubbelte aber nur an seinen Fingern herum. Die junge Polizistin begann mit dem Verhör.

»Also, Herr Höllerer, sicherlich wundern Sie sich, weshalb wir Sie festgenommen haben.«

Der Schneider in Rente nickte. »Ich hab’ mit der Sache nix zum tun. Der Kurt«, er wandte sich Nonnenmacher zu, der aber überhaupt nicht reagierte, sondern wie leblos wirkte, »kennt mich auch schon seit vielen Jahren. Kurt, das stimmt doch, oder?«

Nonnenmacher grunzte und beschäftigte sich weiter mit seinen Fingern.

»Folgendes«, ergriff jetzt Kastner das Wort, »Sie haben gesagt, Sie hätten die Leiche mit einem Birkenast ans Ufer gelenkt und dann an den Händen herausgezogen.«

»Genauso war es«, erwiderte der alte Mann.

»Und Sie haben gesagt, dass Sie die Leiche sonst nirgends angefasst haben«, fuhr Kastner fort.

»Genau«, sagte Höllerer.

Anne schüttelte den Kopf. »Kannten Sie das Mädchen eigentlich?«

»Nie gesehen.« Hilflos versuchte Höllerer Blickkontakt mit Nonnenmacher herzustellen, aber der wirkte weiterhin wie weggetreten.

Dann schwiegen alle eine Weile – bis der Rentner mit ehrlichem Interesse fragte: »Warum fragen Sie mich das alles?«

»Weil ein genetischer Fingerabdruck von dir an der Scheide von dem jungen Ding gefunden worden ist, du Depp!«, platzte es mit plötzlicher Wucht aus Nonnenmacher hervor, und eine sanfte Böe abgestandenen Alkoholgeruchs wehte über den Tisch. Anne wurde auf einmal einiges klar. Nonnenmacher war verkatert, und zwar mindestens Windstärke acht. »Jetzt sag mir mal bitte, Veit, wie kann das sein? Was machen Hautpartikel von dir in der Scheide von einer einundzwanzigjähren Ostdeutschen, die obendrein noch eine Leiche ist, ha? Die könnt’ deine Tochter sein! Du hast dein Leben lang gearbeitet, du bist ein zuverlässiger Jäger, der noch nie Probleme hatte mit der Verlängerung des Jagdscheins, du kommst pünktlich zum Stammtisch, trinkst höchstens vier Halbe Bier, also praktisch nix«, hier hielt Nonnenmacher kurz inne und fasste sich an den Kopf, »und bist außerdem seit vielen Jahren verheiratet. Wie passt das zusammen?«

Unwillkürlich zuckte der Höllerer zusammen. Die Sache mit dem Finger, von der nur sein treuer Hund und er wussten, hatte er doch glatt vergessen. Vielleicht auch verdrängt. Es war ein Ausrutscher gewesen, wenn man das so formulieren konnte. Mit dem Finger im Schamhaar von einem toten Mädchen, dazu noch von einem aus Sachsen, umherzukreiseln, das war ein Schmarren, den man besser bleiben ließ. Man sah ja, was dabei herauskam. Ein Verbrechen aber war es nicht. Was tun? Der Höllerer dachte nach.

Dann sagte er: »Das ist eine Angelegenheit, die ist privat.«

Hätte man es nicht mit einer Leiche zu tun gehabt, wäre Anne auf diesen Satz hin in lautes Lachen ausgebrochen. So aber meinte die Polizistin sarkastisch: »Das kann man wohl sagen, Herr Höllerer.« Sie machte eine Pause, in der sie ihn streng ansah. »Wir hätten da aber doch ganz gerne eine Erklärung von Ihnen, und zwar eine plausible. Ansonsten müssen wir Sie bis auf Weiteres in U-Haft behalten.«

Wieder dachte der Höllerer nach. Er hatte den Hund nicht fertig gestriegelt, er wollte heute noch hinauf ins Jagdrevier, die Frau hatte einen Braten im Ofen, eine U-Haft passte da überhaupt nicht ins Konzept. Deshalb meinte er: »Kann ich mal kurz mit dir allein sprechen, Kurt?«

»Sowieso«, erwiderte der Dienststellenleiter, es klang fast wie ein Rülpser.

Anne hatte die Extrawürste, die Nonnenmacher stets machte, wenn er einen Delinquenten persönlich kannte, eigentlich dick. Aber sie hatte in ihrer Zeit als Polizistin hier am See gelernt, dass mit diesen Sonderbehandlungen bei Einheimischen manchmal ganz brauchbare Ergebnisse erzielt wurden. Und so war es auch in diesem Fall.

Wie genau der Höllerer dem Nonnenmacher gestand, was sein Finger am Morgen nach dem großen Seefest für Kunststücke in der Scham einer feschen, leider aber toten jungen Frau aus Sachsen vollbracht hatte, erfuhr nicht einmal Sepp Kastner. Auch ein verkaterter Dienststellenleiter kann schweigen wie ein Grab.

Ganz unverhofft aber brachte die vermeintlich erfolglose Vernehmung das Ermittlerteam in der Suche nach dem Mann, der mit Madleen Simon vor ihrem Tod Sex gehabt hatte, doch noch weiter.

Direkt nach Höllerers Geständnis lud Nonnenmacher den Freizeitjäger nämlich auf eine Halbe Bier in sein Dienstzimmer ein – dies nicht ganz uneigennützig, denn Nonnenmacher hoffte, dass er mit einem Bier am Morgen seinen Kater würde vertreiben können. Und wie es so ist: der Hopfentrank stimulierte Höllerers Erinnerungsvermögen. Und so fiel dem Höllerer nach dem dritten Schluck aus der Flasche etwas ein, was er bislang für gar nicht so bedeutsam gehalten hatte: Dass nämlich in den frühen Morgenstunden des besagten Tages der Bürgermeister der nördlichsten Seegemeinde in der Nähe des Fundorts umhergeschlichen war. Für die zuletzt ratlosen Ermittler bot diese Information einen brauchbaren neuen Ermittlungsansatz. Das musste sogar Anne zugeben, wenngleich ihr Nonnenmachers bierselig triumphierende Art bei der Bekanntgabe des verdächtigen Verhaltens des gemeindlichen Würdenträgers gewaltig auf die Nerven ging.

Die Verhaftung des Verdächtigen wollte Nonnenmacher trotz seines Alkoholpegels persönlich übernehmen. Zur Unterstützung bat er Anne aber um deren Begleitung. Allerdings trafen die beiden Ermittler den verdächtigen Bürgermeister nicht wie erwartet in dessen Dienstzimmer an. Erstaunt erkundigte sich der Inspektionschef bei der wachhabenden Sekretärin: »Hat der Alois heut’ Nachmittag nicht Bürgersprechstunde?«

»Doch, eigentlich schon«, meinte die Gemeindebedienstete verlegen, »aber … die hat er heute Morgen telefonisch abgesagt. Er ist beim Golfen.«

»Beim Golfen!«, entfuhr es Nonnenmacher überrascht. »Aber das ist doch sauteuer!« Die Sekretärin zuckte mit den Schultern, und Nonnenmacher dachte laut nach: »Das habe ich ja noch nie gehört: Seit wann golft der denn, der Alois?«

Wieder zuckte die Sekretärin mit den Schultern. »Seit Kurzem erst.« Dann fügte sie entschuldigend an – denn gute Sekretärinnen schützen ihre Chefs nicht nur vor Gefahren, sondern sogar vor dem Neid der anderen: »Da gibt’s ja auch so Schnupperangebote. Vielleicht schnuppert der Herr Bürgermeister ja nur.«

»Während der Dienstzeit schnuppern«, meinte Nonnenmacher verächtlich, »so weit kommt’s noch. Will der denn nicht wiedergewählt werden, der Alois?«

»Also mir gegenüber hat er kürzlich angedeutet«, gestand die Sekretärin, »dass er sich durchaus vorstellen könne, nach dieser Legislaturperiode auszusteigen und etwas völlig Neues anzufangen.«

»Etwas völlig Neues …« Jetzt sah Nonnenmacher Anne ratlos an. »Wissen’S, Frau Loop, der Alois, der ist seit einer halben Ewigkeit Bürgermeister. Da frag’ ich mich jetzt schon, was der Neues anfangen will.«

Im selben Moment, in dem Anne verständnisvoll nickte, betrat eine junge Frau in einem kurzen geblümten Kleid das bürgermeisterliche Vorzimmer.

»Hallo, ist der Loisi da?«, flötete das junge Ding.

»Nein, der ist gerade beim Golfen«, wisperte die Sekretärin.

Anne konnte deutlich sehen, wie unangenehm ihr das Aufkreuzen der Frau im Blumenkleid war.

Diese wirkte aber keineswegs erstaunt ob der Auskunft. »Ach, spielt er wieder mit dem Scheich?«

Schnell warf die Sekretärin einen ängstlichen Blick in Richtung Nonnenmacher und hauchte dann ein kaum hörbares »Vielleicht«.

»O prima, dann bin ich auch schon wieder weg. Tschüss.«

»Pfia Gott«, rief Nonnenmacher ihr hinterher. Und fragte dann, in Richtung der Sekretärin: »Wer war jetzt das?«

»Das war die Vanessa.«

»Nachname?«, wollte Nonnenmacher wissen. Doch die Mitarbeiterin des Bürgermeisters zuckte erneut mit den Schultern. »Weiß nicht.«

»Und warum nennt die den Alois ›Loisi‹? So nennt den doch kein Mensch!«

»Ich denke«, sagte die Gemeindebedienstete vorsichtig, »das ist eher privat.«

»Ein Gschpusi?«, fragte der Dienststellenleiter leise, erntete aber auch auf diese Frage hin nur ein stilles, verschämtes Schulterzucken.

Vor dem Rathaus blieb Nonnenmacher stehen und sah Anne ernst an. »Also, Frau Loop, wenn Sie mich fragen, stimmt da was nicht. Dass der Alois auf einmal Golf spielt …«

»Ist Herr Wax denn eigentlich verheiratet?«, wollte Anne wissen.

»Ja natürlich. Seit Jahr und Tag!« Der Polizeichef fasste sich an den Kopf. »Sakra, und die Kopfschmerzen gehen auch nicht weg.«

»Wollen Sie eine Tablette?«, fragte Anne fürsorglich, obwohl sie Nonnenmachers Fahne als extrem unangenehm empfand.

»Na«, antwortete der Chef unleidig. In der Nähe miaute eine Katze. »Da sagt er die Bürgersprechstunde ab und geht Golf spielen! Und dann kommt so eine Frau, die wo fast noch ein Mädchen ist, und fragt nach ihm – nach ›Loisi‹! Und als die hört, dass er beim Golfen ist, ist das für sie ganz normal.«

»Nicht zu vergessen, dass er am Morgen nach einem mutmaßlichen Mord in der Nähe der Leiche gesehen wurde«, fügte Anne ein wenig neunmalklug an.

Dem verkaterten Nonnenmacher war das aber gleichgültig, er betrachtete die Katze, die auf ihn zugetapst kam. »Und Bürgermeister will er auch nicht mehr sein …« Die Katze schmiegte sich an sein Bein und miaute wieder. »So was Komisches, ha, Miezi – Miezi, Miezi? So was Komisches! Wissen’S, Frau Loop, der Alois hat eigentlich Baggerfahrer gelernt. Da darf man sich schon wundern, was der arbeiten will, wenn er nicht mehr Bürgermeister ist.«

Die Polizistin und der Inspektionsleiter trafen den Verdächtigen am fünfzehnten Loch des teuersten Golfplatzes im Tal an. Vanessa stand bereits bei ihrem »Loisi« und hielt ein Cocktailglas mit einem rötlichen Getränk in der Hand. Dem Bürgermeister war die Ankunft der Polizei kein bisschen peinlich. Jovial reichte er Nonnenmacher die Hand, etwas distanzierter grüßte er Anne. Sogar als ihm der Leiter der Polizeiinspektion eröffnete, dass er verhaftet sei und man ihn im Zusammenhang mit dem Tod von Madleen Simon vernehmen müsse, blieb Alois Wax, der in der Gemeinderatssitzung vor wenigen Tagen noch wegen der Morddrohung vor Angst geschwitzt hatte, entspannt wie ein Urlauber aus Castrop-Rauxel.

Tatsächlich besaß er die Frechheit, zu fragen, ob er die drei verbleibenden Löcher noch fertig spielen dürfe, was ihm Nonnenmacher versagte. Aber auch das brachte den Politiker nicht aus der Ruhe. Federnden Schritts begleitete er die Polizisten zum Parkplatz, nachdem er sich noch mit »Küsschen-Küsschen« von Vanessa verabschiedet und ihr aufgetragen hatte, die Golftasche mit den Schlägern im Klubhaus abzugeben und sich schon einmal einen Aperol-Sprizz zu bestellen.

Am Parkplatz ging er mit den Worten »Also dann, bis gleich« am Polizeiauto vorbei in Richtung eines weinroten Sportwagens, doch davon hielt ihn Nonnenmacher ab. »Halt, Alois, wo willst’ denn hin?«

»Zu meinem Auto«, meinte dieser völlig selbstverständlich.

»Dein Auto?«, fragte der Dienststellenleiter ungläubig – offensichtlich hatte er das Gerede auf dem Seefest über des Bürgermeisters neue Edelkarosse nicht mitbekommen. »Nix da, du fährst bei uns mit.«

Und Anne ergänzte: »Herr Wax, Sie sind verhaftet.«

»Ach Schmarren!«, sagte der Bürgermeister; offensichtlich dämmerte ihm noch gar nicht richtig, was vor sich ging. »Jetzt komm, Kurt, ich kann doch selber fahren. Wie komm’ ich denn sonst wieder zum Klub zurück?«

»Das wird sich zeigen, ob du noch einmal zum Klub zurückkommst«, knurrte Nonnenmacher daraufhin mit seiner grimmigsten Katerstimme.

Widerstrebend stieg der Bürgermeister in den Streifenwagen ein.

Im folgenden Verhör, das in Nonnenmachers Dienstzimmer stattfand, verstrickte sich der Bürgermeister so in Widersprüche, dass der Polizeichef jegliche Kontrolle über sich verlor und ihn, mit der kellenförmigen Fliegenpatsche in der Hand, anbrüllte: »Alois, jetzt reicht’s! Sag uns jetzt, was du am Morgen nach dem Tod von dieser Madleen in der Nähe der Leiche zu suchen gehabt hast und wo dein plötzlicher Reichtum herkommt: Sportwagen, Golfspielen und eine Freundin, die ausschaut wie ein Model und sogar Hochdeutsch kann …!«, schrie der Inspektionschef vorwurfsvoll. »Das passt doch nicht zum Bürgermeister eines bayerischen Dorfs!«

»Haben Sie vielleicht im Lotto gewonnen, Herr Bürgermeister – und für Ihre Anwesenheit am Leichenfundort eine ganz harmlose Erklärung?«, fragte Anne leise, um ihren Chef diplomatisch auf seine übertriebene Lautstärke hinzuweisen.

Der Bürgermeister schüttelte trotzig den Kopf. Nonnenmacher warf die Fliegenklatsche in die Ecke, beugte sich über den Tisch und klopfte mit einem Löffel gegen seine Kaffeetasse. »Hallo, Alois, aufwachen! Hallo! Das ist hier eine Vernehmung!«

»Wenn Sie jetzt nicht bald Butter bei die Fische tun«, ergänzte Anne, »wird es eng für Sie.«

»U-Haft, Hausdurchsuchung, Amtsenthebung …«, zählte Nonnenmacher auf.

»Außerdem werden wir natürlich Ihre Frau zu Ihrem neuen Lebenswandel befragen«, meinte Anne.

»Insbesondere, ob deiner Gattin eine gewisse Vanessa bekannt ist, die halb nackt rumläuft, deine Tochter sein könnt’ und dich am Golfplatz abbusselt«, ergänzte Nonnenmacher so schnell, dass Anne ganz überrascht war. War Nonnenmachers Kater bei der Katze vom Rathaus geblieben?

Als Anne dem Bürgermeister noch einmal vor Augen führte, dass er hier auch als Mordverdächtiger saß, ergriff dieser nach einem nun nicht mehr ganz so selbstsicheren Räuspern das Wort. Im Folgenden überraschte Alois Wax die beiden Beamten mit einem außergewöhnlichen Geständnis: Er gab zu Protokoll, dass er diese Erklärung nur abgebe, weil er nicht mit einem Mord in Verbindung gebracht werden wolle. Mit dieser Madleen Simon habe er nämlich so viel am Hut wie mit dem Kaiser von China. Und an besagtem Morgen sei er lediglich auf Ortsbesichtigung gewesen, schließlich stehe der Verkauf von Gut Kaltenbrunn an, was ihn als Bürgermeister der zuständigen Gemeinde ja doch auf gewisse Weise angehe.

»Gut Kaltenbrunn soll verkauft werden?«, unterbrach Anne umgehend die Ausführungen des Politikers.

»Ja, danach sieht es aus.«

»An wen?«, donnerte Nonnenmacher. »Doch nicht an diesen Scheich?«

»Doch«, meinte Alois Wax und lächelte dazu, wie Nonnenmacher fand, auch noch recht unverschämt.

»Jetzt geht mir ein Licht auf!«, sagte Nonnenmacher nun viel ruhiger. »Jetzt ist mir klar, woher dein plötzlicher Reichtum auf einmal stammt!«

»Woher denn?«, fragte der Bürgermeister aufsässig.

»Ja, von dem Ölscheich natürlich!«

Worauf Alois Wax nur ein verächtliches »Pfff« hören ließ.

Diese Respektlosigkeit in Verbindung mit der Tatsache, dass der Bürgermeister offensichtlich beim Verscherbeln des wichtigsten Baudenkmals des gesamten Landkreises an den Nahen Osten mitspielte, brachte den altgedienten Polizisten derart in Rage, dass er aufsprang, den Tisch umrundete, den Bürgermeister am Kragen seines offensichtlich neuen Golfhemds packte und zu sich nach oben zog. Der reißende Stoff machte ein hässliches Geräusch.

»Jetzt will ich alles wissen«, schnaufte Nonnenmacher dem Delinquenten ins Gesicht.

Sei es aufgrund des schlechten Atems des Dienststellenleiters oder dass Alois Wax wegen des polizeilichen Würgegriffs wenig Sauerstoff bekam: der Bürgermeister gestand jedenfalls, nicht nur von der arabischen Delegation geschmiert worden zu sein, sondern auch gemeinsam und auf Einladung des Emirs von Ada Bhai eine Nacht mit einigen Haremsdamen verbracht zu haben.

Anne war erschüttert. Alois Wax schien nicht einmal dieses Geständnis peinlich zu sein. Im Gegenteil. Er schwärmte von der frivolen Atmosphäre im Harem des Emirs von Ada Bhai. »Das glaubst du nicht, Kurt, diese Frauen, die haben’s schon drauf, uns Männern das Leben schön zu machen! Das tät’ dir auch gefallen! Kurt, es ist genau, wie man es sich vorstellt: Du kommst in einen Raum, in dem riecht’s nach Ambra und Vanille, und da warten schon drei Frauen, die dich bis auf die Unterhosen ausziehen. Du legst dich auf eine Liege, und dann kommen die mit Mandelöl und …«

Nonnenmacher zeigte keinerlei Reaktion. Vor Kurzem noch hatte er mit Interesse und Neugier nach Erzählungen aus dem Innersten eines echten arabischen Harems gelechzt, doch dies war nach den schrecklichen Erfahrungen der vergangenen Wochen vorbei. Außerdem hatte er Kopfweh. Der Kater war zurück. »Ach jetzt hör aber auf, Alois«, versuchte er den Bürgermeister zu stoppen.

Doch der Bürgermeister fuhr unbeirrt fort: »… und reiben dich von oben bis unten ein und reichen dir ein Getränk, das wird aus den Wurzeln von Orchideen gemacht. Das musst du dir einmal vorstellen, Kurt, Orchideen zum Trinken!«

Anne verfolgte schockiert die Ausführungen von Alois Wax. Offensichtlich hatten Geld und andere Verlockungen dazu geführt, dass dieser an sich bodenständige Mann vollkommen den Bezug zur Realität verloren hatte.

»Sahlep heißt dieser großartige Trunk, und man munkelt, so hat es mir jedenfalls der Raschid gesagt …«

»Welcher Raschid?«, fragte Nonnenmacher verständnislos.

»Na ja, der Emir halt, mir sind jetzt natürlich per Du«, erläuterte Alois Wax beiläufig. »Also dieser Trunk«, der Bürgermeister senkte die Stimme und suchte Nonnenmachers Blick, »steht im Ruf, die Manneskraft zu stärken. Und jetzt hör gut zu, Kurt: Ich hab’s dann auch gleich ausprobiert – es stimmt!« Der Kommunalpolitiker lachte glucksend.

Nonnenmacher verstand die Welt nicht mehr. Alois Wax, den er schon so lange kannte, war offensichtlich wahnsinnig geworden. Leise fragte er: »Aber der Scheich hat dich doch nicht mit seinen eigenen Frauen ins Bett steigen lassen?«

Auf diese naive Frage hin musste der bayerische Würdenträger erst richtig lachen. »Das sind doch nicht seine Frauen, die wo einem das alles angedeihen lassen! Was glaubst denn du! Der Raschid ist ein Herrscher vom Rang des amerikanischen Präsidenten. Hinzu kommt, dass er unheimlich viel Geld hat, mit dem er machen kann, was er will. So einer greift doch nicht auf seine fünf Frauen zurück, wenn er Spaß haben will!«

»Was waren das dann für Frauen?«, erkundigte sich Anne nun interessiert.

»Keine Ahnung, wo der die herhat. Jedenfalls waren die alle top ausgebildet.«

»Wie meinen Sie das, ›top ausgebildet‹?«, hakte Anne nach.

»Also körperlich, aber auch von den Handgriffen her, Massage und so, alles top«, redete sich der Bürgermeister um Kopf und Kragen.

»Und diese Vanessa?«, wollte Nonnenmacher jetzt noch wissen, obwohl er mit den Nerven schon fix und fertig war.

»Ja, die habe ich bei der Gelegenheit zufällig auch noch kennengelernt.«

»War die auch eine von den …«, der Dienststellenleiter zögerte, um die passende Bezeichnung für den Sachverhalt zu finden, »… Nutten?«

»Jetzt sag’ einmal!«, brauste Alois Wax erbost auf. »Das sind doch keine Nutten. Kurt, das sind Liebesdienerinnen. Das ist ein Job mit Anspruch!«

Nonnenmacher schüttelte den Kopf. Irgendwie fühlte er sich wie im falschen Film.

»Und wer ist jetzt diese Vanessa?«, insistierte Anne.

»Meine Freundin«, erwiderte der Bürgermeister knapp.

»Und deine Frau?«, wollte der Polizeichef wissen.

»Ist meine Frau«, antwortete Alois Wax.

Dann schwiegen alle drei und lauschten der Fliege, die durch den Raum summte.

Weil ihm die Stille nach seiner begeisterten Rede seltsam erschien, fügte der Bürgermeister dann aber noch hinzu: »Weißt du, Kurt, mir bayerischen Männer müssen weg von dieser Engstirnigkeit. ›You have to think global‹, sagt der Raschid immer, also global denken, in allen Bereichen. Meine Frau ist eine gute Mutter und prima First Lady. Aber die ist durch diese Doppelbelastung halt auch oft gestresst. Die Vanessa aber, die ist jung, kommt aus Ostdeutschland und hat Zeit. Die hilft mir dabei, meinen Stress los zum werden.«

»Was hast denn du jetzt bitte für einen Stress?«, fragte Nonnenmacher verächtlich.

Der Bürgermeister nahm die Frage vollkommen ernst. »Das kann man sich als Leiter so einer kleinen Polizeidienststelle vielleicht nicht vorstellen, aber mein Amt verlangt mir viel ab.«

»Pfff«, machte Nonnenmacher.

Aber Alois Wax ging darauf nicht ein, stattdessen fuhr er fort: »Deshalb habe ich auch beschlossen, dass es für mich an der Zeit ist, einen Cut zum machen.«

»Einen was?«, fragte der Inspektionschef verständnislos.

»Einen Cut. Ich wechsle ins Ölbusiness. Der Raschid hat meine Managerqualitäten erkannt: Erstens steht unsere Gemeinde top da, und zweitens hat die Kaltenbrunn-Geschichte dank meinem Monitoring und meiner Mediation jetzt auch einen total reibungslosen Workflow bekommen. Der Total Buyout von Gut Kaltenbrunn ist quasi eine g’mahde Wiesn.« Zu Anne gewandt erklärte er: »Sie verstehen, Frau Loop, die Geschäfte laufen, wie mit bestem Wüstenöl geschmiert.«

»Und deine Frau?«, fragte Nonnenmacher, der sich schon ganz schwach anhörte. Der hier zu beobachtende Niedergang der guten alten bayerischen Moralvorstellungen machte ihn fertig.

»Die weiß noch nix«, erwiderte der gerade noch sehr großmäulige Bürgermeister jetzt in nicht mehr ganz so selbstbewusstem Ton.

»Und diese Vanessa kommt also aus Ostdeutschland?«, fragte Nonnenmacher, der plötzlich eine weitere Verbindung in dem komplexen Fall erkannte. »Ist die am Ende eine von den Sächsinnen, die wo beim Kofler Vitus zelten?«

»Ja«, erwiderte der Bürgermeister freimütig, »war sie. Ich hab’ ihr nämlich ein Hotelzimmer besorgt. Ist praktischer, auch aus Rücksicht auf meine Frau. Die Vanessa ist recht laut beim … du weißt schon.« Alois Wax ruckelte etwas seltsam mit dem Kopf und wollte aufstehen. »So, ich glaube, dann haben mir alles geklärt, dann pack’ ich’s jetzt. Ich muss ja noch die Löcher fertig spielen. Und nachher treff’ ich mich eh mit dem Raschid zum Abendessen.«

»Da wird, glaub’ ich, nix draus, Alois«, meinte Nonnenmacher ernst. »Dich lassen mir nicht mehr laufen.«

Jetzt erschrak der Bürgermeister. »Ja, aber warum denn nicht?«

»Es spricht doch alles dafür, dass Sie irgendwie in den Todesfall verwickelt sind, Herr Wax«, übernahm Anne das Wort. »Sie waren kurz nach Eintritt des Todes am Fundort, ohne dafür eine halbwegs schlüssige Begründung liefern zu können. Sie sind offensichtlich mit einem Mädchen liiert, das wie die Tote zu der Zeltlagergruppe gehört. Sie pflegen engste Kontakte zur gesamten arabischen Gesellschaft und sind obendrein, was den Verkauf von Gut Kaltenbrunn angeht, ganz offensichtlich in korruptionsähnliche Strukturen eingebunden – und das ist jetzt, sag’ ich mal, noch vorsichtig formuliert. Ich schlage vor«, Anne sah zu Nonnenmacher hinüber, »wir behalten Herrn Wax bis auf  Weiteres in U-Haft.«

Nonnenmacher nickte. Anne sah ihm an, dass diese ganze missliche Entwicklung ihn traurig machte. Und auch der Bürgermeister wirkte plötzlich, als sei in ihm etwas zerbrochen, das mindestens so groß war wie ein romantischer Traum von Tausendundeiner Nacht. Als Anne den gefallenen Würdenträger die Stufen hinunter in den Keller begleitete, wo eine kleine Zelle mit Liege, kratziger Decke und Klo auf ihn wartete, stammelte er immer wieder: »Ich habe mit dem Tod des Mädchens nix zu tun. Mit dem Tod von diesem Mädchen habe ich nix zu tun, wirklich nicht, Frau Loop, dass müssen Sie mir glauben …«

Als Sepp Kastner von Anne über die Festsetzung des Bürgermeisters unterrichtet wurde, war er so überrascht, dass er sich verplapperte. Annes Kollege sagte nämlich: »Ach was, bloß weil der Herr Wax in der Nähe vom Fundort war, habt’s ihr den jetzt eingesperrt? Aber der Hirlwimmer war doch da auch!«

Anne starrte Kastner an, als hätte er ihr eben ein hölzernes Ruderbootpaddel auf den Kopf gehauen. »Was sagst du da, Seppi?«

Erst jetzt bemerkte Kastner seinen Ausrutscher. Mit einem gehauchten »Ach nix« versuchte er die Situation noch zu retten, doch es war zu spät.

»Sepp, was hast du da eben gesagt?«

Kastner fuhr sich verlegen mit der rechten Hand durch das schüttere Haar, griff sich an die Nase und druckste herum: »Ach, hab’ ich dir das noch gar nicht erzählt: Wie mir uns getrennt haben, nachdem mir noch einmal den Fundort begutachtet hatten, da bin ich doch da beim Gut Kaltenbrunn herumgelaufen.« Anne nickte. »Und da habe ich den Hirlwimmer in seinem Ferrari gefunden.«

»Und was hat er da gemacht?«, wollte Anne wissen.

»Seinen Rausch ausgeschlafen. Der war noch ziemlich zu, vom Seefest halt. Ich glaub’ aber nicht, dass der was mit dem Mord zu tun hat«, schob Kastner hastig hinterher.

»Wieso nicht?«

»Ach, so halt«, meinte Kastner verlegen. Er war sich nun ja auch gar nicht mehr sicher, ob der Hirlwimmer nicht genauso verdächtig war wie der Bürgermeister. Und der saß in der Zelle im Kellergeschoss der Inspektion. Der Hirlwimmer aber geisterte irgendwo da draußen herum. Und, das musste Kastner sich eingestehen, beim Hirlwimmer bestand – schon allein wegen seiner vielfältigen Kontakte zur internationalen Schlagerszene – wirklich höchste Fluchtgefahr. Deshalb sagte der zur Einsicht gekommene Polizist: »Vermutlich sollten mir den Hirlwimmer auch gleich noch festnehmen.«

Weil Anne das genauso sah und schon auf dem Weg zum Streifenwagen war, blieb es ihrem Kollegen erspart zu erklären, weshalb er die Begegnung mit dem nach Schnaps stinkenden Cowboystiefelträger verschwiegen hatte.

Allerdings trafen die beiden den Musikstar leider nicht im Haus seiner Mutter an. Die weltgewandte Seniorin erklärte ihnen, der Hanni sei direkt am Tag nach dem Seefest nach Japan geflogen. Das hätte sie auch überrascht, denn in seinem Tourneeplan, den sie eigentlich immer ganz gut im Kopf habe, sei nichts davon erwähnt gewesen. Aber der Hanni habe gesagt, er müsse dort an einem spontanen Anti-Atom-Konzert zugunsten der armen Japaner teilnehmen.

»Wer’s glaubt, wird selig«, murmelte Kastner und schwitzte vor Angst. Wenn der Hirlwimmer der Täter war, dann saß jetzt ein unschuldiger Lokalpolitiker im Knast, und ein Mörder lief frei herum, wenn auch nur bei den Japanern. Und er, Kastner, war schuld. Dass der Hirlwimmer Erfahrungen mit Liquid Ecstasy hatte, dessen war sich der Polizist hundertprozentig sicher. Was man von der Musikszene so hörte, wurde da mit noch weitaus gewaltigeren Halluzinogenen experimentiert.

»Scheiße« war der einzige Kommentar, der Anne einfiel, als die beiden Ermittler wieder im Streifenwagen saßen.

Doch der Tag hielt für die junge Polizistin noch eine weitere unangenehme Überraschung bereit. Allerdings wartete das Schicksal damit bis zum Abend.

Anne war es in der vergangenen Zeit, in der sie durch ihr Berufsleben so stark beansprucht worden war, relativ gut gelungen, ihre offensichtlich gescheiterte Beziehung mit Bernhard zu verdrängen. Doch an diesem Abend hatte Lisa, als Anne ihr beim Zu-Bett-Bringen noch den Rücken streichelte, nach Bernhard gefragt. Anne hatte die Situation souverän gemeistert und Lisa versichert, dass es Bernhard gut gehe und er sicher bald vorbeikommen werde.

Als sie jedoch später auf dem Sofa im Wohnzimmer saß, das sie mit Bernhard gemeinsam eingerichtet hatte, überkam sie ein mulmiges Gefühl. Ohne sich die möglichen Folgen dieses Schritts genauer zu überlegen, wählte sie Bernhards Telefonnummer. Er nahm den Anruf sofort entgegen.

»Hallo, Anne«, begrüßte er sie; er hatte ihre Rufnummer erkannt. Und er schien sich aufrichtig über ihren Anruf zu freuen. Sofort war Annes mulmiges Gefühl verschwunden. Gut, dass sie ihn angerufen hatte.

»Hallo, Bernhard. Wollte mich mal wieder bei dir melden. Bei mir war viel los in der letzten Zeit.«

»Ja?«, fragte Bernhard interessiert. »In der Arbeit oder privat?«

Anne erzählte ihm vom Harems-Casting, über das Bernhard aber auch bereits in der Zeitung gelesen hatte, und von dem Todesfall nach dem Seefest. Als sie von den erotischen Eskapaden des Bürgermeisters berichtete, lachte Bernhard aus derart tiefer Brust, wie sie es bei ihm schon lang nicht mehr gehört hatte. Allerdings verstand er auch, dass es als mittlere Katastrophe einzuordnen war, dass der Schlagersänger Hanni Hirlwimmer dem polizeilichen Zugriff entkommen war.

Ohne dass Anne es merkte, sprach sie mit ihrem Ex den ganzen Fall durch. Gemeinsam wogen sie die Wahrscheinlichkeiten ab, welcher der einzelnen Verdächtigen am ehesten in Madleen Simons Tod verwickelt sein konnte. Dem Bürgermeister, den Bernhard persönlich kannte, traute Annes Exfreund allerdings nicht zu, mit Liquid Ecstasy zu tun zu haben, dem Schlagersänger schon eher. Auch dass der Emir von Ada Bhai in den Todesfall involviert sein sollte, hielt Bernhard für ausgeschlossen. Das Argument, dass der Emir sich mit Geld und Charisma jede Frau gefügig machen konnte, überzeugte ihn. Ob dies auch für alle männlichen Mitglieder des mitgereisten Hofstaats gelten konnte, hielt Bernhard allerdings für fraglich. Die beiden Gymnasiasten verfügten zwar über das für die Herstellung von Liquid Ecstasy nötige Wissen, aber war es diesen zwei Milchbubis wirklich zuzutrauen, dass sie ein Mädchen, das älter und erfahrener war als sie, auf diese brutale Weise misshandelten?

»Es kann ja sein, dass die Situation einfach eskaliert ist«, meinte Anne. »Vielleicht wollten die erst einmal einfach nur ausprobieren, wie die Droge wirkt. Und dann war Madleen auf einmal tot.«

»Aber dann müssten die zwei das Mädchen ja auch noch vergewaltigt haben.«

»Eine Vergewaltigung ist nicht erwiesen«, korrigierte Anne ihren einstigen Geliebten. »Es könnte auch ein einvernehmlicher Beischlaf gewesen sein.«

»Dann wäre der Tod danach eingetreten.«

»Oder anders herum«, meinte Anne. »Die haben der das Mittel gegeben, sie ist gestorben, und dann hatte einer von ihnen mit ihr Sex.«

»Mit einer Toten? Das glaube ich nicht. Nicht diese zwei harmlosen Jungs. Wenn ich daran denke, wie ich war, als ich aufs Gymnasium ging …« Bernhard schwieg kurz. »Und sonst kommt niemand als Verdächtiger infrage?« Beide dachten nach. Dann ergriff Bernhard wieder das Wort: »Welche Motive kommen denn infrage? Bei Liquid Ecstasy liegt natürlich das Motiv, mit einer wehrlosen Person Sex zu haben, ganz weit vorn. Aber gibt es vielleicht auch noch andere Motive?«

»Wenn der Bürgermeister in die Sache verwickelt ist, dann könnte es auch etwas mit dem Verkauf von Gut Kaltenbrunn zu tun haben«, sagte Anne.

»Aber warum dann das Sperma in der Scheide? Das spricht ja nun mal total für ein sexuelles Motiv«, vermutete Bernhard. »Und was ist, wenn eine Konkurrentin vom Harems-Casting das Mädchen umgebracht hat?«

»Und das Ganze als Sexualverbrechen getarnt hat.«

»Zum Beispiel.«

»Könnte sein. Vielleicht sollte ich dem mal nachgehen …« Anne gähnte, auf einmal war sie müde geworden. »Na ja, jetzt weißt du, was mich zurzeit so bewegt … Es ist jetzt schon ganz schön spät. Lass uns ein andermal wieder telefonieren, Bernhard.« Sie gähnte noch einmal. »Es war wirklich schön, mal wieder mit dir zu sprechen.«

»Warte«, stoppte Bernhard sie. »Ich muss dir auch noch was sagen.«

Plötzlich klang er sehr aufgeregt. Und Anne fiel auf, dass sie die ganze Zeit nur über sie und ihre beruflichen Angelegenheiten gesprochen hatten. Fehlte ihr am Ende doch ein Gesprächspartner, mit dem sie sich auf Augenhöhe austauschen konnte? Darüber konnte sie ja beizeiten noch einmal nachdenken. Jedenfalls war Bernhard jetzt sehr nett gewesen. Vielleicht sollten sie sich mal wieder treffen, und dann konnte man ja sehen, ob die Beziehung womöglich doch noch eine Zukunft hatte …

»Es ist …«, begann Bernhard, brach dann aber ab. »Ich bin, also … ich werde …«

Anne war irritiert. Was druckste Bernhard, der eben noch so locker gewesen war, auf einmal derart komisch herum?

»Also«, sagte er jetzt mit einem Mal entschlossen. »Ich möchte, dass du es als eine der Ersten erfährst.«

»Du heiratest?«, fragte Anne schnell.

»Nein«, antwortete Bernhard bestimmt.

Anne war furchtbar erleichtert und kam sich deswegen völlig bescheuert vor.

Doch dann sagte Bernhard etwas, das viel schlimmer war: »Ich werde Vater.«

Der Satz traf Anne wie ein Faustschlag in die Magengrube. Wäre sie nicht auf dem Sofa gesessen, sie wäre nach hinten umgekippt.

»Das ist nicht wahr.« Annes Erwiderung klang wie eine Feststellung. Aber warum sollte Bernhard sie in dieser Sache anlügen?

»Und ich …«, begann Bernhard nun wieder zaghaft, beinahe jungenhaft, »freue mich.«

Jetzt packte Anne die kalte Wut. Wie lange hatten sie gerade telefoniert und über unwichtiges Zeug wie ihre ganzen Jobangelegenheiten gesprochen? War es eine halbe Stunde gewesen – oder vielleicht sogar eine Stunde? Und jetzt, ganz am Ende des Gesprächs, als sie schon auflegen wollte, kam Bernhard mit so einer Nachricht! Konnte das sein?

»Unverschämt!«, entfuhr es ihr unwillkürlich.

Bernhard, der ihre Gedanken ja nicht hatte mitverfolgen können, fragte sofort und mit Ratlosigkeit in der Stimme: »Dass ich mich freue?«

»Ach, nein«, sagte Anne. Sie spürte, dass eine Flut verzweifelter Tränen sich Bahn brechen wollte, und wusste, dass sie dieses Gespräch nicht mehr lange durchhalten würde. Deshalb sagte sie nur: »Danke für deine Offenheit, Bernhard. Ich wünsche dir viel Glück.« Und legte auf.