EINS

Einige Wochen früher

Aufgrund eines gekippten Fensters hörte Anne Loop ihren bärtigen Vorgesetzten, Kurt Nonnenmacher, bereits lautstark schreien, als sie am Morgen die Dienststelle erreichte. Die junge Polizeihauptmeisterin parkte gerade ihr Mountainbike vor dem Gebäude, als der Chef der kleinen Polizeiinspektion in den Morgen brüllte: »Sacklzement, ich möcht’ bloß wissen, was sich diese g’scherten Islamisten noch alles einfallen lassen!« Dann war es für einen Augenblick still. Aber schon schimpfte Nonnenmacher weiter. Seine Verzweiflung klang ehrlich wie das Röhren eines liebeskranken Hirschs: »Warum ausgerechnet bei uns? Warum geht der Ölscheich nicht nach Timbuktu oder Burkina Faso? Gehört der Araber nicht eh in die Wüste? Mir Bayern bleiben doch auch daheim und fahren nicht sonst wohin in der Weltgeschichte.«

Als Anne diese Worte tiefgründiger Verzweiflung hörte, wünschte sie sich zurück in ihren Garten und träumte davon, sich die Kleider vom Leib zu reißen und in den morgenfrischen Bergsee zu springen, beim Tauchen das Kitzeln ihrer langen Haare auf dem Rücken zu spüren, sich danach in den Strahlen der noch zaghaften Sonne zu trocknen und – was für eine Vorstellung! – den Nonnenmacher Nonnenmacher sein zu lassen. Ein schlecht gelaunter Oberbayer, das hatte Anne, die aus dem Rheinland stammte, gelernt, war unberechenbar wie eine Wildsau, die gerade Frischlinge geworfen hat. Von so einem hält man sich besser fern, denn seine Angriffslust erfreut sich nicht umsonst eines legendären Rufs.

Als Anne Nonnenmachers Dienstzimmer betrat, war sie erleichtert, dort ihren jungen Kollegen Sepp Kastner – blond, breite Nase, immer auf Frauensuche – vorzufinden. Der studierte als Nonnenmachers Untergebener bereits seit mehreren Jahren die Eigenheiten des Polizeichefs und wusste, wie und wann man sich idealerweise vor ihm in Sicherheit brachte.

Nonnenmacher saß an seinem Platz und schaufelte aus einer roten Plastikbrotzeitdose kalten Reis in sich hinein – eine von vielen Diäten, die die fürsorgliche Gattin dem sensiblen Magen des Dienststellenleiters verordnet hatte. Diese Fastenkur, an der Nonnenmacher nun schon eine ganze Weile festhielt, entstammte einer Frauenzeitschrift.

Kastner indes stand vor dem Schreibtisch der Reis verschlingenden Wildsau und las aufmerksam das Blatt Papier, das jene – also Nonnenmacher – ihm gereicht hatte.

»Ts, ts, ts«, kommentierte Kastner, was Anne kurz an die Pumuckl-CD erinnerte, die sie am Morgen mit ihrer siebenjährigen Tochter Lisa zum gefühlten zwölftausendsten Mal angehört hatte; jedes Wort kannte Anne auswendig. Der Ersatzvater des Kobolds, Meister Eder, machte auch immer »ts, ts, ts«, wenn er Zeitung las. Wie Pumuckl in dem Hörspiel fragte Anne Loop leicht genervt: »Was ›ts, ts, ts‹?«

Ehe Kastner antworten konnte, brach es aus Kurt Nonnenmacher hervor: »So ein scheiß Scheich aus Ada Bhai will den Sommer bei uns verbringen.« Er stierte Anne vorwurfsvoll an. »Ausgerechnet bei uns!«

»Na und?«, meinte Anne verständnislos, denn dass Scheichs an ihrem schönen See oder auch sonst in Bayern Urlaub machten, war vollkommen normal und insgesamt eher zu begrüßen als ein Atomkraftwerk.

»Na und, na und!«, bellte Nonnenmacher, wobei ihm ein Reiskorn auskam, welches nach einem eher flachen, bogenförmigen Flug auf Sepp Kastners Uniformhemd landete. Kastner warf seinem Chef einen genervten Blick zu und schnippte das Reiskorn auf den Boden. Währenddessen dachte er an seine alte Mutter, die das Hemd waschen und bügeln musste, denn Kastner wohnte trotz seiner achtunddreißig Jahre noch daheim.

Nonnenmacher ließ sich durch das Flugmanöver nicht aus der Wut bringen, sondern röhrte weiter: »Nix ›na und‹. Das ist nicht irgendein Ölscheich, sondern das ist der Raschid bin Dingsbums, seines Zeichens Emir von Ada Bhai, so schaut’s aus, mein lieber Herr Gesangsverein!«

Anne verstand noch immer nicht, was daran schlecht sein sollte, und meinte deshalb vorsichtig: »Aber das ist doch gut für unser Tal. Der Scheich wird sicher viel Geld ausgeben, und es werden weitere Urlauber aus dem Nahen Osten kommen, wenn es ihm hier gefällt.«

»Um Gottes willen!« Nonnenmacher stöhnte theatralisch, während er seine Reisdose in der Schreibtischschublade verschwinden ließ. Vor seinem inneren Auge zeichneten sich Bilder des Schreckens ab: Gebetsteppiche auf bayerischen Berggipfeln, mit zahllosen Minaretten bestückte Moscheen an bayerischen Seen und in Vorhangstoffe gehüllte Frauen mit dämonischen Augen, so dunkel wie die Grillkohlebriketts aus dem Baumarkt.

Als Sepp Kastner Annes fragenden Blick registrierte, erklärte er: »Der Kurt meint halt, dass da sehr hohe Sicherheitsvorkehrungen notwendig sein werden, wenn der Scheich da ist. Da werden mir den halben Ort absperren müssen. Jedenfalls will es das Innenministerium so. Hier steht« – Kastner las überdeutlich und mit wichtiger Miene aus dem ministeriellen Fax vor: »Es ist mit größter Sorgfalt dafür Sorge zu tragen, dass der hohe Staatsgast Raschid bin Suhail samt Familie und Dienerschaft mit allen den örtlichen Sicherheitskräften zur Verfügung stehenden Mitteln vor Gefahren, Risiken, Anschlägen et cetera geschützt wird. Raschid bin Suhail ist der Emir von Ada Bhai. In Bayern entspricht der Rang des Emirs dem eines Königs. Er ist somit mindestens unter Personenschutz der höchsten Gefährdungsstufe zu stellen, wenn nicht mehr.«

»Das ist schlimmer, als wie wenn jetzt der König Ludwig leibhaftig vom Himmel herunterfahren tät’ und mir ihn in einem Luxushotel bewachen müssten«, brummte Nonnenmacher, der sich nun wieder etwas gefangen hatte und jetzt eher beleidigt als zornig klang.

»Der Ludwig tät’ niemals in ein Luxushotel ziehen«, erwiderte Kastner überzeugt, »dem wär’ ein Schloss lieber, vielleicht sogar bloß eine feuchte Grotte.«

»Der Ludwig hat unser Tal sowieso immer verschmäht«, meinte jetzt Nonnenmacher empört. »Ich glaub’, der war kein einziges Mal da.«

Und Kastner ergänzte: »Es waren halt immer nur die Herzöge, denen unser Tal gut genug war.«

»Immerhin haben mir heut’ die Milliardäre«, merkte Nonnenmacher nicht ohne Stolz an, was widersinnig war, weil er den Geldadel, der seit Jahrzehnten alles dafür tat, die Naturschönheit des Sees durch ästhetisch waghalsige Bauten zu beeinträchtigen, insgesamt nicht riechen konnte.

Kurz darauf saßen die drei im Streifenwagen und fuhren auf der Nordstrecke zur anderen Seeseite hinüber. Das Hotel, das sich der Scheich ausgesucht hatte, lag nicht direkt am Seeufer, sondern thronte erhaben auf einem Hang oberhalb der Stadt. Eine Abschirmung des Komplexes würde hier oben leichter fallen, hatte Sepp Kastner fachmännisch festgestellt.

»Ich bin ganz froh, dass sich die Araber nicht da unten am See einquartieren, wo’s so saumäßig eng ist. Außerdem sind mir da droben auch weiter weg von der Seestraße mit dem vielen Verkehr.« Dann verfiel Kastner in dozierenden Tonfall: »Verkehr mag der Attentäter nämlich. Er sucht sich bevorzugt Orte aus, die von vielen Menschen frequentiert werden – Festzelt, Fußballstadion, Flohmarkt …«

»Schon, schon«, meinte Nonnenmacher unwirsch, »aber das Gelände ist sausteil, und direkt oberhalb vom Hotel fängt der Wald an. Wenn sich ein mutmaßlicher Attentäter von da her anschleicht, dann schauen mir fei alt aus.«

»Mir müssen das Areal halt komplett umstellen, dann ist es sicher«, versuchte Sepp Kastner seinen Chef zu beruhigen.

»Und wie sollen wir das mit unseren paar Hanseln von der Dienststelle machen?«, blaffte Nonnenmacher den Untergebenen an und schüttelte dabei den Kopf.

Sepp Kastner schwieg beleidigt, doch Anne Loop, die neben Nonnenmacher auf dem Beifahrersitz sitzen durfte, fragte naiv: »Ist das Hotel denn so groß?«

»Ja, das werden schon so vier, fünf Gebäude sein«, erwiderte Nonnenmacher gewichtig. »Sogar ein Schloss gehört dazu.«

»Jugendstil«, tönte Sepp Kastner aus dem Fond des Wagens.

»Als ob du Gscheithaferl wüsstest, was das ist«, höhnte Nonnenmacher.

»Zumindest weiß ich, dass es nix mit der Fußballnationalelf zum tun hat. Seit der Dings Trainer ist, ist da ja auch immer vom Jugendstil die Rede.« Nach einem Zögern fragte er: »Anne, weißt du zufällig, was das genau ist, Jugendstil?«

»Das war eine Zeit vor etwas mehr als hundert Jahren, als man geschwungene Verzierungen und Blumendekorationen mochte«, antwortete Anne.

»Aber warum ›Jugend‹?«, wollte Kastner wissen.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie und verfiel in Schweigen.

Nach einer kurzen Pause, in der Kastner versonnen auf den See geblickt hatte, meinte er: »Soweit ich weiß, hat da in dem Schloss auch einmal die Kaiserin von Russland gewohnt.«

»So ein Schmarren«, bügelte Nonnenmacher ihn nieder. Als Kastner daraufhin jedoch noch beleidigter als schon vorher schwieg, fügte Nonnenmacher besänftigend hinzu: »Das war eine Großfürstin, allerhöchstens.«

»Kurt, da liegst jetzt aber, glaub’ ich, falsch, weil mir haben das in der Schule gelernt: In dem Schloss von dem Hotel, da war die Maria von Sachsen, und die hat, dafür leg ich meine Hand ins Feuer, irgendwas mit dem russischen Kaiserhaus zum tun gehabt, also jedenfalls jobmäßig oder so.«

»Ja!« Nonnenmacher lachte anzüglich. »Wahrscheinlich einen Minijob beim Kaiser!«

Anne Loop verzog angewidert das Gesicht. In solchen Augenblicken bereute sie zutiefst, dass sie sich von München aufs Land hatte versetzen lassen. Zwar gab es in der Großstadt auch genügend ruppige Kollegen, aber insgesamt ging es dort in Polizeikreisen etwas weltoffener zu als in dem engen Bergtal, wo man trotz der zugereisten deutschen Monetenaristokratie und der vielen Urlauber doch schon sehr im eigenen Saft schmorte. Etliche Ureinwohner, zu denen ja auch Nonnenmacher zählte, fanden, dass der Tourismus den See zwar reich gemacht habe, dass aber erstens viel zu wenige davon profitiert hätten und zweitens die Landschaft dadurch etwas von ihrer Ursprünglichkeit verloren habe. Jeder Einheimische konnte auf Anhieb mehr als eine Handvoll furchterregender Bausünden aufzählen, die man den Auswüchsen des Tourismus zu verdanken hatte. Es waren beileibe nicht nur Naturschützer, die sich ausmalten, wie der eine oder andere einst schöne Fleck im Tal wieder aussehen könnte, wenn sich ein Terrorist fände, der eine Bombe legte und alles wieder so aussähe wie früher. Aber einen derart revolutionären Gedanken auszusprechen, getraute sich in dieser Zeit nur der Kaiser des Fußballs.

Das Polizeifahrzeug arbeitete sich durch den Verkehr aus der Stadt heraus und erklomm die steile Straße zum Hotel. Nonnenmacher parkte das Fahrzeug vor dem Haupthaus, über dessen steinernem Torbogen das Wort »Reception« prangte. Seiner Meinung nach schrieb man das mit »z«, aber das mit dem Ausländischen im Bayerischen war eine Seuche, neulich erst hatte seine Frau gegenüber Bekannten ein hundsgewöhnliches Weißwurstfrühstück als »Brunch« bezeichnet. Ein Weißwurstfrühstück!

Die drei Polizisten stiegen aus und betraten das Gebäude, wo sie ins Büro des Hoteldirektors geführt wurden.

Christian Geigelstein war ein aparter Mann mittleren Alters mit schwarzen, nach hinten gegelten Haaren, der die drei nach kurzer Begrüßung bat, Platz zu nehmen.

Anne fühlte sich in den bequemen Sesseln gleich wohl, wohingegen man Nonnenmacher und Sepp Kastner anmerken konnte, dass sie sich auf den Holzbänken des örtlichen Bräustüberls wohler gefühlt hätten.

»So, und zu Ihnen kommt jetzt so ein Ölscheich«, begann Nonnenmacher etwas ungelenk das Gespräch.

»Nun, ich würde es etwas anders formulieren; Herr Raschid bin Suhail ist der Emir von Ada Bhai, einem relativ kleinen Wüstenstaat auf der Arabischen Halbinsel, aber mit großem Ölvorkommen«, antwortete Geigelstein höflich.

»Und der traut sich, jetzt in Urlaub zu fahren? Wo es in der gesamten arabischen Welt gerade lichterloh brennt?«, fragte der Dienststellenleiter mit schadenfrohem Unterton.

»Falls Sie auf die Unruhen und revolutionsähnlichen Vorgänge Bezug nehmen sollten«, erwiderte der Hoteldirektor vorsichtig und wischte mit einer eleganten Handbewegung ein für die drei Polizisten nicht sichtbares Staubkorn von der glänzenden Tischplatte seines Schreibtischs, »bitte ich Sie, Ihre Mitarbeiter dringend zu instruieren, dass das gegenüber der Herrscherfamilie mit keinem Wort erwähnt wird. Der Emir und seine Gattinnen sollen sich bei uns erholen und sich keinesfalls mit etwaigen politischen Problemen belasten müssen.«

»Das ist schon interessant, gell«, feixte Nonnenmacher jetzt derart unverfroren, dass Anne ihm am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hätte, »dass nicht nur der Bayer sich nicht unterdrücken lässt, sondern sogar der Araber. Der Mensch ist halt, ganz wurscht, woher er kommt, freiheitsliebend und mag es nicht, wenn irgend so ein daherstrawanzter Herrscher über ihn bestimmt.«

»Aber Kurt«, schaltete sich Sepp Kastner ein, »du bestimmst ja auch über uns, und mir lassen uns das ja auch gefallen, meistens jedenfalls.«

»Das stimmt natürlich«, meinte Nonnenmacher, »eine gewisse Führung ist sicherlich in vielen Bereichen nicht schädlich. Dies gilt insbesondere für so sicherheitssensible, wie die umfassenden Aufgaben und Zuständigkeiten der Polizei es sind.«

Anne schämte sich in Grund und Boden für das Bild, das ihre beiden Kollegen abgaben, und so versuchte sie, den Blick des Hoteldirektors einzufangen. Doch der ließ sich von ihren blauen Augen nicht bezirzen, sondern meinte, ohne auf Nonnenmachers und Kastners Zwiegespräch über die Freiheit einzugehen: »Das Emirat von Ada Bhai zählt zu den wohlhabendsten Staaten der Welt. Armut und Arbeitslosigkeit sind dort Fremdwörter. Meines Wissens sind die Menschen dort frei. Jedem Bürger steht der Weg offen zu einem Studium, zu bester gesundheitlicher Versorgung und zu …«

»Meinungsfreiheit?«, unterbrach Nonnenmacher den beflissenen Vortrag des Hoteldirektors.

»Ich denke, dass es dort auch so etwas wie Meinungsfreiheit gibt«, erwiderte Geigelstein etwas irritiert. »Um es aber noch einmal klipp und klar zu sagen: Sollten Sie oder einer Ihrer Mitarbeiter gegenüber einer Person der Entourage des Emirs ein kritisches Wort verlieren, werde ich intervenieren, notfalls an höchster Stelle. Da werden Sie große Probleme bekommen. Für unser Haus geht es hier um einen wichtigen und anspruchsvollen Auftrag.«

»Und um einen Haufen Geld«, stellte Nonnenmacher trocken fest.

»Vielleicht sollten wir jetzt lieber das Sicherheitskonzept durchsprechen, anstatt weltanschauliche Diskussionen zu führen«, schaltete Anne sich in das Gespräch ein und wurde dafür endlich mit einem interessierten Blick des Hoteldirektors belohnt, der ihnen nun erklärte, dass der Emir mit seiner Familie vor allem im Schloss wohnen werde. Dort habe Raschid bin Suhail alle sieben Suiten und auch die übrigen Räume angemietet. Restaurant, Bar und was sonst noch in dem Gebäude untergebracht sei, stehe für den gesamten Sommer allein der Herrscherfamilie aus Arabien zur Verfügung.

»Werden Sie dann die komplette Saison über gar keine anderen Gäste in Ihrem Hotel beherbergen?«, fragte Anne Loop erstaunt nach.

»Doch«, erklärte der Hoteldirektor, allerdings dürfe das Schloss tatsächlich nur von den arabischen Gästen betreten werden.

»Und was ist mit dem Spa-Bereich und den anderen Hotelgebäuden?«, erkundigte sich Anne.

»Das ist eine gute Frage«, antwortete Geigelstein, was Sepp Kastner ein stolzes Lächeln entlockte, war er doch immer noch heimlich in die alleinerziehende Anne Loop verliebt, die, wie er fand, blitzgescheit war und zudem aussah wie Angelina Jolie, wenn nicht sogar besser. »Natürlich werden der Emir und seine Familie auch unser Spa nutzen. Allerdings können wir unsere anderen Gäste nicht völlig aussperren. Da müssen wir eine Lösung finden. Womöglich werden wir mit Herrn Raschid bin Suhail Wochenpläne aufstellen, sodass die zeitliche Nutzung genau geregelt ist. Irgendein Weg wird sich da hoffentlich finden. Für Sie ist aber vor allem wichtig zu wissen, dass keine Personen in die Hotelgebäude hineindürfen, die nicht Gäste oder Mitarbeiter unseres Hauses sind.«

»Das heißt, wir postieren vor jedem Gebäude Wachen?«, wollte Anne wissen.

»Das wäre aus meiner Sicht sinnvoll«, antwortete Geigelstein.

»Das ist ja der reine Wahnsinn«, entfuhr es Nonnenmacher, der bisher nur zugehört hatte. »Da brauchen mir ja mindestens dreißig Einsatzkräfte. Wie stellst’n dir das vor?« Dass er den Hoteldirektor geduzt hatte, war zwar eine Entgleisung, allerdings war das Duzen in den ländlichen Gebieten Oberbayerns weiter verbreitet als in den Metropolen des Landes.

Anne Loop rechnete. »Wir haben vier Gebäude, vermutlich jedes mit mehreren Eingängen.«

»Mir müssen ja nicht alle Eingänge offen lassen«, warf Sepp Kastner ein, dem gefiel, dass nun endlich etwas voranging.

»Genau«, nickte Anne zustimmend. »Gehen wir mal davon aus, dass wir für jedes Gebäude zwei Kollegen einsetzen, dann macht das acht. Bei drei Schichten à acht Stunden brauchen wir pro Tag vierundzwanzig Einsatzkräfte.«

»Unmöglich!«, polterte der Dienststellenleiter. »Völlig unmöglich. Mir haben ja auch noch anderes zum tun als irgendwelche Islamisten zum schützen!«

Der Hoteldirektor Geigelstein quittierte Nonnenmachers Ausbruch mit einem entsetzten Blick. Doch der war jetzt erst richtig in Fahrt gekommen und fügte noch hinzu, dass man so einen Zirkus ja nicht einmal veranstaltet habe, wie der Franz Josef Strauß noch im Tal gewohnt habe. »Und der war immerhin Ministerpräsident von Bayern und nicht bloß von Arabien.«

Ohne auf den Inspektionschef einzugehen, ergänzte der Hoteldirektor, der seinen Blick nun wieder unter Kontrolle hatte, Annes Ausführungen: »Außerdem wäre es sinnvoll, am Anfahrtsweg zwei Polizisten zu postieren und zudem zwei Beamte permanent auf dem Gelände Streife gehen zu lassen.«

»Macht insgesamt sechsunddreißig Personenschützer«, hielt Anne lächelnd fest. »Das wird ein richtiger Großeinsatz, und das den ganzen Sommer über!« Sie freute sich riesig, dass am See endlich einmal etwas los war. Die immer gleichen Internetbetrügereien und Verkehrsunfälle, mit denen sich ihre Dienststelle vor allem herumzuschlagen hatte, hingen ihr schon lange zum Hals heraus. Ohne Rücksicht auf ihren Chef fragte Anne nun kess: »Und bekommen wir jetzt noch eine Führung von Ihnen durch das Hotel, Herr Geigelstein?«

Ohne sich anmerken zu lassen, ob er Nonnenmachers Auftreten als ungebührlich empfand, führte der Hoteldirektor die drei Beamten zunächst in das moderne Gebäude, in dem die Tagungsräume und der Spa-Bereich untergebracht waren. Als Nonnenmacher in dem eleganten Schwimmbad stand, in dem es nach die Sinne verwirrenden Substanzen roch, verstummte sogar er kurz angesichts des majestätischen Ausblicks durch das Panoramafenster über Stadt und See hinweg zum bewaldeten Hirschberg und hinüber zum Ochsenkamp.

»Die Saunas kann ich Ihnen jetzt leider nicht zeigen, weil da gerade Gäste sind«, entschuldigte sich Geigelstein.

»Das ist ja schön hier«, flüsterte Anne Loop.

»Schon«, meinte auch Sepp Kastner. »Es riecht gut – und alles ist so …«, er suchte nach einem Wort, »… modern.«

Nonnenmacher brummte nur, wenngleich nicht ablehnend. Als das Quartett gerade die Behandlungsräume mit den Massageliegen passierte – auch von hier aus eröffneten sich eindrucksvolle Ausblicke auf das Alpenpanorama –, meinte der Polizeichef: »Herr Geigelstein, ich habe eine Frage.« Der Hoteldirektor schenkte dem Dienststellenleiter einen erwartungsvollen Blick. »Die Scheichsfrauen, die haben ja immer solche Vorhangkleider an.«

»Burka nennt man diese traditionelle Bekleidung meines Wissens nach«, erwiderte der Hotelier vorsichtig.

»Wie man’s nennt, ist ja wurscht – Hauptsache, mir verstehen uns, und das tun mir ja, oder?« Geigelstein nickte zögerlich. Er war sich nicht sicher, ob er und Nonnenmacher sich tatsächlich verstanden. »Also«, fuhr der Dienststellenleiter fort, »die Kleider haben diese Scheichsfrauen ja, weil man nicht sehen darf, dass sie schön sind, falls sie schön sind, oder?«

»So könnte man das wohl formulieren, unter Umständen«, meinte der Hoteldirektor zaghaft.

»Manche von denen sind sicherlich auch schön«, mischte sich Kastner in der Absicht ein, die von Nonnenmacher verbreitete finstere Stimmung etwas aufzuhellen. Ein Versuch, der aus Annes Sicht mit dieser Aussage nur halb glückte.

Nonnenmacher war das egal: »Hin oder her, jetzt kommt meine Frage: Wie gehen die Scheichsfrauen dann eigentlich schwimmen, wenn man nix sehen darf von ihnen? Die werden ja wohl nicht mit so einem Vorhang ins Wasser steigen?«

»Ich denke, dass die Ehefrauen eines Emirs genauso schwimmen gehen wie zum Beispiel Ihre Frau, Herr Nonnenmacher«, sagte der Hotelier. Er war nun nicht mehr ganz so gelassen wie gerade eben noch. »Der Unterschied wird nur sein, dass Frau Nonnenmacher vermutlich im öffentlichen Strandband schwimmen geht, wohingegen sich die Frauen eines Emirs lediglich in völlig abgetrennten Bereichen, zu denen vor allem auch kein Mann Zugang hat, den Badefreuden hingeben.«

»Gut, dann müssen halt immer Sie mitgehen, Frau Loop, wenn die Frauen vom Ölscheich baden gehen«, meinte Nonnenmacher versöhnlich. »Mir wäre es in dem Schwimmbad auf Dauer eh zu heiß.« Er dachte kurz nach und meinte schließlich: »Ziehen’S dann halt auch so einen Vorhang an – vielleicht einen in Polizeigrün.«

»So, dann zeige ich Ihnen jetzt noch unser Schloss«, sagte Geigelstein, der nicht sicher war, ob Nonnenmacher seine letzte Aussage ernst gemeint hatte. Er führte die drei in den Barocksaal mit dem großen Banketttisch. Die drei Polizisten zeigten sich beeindruckt.

»Hier kann man heiraten!«, meinte Sepp Kastner anerkennend.

»Das stimmt«, sagte der Hotelier lächelnd, »wir sind fast jedes Wochenende ausgebucht.«

»Vorausgesetzt, man hat eine Frau, gell, Sepp«, zog Nonnenmacher seinen unfreiwillig ledigen Untergebenen auf.

Der Hoteldirektor ging auch auf diese Unverschämtheit nicht ein, sondern erklärte stattdessen: »Hier wird die königliche Familie ihre Mahlzeiten einnehmen.«

»Müssen’S denen fei schon auch einmal Weißwürscht machen, gell. Dass’ wissen, was gut ist«, merkte der Dienststellenleiter todernst an.

»Das werden wir sicherlich nicht tun, Herr Nonnenmacher«, antwortete Geigelstein, sparte sich aber eine Erklärung, weshalb man den Gästen aus dem Nahen Osten diese bayerische Spezialität garantiert nicht servieren würde.

So beschwingt wie an diesem Tag war Anne Loop schon lange nicht mehr vom Dienst nach Hause gekommen. Im Garten des Hauses, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter Lisa und ihrem Lebensgefährten Bernhard, der nicht der Vater des Kindes war, bewohnte, blühten Blumen und Büsche in voller Pracht. Im Hintergrund schimmerte unschuldig der See. Komisch war nur, dass die beiden bei dem schönen Wetter nicht im Garten waren. Anne schloss die Tür auf und rief laut: »Hallo!« Doch niemand antwortete. Noch einmal rief Anne: »Haallooo!« Keine Antwort. Die Polizistin schaute kurz ins Wohnzimmer, doch auch da war niemand. Dann betrat sie die Küche des Anwesens, das eigentlich das Ferienhaus von Bernhards nach Spanien ausgewanderten Eltern war – in dieser teuren Lage hätten sich Bernhard, der an seiner Doktorarbeit schrieb, und Anne mit ihrem Polizistinnengehalt niemals ein Haus leisten können. Doch auch hier war niemand, und an der Stelle, an der sie üblicherweise die Nachrichten füreinander deponierten, war auch nichts zu finden.

»Fuck«, entfuhr es Anne, denn ihr schwante nichts Gutes. Ihr Freund Bernhard von Rothbach litt nämlich an einer psychischen Krankheit, die viele Menschen für einen Witz hielten, Anne aber das Leben zur Hölle machte: Bernhard plagten regelmäßig hypochondrische Schübe, während derer er sich für unheilbar krank hielt und sich dann entweder in eine tiefe Depression flüchtete oder aber mit Selbstmordgedanken kämpfte. Es kam auch schon vor, dass Bernhard einfach für Tage verschwand – und sich dann plötzlich, wie aus dem Nichts, wieder bei ihr mit der Mitteilung meldete, er sei in einer Klinik, weil man vermute, er habe einen Gehirntumor. Natürlich war an all den Tumoren und sonstigen Gebrechen nie etwas dran. Aber zum einen konnte sich Anne nie ganz sicher sein, ob sich Bernhard in seiner Verzweiflung über eine eingebildete unheilbare Krankheit nicht doch einmal das Leben nahm, zum anderen bereitete es ihr jedes Mal große Probleme, wenn er ohne Vorankündigung verschwand und sie mit Lisa allein dastand. Denn wenn Bernhard nicht da war, wer holte Lisa dann von der Schule ab? Wer machte mit ihr Hausaufgaben? Und: Wo war Lisa jetzt?

Anne überprüfte den Anrufbeantworter, aber der ließ nur die Nachricht erklingen, dass sie herzlich eingeladen sei, fürs Sommerfest der Schule einen Kuchen zu backen, und zudem solle sie beim Verkauf mithelfen. Bei dem angekündigten Festtag handelte es sich um einen Mittwoch, was Anne ein erneutes »Fuck« entlockte, denn das bedeutete, dass sie sich einen Tag Urlaub nehmen musste, um in der Schule mit dabei zu sein. Einen Tag Urlaub zum Kuchenverkaufen. Wie machten das eigentlich andere Alleinerziehende?

Nachdem Anne Loop das obere Stockwerk des Hauses und auch den Garten nach Lisa und Bernhard abgesucht hatte und ausschließen konnte, dass die beiden sich einen Spaß mit ihr erlaubten, wählte sie zuerst Bernhards Mobilnummer. Es tutete eine Weile, was Anne für einige Augenblicke Hoffnung schöpfen ließ, doch dann ging die Mailbox an. Warum habe ich mir nur diesen Idioten als Freund ausgesucht?, schoss es ihr durch den Kopf, und sie verspürte ob dieses Gedankens nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Natürlich war Bernhard irgendwie auch toll. Er war einfühlsam, gebildet, ein Familienmensch – wenn er gesund war. Aber wenn dann wieder diese verfluchte Hypochondrie die Macht übernahm … Als Nächstes wählte Anne die Nummer der Familie von Lisas bester Freundin Emilie. Die Siebenjährige ging gleich persönlich ans Telefon.

»Emilie Eberhöfer?«

»Hallo, Emilie, hier spricht Anne. Ist Lisa bei dir?«

»Ja.«

Anne spürte die Erleichterung am ganzen Körper.

»Gibst du sie mir mal?«

»Wieso?«

»Weil ich sie was fragen will.«

»Was?«

Unglaublich, wie selbstbewusst die Kinder heutzutage sind, dachte Anne kurz und antwortete mit liebevoller Strenge: »Geht dich nichts an. Gib mir jetzt die Lisa!«

Kurz darauf war Lisa Loop am Apparat: »Hallo, Mama!«

»Hallo, Lisa, warum bist du bei Emilie?«

»Weil Bernhard weg musste.«

»Hat er dich von der Schule abgeholt?«

»Ja, aber dann hat er gesagt, ich soll mit Emilie mitgehen.«

»Wieso?«, fragte Anne verständnislos.

»Keine Ahnung. Er hat nur gesagt, dass er weg muss. Du, wir malen gerade.«

Kinder gehen mit den Verrücktheiten des Lebens wesentlich entspannter um als Erwachsene, stellte Anne fest und verzichtete darauf nachzufragen, wohin Bernhard »musste«, sie hatte ohnehin so eine Ahnung. »Gibst du mir mal Emilies Mutter?«

»Wieso?«

»Lisa, gib mir jetzt bitte Emilies Mutter, verdammt!«

Als die Mutter der Schulfreundin am anderen Ende der Leitung war, entschuldigte sich Anne, dass Bernhard ihr die Verantwortung für Lisa so kurzfristig »aufs Auge gedrückt« hatte. Aber auch wenn Emilies Mutter ihr mit keinem Ton das Gefühl gab, dass sie Bernhards Vorgehen für nicht so geschickt hielt, fühlte Anne sich schlecht. Wie ätzend es doch war: Ständig brachte Bernhard sie in unangenehme Situationen. Wie konnte jemand, der über die Philosophie der Verantwortung promovierte, derart verantwortungslos sein?

Als Anne am nächsten Tag die Dienststelle betrat, war der Groll verflogen. Zwar hatte sie am Abend vorher noch mehrmals versucht, Bernhard auf dem Handy zu erreichen, jedoch erfolglos. Doch dieses Mal hatte Anne keine verheulte Nacht verbracht. Sie hatte beschlossen, sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen. Seine hypochondrischen Eskapaden gingen ihr schon viel zu lange auf die Nerven! Sie würde sich gefühlsmäßig von ihm abkoppeln, zumindest in diesen Phasen. Und: Bernhard würde sich wieder melden. Ganz sicher würde er sich wieder melden. Mit welch überraschender Nachricht dies sein würde, konnte sie freilich in dem Moment, in dem sie das Büro ihres Chefs Kurt Nonnenmacher zur morgendlichen Besprechung betrat, noch nicht ahnen.

Der Chef wirkte noch grantiger als am Vortag. Auf seinem Schreibtisch lag ein Blatt Papier, und seinem Gehabe nach hatte seine miese Laune etwas damit zu tun.

Als auch Sepp Kastner mit leichter Verspätung den Raum betrat und wie üblich die Tür nur anlehnte, wies Nonnenmacher ihn wütend zurecht: »Tür zu, oder habt’s ihr daheim Teppiche vor der Tür hängen?«

Kastner roch die dicke Luft, trabte deshalb zügig zur Tür und schloss sie möglichst geräuschlos.

Die Zimmerpflanze, die hinter Nonnenmachers Rücken auf dem Fensterbrett vor sich hin vegetierte, wippte zaghaft in der lauen Seeluft, welche sich gemeinsam mit einer Wespe durch das gekippte Fenster hereinschummelte.

»Frau Loop, jetzt mal unter Kollegen und ganz ehrlich: Haben Sie hinter meinem Rücken irgendwas mit dem Ministerium gemauschelt?«

Anne schaute ihren Vorgesetzten irritiert an. Dessen Magen knurrte wie ein wildes Tier, obwohl das Reisfrühstück, das er heute auf seinem Freisitz mit Blick auf das Gulbransson-Museum eingenommen hatte, kaum länger als achtunddreißig Minuten zurücklag. Auch Sepp Kastner wirkte plötzlich nervös. Und als wäre dies nicht schon genug, trainierte direkt vor dem Fenster eine Möwe Sturzflug.

Ehe Anne etwas antworten konnte, drohte Nonnenmacher: »Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie mich hier als Dienststellenleiter absägen wollen, dann gnade Ihnen Gott! Ich schau’ vielleicht aus wie der Alm-Öhi, aber innen drin bin ich ein …« Nonnenmacher suchte nach einem passenden Vergleich und sagte dann »Schlangenkopffisch«, was Sepp Kastner unheimlich lustig fand. Vermutlich hatte der Chef gestern auch die spätabendliche Wiederholung der Zoosendung über die Raubfische gesehen, die bis zu einen Meter dreiundachtzig lang werden konnten. Anne dagegen konnte daran gar nichts Komisches finden. Ministerium! War Nonnenmacher verrückt geworden?

»Warum sagen’S jetzt nix?«, fuhr Nonnenmacher sie an, wobei er aber leicht verunsichert klang.

»Weil … weil«, stotterte Anne, »weil ich gar nicht weiß, worauf sie hinauswollen! Ist denn was passiert?«

»Ja«, antwortete Nonnenmacher kurz und knapp. »So etwas Intrigantes ist mir in den ganzen sechzehn Jahren, in denen ich diesen Job hier mache, nicht untergekommen.«

»Ja was denn, Kurt?«, wollte jetzt auch Kastner wissen. »Was ist denn passiert?«

»Ich bin entmachtet«, sagte Nonnenmacher, und er klang dabei wie ein bayerischer König, dem sein Kabinett handstreichartig die Regentschaft entzogen hat. Erneut probte vor dem Fenster die Möwe den Sturzflug, dieses Mal mit gellendem Schrei. Es klang beeindruckend.

»Wirst du versetzt oder was?«, fragte Kastner ratlos.

»Das wär’ ja noch schöner!«, rief der sechsundfünfzigjährige Dienststellenleiter, Bartträger, Fliegenphobiker, Hobbyliebeslyriker und Familienvater jetzt so laut, dass ein Kollege von der Bereitschaft besorgt seine Nase ins Dienstzimmer steckte und fragte, ob man Hilfe brauche.

»Du, hau bloß ab!«, brüllte Nonnenmacher ihn an und suchte Annes Blick: »Frau Loop, eines sage ich Ihnen: Ich lasse mir nicht von einer dahergelaufenen Schlampe wie Ihnen die Arbeit wegnehmen!«

»Kurt, jetzt geh!«, versuchte Kastner den wütenden Chef zu bremsen. »So was sagt man aber nicht zu einer Kollegin, die wo bis jetzt eine super Arbeit geleistet hat bei uns.«

»Und das alles wegen den Islamisten!«, schrie Nonnenmacher nun so schrill, dass sich seine Stimme überschlug. Kurz nachdem seine flache Hand ein weiteres Mal auf den Tisch niedergesaust war, klopfte es an der Wand zum Nachbarbüro, und eine weibliche Stimme rief: »Kurt, geht’s eigentlich noch?«

Nonnenmacher verdrehte die Augen und murmelte etwas Unverständliches, das sich für Anne anhörte wie: »Grutzedürckenherrgodsakramenterweibasleit.«

Kastner ließ sich durch das wütende und mit Sicherheit frauenfeindliche Gemurmel nicht davon abbringen, den Grund für Nonnenmachers Ärger herauszufinden, und fragte mit unschuldigem, beinahe erleichtert klingendem Interesse: »Ach, hat’s was mit dem Scheich zum tun?«

»Ja, so kann man das sagen!«, antwortete der leicht füllige Inspektionsleiter, nun in gedämpfterem, wenngleich noch lautem Ton. »So kann man das sagen. Diese Ölscheichs kaufen uns nicht bloß die bayerischen Fußballvereine vor der Nase weg, die zerstören auch noch unsere Existenzen. Sepp, ich sage dir: Es wird kommen der Tag, da kommt so ein Öl-Taliban daher und kauft uns den See unterm Arsch weg. Haut ein paar Millionen auf den Tisch, und weg ist das Wasser, inklusive Fische, Seerosen und Wasserläufer. Einfach so! So schnell kannst’ gar nicht schauen, mein Lieber, das sag’ ich dir!«

»Ja, aber was hat jetzt die Anne damit zum tun?«, traute sich Kastner nun doch noch einmal nachzufragen.

»Das Ministerium hat sie zur Leiterin der gesamten Scheiß-, ach, was sag’ ich – Scheichs-Aktion ernannt.« Nonnenmacher sah Kastner ernst an. »Das heißt, ich bin da heraußen. Das muss man sich einmal vorstellen!« Das bärtige bayerische Mannsbild wischte sich den Schweiß der Verzweiflung und des Zorns von der Hand und schleuderte ihn gegen den Dienstplan an der Korkpinnwand. »Was die Leute jetzt von mir denken.« Nun flüsterte der wütende Gendarm beinahe, während sein Magen furchterregend knurrte. »Ich sag’ euch, was die Leute sagen werden: Der Nonnenmacher hat nix mehr zum melden. Das Ministerium traut dem Nonnenmacher nicht einmal mehr zu, dass er einen Ölscheich bewacht. Der Nonnenmacher lässt sich jetzt von einer Polizistin, die ausschaut wie die Brigitte Bardot« – Kastner unterbrach ihn mit einem korrigierenden »Angelina Jolie, die Bardot war blond«, was Nonnenmacher aber egal war –, »… auf der Nase herumtanzen. Das werden die Leut’ reden!«

Anne war sich nicht sicher, aber bei den letzten Worten glaubte sie Tränen in den Augen des Dienststellenleiters erspäht zu haben. Dabei hatte ihr Sepp Kastner erst kürzlich erklärt, dass ein bayerischer Mann nur in einer Lebenssituation weine: wenn seine Mutter sterbe. Nonnenmacher tat ihr aufrichtig leid.

Die Möwe hatte ihr Training beendet, dafür röhrte nun ein Traktor so laut an der Inspektion vorbei, dass Nonnenmacher seine Augenbrauen tief in die Stirn zog und für einen Augenblick sein Jagdinstinkt geweckt war: Denn hier verletzte ein Landwirt gerade eindeutig den Lärmgrenzwert, was natürlich bußgeldfällig war und somit eine Obliegenheit der Polizei.

Doch ehe Nonnenmacher sich um die Verfolgung des Ruhestörers kümmern konnte, sagte Anne ruhig: »Aber Herr Nonnenmacher, wir ziehen hier doch an einem Strang! Ohne Ihre Erfahrung sind wir doch völlig aufgeschmissen. Gerade wenn es darum geht, so hohen Besuch zu schützen. Allein schon Ihre präzise Ortskenntnis ist doch unerlässlich für uns, Ihre Erfahrung, Ihr diplomatisches Geschick.« Sogar dieser letzte Zusatz kam ihr völlig ironiefrei über die Lippen. »Dieser Sommer, dieser Scheichbesuch bringen Herausforderungen für uns, die ohne Ihre Kompetenz und Ihr polizeiliches Wissen nicht zu bewältigen sind. Da ist es doch ganz gleich, was das Ministerium uns schreibt, oder was meinen Sie?«

Nonnenmacher brummte etwas Unverständliches in seinen Bart hinein, insgesamt klang es aber nach besänftigter Zustimmung. Deshalb fuhr Anne fort: »Außerdem ist es doch auch eine Auszeichnung für unsere Dienststelle, dass wir mit der Bewachung eines echten arabischen Königs beauftragt werden und nicht die Kollegen aus der Kreisstadt oder aus München.«

»Das ist natürlich richtig«, stimmte der Inspektionschef zu und sah Anne mit offenem Blick an. »Dass mir die ganze Aktion dann aber gemeinsam durchziehen! Von wegen Gesichtswahrung und so.«

Anne nickte. Nonnenmacher, jetzt selbstsicherer, fuhr fort: »Dass ich quasi weiter der Chef bin und Sie sozusagen einen Sonderauftrag bekommen, also von mir.«

»Genau«, sagte Anne und fand Nonnenmacher, diesen Bären von einem Mann, für einen Moment beinahe süß. Auch Sepp Kastner war furchtbar erleichtert, dass die für eine gute Zusammenarbeit so wichtige Harmonie wiederhergestellt war, und erkundigte sich nun leise, was denn eigentlich genau auf diesem Zettel stehe.

Nonnenmacher informierte sie, dass das Ministerium die ganze Verantwortung für die Sicherheit des Besuchs des arabischen Königshauses in die Hände der hiesigen Polizeiinspektion lege und höflich dazu auffordere, möglichst schnell einen Einsatzplan mit einer konkreten Kräfteanforderung vorzulegen. Denn dem Ministerium sei auch klar, dass mit den in der hiesigen Polizeiinspektion zur Verfügung stehenden Beamten der Emir und seine Familie unmöglich hinreichend bewacht werden könnten. »Mir kriegen also Verstärkung«, sagte Nonnenmacher.

»Hoffentlich nicht aus Franken«, meinte Kastner.

»Noch schlimmer wären Schwaben«, ergänzte der Dienststellenleiter. Was er unterschlug, war die Tatsache, dass er vom Ministerium vor allem aus zwei Gründen nicht mit der Leitung der Bewachung der Scheichsfamilie beauftragt worden war: Zum einen, weil er kein Englisch sprach, zum anderen aber, weil der Direktor des Luxushotels, in dem der Emir absteigen würde, angeregt hatte, anstatt des bärbeißigen Inspektionsleiters »diese hellwache junge Polizistin« mit der Aufgabe zu betrauen. Dies fanden Sepp Kastner und Anne Loop aber erst heraus, als sie mit einer Kopie des ministeriellen Schreibens in ihrem eigenen Dienstzimmer saßen.

»So ein Scheich«, meinte Nonnenmacher während der Mittagspause zu Sepp Kastner, als Anne gerade gegangen war, um sich einen Kaffee zu holen, »so ein Scheich ist schon ein rechter Sauhund.«

Die beiden Polizisten saßen im Freisitz hinter der Inspektion und genossen bei bayerisch-blauem Himmel die Frühlingssonne. Sepp Kastner, den Mund noch voll von der Leberkässemmel, in die er soeben gebissen hatte, nuschelte: »Warum?«

»Wegen der Vielweiberei«, erläuterte der Dienststellenleiter. »So ein Scheich hat nicht nur eine Frau, sondern gleich fünf oder zehn.« Nonnenmacher lehnte sich nach vorn, sodass die Bank, auf der er saß, verdächtig knarzte. »Das tät’ uns doch auch gefallen, oder?«

»Schon, schon«, stimmte Kastner zu, dachte sich aber insgeheim, dass ihm eine einzige Frau eigentlich schon reichen würde. Die Anne Loop zum Beispiel. Aber irgendwie war er, was dieses Thema anging, in den vergangenen Monaten nicht so recht vorangekommen. Unverdrossen hielt sie an diesem ja offensichtlich geisteskranken Freund fest. Ob es daran lag, dass dieser komische Bernhard ein Adliger war? Eine Doktorarbeit schrieb er auch. Aber das war ja seit dem Skandal mit dem Bundesminister, der seine Doktorarbeit getunt hatte, wohl nichts mehr, womit man eine Frau beeindrucken konnte. Womit konnte man heute eigentlich Frauen beeindrucken? Ein cooles Auto mit breiten »Schlappen« genügte offensichtlich nicht mehr. War es ein enthaarter Körper oder ein Handy, das sprechen, vielleicht sogar jodeln konnte? Ein Haus mit Garten oder eine Wohnung ohne Wände in Berlin? Wie überhaupt musste der Mann von heute sein – hart oder weich? Dominant oder zärtlich oder alles auf einmal?

Nonnenmacher riss ihn aus seinen Gedanken. »Wenn ich mir das ausmale: Ich komme nach Hause. Meine Helga steht in der Küche und macht mir einen Wurschtsalat. Derweil gehe ich ins Wohnzimmer, da sitzt so eine fesche Erscheinung wie die Gitti vom Kiosk – jetzt bloß als Beispiel – und hilft mir aus der Uniform.«

»Die Gitti vom Kiosk?«, fragte Kastner und schaute seinen Chef mit gerunzelter Stirn an.

»Jetzt bloß als Beispiel!«, antwortete Nonnenmacher und träumte weiter: »Und die hätte dann praktisch nix an, außer einem Tanga.«

»Außer einem Tanga«, wiederholte Kastner ungläubig.

»Und die tät’ mich dann aufs Sofa legen und sich in ihrem Tanga auf mich draufsetzen und mir eine arabische Massage machen.«

»Tanga, arabische Massage und ein Wurstsalat«, sagte Kastner und versuchte aus reiner Kollegialität den Traum seines Chefs nachzuvollziehen, was ihm nicht hundertprozentig gelingen wollte, weil erstens die Vorstellung von der verhältnismäßig voluminösen Gitti vom Kiosk in einem Tanga seine Phantasie nur bedingt anregte und er zudem Nonnenmachers Regalwand aus dunklem Furnierholz, in der neben Polizeiwappen und alten Polizeikopfbedeckungen auch die Schlumpfsammlung von Nonnenmachers Frau Helga stand, nicht aus dem Bild bekam.

»Und während die Gitti mich massiert, also arabisch, bringt die Helga den Wurschtsalat herein und eine andere schöne Frau – sagen mir einmal die Dings von der Metzgerei …«

»Welche Dings?«, unterbrach ihn Kastner, der diese ganze Phantasie allmählich etwas blöd fand.

»Ach die Dings halt, die Blonde, die wo als Aushilfe in der Metzgerei jobbt, weißt’ schon.«

»Ach die Dings, die wo so dunkelhellblond ist!«, erwiderte Kastner diplomatisch, obwohl er keine Ahnung hatte, wen der Dienststellenleiter meinte.

»Ja genau die!«, freute sich dieser. »Die, ich glaub’, Antje heißt die, die käm’ aus dem Keller mit einem eisgekühlten Hellen.«

»Auch im Tanga?«, fragte Kastner, jetzt allerdings eher scherzeshalber.

Doch Nonnenmacher bemerkte die Ironie in der Stimme seines Untergebenen nicht, sondern erwiderte ernst: »Nein, in einer roten Korsage mit Strapsen.«

»So ein Schmarren«, kommentierte Kastner nach einer kurzen Pause.

»Überhaupts nicht!«, brauste der Inspektionschef auf. »Die Antje tät’ in einer Korsage eine gute Figur machen, wenn sie mit einem Hellen aus meinem Keller käm’.«

»Das mein’ ich ja gar nicht«, erwiderte der Untergebene. »… das mit der Antje, ich mein das mit der Korsage: Die sind doch alle verhüllt, die Ehefrauen von den Scheichs. Da geht nix mit Strapsen und so was. Die tragen weite Kleider, die ausschauen wie Zelte, und’s Gesicht haben’s auch vermummt. Das wirkt sich von der Optik her praktisch aus wie ein Kopfverband.«

»Ja aber doch bloß, wenn’s rausgehen. Kein Mensch verbietet dem Scheich seiner Frau, zu Hause im Palast – oder halt in meinem Fall bei mir daheim – in luftigerer Kleidung umeinander zum laufen. Wenn der Scheich will, dass die ihm mit Strapsen ein Bier aus dem Keller bringt, dann macht die das.«

Kastner schüttelte erneut den Kopf. »Kein Bier. Ein Bier bringt die dir ganz sicher nicht. Weil der Araber keinen Alkohol mag. Höchstens eine Wasserpfeife mit Opium drin.«

»Stimmt«, meinte Nonnenmacher.

»Und einen Wurstsalat macht dir die Helga auch nicht, wenn’st du ein Scheich bist, weil in der Lyoner Schweinefleisch drin ist. Und der Moslem isst kein Schweinefleisch. Das verbietet ihm der Koran.« Kastner beugte sich vor: »Ich glaub’ ganz ehrlich, Kurt: Das wär’ für dich kein Spaß, wenn’st jetzt du ein Scheich wärst.« Nonnenmacher zuckte unwillig mit den Schultern und steckte das letzte riesige Stück seiner dritten Leberkässemmel in den Mund. Währenddessen zählte Kastner auf: »Fünfmal am Tag beten, das erste Mal schon in aller Herrgottsfrühe, kein Bier, die Frauen alle eingepackt wie ein dachloser Rohbau, wenn’s schneit – und dann die Anzahl der Weibersleut, Kurt, die ist ja letztlich auch ein Problem.«

»Wieso jetzt das?«, wollte der Inspektionsleiter noch wissen, doch da Anne Loop mit ihrem Kaffee zurück war, wechselten die beiden Männer stillschweigend das Thema.

 

 

Etwa zur selben Zeit stand ein junger Mann, Anfang zwanzig, ausgelatschte Turnschuhe, zerrissene Hose, auf dem Rücken ein alter grüner Wanderrucksack, vor einem im Fachwerkstil erbauten Gutshof in Sachsen. Der Besucher schien Zeit zu haben, denn er blinzelte in die Sonne und beobachtete die vier mädchenhaften Frauen, die sich in Gummistiefeln und kurzen Hosen mit Schaufeln, Harken und Eimern in dem großen Gemüsebeet zu schaffen machten, das sich zwischen dem Haupthaus und den beiden Nebengebäuden, vermutlich Scheunen, erstreckte. Die jungen Frauen schenkten dem Gast keinerlei Beachtung, wobei nicht ganz klar war, ob dies aus Desinteresse geschah oder weil sie ihn über ihrer Arbeit noch gar nicht wahrgenommen hatten. Hinter dem Haus war Traktorengeräusch zu hören, und während der junge Mann so dastand, kamen einige Gänse zu ihm hergewackelt, zupften an seinen Schnürsenkeln und zwickten ihn in die Schuhspitzen. »He ihr!«, rief der Fremde aus und versuchte die Gänse mit zaghaften Fußtritten zu verscheuchen. Diese ließen aber nur kurz von ihm ab, um sich dann gleich wieder heftig schnatternd auf seine Sneakers zu stürzen. Eines der Mädchen war jetzt auf den Besucher aufmerksam geworden und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. Ohne zu grüßen, sagte sie: »Sind Wachgänse. Was willst’n?«

»Ich wollte nur was fragen«, antwortete der junge Kerl, konnte sich seiner Gesprächspartnerin aber nicht vollständig zuwenden, weil die Gänse mittlerweile auch an seinen Hosenbeinen herumzupften.

»Und das wäre?«, fragte die Dunkelblonde, nicht unfreundlich, aber auch nicht gerade begeistert.

»Kannst du erst mal deine Wachgänse zurückpfeifen?«, bat der Besucher, angesichts der Kombination aus animalischem Interesse und menschlichem Desinteresse offensichtlich leicht eingeschüchtert.

Mit genervtem Gesichtsausdruck verließ das Mädchen mit dem frechen Kinn seinen Arbeitsplatz im Beet und bewegte sich auf den jungen Mann zu. Der registrierte auf den ersten Blick ihren schönen Körper. Das Haar fiel ihr in leichten Wellen bis hinunter über die vollen Brüste, die sich trotz des festen Garns deutlich unter dem Hemd abzeichneten. Die Gänse waren mittlerweile dabei, an dem Stoffteil seiner Jeans zu zupfen, der das Gesäß bedeckte. Die junge Frau machte »Gsch, Elfriede, fort mit euch«, woraufhin die Gänse ein paar Meter Abstand nahmen, den Eindringling aber kritisch im Auge behielten. Jetzt stand das Mädchen vor dem jungen Mann und sah ihn erwartungsvoll an: »Und?«

»Ist das hier der Zonenhof?«

Sie nickte.

Er konnte sie jetzt in ihrer ganzen Gestalt betrachten, und was er sah, war äußerst appetitanregend.

»Und was nun?«, fragte die junge Frau in einem Ton, der jetzt, da sie ihn aus der Nähe betrachten konnte, schon etwas interessierter klang.

Der junge Mann zögerte. »Schön hier«, sagte er nur und ließ seinen Blick über die etwas heruntergekommenen Gebäude des Gutshofs, den großen Baum und das Gemüsebeet sowie die dahinter liegenden Felder schweifen. »Ich bin sozusagen auf der Suche«, sagte er.

»Sind wir das nicht alle?« Ein Lächeln huschte über ihr braun gebranntes Gesicht. Merkwürdigerweise empfand sie seinen Satz als gar nicht platt.

»Ich suche nach einer neuen Lebensform«, ergänzte er.

Das Mädchen schaute ihn mit klaren blauen Augen an: »Und …?«, fragte sie, und ihr Blick und ihre Handbewegung machten deutlich, dass er nun doch allmählich zur Sache kommen sollte.

Er begriff sofort und meinte daher mit plötzlicher Direktheit: »Ich bin Felix. Kann ich bei euch bleiben? Ich würde natürlich auch mithelfen, auf dem Hof und so.«

»Du weißt, was das hier ist, oder?«, fragte das Mädchen jetzt zurück.

»Ja, ich habe von eurem Projekt im Netz gelesen. Ihr seid so ’ne Art Kommune. Ihr versucht, euch selbst zu versorgen. Salat, Gemüse und so …«, er deutete zu dem Beet hinüber. »Ihr lebt aber auch von Mediendienstleistungen. Stimmt doch, oder?«

Das Mädchen nickte: »Webdesign, Grafik, Kommunikationsdesign, so Werbekram eben.« Es klang ein bisschen abwertend.

»Ich bin ziemlich fit im Programmieren«, sagte der junge Mann, jetzt mutiger. »Aber ich würde auch total gerne in der Natur arbeiten. Biologisch und so.«

»Biologisch und so«, wiederholte sie seine Worte, mit einem nur ganz klein wenig spöttischen Unterton. Die Gänse hatten sich wieder genähert, zerrten nun aber an dem karierten Hemd, das ihr aus der Hose hing. Mit einer sanften Handbewegung stupste sie die Tiere weg. Dazu brauchte sie gar nicht hinzusehen.

»Was geht ab, Madleen? Was soll das Gequatsche? Wir müssen heute noch die ganzen Pflanzen schaffen!«, rief jetzt eine der anderen jungen Arbeiterinnen aus dem Gemüsebeet.

»Ich komme gleich«, antwortete das Mädchen. Sie klopfte sich kurz die Erde von den Händen und hielt ihm die Hand hin: »Madleen.«

»Felix«, antwortete er und schlug ein.

»Hast du, glaube ich, schon gesagt«, sagte sie mit einem charmanten Lächeln.

»Soll ich mithelfen?«, fragte er.

Sie nickte nur, und er stellte seinen Rucksack neben das Beet, woraufhin sich die Gänse sofort darauf stürzten und ihn einer akribischen Untersuchung unterzogen. Doch das sah Felix schon nicht mehr, er stand bereits mit Madleen im Gemüsebeet.

Felix hatte den jungen Frauen vom Zonenhof in Sachsen den ganzen Nachmittag beim Einpflanzen junger Salatsetzlinge geholfen. Genau so hatte er sich sein neues Leben vorgestellt.

Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, hatte Felix in Madleens Nähe gearbeitet, ihr Körpergeruch faszinierte ihn. Madleen duftete wie eine Frühlingsblume. Aber auch sie suchte immer wieder seinen Blick. Felix fühlte sich wie durch ein unsichtbares Band mit der jungen Frau verbunden. Im Laufe des Nachmittags kamen und gingen weitere Frauen, die offensichtlich alle auf den umliegenden Feldern arbeiteten. Als der helle Farbton der Sonne sich in ein warmes Rot verwandelte und es allmählich kühler wurde, setzten Felix, Madleen und die anderen die letzten Salatpflanzen ein. Dann half Felix noch dabei, die Gerätschaften in die Scheune zu räumen, bevor die Salatsetzer zum Haupthaus des Gutshofs gingen. Die Mädchen zogen ihre Gummistiefel aus, Felix stellte seine nun ziemlich verdreckten Turnschuhe daneben, und in Socken begab man sich in die Küche, in der es bereits nach Tomatensoße und frischen Kräutern roch. Drei junge Frauen kochten in einem riesigen Topf Spaghetti. Erst jetzt fiel Felix auf, dass er den ganzen Tag über keinen einzigen Mann gesehen hatte.

Während er Madleen half, die lange Tafel in dem großen Saal zu decken, der den Mädchen vom Zonenhof als Esszimmer diente, dachte er darüber nach, was es mit dem Männervakuum auf sich haben konnte. War das hier eine Lesbenkommune? Auf dem Weg von der Küche zum Speisesaal kam er an der offenen Tür zu einem Büro vorbei, in dem drei Frauen an Computern saßen und arbeiteten. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, in denen bunt bemalte Bauernmöbel standen, war dieses Zimmer mit modernem Mobiliar eingerichtet. Alle, denen Felix begegnete, grüßten ihn freundlich, aber distanziert.

Gegen neun Uhr trafen sich die Bewohnerinnen des Zonenhofs zum Abendessen im großen Speisesaal. Felix zählte siebenundzwanzig junge Frauen. Im offenen Kamin knisterte ein Feuer, das Madleen und er mit dem Holz entfacht hatten, das eines der Mädchen in einem geflochtenen Korb hereingebracht hatte. Zu den Spaghetti tranken sie billigen Rotwein und Bier aus der Flasche. Die Gespräche kreisten um die Tagesarbeit und darum, was in den kommenden Tagen zu tun sein würde. Der Anwesenheit von Felix wurde keine größere Beachtung geschenkt, nur Madleen zwinkerte ihm manchmal zu.

Nach dem Essen halfen beide beim Abspülen und tranken noch mehr Bier. Nicht nur davon fühlte sich Felix berauscht. Es war auch der Blumenduft, der Madleen umgab und ihn immer mehr in ihren Bann zog. Als sie fertig abgespült hatten, nahm Madleen ihn bei der Hand und führte ihn über eine knarzende Holztreppe ein Stockwerk höher. Soweit Felix es im Halbdunkel des langen Hausflurs erkennen konnte, zweigten vom Gang sechs oder sieben Zimmer ab, eine Treppe führte noch ein Stockwerk höher. Doch Madleen stieg nicht weiter hinauf, sondern zog ihn mit sich, um ihn in ein Zimmer zu führen, das ihres sein musste, denn es war ganz und gar von ihrem wundersamen Körpergeruch erfüllt.

Im Raum befanden sich nur wenige Möbelstücke: ein kleines rot bemaltes Tischchen mit Papier und Zeichenstiften darauf, ein Spiegel an der Wand, der, so alt und edel, wie er aussah, aus einem Schloss hätte stammen können, und eine bäuerliche Kommode, auch sie mit rotem Lack bemalt. Unterhalb des Fensters stand ein großes Bett. Das Mückennetz, das darüber hing, gab der Schlafstätte die Anmutung eines Prinzessinnengemachs.

»Zieh dich aus«, sagte Madleen zu Felix, und obwohl die Anweisung weder wie ein Befehl noch eine Bitte klang, kam Felix nicht auf die Idee, sich zu wundern, so selbstverständlich hatte Madleen sie ausgesprochen. Ohne Zögern entledigte er sich seiner Kleider. Auch Madleen schlüpfte aus ihrem Gewand, bis sie nur noch einen weißen gerüschten Slip und wollene Strümpfe trug. Felix hätte Madleen gerne noch länger in ihrer Nacktheit betrachtet, ihre wohlgeformten Brüste, ihre weiblichen Hüften in dem knappen Höschen, ihren schlanken, weichen Bauch mit dem vorwitzigen Bauchnabel, doch Madleen ließ ihm keine Zeit dazu. Sie zog ihn mit sich aufs Bett und bedeckte seine Lippen mit den ihren. In dieser Nacht kam er kaum zum Schlafen.

Am nächsten Morgen erwachte Felix vom Geschnatter der Gänse. Madleen lag in seinem Arm, das Gesicht ihm zugewandt. Vorsichtig neigte er seinen Kopf nach vorn und küsste sie auf den Mund. Er tat dies mehrmals, bis sie die Augen öffnete. Dann sagte er: »Ich liebe dich.«

»Käse«, sagte Madleen.

Felix glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

»Wie bitte?«, fragte er.

»Käse, sag’ ich«, meinte Madleen und gähnte. »Wie willst du mich denn lieben … kennst mich ja gar nicht.«

»Aber ich habe mich in dich verliebt, ich möchte mit dir zusammen sein, ich kann dich ja noch kennenlernen!«

»Vergiss es«, erwiderte Madleen mit sanfter Gleichgültigkeit.

»Aber, du …«

»Aber ich?« Sie sah ihn ernst an, er fühlte sich ihr gegenüber plötzlich unterlegen, als wäre er ein Kind und sie bereits erwachsen. »Pass mal auf, Felix«, sagte sie nun und strich sich sacht eine Strähne ihrer langen Haare aus dem Gesicht. »Selbst wenn wir uns lieben würden, was definitiv nicht der Fall ist, könnten wir nicht zusammenbleiben.«

»Warum nicht?«

»Weil wir hier auf dem Zonenhof sind.«

»Ja und?« Felix verstand überhaupt nichts mehr.

»Ist dir vielleicht aufgefallen, dass hier außer dir kein Typ rumhängt?«, fragte Madleen, nun leicht genervt.

»Ja«, antwortete Felix kleinlaut. »Aber …«

»Du kannst hier nicht bleiben«, unterbrach sie ihn. Er starrte sie so entgeistert an, dass sich Mitleid in ihre Stimme mischte: »Weißt du, warum der Zonenhof Zonenhof heißt?«

»Weil er in der ehemaligen Ostzone steht?«, mutmaßte Felix vorsichtig.

Jetzt musste Madleen lachen: »Nein, ›Zonen‹, das kommt von ›Amazonen‹. Wir sind die Amazonen. Männer sind bei uns nicht vorgesehen.«

»Und warum durfte ich dann …?«, fragte der junge Mann ratlos.

»Weil es bei uns die Regel gibt, dass wir nichts gegen Männer haben. Nur sollen die nicht bei uns wohnen. Das gibt nur Ärger. Wenn sich aber eine von uns für eine Nacht einen Mann holt, dann ist das okay. Wir sind ja nicht frigide oder so was. Sex ist gut. Aber bleiben kann hier keiner. Und deshalb ist es auch Käse, dass du mich liebst, weil ohne Zukunft.«

Nach dieser Aussage hatte Madleen Felix im Bett liegen gelassen und war duschen gegangen. Felix hatte ihrem hübschen Po hinterhergesehen und dann einen stechenden Schmerz im Bauch gespürt. War es die Erkenntnis, dass er sich in seiner Suche nach einem neuen Lebensentwurf keineswegs am Ziel, sondern erst am Anfang befand? Oder tat es weh, dass Madleen ihn derart vor den Kopf gestoßen hatte? Hatte sie vielleicht recht, und es ging gar nicht, dass man sich so schnell in jemanden verliebte? Was war die Liebe überhaupt, und was durfte man sich von ihr erwarten? Nachdenklich lag er in Madleens Bett und befühlte mit seinen Händen den festen Stoff ihrer Decke. Durch das Fenster, das Madleen geöffnet hatte, bevor sie aus dem Zimmer entschwunden war, hörte er das Tuckern des alten Traktors und einige Mädchen, die gegen den Lärm anredeten. Was war das für ein merkwürdiges Lebenskonzept, sich als Frauengruppe zusammenzuschließen und keine Männer zuzulassen, außer für Sex? Auf den ersten Blick waren diese Mädels moderne Hippies. Aber das mit der freien Liebe schien es hier nur in einer Richtung zu geben. Und was hatte es mit diesem Amazonenkonzept auf sich? Dass es sich bei den Amazonen um eine in irgendeiner Weise kämpferische Frauengruppe handelte und dass ihre Geschichte aus der griechischen Mythologie stammte, das wusste Felix noch aus der Schule. Aber steckte bei dieser sonderbaren Mädchenkommune noch mehr dahinter? Felix griff nach seinem Mobiltelefon, loggte sich ins Internet ein und tippte in das Fenster der Suchmaschine das Wort »Amazonen« ein. Dann las er: In Homers Ilias wurden die Amazonen als Kriegerinnen dargestellt. Andere griechische Sagen berichteten von Frauen, die ohne Männer auf Inseln lebten und sich nur manchmal mit Männern von Nachbarinseln trafen, um sich befruchten zu lassen. Diese Frauen, so wollte es der Eintrag im Internetlexikon, opferten mitunter Männer, die an ihren Küsten strandeten. Felix lief es eiskalt den Rücken hinunter. Als Madleen aus der Dusche zurückkam und mit ihren nassen Haaren noch verführerischer aussah als vorher, fragte er sie: »Sag mal, verhütest du eigentlich?«

Madleen rubbelte sich die Haare trocken. Ihre Brüste erinnerten Felix an die drallen süßen Pflaumen, die im Garten seiner Großmutter gewachsen waren. Unwillkürlich bekam er bei ihrem Anblick Appetit. Auch wenn es vielleicht nicht Liebe war: Madleen übte eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn aus. Er fühlte sich ihr ausgeliefert. Seine Frage, ob sie eigentlich verhüte, überging Madleen. Einfach so.

»Gehen wir frühstücken?«, fragte sie nun, nachdem sie sich ein orangefarbenes, eng anliegendes T-Shirt und graue Shorts angezogen hatte, die ihre Oberschenkel nur zur Hälfte bedeckten.

»Ich hatte dich was gefragt«, wagte Felix einen neuen Vorstoß.

»Ich dich auch: Gehen wir frühstücken?«, entgegnete Madleen.

Sie vermied es, ihm zu antworten! Doch bereits vor einer Woche hatte Felix beschlossen, sich in seinem neuen Leben fortan auch Klarheit über die Dinge zu verschaffen. Deshalb sagte er: »Ich habe mir das mit den Amazonen durch den Kopf gehen lassen.« Er stockte kurz. »Und ich habe im Internet nachgeschaut: Ich weiß, dass es auch Amazonen gab, die sich die Männer nur geholt haben, um sich schwängern zu lassen. Ist euer Klub auch so drauf?«

Das Lachen, das daraufhin ertönte, war von mädchenhafter Süße, und Felix war sich ziemlich sicher: Es war ein ehrliches Lachen. Trotz ihres gesunden Teints wurde Madleen auch ein wenig rot. Umgehend schoss das Blut auch in Felix’ Wangen: »Was nun?«, fragte er ungeduldig und mit dem Gefühl, sich gerade lächerlich zu machen: »Haben wir heute Nacht zehnmal oder was miteinander geschlafen? Und hast du nun verhütet oder nicht?«

»Nicht«, antwortete Madleen und sah ihm direkt in die Augen. Dann schob sie sofort hinterher: »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich zurzeit nicht fruchtbar bin.« Diese Aussage beruhigte Felix kein bisschen. Nach einer Pause des Schweigens sagte er nur »krass« und musterte die schöne junge Frau, die da vor ihm stand. »Und was, wenn du vielleicht zurzeit doch fruchtbar bist?«

Madleen zuckte mit den Schultern.

»Verantwortungslos«, sagte er. »Miese Nummer.« Er wusste nicht, ob er beleidigt oder wütend war. »Und jetzt willst du mich also rausschmeißen.«

»Ich will gar nichts«, verteidigte sich Madleen. »Ich muss. Unsere Statuten. Wir sind zwar Neo-Hippies, aber auch bei uns gibt es Regeln, an die wir uns halten müssen.«

»Neo-Hippies«, murmelte Felix, und dann schwiegen beide eine endlose Minute lang. Madleen ging in dieser Zeit zum Schrank, holte sich Socken heraus und zog sie sich über. Felix verfolgte aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Währenddessen tobte in seinem Kopf ein Gedanken-Tsunami. Doch plötzlich fand das Chaos zur Ruhe, und Felix fiel ein, was er außerdem im Internet gelesen hatte, deshalb fragte er ziemlich wütend: »Die Amazonen haben sich von Männern schwängern lassen. Es gab aber auch welche, die haben die Männer danach gekillt. Wo sind eigentlich die ganzen Männer, die hier schon mal waren, auf eurem komischen Zonenhof?«

»Also ich geh’ jetzt frühstücken«, meinte Madleen nur und war schon zur Tür hinaus. Ihr überlegenes Lächeln konnte Felix, der im Zimmer zurückblieb, nicht sehen.

Nachdem Madleen das Zimmer verlassen hatte, riss Felix ein Stück aus der Zeitung heraus, die neben ihrem Bett lag. In den weißen Bereich über dem Artikel, der von der polizeilichen Fahndung nach zwei Oktoberfest-Vergewaltigern handelte, die ein von K.-o.-Tropfen betäubtes Mädchen missbraucht hatten, schrieb er nur einen Satz: »Für den Fall, dass du doch von mir schwanger bist / oder auch sonst. Gruß F.« sowie seine Handynummer. Dann zog er die Schuhe an, schulterte seinen Rucksack, zurrte die Gurte fest und verließ das Zimmer, das Gutshaus, den Zonenhof. Er verabschiedete sich nicht, und er hinterließ keine weitere Nachricht. So erfuhr er auch nichts von der Hiobsbotschaft, die die sächsischen Amazonen etwas später an diesem Tag erreichte. Womöglich hätte er sich gefreut.

Während die Bewohnerinnen der Bio-Kommune beim Frühstück saßen, klopfte der Briefträger an die Tür des Speisesaals und überbrachte ein Einschreiben, das Pauline, die sich auf dem Hof mehr mit Verwaltungstätigkeiten beschäftigte als mit der Landwirtschaft, umgehend öffnete. Der Brief enthielt eine niederschmetternde Nachricht: Der Eigentümer des Zonenhofs kündigte den Bio-Bäuerinnen fristlos. Sie müssten aber, dies aus reiner Kulanz des Vermieters und zur Vermeidung etwaiger Streitigkeiten, das Anwesen erst innerhalb der nächsten sechs Monate räumen. Das gesamte Areal sei an einen Großinvestor verkauft worden, der hier eine Hotelanlage mit Golfplatz plane. Die fristlose Kündigung rechtfertige sich aus vielfältigen Verstößen gegen den Pachtvertrag, die im Einzelnen aufgezählt wurden. Darunter nicht genehmigte Nutzungen des Geländes, der Anbau von Drogen, insbesondere Marihuana, und Verstöße gegen diverse sicherheitsrechtliche Regelungen. Des Weiteren, so stand im letzten Absatz, laufe eine Strafanzeige wegen Verstoßes gegen verschiedene Tatbestände im Zusammenhang mit gewerblicher Prostitution. Nachdem Pauline den letzten Satz vorgelesen hatte, brach unter den Bewohnerinnen des Zonenhofs wütendes Geschrei aus. »Wer ist die Anwaltssau, die das geschrieben hat?«, wollte eines der Hippiemädchen wissen. Ein anderes schlug vor, den Eigentümer umzulegen. Pauline, die während des Tumults das Blatt noch einmal durchgelesen hatte, sagte, nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt war: »So einfach kriegen die uns hier nicht raus!« Die Amazonen waren bereit zu kämpfen.

 

 

Nachdem Anne Loops Lebensgefährte Bernhard von Rothbach auch drei Tage später noch nicht wieder aufgetaucht war, setzte sich Anne ins Auto und fuhr nach München, um nachzusehen, ob er sich in sein Studentenzimmer verkrochen hatte. Denn das hatte er bei früheren Hypchondrie-Attacken schon häufiger getan. Doch vor Ort gab ihr eine seiner WG-Mitbewohnerinnen eine schockierende Auskunft: Bernhard sei ausgezogen. Ohne zu sagen wohin. Anne bat, einen Blick in Bernhards Zimmer werfen zu dürfen, vielleicht log sie die Mitbewohnerin ja einfach nur an? Beim Öffnen der Tür klopfte ihr das Herz bis zum Hals, doch dann sah sie, dass hier tatsächlich bereits jemand anders wohnte. Bernhards Bücher und Aktenordner waren weg, stattdessen schien hier in der Zwischenzeit jemand zu leben, der viel Musik hörte. Das Zimmer war vollgestopft mit Vinyl-Schallplatten und CDs. Auch ein Keyboard mit Verstärker fand sich an einer Wand.

»Und Bernhard hat wirklich nicht gesagt, wohin er gezogen ist?«, fragte Anne erschüttert.

Die Studentin schüttelte den Kopf: »Nö.«

»Wie hat er auf dich gewirkt, war er depressiv?«

»Nö, gar nicht. Eher gut drauf.«

»Gut drauf?«, wiederholte Anne fassungslos. »Was hat er gesagt, wohin ihr seine Post schicken sollt?«

»Hat er nichts zu gesagt.«

Anne konnte es nicht glauben: »Und eine Telefonnummer? Hat er irgendeine Telefonnummer hinterlassen?«

»Nö«, meinte Bernhards Ex-Mitbewohnerin, die allmählich ungeduldig wurde. »Aber der hat doch ’n Handy. Versuch’s halt da mal.«

»Was meinst du denn, was ich seit Tagen mache?«, fragte Anne, jetzt richtig wütend.

»Du, es tut mir wirklich leid«, meinte die Studentin und wirkte überhaupt nicht so, als würde sie irgendetwas bedauern. »Aber ich muss jetzt in die Uni.«

Anne schaute nachdenklich aus dem Fenster, hinunter zu dem Spielplatz, auf dem sie mit Bernhard und ihrer Tochter Lisa viele Nachmittage verbracht hatte. Die Mitbewohnerin schien wirklich keine Zeit zu haben, denn jetzt sagte sie: »Also, falls er sich meldet, rufe ich dich gleich an, okay? – Und ich sag’s auch den anderen hier in der WG.«

So ohnmächtig, wie Anne sich fühlte, während sie die blank polierten Holztreppen des Altbaus hinunterstieg, hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Im Auto, auf dem Rückweg an den See, brach Anne innerlich zusammen. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie konnte es nicht fassen. Was tun Menschen, die einander lieben, sich nur alles an? Oder liebte Bernhard sie vielleicht gar nicht mehr? Natürlich hing sein Verschwinden mit seiner Krankheit zusammen. Oder war ihm etwas zugestoßen? Musste Anne die Polizei verständigen? Ein absurder Gedanke. Außerdem wusste sie, was ihre Kollegen sagen würden: Dass alles nach einem geordneten Umzug aussehe. Dass nichts auf ein Verbrechen hindeute. Dass jeder Mensch das Recht habe, aus seinem Leben zu verschwinden, wenn ihm danach sei. Und dass kein Anhaltspunkt dafür bestehe, dass Bernhard in Gefahr sei. Eine Anzeige bei der Polizei konnte sie also vergessen.

Zurück am See, holte sie Lisa ab, die sie für den Nachmittag bei einer ihrer Schulfreundinnen untergebracht hatte, und fuhr mit ihr nach Hause.

Lisa sah sofort, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte: »Hast du geweint, Mama?«

»Wieso?«, fragte Anne.

»Deine Augen sind so rot«, entgegnete Lisa leise.

»Ja, hab’ ich.« Die Antwort kostete Anne Mut. Es war gar nicht so leicht, vor seinem Kind Schwäche zu zeigen.

»Wegen Bernhard?«, fragte ihre Tochter nach einer kurzen Pause.

»Ja«, sagte Anne knapp, und Lisa spürte, dass sie jetzt nicht weiterbohren durfte.

Zu Hause, nachdem sie gemeinsam den Tisch gedeckt hatten und sich gerade den noch dampfenden Wiener Würstchen mit Ketchup widmeten, fragte Anne: »Lisa, würde es dir etwas ausmachen, wenn du ab jetzt nach der Schule in einen Hort gehen würdest, wo du etwas zum Mittagessen bekommst und danach deine Hausaufgaben machst? Weil Bernhard dich, also jedenfalls zurzeit, nicht abholen kann.«

»Muss das wirklich sein?«, fragte die Siebenjährige in einem Ton, der für Anne eindeutig nach Pubertät klang.

Anne dachte laut nach: »Du könntest am Nachmittag auch von Frau Kastner, der Mutter von meinem Kollegen Sepp, betreut werden. Aber sie ist eine alte Frau und …« Anne zögerte. »Und außerdem ist Sepp …«

Lisa sah sie an und lachte keck, als sie ergänzte: »… in dich verknallt?«

Auch Anne musste lachen. »Ist er das?«

»Das merkt doch jeder«, antwortete Lisa aufgeregt. »Das merkt man doch, wenn jemand in einen verknallt ist! Aber du bist nicht in ihn verknallt, oder?«, erkundigte sich Lisa nun, offensichtlich begeistert von diesem Gesprächsthema.

»Überhaupt nicht«, sagte Anne trocken.

»Ich will am Nachmittag nicht zu dem seiner Mutter«, meinte Lisa energisch. »Lieber in den Hort.«

»Kommen’S einmal rein«, bat Nonnenmacher seine Mitarbeiterin einige Tage nach Annes Gespräch mit der Tochter und hielt ihr die Tür zu seinem Büro auf. »Mir müssen was bereden.«

Der Ton verhieß nichts Gutes. Wollte er ihr die Leitung der Scheichsbewachung nun doch wieder entziehen? War ihr ein Fehler unterlaufen?

Der Dienststellenleiter bot ihr einen Kaffee an und bat sie, Platz zu nehmen. So offiziell benahm er sich sonst nie. Auf dem Weg zum Schreibtisch wurde er allerdings von einer Fliege attackiert. Was zur Folge hatte, dass er zunächst wie wild um sich fuchtelte, um dann zu rufen: »Die Waffe! Dort!« Er zeigte zum Aktenschrank, an dessen Seite eine Fliegenklatsche hing, die aussah wie eine Polizeikelle. Anne fand seine Panik lustig, sprang aber schnell auf, riss die Klatsche vom Haken und befahl im Tonfall einer Fernsehkommissarin bei der Festnahme: »Hören Sie auf herumzuwedeln, Herr Nonnenmacher, wenn Sie ganz ruhig bleiben, dann haben wir das Untier gleich.« Anne registrierte, welch hohe Konzentration und Überwindung es ihren Chef kostete, seinen Veitstanz zu beenden. Als die Fliege sich kurz darauf auf seiner linken Brust niederließ, war die junge Polizistin mit drei vorsichtigen Schritten bei ihm, holte aus und schlug beherzt zu. Nonnenmacher entfuhr ein »Ah«, als hätte ihn eine Kugel aus Annes Dienstwaffe getroffen, aber es war die Fliege, die ihr Leben aushauchte. Immerhin hinterließ ihre Leiche einen schwarz-roten schmierigen Fleck auf dem beigefarbenen Uniformhemd des Polizeichefs.

»Tot«, stellte er erleichtert fest. »Könnten’S mir jetzt noch einen Gefallen tun?«, fragte er, jetzt wieder ganz ruhig.

»Wegmachen?«, fragte Anne, die nun ganz nah bei ihm stand.

»Ja«, sagte er, peinlich berührt davon, dass er ihren Körpergeruch aufregend fand, obwohl die Loop sonst ja überhaupt gar nicht sein Typ war. Sie war so ganz anders als seine Helga, oder eben die Gitti vom Kiosk.

»Haben Sie ein Lineal oder so was?«

»Da!« Er zeigte auf den Stiftbecher auf dem Schreibtisch.

Gerade als Anne sich mit dem Lineal an Nonnenmachers Brust zu schaffen machte, betrat Sepp Kastner ohne Voranmeldung den Raum.

»Ja, was macht’s ihr denn da?«, fragte er mit einem Gesichtsausdruck, der Nonnenmacher an den eines Mannes erinnerte, der seine Ehefrau in flagranti mit dem Nachbarn ertappt. Deshalb reagierte der Dienststellenleiter sofort und sagte: »Ach nix, die Frau Loop macht mir bloß die Uniform sauber.«

»Mit einem Lineal!«, entfuhr es Kastner empört. In seinem verliebten Kopf tobten die wildesten erotischen Phantasien.

»Ja, hätt’ sie vielleicht einen Schlagstock nehmen sollen?«, meinte Nonnenmacher humorvoll und jetzt wieder völlig Herr der Situation.

Kastner aber, der die phallische Form des Schlagstocks als noch bedrohlicher empfand, schrie entgeistert: »Nein, um Gottes willen!«

»Jetzt krieg dich mal wieder ein, Seppi!«, meinte Anne beruhigend, während sie das erlegte Insekt in Nonnenmachers Papierkorb schnippte. »Es war doch nur eine Fliege.«

Zum Beweis deutete Nonnenmacher mit seinem fleischigen Zeigefinger auf den roten Fleck auf seinem Hemd und sagte: »Eine Saufliege. Aber die Frau Loop hat ihr den Garaus gemacht.« Doch was er als Nächstes sagte, beunruhigte Sepp Kastner schon wieder: »Jetzt müsstest du aber trotzdem noch einmal hinausgehen, Sepp, weil ich habe mit der Frau Loop etwas zum bereden.« Als Kastner keine Anstalten machte, das Büro zu verlassen, fügte er hinzu: »Etwas Privates.«

»Etwas Privates?« Kastner war entsetzt.

»Ja, durch und durch privat«, wiederholte Nonnenmacher. »Also, geh jetzt bitte raus.«

»Ja, was musst jetzt du mit der Anne Loop privat bereden, Kurt?«, fragte Kastner.

»Sepp, jetzt horch einmal her: Privat ist privat und nicht dienstlich, und von daher kann dir das wurscht sein, was ich mit der Frau Kollegin zum bereden hab’. Weshalb du jetzt ganz schnell einmal die Fliege machst, Sakrament, bevor mir beide, also du und ich, an diesem schönen Tag noch zusammenrumpeln.«

Gleich einem geprügelten Hund verließ Sepp Kastner den Raum, wobei er die Tür so vorsichtig hinter sich schloss, als wäre sie aus päpstlichem Hostienteig gebacken. Er wusste nicht, was er denken sollte: Hatte sein Vorgesetzter sich jetzt doch an die Loop herangemacht? Dabei hatte der Nonnenmacher immer behauptet, er sei glücklich verheiratet! Hatten ihn der anstehende Scheichsbesuch und das Nachdenken über die Vielweiberei liebestoll gemacht? Und die Loop: War sie doch nur eine von denen, die wichtiger fanden, welche Position ein Mann bekleidet, und nicht, welche inneren Werte er mitbringt? Während er diese finsteren Gedanken wälzte, hatte er sich zunächst Schritt für Schritt vom Dienstzimmer entfernt, um dann kehrtzumachen und wieder zur verschlossenen Bürotür zurückzuschleichen. Und ungeachtet der Tatsache, dass am anderen Ende des Gangs die Putzfrau den Boden wischte, hing er kurz darauf mit seinem Ohr an der Tür zum Dienstzimmer des Polizeichefs. Kastner hielt die Luft an und lauschte.

»Frau Loop, mich geht es ja nix an, aber ich hab’ gehört, dass Sie für Ihre Tochter einen Hortplatz beantragt haben, respektive Nachmittagsbetreuung.«

Als Anne daraufhin Nonnenmacher fragte, woher er das wisse, klang sie empört. Sepp Kastner entspannte sich ein wenig. Darum ging es also. Aber wieso mischte sich der Chef in Annes Angelegenheiten ein? Hatte nicht er, Sepp, Anne bereits angeboten, dass seine Mutter auf ihr Kind aufpassen könne? Wollte Nonnenmacher sich jetzt auf diesem Weg Annes Zuneigung erschleichen? Da schau einer an, dachte Sepp Kastner bei sich. Was die Liebe anging, konnte man sich nicht einmal auf die engsten Arbeitskollegen verlassen!

Jetzt sagte Nonnenmacher: »Mei, wissen’S, das Tal ist ja so klein, da spricht sich so was halt herum, gell. Von meiner Frau weiß ich’s halt. Die hat g’sagt, dass man das halt so redet am See. – Und jetzt aber gleich zur Sache: Ich meine, dass Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen sollten mit dem Hort.«

»Warum?«, hörte Kastner Anne fragen.

»Weil ein Kind doch besser bei der Mutter ist.«

»Aha!«, sagte Anne und hörte sich dabei ziemlich angriffslustig an.

Doch dann wurde Kastners Lauschangriff gestört. Die Inspektionsputzfrau war neben ihn getreten und fragte, ganz ohne jeden vorwurfsvollen Unterton, sondern vielmehr neugierig: »Was gibt’s? Interessant?«

Sepp Kastner war so verdattert, ertappt worden zu sein, dass ihm keine Antwort einfiel.

Doch da fragte die Putzfrau schon: »Darf ich auch mal?«

Kastner streckte sich und beschloss, nun schleunigst das Weite zu suchen. Insgesamt eine Scheißaktion, dachte er sich. Doch ehe er durch die Glastür zum Treppenhaus entschwand, drehte er sich noch einmal um – und sah, dass die Putzfrau ihren Horchposten aufgegeben hatte und wohl in einem der anderen Räume verschwunden war. Schnell begab sich Kastner erneut an die Tür und hörte gerade noch, wie Anne sagte: »Das finde ich jetzt aber den Oberhammer, Herr Nonnenmacher! Was bilden Sie sich eigentlich ein, sich in mein Privatleben einzumischen?« Sofort schoss Kastner das Blut in den Kopf. »Das hat doch null Einfluss auf meinen Job, wo meine Tochter nachmittags untergebracht ist, Hauptsache, sie ist gut versorgt! Sie wollen doch nur, dass mir die Verantwortung für die Bewachung des Emirs entzogen wird! Weil Sie nicht damit klarkommen, dass man mir diese Aufgabe übertragen hat. Darum geht es Ihnen und um sonst gar nichts!«

Dann war es kurz still, und während Kastner sich schon zu fragen begann, was drinnen wohl vor sich ging, hörte er Anne schreien: »Das können Sie aber komplett vergessen. Meine Tochter geht in den Hort, und ich werde den Emir so gut bewachen, dass Sie staunen werden. Da wird gar nichts anbrennen, also sicherheitsmäßig. Verdammt! So eine Scheiße!«

Die Tür ging auf, und Anne, die gar nicht schnell genug Nonnenmachers Dienstzimmer verlassen konnte, stolperte über den am Boden kauernden Kastner.

Als Anne Loop einige Tage später nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Das Telefon zeigte eine ihr unbekannte Rufnummer an. Während Lisa nach oben in ihr Kinderzimmer ging, drückte Anne auf »Abhören«. Sie konnte es nicht glauben: Es war Bernhards Stimme! Unwillkürlich fühlte sie einen Stich in der Brustgegend. Bernhard sagte, er bitte sie um Rückruf. Er habe eine neue Handynummer, die wie folgt laute. Dann kam die Nummer. Anne notierte sie auf dem kleinen Block, der neben dem Telefon lag. Anschließend hörte sie sich die Nachricht noch einmal an. Bernhard klang normal. Nicht depressiv, nicht abwesend, wie so häufig, sondern so klar wie in der ersten Zeit ihres gemeinsamen Lebens, als alles noch in Ordnung gewesen war.

Eigentlich hatte sie sich im Laufe der vergangenen Tage vorgenommen, ihn zur Rede zu stellen, sogar die Trennung wollte sie ihm androhen, denn so wie dieses Mal hatte er sie noch nie hängen gelassen! Doch während sie seine neue Handynummer eintippte, spürte sie, dass ihr ganzer Körper von einem freudigen Gefühl durchströmt wurde. Er hatte sich gemeldet! Gleich würde sie mit ihm sprechen können. Es war lästig, sogar irrational, aber es war so: Sie liebte Bernhard, und zwar mit Haut und Haaren.

»Hallo, Anne«, meldete er sich nach zweimal Läuten.

»Hallo«, erwiderte Anne. Sie war aufgeregt, und sie war erleichtert. »Wo bist du?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Geht es dir gut?«

»Ja, und dir und Lisa?«, erkundigte er sich.

»Super«, log sie.

Aber Bernhard schien ihr zu glauben, denn er sagte nur: »Du, ich muss dir was sagen.«

Warum hörte er sich mit einem Mal so seltsam an? Was war los? Die Angst durchbohrte Anne wie ein Pfeil.

»Was?«, fragte sie scharf.

»Ich, ich …«, Bernhard suchte nach Worten. »Ich habe die Wohnung in München gekündigt.«

»Das habe ich gemerkt«, meinte Anne schnippisch.

»Und ich habe jetzt eine neue Bleibe.«

»Bleibe«, wiederholte Anne, weil sie das Wort merkwürdig fand.

»Ja«, druckste Bernhard herum. »Es ist … keine Wohnung.«

»Keine Wohnung.«

»Ja.«

»Sondern? Ein Nomadenzelt?«

»Nein, ich wohne jetzt auf dem Campingplatz.«

»Du wohnst auf dem Campingplatz?«, fragte Anne ungläubig.

»Ja, es war Zeit für einen Neustart.«

»Auf dem Campingplatz.«

»Das ist nur ein Element meines neuen Lebenskonzepts«, erläuterte Bernhard.

»Neues Lebenskonzept, das hört sich ja spannend an«, sagte Anne. Der Sarkasmus ihrer Worte war nicht zu überhören.

Bernhard zögerte kurz, ehe er weitersprach: »Du weißt doch, dass ich diese neue Therapie angefangen habe.« Anne schwieg. »Ich musste ja etwas tun gegen die Depressionen und gegen die ganzen Krankheiten, die ich mir eingebildet habe.« Anne sagte immer noch nichts. »Bist du noch da?«, fragte Bernhard deshalb.

»Ja«, meinte sie knapp.

»Also«, fuhr er fort, »ich wohne jetzt auf dem Campingplatz, und außerdem habe ich zur Zeit eine …« Er zögerte. Anne biss sich voll Anspannung auf die Unterlippe. »… eine … wie soll ich sagen … eine … Affäre.«

Kurz war Anne gelähmt, dann platzte es aus ihr heraus: »Das ist nicht wahr! Mit wem?«

»Es ist …, ja, es tut mir leid, es ist …« Anne wartete. Was würde jetzt kommen: meine Exfreundin, eine Klassenkameradin, eine aus der WG, eine andere Doktorandin? Aber Bernhard sagte einfach nur: »Meine Therapeutin.«

Im selben Augenblick ließ eine Möwe direkt über dem See einen gellenden Schrei erklingen, stieß ins Wasser und stieg mit einem im Licht der Abendsonne rötlich-silbern zappelnden Fisch auf.

Nachdem Anne Loops Freund seine Affäre mit der Therapeutin gestanden hatte, hatte die Polizistin ihren nun Ex-Lebensgefährten mit der roten Hörertaste ihres Funktelefons weggedrückt. Entschlossen hatte sie die Tränen, die unwillkürlich hervorströmen wollten, zurückgedrängt und nach ihrer Tochter Lisa gerufen. Doch weil oben im Kinderzimmer lautstark der Song ertönte, den zurzeit alle hörten, musste Anne erst die Treppe hinaufsteigen und die Stoptaste des CD-Players drücken, bevor sie sich in der dadurch entstandenen Stille hörbar machen konnte: »Komm, wir gehen Pizza essen.«

Zehn Minuten später saßen sie in ihrer Lieblingspizzeria direkt am See. Eine halbe Stunde später dampften vor Lisa eine Pizza Prosciutto und vor Anne eine Pizza Quattro Stagioni. Siebenunddreißig Minuten später traf Anne fast der Schlag. Verantwortlich hierfür war ihr Kollege Sepp Kastner, der soeben den Gastraum betrat und sie dank seines Ermittlerblicks sofort ortete.

»Ja, das ist ja eine Überraschung!«, sagte der Polizist, offensichtlich höchst erfreut. »Da setz’ ich mich doch gleich zu euch Schönheiten. Zwei Frauen allein in der Pizzeria am See – das ist ja quasi Freiwild hoch drei!« Dann scannte er kurz und mit einem Blick, der nach George Clooney aussehen sollte, aber eher an Mister Bean erinnerte, das Lokal.

Kastner bestellte sich nur eine Pizza Margherita, sparte er doch auf eine Familiengründung hin, und die einzige Kandidatin, die er seit zwei Jahren dafür im Visier hatte, war Anne, was diese zwar voll Sorge ahnte, aber nicht definitiv wusste. Dann ergriff er unbeholfen das Wort: »So, so, dann seid’s heut’ also einmal aushäusig. Ist ja auch ein wunderbarer Abend, nicht?«

Anne nickte hilflos. Lisa konzentrierte sich auf ihre Pizza. Sie konnte Kastner nicht leiden, ihre kindliche Intuition hatte ihr geflüstert, dass Kastner erstens hinter ihrer Mama her war und dass es sich bei ihm zweitens um einen ausgemachten Depp handelte.

Annes Gefühle gegenüber Kastner waren zwiespältig: Sie schätzte seine ehrliche Geradlinigkeit und auch sein Engagement als Polizist sowie die Tatsache, dass er mit seiner unverstellten Art bei den meisten Menschen, mit denen sie zu tun hatten, gut ankam. Auch unterstützte er sie in ihrer Arbeit, wo es nur ging. Zum Beispiel schlug sich Kastner bei Auseinandersetzungen mit dem Dienststellenleiter immer auf ihre Seite. Hätte er sich nur nicht in den Kopf gesetzt, sie auch als Mann beeindrucken zu wollen! Damit ging er ihr regelmäßig auf die Nerven.

»Ich freue mich riesig auf den Scheich«, sagte Kastner, nachdem er einen Schluck von seinem Spezi getrunken hatte. »Das wird eine spannende Zeit. Und mit dir als Oberkommandierender des Verteidigungsrats«, er lächelte über seinen nicht eben gelungenen Scherz, »wird das sicher auch alles ohne Zwischenfälle ablaufen.«

Da Anne kaute und ihre Tochter keine Reaktion zeigte, fuhr er nach einer kurzen Pause fort: »Und dass du die Lisa ab jetzt in den Hort schickst, find’ ich auch ziemlich gut. Falls dir das übrigens nicht gefällt, wollt’ ich bloß sagen, Lisa, dann sagst halt Bescheid, und dann kannst du nachmittags zu meiner Mutter.« Weil das Mädchen immer noch nicht reagierte, meinte er noch: »Die backt einen Käsekuchen, sag’ ich dir, Weltklasse!« Dann zog er seine Fleecejacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Die Farben des Kleidungsstücks – ein katholisches Lila und ein giftiges Grün – leuchteten im Schein der Abendsonne, die den Raum durchflutete. An Kastner war Lagerfeld wahrlich kein Kunde verloren gegangen. »Was ich noch fragen wollte: Wieso nimmt eigentlich dein … ähm«, er räusperte sich, »… Freund die Lisa nicht mehr am Nachmittag?«

»Das ist aus«, sagte Anne mit einer Schnelligkeit, die sie selbst überraschte. In einem anderen Teil des Lokals schepperte es, als ein mit Gläsern beladenes Tablett auf den Boden fiel.

Durch diese Worte erwachte Lisa aus ihrer Lethargie. »Wie, was ist aus?«

»Bernhard und ich sind nicht mehr zusammen«, sagte Anne ruhig und spürte, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen treten wollten.

»Ach geh!«, meinte Kastner erstaunt. Es gelang ihm dabei überraschend gut, neutral und nicht etwa erfreut zu klingen. Manchmal besiegt Mitleid den Jagdinstinkt.

»Warum seid ihr, du und Bernhard, nicht mehr zusammen, Mama?«, fragte Lisa.

»Ich weiß es nicht«, wich Anne aus.

Sepp Kastner schob seine Hand über den Tisch und legte sie vorsichtig auf Annes Hand. Die Polizistin war selbst überrascht, dass sie das in diesem Augenblick nicht störte, sondern einfach nur beruhigte.