VIERTES KAPITEL

Wie formulierte Rodenstock immer so prächtig? Schalte so schnell wie möglich alle Nebensächlichkeiten aus. Na prima, dann musste ich nur noch rauskriegen, was in dieser Sache nebensächlich war. Und wie hatte der alte Kriminalist weiter doziert? Du hast einen Tatort und möglicherweise so gut wie keine Spuren, keinen Hinweis auf die oder den Täter. Stell dir trotzdem vor, wie es geschehen sein könnte. Rekonstruiere die Tat, es kann eine Art Röntgenbild daraus werden. Und manchmal entsteht dann in deiner Seele, in deiner Vorstellung so etwas wie ein Fingerabdruck des Täters. Du weißt plötzlich, wer der Täter sein könnte.

Ich wusste im Moment nur, dass ich nichts wusste.

Knapp hinter Boxberg, dort wo die lange Gerade in den Wald vor Brück führt, wurde mir schlecht. Ich hielt an und übergab mich. Mein rechtes Bein tat höllisch weh, irgendwo im unteren Bereich des Kreuzes saß ein weiterer Schmerz, der nicht weichen wollte, und das Kopfbrummen war so stark, dass Flecken vor meinen Augen tanzten.

Ich rief Rodenstock an: »Kannst du Detlev Horch bitten, mir ein Pflaster zu bringen? Ich habe mich prügeln müssen. Aber ich lebe.«

»Ich habe dir geraten, von dieser Sache abzusehen. Warum glaubst du einem alten Praktiker nicht? Verdammte Hacke!«

»Und du kannst Kischkewitz mitteilen, dass der anonyme Anrufer, der den Mord an Natalie gemeldet hat, Martin heißt und der Sohn vom ollen Gottfried ist, der in Mannebach der Warzenbeter genannt wird. Wie geht es Emma?«

»Wieder besser. Sie hat Farbe gekriegt. Übrigens, ich habe aus etwas zu erzählen. Ein Kamerateam von RTL ist verprügelt worden. Bis gleich.«

Ich musste mich noch einmal übergeben und verspürte absurderweise den Wunsch, jetzt mit Paul zu schmusen oder mein Gesicht im Fell von Cisco zu vergraben.

Als ich endlich wieder aus dem Busch heraustrat und mich meinem Auto näherte, konnte ich kaum mehr laufen. Der Schmerz stach wie ein Messer bis hinauf in meine rechte Hüfte.

Mit Mühen erreichte ich mein Haus. Der Arzt war schon da, saß leicht grinsend im Wohnzimmer und bemerkte: »Ich habe immer etwas von der Vernunft des Alters läuten hören. Das scheint dir nicht beschieden zu sein.« Dann sah er mein rechtes Bein und setzte hinzu: »Oh!«

Emma hockte auf einer Sessellehne neben Rodenstock. Sie sagte: »Das ist aber fein, dass du dich geprügelt hast. Fühlst du dich gut?«

»Fantastisch«, knurrte ich.

»Und wer hat gewonnen?«

»Ist das so wichtig? Wichtig ist, dass es dir besser geht. Du hast ein ganz anderes Gesicht.« Ich sah Detlev an. »Wo, bitte, geht es zum Verbandsplatz?«

»Das Sofa hier ist gut und hart genug. Ich glaube, ich schneide dir erst mal die Jeans vom Leib. Habt ihr eine gute Schere?«

»Ich hole eine«, nickte Emma.

»Ich habe eine Neuigkeit«, platzte Rodenstock heraus. »Es gibt in der Mordkommission jemanden, der mich aus alten Tagen mag. Der hat mir zugeflüstert, die Techniker hätten herausgefunden, dass Sven Hardbeck nicht allein in seinem Auto gewesen ist, als er starb.«

»Wie bitte?« Das war nicht zu fassen.

»Oh, das ist noch nicht alles. Die Todeszeitpunkte sind jetzt annähernd festlegbar. Demnach ist Sven Hardbeck zwischen zwei Uhr und zwei Uhr fünfzehn in der Nacht gestorben. Natalie dagegen starb gegen Mitternacht, also etwa zwei Stunden früher. Sven Hardbeck kommt also durchaus als Mörder von Natalie infrage.«

»Halt doch mal still!«, befahl Detlev ungeduldig. »Tu so, als wäre ich dein Arzt.«

»Horch mal in deinen Bauch, Rodenstock. Was sagt der? Ist es Sven gewesen?« Ich zuckte zusammen, als Detlev begann, die Jeans von meinen Beinen zu schneiden.

»Ich bin nicht sicher«, meinte Rodenstock. »Svens Vater hat überzeugend gewirkt. Aber auch er kann nicht ausschließen, dass Sven plötzlich außer Kontrolle geraten ist. Das bedeutet, wir müssen unter allen Umständen den Ablauf des Tages vor der Tat rekonstruieren. Von Sven wissen wir einiges, aber nichts von Natalie. Und mir ist etwas eingefallen, was wir übersehen haben: Natalies Auto.«

»Halt still!«, wiederholt Detlev. »Das sieht übel aus, ist aber wahrscheinlich nur eine Fleischwunde, wächst nach. Ich spritze dir jetzt ein Betäubungsmittel, es pikst ein bisschen.«

»Was hatte Natalie für ein Auto, weißt du das?«

»Einen Austin Mini, dunkelgrün. Seitdem Natalie morgens damit losgefahren ist, ist das Ding weg.«

Der Piks war so verheerend, dass ich »Scheiße!« brüllte, wenngleich das kein Zeichen von breiter Bildung ist und mit bürgerlicher Zurückhaltung nichts zu tun hat.

»So ist es gut«, sagte Detlev zufrieden.

»Das sieht ja wirklich ekelhaft aus«, murmelte Emma. »Was war denn das?«

»Ein Splitter von einem Stuhl«, erklärte ich. »Von einem Tigerfellstuhl. Wissen wir das Kennzeichen?«

»Ja. DAU-NC 100.«

»Ich mache am besten vier Stiche«, überlegte Detlev. »Hast du sonst noch irgendwo Beschwerden? Blut ist ja genug an dir. Moment mal.« Er schüttelte meinen Kopf, als sei der eine Rumbarassel. »Hier ist ein Schnitt oder eine Platzwunde.«

»Ist mir nicht aufgefallen«, keuchte ich.

»Na ja, da reicht ein Pflaster. Was ist mit deinem Rücken?«

»Der tut weh, aber ob da eine Wunde ist, weiß ich nicht.«

»Dreh dich auf den Bauch, zeig uns deinen schönsten Körperteil.«

»Hihihi«, feixte Emma.

Ich drehte mich auf den Bauch.

»Da ist was«, stellte Detlev hoch befriedigt fest. »Ein Riss. Den können wir auch pflastern.«

»Kannst du uns was über die beiden toten Jugendlichen erzählen?«, fragte ich den Arzt.

»Nein«, sagte er. »Ich befinde mich im Zustand totaler Unschuld. Nach Möglichkeit heile ich Leute, ich töte sie nicht. Hast du noch Gefühl im Bein? Tut das weh, wenn ich dich da kneife?«

»Aua!«

»Dann müssen wir noch ein wenig warten.«

»Ich hätte noch so viele Fragen an Hardbeck gehabt«, sagte Rodenstock nachdenklich. »Diese Müll-Probleme möchte ich verstehen lernen.«

»Was war mit diesem verprügelten Fernsehteam?«, fragte ich.

»Das war wohl so, dass die Fernsehleute den Fundort von Natalies Leiche filmen wollten. Plötzlich fuhren zwei Motorräder vor, auf denen vier Männer hockten. Sie haben kein Wort gesprochen. Sie haben die Helme nicht abgenommen, sind abgestiegen, auf das Team zugegangen und haben zugeschlagen. Mit Holzknüppeln. Eine Reporterin fing an zu schreien und zu schimpfen. Da hat sie eine derartig gewaltige Backpfeife kassiert, dass sie vier Wochen nicht mehr vor die Kamera kann. Es gibt keine Verdächtigen, keine Hinweise, wer die vier waren. Das Fernsehteam hat nicht einmal sagen können, von welchem Hersteller die Motorräder waren.«

»Spürst du das Bein noch?«, fragte Detlev.

In diesem Moment kam Cisco hereingesprungen und gebärdete sich so, als hätte er mich mehrere Wochen lang nicht gesehen. Er jaulte vor Glück und hüpfte auf meinen Bauch, um mich abzulecken.

»Heh«, mahnte Detlev, »das hier ist ein Lazarett!« Er schubste den Hund weg.

»Du kannst anfangen«, gestattete ich daraufhin.

Eine halbe Stunde später war ich genäht, verbunden und verpflastert. Und ich war endlich müde. Detlev war damit einverstanden, mir eine sanfte Beruhigungsspritze zu geben, und kurz darauf lag ich in meinem Bett und schlief.

Einmal erwachte ich, weil jemand die Tür öffnete und dann wieder schloss. Wahrscheinlich war es Emma, die den Hund zu mir hereingelassen hatte. Jedenfalls war er plötzlich da, winselte vor Seligkeit und legte seinen Kopf neben meinen Kopf. Ich versprach ihm: »Ich mache aus dir eine reißende Bestie für alle Martins dieser Welt.«

Ich wurde wach, weil Christian Willisohn und Band inbrünstig l'm a heartbroken man jammerten und dabei den Blues so trafen, dass ich fast heulen musste. Ich vernahm viel Bewegung in meinem Haus und ich hoffte, dass wenigstens eine der beiden Toiletten zur Benutzung frei war. Weiter hoffte ich, dass es einen Kaffee gab, vielleicht eine Scheibe Schwarzbrot mit Quark und Erdbeermarmelade und ähnliche lebenswichtige Zutaten.

Ich bequemte mich also in meinen Bademantel und entdeckte bei der Gelegenheit, dass ich etwa zehn Stunden geschlafen haben musste. Es war elf Uhr vormittags und ich bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen nach dem Motto: Heute ist Montag, morgen ist Dienstag, übermorgen ist Mittwoch – die halbe Woche ist schon rum und noch immer hast du nichts getan.

Die Toilette im Erdgeschoss war frei, wodurch ich ungehinderten Zugang zu frischem Wasser hatte. Dann bewegte ich mich vorsichtig in Richtung Küche und fand dort niemanden, allerdings eine wohlgefüllte Kaffeekanne. Cisco fegte um die Ecke und ich erinnerte mich, dass er nachts mein Kopfkissen mit mir geteilt hatte. Wie war der Kerl hinausgekommen? Er gebärdete sich ziemlich verrückt, sprang an mir hoch, bekam den Gürtel vom Bademantel zu fassen und schon glitt das Ding von meiner Schulter und ich stand ›nakkich inne Erbsen‹, wie man im Ruhrpott so schön sagt.

Hinter mir frohlockte jemand Weibliches: »Toll knackig, dieser Hintern!«

»Vera?«

»Ganz recht. Ich bin mit dem Zug über Gerolstein gekommen, Emma hat mich abgeholt. Ich hoffe, ich störe nicht, aber ...«

»Du störst mich keineswegs. Wo sind die anderen?«

Noch immer dröhnte Willisohn, diesmal einen Boogie, der den Tag zum Erlebnis machte. Ich zog meinen Bademantel wieder an und Vera fasste mich am Arm. Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und da wackelten tatsächlich Emma und Rodenstock, eng umschlungen, zwischen meinen Möbeln herum. Wie immer diese Bewegungen hießen, es musste sich um irgendeinen Tanz handeln.

Ich hatte ganz plötzlich ein hohles, glückhaftes Gefühl im Bauch. Ich brüllte: »Also doch nichts Schlimmes! Ich habe es doch gewusst!«

Sie hörten auf zu tanzen und Rodenstock sagte milde: »Wir wissen immer noch nichts, aber wir tanzen schon mal, damit wir nicht aus der Übung kommen.«

Emma keuchte ein wenig atemlos: »Weißt du, ich habe mich eben entschlossen, diese Welt auf keinen Fall zu verlassen!«

»Das ist herausragend gut«, sagte ich und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich warm und lebendig an, und ich dachte bei mir: Alter Mann, wenn du mir die wegnimmst, bekommst du ein erhebliches Problem mit mir!

In Ruhe trank ich Kaffee, während Rodenstock eine seiner berühmten Vorlesungen hielt, die in der Regel mit dem Satz beginnen: Was wissen wir, besser noch: Was wissen wir nicht?

»Wir haben zwei Leichen und sonst nur Vermutungen. Wir haben keine überzeugende Motivation für den Mord an Natalie, keine glaubwürdige Erklärung für den tödlichen Unfall von Sven Hardbeck, es sei denn die des ganz trivialen Unfalls. Ein Selbstmord ist unwahrscheinlicher geworden, nachdem nun bekannt ist, dass ein zweiter Mensch im Wagen neben ihm gesessen hat. Wir haben eine Erklärung für die Wohnzimmermöbel, aber keine für die Fässer. Relativ sicher scheint nur, dass der, der die Fässer in den Wald kippte, den Zustand des Weges gekannt hat, es kann also kein Wildfremder gewesen sein. Die Geschichte kann ein Liebesdrama sein, aber ehrlich gestanden läuft mein Gefühl darauf hinaus, dass es das nicht ist. Ich sehe deutliche Verbindungen zu diesem Männerclub, der im alten Forsthaus tagte. Aber wie sehen die aus? Wir wissen ziemlich genau, was Sven Hardbeck am Tag vor seinem Tod getan hat, wir wissen aber nichts darüber, was Natalie tat, wen sie besuchte, wen sie traf, wo sie tagsüber war. Und das scheint mir der wesentliche Punkt zu sein, den wir als Nächstes klären müssen. Ich will noch einmal mit diesem Oberstudienrat sprechen. Der Mann muss wissen, ob Natalie Freundinnen hatte und wer das ist, wo sie wohnen. Einverstanden?«

»Gut«, nickte ich. »Hat die Mordkommission schon den Mini von Natalie gefunden?«

»Glaub ich nicht«, sagte Rodenstock. »Ich habe zwar keinen direkten Zugang mehr zu derartigen Informationen, aber wenn der Wagen entdeckt worden wäre, hätte mir das wahrscheinlich jemand verraten. Warum?«

»Weil der Stellplatz des Wagens unter Umständen klarmachen würde, wohin Natalie gefahren ist. Denn irgendwo hat sie ihr Auto verlassen und ist in ein anderes eingestiegen. Oder aber sie ist in ein anderes verladen worden, weil sie schon tot war.«

»Wie ist man denn darauf gekommen, dass Sven nicht allein im Wagen saß?«, erkundigte ich mich.

»Wie üblich«, erwiderte Emma. »Die Techniker haben Textilfasern gefunden, die nicht von Sven Hardbeck stammen. Und es gelang ihnen, Blut nachzuweisen, das nicht von Sven stammt.«

Rodenstock hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und telefonierte. Er sprach langsam und liebenswürdig und betonte dreimal hintereinander: »Ohne Sie kommen wir nicht weiter!«

Kurz darauf gab er bekannt: »Detlev Fiedler will noch einmal helfen, hat aber keine Zeit zu kommen. Er ruft in zehn Minuten zurück. Hat das Ding einen Lautsprecher?«

»Selbstverständlich«, nickte ich.

Wir verständigten uns, dass nur Rodenstock die Fragen stellen würde, um jede Verwirrung zu vermeiden.

»Herr Fiedler, uns beschäftigt folgende Sache«, begann Rodenstock, als es so weit war. »Die Mutter von Natalie Colin hat gesagt, dass ihre Tochter an ihrem Todestag gegen elf Uhr das Haus verlassen hat und mit ihrem Auto weggefahren ist. Angeblich wollte sie zusammen mit Sven einkaufen. Das fand aber nicht statt. Mindestens vierzehn Stunden von Natalies letztem Tag sind also nicht rekonstruierbar.«

»Oh, das ist eine lange Zeit«, stellte Fiedler fest. »Erst einmal guten Tag. Hm, meine Erfahrung mit Nati ist die: Sie brauchte immer Betrieb um sich herum, war kein Betrieb da, veranstaltete sie welchen. Es ist also wahrscheinlich, dass sie Freundinnen besucht hat, zum Beispiel ehemalige Klassenkameradinnen. Natürlich kann sie auch verabredet gewesen sein, in einem Cafe oder ...«

»Wir brauchen Namen, Sir«, sagte Rodenstock. »Wir brauchen Namen, sonst agieren wir in einem luftleeren Raum. Mit welchen Mädchen aus ihrer Klasse konnte Natalie denn besonders gut?«

»Hm, besonders gut. Besonders gut konnte sie nur mit einer.« Der Lehrer lachte gedämpft. »Tiefe Freundschaften waren nicht Natalies Ding, wenn ich das richtig beurteile. Besonders gut verstand sie sich mit einer Mitschülerin namens Gerda Landemann. Die wohnt in, Moment, die wohnt in Manderscheid. Sekunde, hier ist die Telefonnummer.« Er gab sie durch. »Versuchen Sie das mal. Wenn nichts dabei herauskommt, melden Sie sich, dann müssen wir weiter überlegen.«

Rodenstock wählte sofort die Nummer von Gerda Landemann. Er erklärte: »Guten Tag, mein Name ist Rodenstock. Ich ermittle im Fall Natalie Colin und bitte herzlich um Ihre Hilfe. Frage: War Natalie Colin an dem Tag vor ihrem Tod bei Ihnen zu Besuch, haben Sie miteinander telefoniert oder sonstwie Kontakt gehabt.«

Die Stimme war hoch und kindlich. »Nein, sie war nicht bei mir. Obwohl ich mich darüber gewundert habe, denn sie wollte mit mir zu Mittag essen und dann wollten wir zusammen nach Wittlich fahren, um uns Schuhe anzusehen.«

»War das normal, dass sie sagte, sie kommt, und dass sie dann nicht erschien?«

»Nein, absolut nicht. Sonst war immer Verlass auf sie. Sie hat wenigstens angerufen und abgesagt.«

»Hatten Sie in den Tagen vorher Kontakt zu ihr?«

»Ja. Zwei Tage vorher hatte ich sie gefragt, ob sie mit mir nach Köln fährt. Ich sagte, ich hole dich ab, und sie sagte, ich komme zu dir. Das war immer so. Nie durfte jemand von uns sie zu Hause besuchen, das war irgendwie tabu, wir machten uns schon immer darüber lustig. Dann rief sie zurück und sagte, sie habe doch keine Zeit. Sie habe mal wieder eine Klavierstunde beim Grafen von Monte Christo.«

»Bei wem?«

»Beim Grafen von Monte Christo. Der wird so genannt, weil die Zigarren, die er raucht, so heißen.«

»Und bei dem hatte sie Klavierstunden?«

Gerda Landemann machte eine lange Pause. »Nicht wirklich, das mit den Klavierstunden ist ein Code.«

»Was bedeutet das denn?«

»Jemand wollte mit dem Grafen ins Geschäft kommen, einer von den Männern, die immer im Haus von Natalies Mutter verkehrten. Und dem war sie behilflich. Wie ... also, wie das ablief, hat Natalie nicht erzählt. Sie half ihm eben.«

»Junge Dame«, meinte Rodenstock gemütlich, »sicher hat sie Ihnen nicht erzählt, auf welche Weise sie behilflich war. Aber Sie werden doch einen Verdacht haben, oder? Also, raus damit.«

Wieder eine lange Pause. »Vielleicht war sie einfach nett zu dem Grafen?«

»Nett?«

»Na ja, was man so ... ich kann das wirklich nicht erklären.«

»Hat sie diesen Grafen oft getroffen?«

»In der letzten Zeit ja.«

»War Natalie Colin zuletzt anders als sonst?«

»Darüber denke ich nach, seit ich erfahren habe, was passiert ist ... Vor vierzehn Tagen waren wir am Gemündener Maar zum Baden. Da war sie anders, ernst und irgendwie zittrig. Sie sagte, die Zeit der Spaße sei vorbei, der Ernst habe begonnen. Ich wollte wissen, was sie damit meinte, aber sie wich aus und gab mir keine Antwort.«

»Vielen Dank für die Hilfe«, beendete Rodenstock das Gespräch.

Er sah uns ratlos an.

Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Vera ein wenig zögernd: »Wenn ich das alles richtig sehe, gibt es zwei Verdachtsfelder. Zum einen die tragisch endende Liebesgeschichte. Zum anderen diese obskure, Geschäfte machende Männerrunde, nennen wir sie mal die Müll-Mafia. Sieht jemand ein drittes Feld?«

»Höchstens, dass es ein Irrer war«, meinte Rodenstock. »Aber der Mord wurde zu präzise durchgezogen, so dass zumindest kein klassischer Neurotiker infrage kommt, denn der hätte einen Fehler gemacht. Ich tendiere dazu, in Richtung Müll weiterzuarbeiten. Ich habe zwar keine Ahnung von diesem Geschäft, aber ich denke, die kann man schnell kriegen.« Er blickte in die Runde. »Wir müssen uns trennen und Erkundigungen einziehen. Eines scheint mir sicher: Wenn die Mitglieder der Müll-Mafia Gespräche ablehnen, liegen wir richtig. Also, wer macht was?«

»Ich übernehme eine Aufgabe, die man telefonisch erledigen kann«, sagte Emma tonlos.

»Hast du wieder Schmerzen?«, fragte Rodenstock beunruhigt.

»Nein, noch nicht«, sagte sie. »Aber sie scheinen zu kommen. Ich werde vorher immer so nervös.«

Das regte Vera auf. »Wieso warten wir nicht, bis die Klinik Bescheid gibt? Mörder hin, Mörder her, Emma ist wichtiger.«

»Das ist sehr nett, Kleines«, lächelte Emma. »Ich möchte aber mitarbeiten, zu allem anderen werde ich noch genug Zeit haben.« Sie klatschte in die Hände. »Ich werde mich um Gespräche mit den Mitgliedern der Müll-Mafia bemühen, und zwar jetzt.«

»Vera?«, fragte ich.

»Ich mache mich bei der Mordkommission schlau. Ich habe da einen Bekannten, der mir möglicherweise was verraten wird. Ich will wissen, ob sie ein Geschoss gefunden haben. Ich will wissen, ob die Walther PPK von Hardbeck tatsächlich nicht benutzt worden ist. Ich will wissen, was genau in den Fässern ist, die im Wald lagen. Und ich will wissen, ob die Mordkommission inzwischen weiß, wer neben Sven Hardbeck im Auto saß.«

»Rodenstock?«

Er warf einen schnellen Blick auf seine Gefährtin. »Ich bleibe hier bei Emma. Wenn du erlaubst, Baumeister, mache ich eine Wand im Arbeitszimmer frei und behänge sie mit Packpapier. Ich werde aufzeichnen, was wir sicher wissen, was wir vermuten und was wir nicht wissen. Dann schälen sich sehr schnell Problemfelder raus. Und ich werde telefonieren, um etwas über Müll zu lernen. Und was machst du?«

»Ich gehe auf die Finanzseite«, entschied ich. »Wenn Nötigung und Erpressung eine Rolle spielen, spielt Geld eine Rolle. Auf den Bankkonten der Damen wird nichts sein, weil es Ärger mit dem Sozialamt geben würde. Irgendwo muss es aber sein.«

»Jeder hat eine Stunde Zeit. Abmarsch in den Garten, frische Luft hilft denken!« Grinsend setzte Rodenstock hinzu: »Einer von uns muss doch mal an preußische Tugenden erinnern.«

Ich nahm mir einen dieser widerlichen braunen Plastiksessel und ließ mich auf der zur Dorfkirche hin abgelegenen Teichböschung gleich neben meine Goldulme nieder, die aus irgendeinem Grund nicht eingehen wollte, aber durchaus auch kein Wachstum zeigte. Es war ein spezieller Platz in meinem Garten, weil ich auf dieser Seite mit Rücksicht auf Schmetterlinge und Falter alles ins Kraut schießen ließ, was wachsen wollte. So hockte ich nun zwischen blühendem Mohn, wilden Möhren, Hahnenfußgewächsen, Brennnesseln, wild wachsendem Rhabarber und fühlte mich wohl. Cisco tapste heran und war entzückt, dass ich noch lebte. Er wälzte sich im Unkraut und hielt mir seinen Bauch hin, wobei er vor lauter Begeisterung hin und wieder einen Stoß Wasser von sich gab – der kleine Ziergärtner und sein Hund.

Ich beobachtete, dass Rodenstock sich in die Hollywoodschaukel setzte und Vera neben der Schnellkomposttonne auf einer Liege Platz nahm. Konzert für drei Handys und eine Feststation.

Der Mann, den ich anpeilte, war einer jener treuen Staatsdiener, die niemals Aufsehen erregen, aber ohne die unser Staat nicht denkbar wäre. Er war Finanzfahnder im Bereich Trier und ein sehr hellhöriger Mensch, der sich äußerst freundlich und unauffällig in dieser Gesellschaft bewegte. Er war in einem höchst netten Einfamilienhaus am Stadtrand von Wittlich zu Hause und signalisierte allen seinen Nachbarn unmissverständlich und unklar, dass er Beamter war. Wofür und wogegen, pflegte er nicht zu erwähnen. Die Nachbarn waren trotzdem zufrieden, weil sein Häuschen so schmuck und so sauber unter der Eifelsonne lag, weil sein Auto immer gewaschen und poliert in der Garage funkelte, weil seine Kinder so nett mit denen aus der Nachbarschaft spielten und weil seine Frau eine stille Vorliebe für die Farbe Blau hegte. Blaue Vorhänge, blaue Strohblumen mit blauen Schleifen, blaues Schild an der Haustür: Hier wohnen Edith, Karl-Wilhelm, Susi, Kevin und der Hund Strolch.

Erst einmal nahm ich eine Tablette, die Detlev mir sicherheitshalber dagelassen hatte. Das Bein tat weh und ich hatte den Eindruck, der Schmerz pulsiere im gleichen Rhythmus wie mein Blut. Dann schritt ich zur Tat.

»Hier ist Baumeister«, erklärte ich. »Ich brauche Ihre Hilfe in einer Geschichte, die ich recherchiere. Ich versichere Ihnen, dass Sie das Manuskript zu lesen bekommen, wenn ich die Geschichte irgendwann einmal geschrieben habe. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Der Mann wartete ein paar Sekunden. »Solange es nicht um Namen geht und nicht um harte Fakten und Zahlen, bin ich einverstanden. Wie geht es Ihnen?«

»Gut, ich kann nicht klagen. Mein Haus ist voll mit Freunden und manchmal muss ich Schlange stehen, wenn ich meinen Lokus frequentieren will.«

Er lachte. »Warum haben Sie nicht gesagt, dass es um Natalie Colin und Sven Hardbeck geht? Schließlich lese ich Zeitung und kann zwei und zwei zusammenzählen.« Dann atmete er tief ein. »Das ist ja ein Ding!«

»So kann man es formulieren«, bestätigte ich. »Mich interessiert eine Männerrunde, eine bemerkenswerte Männerrrunde.«

»Zeitweilig zu Hause im alten Forsthaus im schönen Bongard. Richtig?«

»Richtig. Wir verstehen uns ja prächtig.«

»Na ja, Vorsicht. Noch habe ich nichts gesagt. Sie wollen Auskünfte, Sie sollten das Spiel eröffnen.«

Wenn er der Meinung war, es handelte sich um ein Spiel, sollte es mir recht sein. »Ich gehe davon aus, dass die Männer alle Geld mit Müll machen. Mit der Verbrennung von Müll, mit dem Deponieren von Müll, mit dem Transport von Müll. Ist das richtig?«

»Natürlich, aber das weiß schließlich jeder.«

»Ist Müll eigentlich ein gutes Geschäft?«

»Sagen wir mal so: Wenn Sie ein guter Kaufmann und Rechner sind, können Sie sich kaum mit Müll beschäftigen, ohne wohlhabend zu werden.«

»Ich vermute, dass es sich um einen ruhigen Markt handelt, auf dem alle Felder verteilt sind. Eine große Öffentlichkeit hat dieser Markt ja nicht.«

»Müll«, sagte er, als müsse er mich beruhigen, »ist ein Nicht-Thema. Müll ist ein Unthema. Das hat was mit seinem Charakter zu tun. Müll liegt immer auf der Negativseite der Gesellschaft, Müll ist dreckig. Trotzdem ist der Markt selbst niemals ruhig. Im Gegenteil: Es handelt sich um einen der unruhigsten Märkte der Gegenwart – bezogen übrigens auf ganz Europa. Eine Firma, die wir von der Finanzfahndung heute unter die Lupe nehmen, existiert morgen nicht mehr, weil sie von einem anderen Müllunternehmer geschluckt wurde. In den deutschen Markt drängen gegenwärtig Franzosen, Luxemburger, Engländer. Deutsche engagieren sich im europäischen Ausland, lösen die eigene Firma auf und sitzen ab morgen in Portugal oder auf Mallorca und haben ihre Verwaltung in Liechtenstein. Müll ist ein absolut sicheres Geschäft, ganz ähnlich wie das Geschäft mit alten Menschen in Heimen und Altersruhesitzen. Es ist traurig, aber wahr, der Vergleich ist zulässig.« Er schnaufte. »Entschuldigung, dass ich auf ethisch-moralisches Gebiet gleite.«

Ich grinste. »Ich nehme an, dass Sie mich mit philosophischen Aspekten eindecken, weil Sie ahnen, worauf ich hinauswill.«

Ungerührt gab er zu: »So ist es. Also los, Frage eins.«

»Ermittelt Ihre Behörde gegen diese in Bongard tagende Männerrunde? «

»Nicht gegen die Runde!«, erwiderte er.

»Gegen einzelne Teilnehmer der Runde?«

»Kein Kommentar. Nächste Frage.«

»Haben sich Finanzfahnder je mit Konten beschäftigt, die folgenden zwei Frauen zuzuordnen sind: Tina Colin, Natalie Colin, beide aus Bongard, Letztere tot?«

»Kann ich nicht beantworten, Datenschutz, Persönlichkeitsschutz und laufendes Verfahren.«

»Danke. Und mitten hinein in den Dschungel: Ich setze mal voraus, dass Ihr Amt Ermittlungen anstellt. Und Sie sind schon vor einiger Zeit tätig geworden, als Natalie Colin noch unter uns weilte?«

»Das ist richtig. Der Mord als krimineller Akt interessiert uns gar nicht.«

»Aber Sie müssen, der Situation entsprechend, jetzt schneller recherchieren? Weil möglicherweise Zeugen wegen des Mordes auf immer verstummen?«

»Auch das ist richtig.«

»Ich nehme an, dass Erpressung eine Rolle spielt.« Wie weit konnte ich mich vorwagen, ohne ihn zum Verstummen zu bringen?

»Von Erpressung ist mir nichts bekannt. Aber bei der Zusammensetzung der Mitspieler scheint mir das möglich. Haben Sie in dieser Richtung etwas entdeckt?«

»Nichts, mit dem man etwas anfangen könnte. Spielt schwarzes Geld eine Rolle?«

»Das könnte sein, aber das wissen wir nicht. Darf ich jetzt eine Frage stellen?«

»Selbstverständlich.«

»Wie sind Sie darauf gekommen, ausgerechnet die Finanzfahndung anzurufen?«

»Weil ich mir nach einem längeren Gespräch mit Tina Colin nicht vorstellen konnte, dass die Finanzfahndung ahnungslos und blind an dieser merkwürdigen Runde in Bongard vorbeigeht.«

»Danke für das Kompliment. Und ich erlaube mir zwei kleine Hinweise für Ihre weitere Arbeit, muss aber vorher meinem Auftrag gemäß darauf hinweisen, dass ich erwarte, von Ihnen informiert zu werden, falls Sie auf etwas steuerrechtlich Relevantes stoßen.« Seine Stimme klang fröhlich. »Mein Hinweis Nummer eins: Da sind doch Fässer gefunden worden, von denen man bisher nur weiß, dass sie giftige Substanzen enthalten. Da ich ein hemmungsloser Verfechter der Naturschönheiten der Eifel bin, gebe ich Ihnen den Tipp, sich in einschlägigen ... nennen wir es mal: Müllkreisen nach einem Mann namens Ladi zu erkundigen. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Hinweis Nummer zwei: Die europäische Szene der Müll-Spezialisten ist ein kaum zu durchschauendes Durcheinander. Da werden Firmen gekauft, neue eröffnet, alte integriert, über Grenzen hinweg Verträge gemacht. Es kommt vor, dass jemand Konkurs anmeldet und wir feststellen müssen, dass dieser Jemand zwei Tage vorher über einen Strohmann mit einem dreistelligen Millionenbetrag in ein italienisches Müll-Konsortium eingestiegen ist. Den speziellen Fall betreffend ist ein Stichwort interessant: das hinterlistige Aufkaufen von Konkurrenten, die so genannte unfreundliche Übernahme.«

»Wer hat wen unfreundlich übernommen?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten«, lachte er. »Aber erkundigen Sie sich einmal nach einem Mann, der der Graf von Monte Christo genannt wird.« Damit beendete er unser Gespräch.

Ich blieb hocken, starrte in den Himmel und kraulte meinen Hund. Rodenstock redete immer noch, genau wie Vera. Ich beschloss, die Sache sofort zu klären. Ich rief Tina Colin an und sie meldete sich gleich.

»Hier ist Baumeister. Na, sind Sie glücklich mit der Illustrierten?«

»Nein, Sie hatten Recht, ich habe das Gefühl, die werden schreiben, was sie wollen. Immerhin habe ich das Geld schon bekommen.«

»Bravo! Warum haben Sie mir eigentlich gesagt, Sie kennen Mannebach nicht? Sie waren doch oft in der Jagdhütte von Hardbeck.«

»Stimmt«, sagte sie eifrig. »Ich denke nur immer an die Jagdhütte, nie an dieses Dorf, an Mannebach.«

»Das will ich mal glauben. Sagen Sie mal, ich wüsste gern den Namen, den bürgerlichen Namen vom Grafen von Monte Christo und ...«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da helfen kann.«

»Sie können, wetten?«

»Das darf ich aber nicht. Alle meine Dinge darf ich nur der Illustrierten erzählen. Ich habe einen Exklusivvertrag.«

»Das gilt aber doch nur für die Geschichte und nicht für bloße Namen. Sie können mir mein Leben erleichtern, nennen Sie mir einfach den Namen. Sonst muss ich ellenlang telefonieren.«

Sie überlegte einen Augenblick. »Na gut, der Graf von Monte Christo heißt richtig Adrian Schminck und wohnt in Boos. Das ist...«

»Ich weiß, wo das ist. War der oft bei Ihnen im Forsthaus?«

»Ein-, zweimal, mehr nicht. Es wird übrigens behauptet, er habe was mit Natalie gehabt. Geben Sie nichts darauf, das stimmt nicht.« Das kam seidenweich und so nebenbei, dass das so sicher gelogen war wie das Amen in der Kirche.

»Dann interessiere ich mich noch für Ladi. Wer ist Ladi?«

»Och, der!« Sie wirkte so, als sei auch Ladi eine vollkommen zu vernachlässigende Größe. »Ladi ist ein Pole. Der war manchmal bei uns, wenn Hans Becker oder Herbert Giessen da waren. Der heißt natürlich nicht Ladi. Ladi ist ein Spitzname, die Abkürzung für Ladislaw. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Der ist ein lustiges Haus und säuft wie ein Loch. Ist immer für ein paar Witze gut.«

»Hat der auch einen Nachnamen?«

»Ja, klar. Aber ... warte mal ... ich muss überlegen. Brunski, nein halt, Bronski. Ladislaw Bronski.«

»Und hat er einen Beruf? Handelt er auch mit Müll? Oder transportiert er Müll?«

»Das weiß ich nicht.« Sie machte eine Pause. Dann weinte sie unvermittelt leise. »Wissen Sie, wann ich sie nach Hause kriege? Wann ich sie beerdigen kann?«

Die Trauer kam über sie und begann sie zu überschwemmen.

»Keine Ahnung. Ich würde aber davon ausgehen, dass das noch eine Weile dauert.«

»Ist gut«, sagte sie abrupt. »Wiederhören.«

Ich stand auf und trödelte im Garten herum. Rodenstock und Vera telefonierten pausenlos und Emma war im Haus ebenso beschäftigt. Der Knöterich an der Mauer wucherte wie verrückt und sah mit seinen Blüten wie ein Wasserfall aus Schnee aus. Mitten darin stand die prächtig weiße Blüte einer Schafgarbe. Ich bog den Knöterich beiseite und entdeckte, dass sich die Pflanze in eine Vertiefung zwischen zwei schweren Feldsteinen gesetzt hatte. Sie hatte nicht die übliche Höhe von Schafgarbe – dreißig bis vierzig Zentimeter. Sie war mindestens hundertzwanzig Zentimeter hoch. Der Knöterich hatte sie gezwungen, das Licht zu erreichen, Segen der Konkurrenz.

Vera rief: »Ich habe was!« Es klang optimistisch. »Aus Hardbecks Walther PPK ist nicht geschossen worden. Eindeutig. Das Projektil hat man nicht gefunden. Der Mini von Natalie ist nach wie vor weg und die Mordkommission knabbert genau wie wir an der Frage herum, wo Natalie den ganzen Tag über gewesen ist. Aber sie wissen nun genau, was in den Fässern ist. Alle zwölf Fässer enthalten eine ölige Substanz aus der Chlorchemie. Es ist PCP. Das wird als Kühlmittel verwendet, ist hochgiftig und stark krebserregend. Was das Zeug noch gefährlicher macht, ist eine starke Verunreinigung mit Dioxinen. Und sie wissen noch etwas: die Quelle der Brühe. Es sind die Rheinischen Olefin Werke, kurz ROW. Im Süden Kölns.«

»Weiß man etwas über das Alter des Zeugs?«, fragte Rodenstock.

»Nein, aber die Kommission kümmert sich um Spezialisten, die das ganz genau bestimmen können. Aber das kann dauern.«

»Ich kann beisteuern, dass die Finanzfahndung mit Sicherheit gegen ein oder mehrere Mitglieder der Männerrunde in Tinas Forsthaus tätig ist. Ich sage: tätig ist. Das hat mit den Todesfällen nichts zu tun, aber die Todesfälle zwingen die Fahnder selbstverständlich dazu, ein höheres Tempo vorzulegen. Auch die Frauen, das ist sicher, werden überprüft. Mein Informant nannte das ein bereits kaufendes Verfahrens Und schon wieder bin ich auf den Spitznamen Graf von Monte Christo gestoßen. Daneben gibt es noch einen scheinbar interessanten Mann mit dem Vornamen Ladi. Soweit die Neuigkeiten aus meiner Ecke.«

Rodenstock nickte langsam. »Ich möchte mit meinem Müll-Report warten, bis Emma dazukommt. Er wird ziemlich umfangreich ausfallen und ich als Rentner möchte die Arbeit nicht zweimal machen. Und dann steht da noch die Frage im Raum, ob man hier in diesem Haus etwas zu essen kriegt. Ich habe nämlich Kohldampf.«

»Hast du was im Eisschrank?«, fragte Vera.

»Ich hätte Gehacktes im Gefrierfach für Spaghetti, falls euch so was Ordinäres genügt.«

»Das klingt gut«, sagte Rodenstock erfreut. »Sieh an, da kommt die Mutter der Müll-Mafia.«

Emma schlenderte nachdenklich in den Garten und berichtete: »Misserfolg auf der ganzen Linie. Niemand der großen Geldherren ist zu Hause, alle sind auf Geschäftsreise. Herbert Giessen aus Münstereifel befindet sich angeblich im karibischen Raum, der Euskirchener Andre Kleimann ist in Hongkong und wird erst in der nächsten Woche zurückerwartet, Rechtsanwalt Dr. Lothar Grimm aus Koblenz ist zurzeit in Kolumbien, Hans Becker mit Wohnort Maria Laach ist zur Kur geschickt worden, angeblich nach Acapulco. Man stelle sich einen solchen Scheiß vor! Erreichbar sind nur die Büros, Sekretärinnen oder Geschäftsführer. Sie sind alle sehr freundlich, sie haben alle viel Verständnis, sie würden alle gern behilflich sein und sie alle sind untröstlich, nicht helfen zu können.« Sie lachte.

»Damit mussten wir rechnen«, sagte Vera. »Das kann nicht verwundern. Der ganze Club ist abgetaucht und ...«

»Bis auf Hardbeck«, unterbrach ich schnell. »Der kann ja nicht abtauchen, der muss wegen des Todesfalles hier sein. Ich gehe jede Wette ein, dass die anderen auch alle zu Hause sind.«

»Ich habe eben auch noch mal mit einem Fahnder der Kommission gesprochen«, Rodenstock räusperte sich. »Er sagte, seiner Kenntnis nach sei ein LKW-Fahrer verhaftet worden, ein Pole. Den Namen wusste mein Mann nicht, aber diesen Namen brauchen wir ...«

»Da kann ich behilflich sein«, sagte ich. »Das wird Ladi sein. Er ist von Tina Colin als Besucher der Männerrunde deklariert worden. Er soll ein lustiges Haus sein, saufen wie ein Loch und hervorragend Witze erzählen können. Erinnert euch, dass wir gesagt haben: Wer immer die Fässer an den Waldrand in Mannebach transportierte – er muss gewusst haben, dass sein LKW nicht versacken konnte, dass der Weg am Waldrand das hohe Tonnengewicht aushält. Und Vater Hardbeck hat erklärt, dass alle, die in der Jagdhütte zu Besuch gewesen sind, diesen Weg kennen. Wenn dieser Mann Gast war, kannte er selbstverständlich auch Natalie. Der Mann hat sowohl mit Herbert Giessen als auch mit Hans Becker zu tun. Das hat Tina gesagt. Der vollständige Name ist Ladislaw Bronski. Und jetzt will ich etwas über Müll erfahren.«

»Bin noch nicht so weit«, knurrte Rodenstock.

»Aber ich habe noch etwas«, meinte Emma leise. »Ich war noch nicht am Ende meines Berichtes. Ich habe nämlich den ›Besorgte-Mutter-Trick‹ angewandt. Natürlich tauchen diese Leute ab, wenn sie in Gefahr sind. Aber selbstverständlich würden sie niemals abreisen und ihre Häuser verlassen. Du rufst also aufgeregt an und sagst, du möchtest den Chef des Hauses sprechen, du sammelst nämlich Geld für Waisenkinder. Dann antworten sie dir, dass das nicht geht, dass der Chef nicht da ist. Du rufst zum zweiten Mal an und sagst mit leicht veränderter Tonlage langsam und schüchtern: ›Ich vermute, meine Tochter hat unverschämterweise bei Ihnen angerufen, wissen Sie, die will nur Geld, o Gott, ist mir das peinlich, tut mir so was von Leid, dagegen kann ich nix machen, die ist so schrecklich aufdringlich. Geld für wildfremde Kinder, man stelle sich das vor! ...‹ In der Regel sagt die Sekretärin daraufhin beruhigend: ›Ihre Tochter habe ich abgewimmelt, das konnte ich dem Chef nicht zumuten! ‹ Und dann wird sie redselig. Also, Herbert Giessen ist zu Hause, Hans Becker auch, Andre Kleimann ist bei Hans Becker, und Dr. Lothar Grimm aus Koblenz auf dem Weg zum Giessen nach Bad Münstereifel.«

»Heiliger Strohsack!«, murmelte Vera bewundernd.