DRITTES KAPITEL

Emma und Rodenstock saßen am Gartentisch und wirkten gelassen. Rodenstock telefonierte.

Emma winkte mir zu. »Wenn der Mann pünktlich ist, kommt er in zwanzig Minuten. Er scheint im Moment ein gefragter Mann zu sein, er hat schon zwei Fernsehsendern Auskunft gegeben. – Du siehst irgendwie zerquält aus.«

»So viele Annahmen, so viele Theorien. Dann stimmt dieses nicht, dann stimmt jenes nicht. Zum Schluss weißt du gar nichts mehr. Du versinkst in einem Sumpf von Gerüchten. Ich weiß, das ist jedes Mal so, aber jedes Mal ärgert mich das. Wie geht es dir?«

»Ich bin schmerzfrei.«

»Das ist gut. Was ist mit Vera?«

»Sie durchlebt eine klassische Krise. Diese blödsinnige Sache mit dem Muttermörder war nur das Vehikel, um die Krise sichtbar zu machen. Ich kenne das von mir, ich habe das auch erlebt. Du fragst dich, was du eigentlich auf dieser verdammten Welt sollst. Du hast Neuigkeiten, sagte Rodenstock.« Sie flüsterte: »Rodenstock spricht mit Kischkewitz.«

Emmas Gefährte sagte gerade süffisant: »Es ist zu begreifen, irgendwann einmal musste das so laufen. Nichts für ungut, mein Lieber, wenn wir schneller sind als du.«

Dann beendete er das Gespräch, musterte uns mit zusammengekniffenen Lippen und erklärte: »Kischkewitz hat vom Oberstaatsanwalt den großen Maulkorb verpasst bekommen. Keine Meldung darf nach außen, nichts. Und vor allem soll er uns dreien nicht ein Wort sagen. Keine Zusammenarbeit, kein Hinweis in keiner Sache. Es hat Beschwerden gegeben, dass wir in anderen Fällen zu eng einbezogen wurden. Das geht nicht mehr, sagt der Oberstaatsanwalt. Nur noch genehmigte Pressekonferenzen in Anwesenheit der Staatsanwaltschaft.« Er seufzte. »Das bedeutet eine erhebliche Einschränkung, immer vorausgesetzt, wir wollen überhaupt etwas tun.«

»Ich will was tun«, sagten Emma und ich gleichzeitig.

Ich fragte: »Nachrichtensperre – aber vermutlich ist es uns gestattet, Kischkewitz anzurufen, wenn wir etwas erfahren, oder?«

Rodenstock grinste leicht. »Das wird erlaubt sein.« Er rückte den Stuhl zurecht. »Immerhin weiß ich, dass der Fundort der Leiche von Natalie Colin nichts hergegeben hat. Keine verwertbaren Spuren, kein Fingerabdruck, kein Fußoder Schuhabdruck. Kein Reifenabdruck, nichts. Auch an den Fässern sind keine Fingerabdrücke. Es handelt sich um Zweihundert-Liter-Fässer, frisch lackiert mit einer Allerweltsfarbe, Blau. Das ist schier unglaublich, dass da keine Fingerabdrücke drauf sind. Sie sind mit einer Art Seifenlauge abgewischt worden. Immerhin sind auf den Möbeln Spuren, aber die Prints sind nicht registriert. Im Moment hat die Mordkommission die Ortsbürgermeister in der Mache. Vielleicht weiß einer von denen, in welchem Wohnzimmer diese Möbel gestanden haben.«

»Was ist in den Fässern?«, fragte ich. »Hat Kischkewitz das noch sagen können, bevor der Oberstaatsanwalt zubiss?«

»Hat er, jedenfalls vorläufig. Sie haben eine Art ölige Brühe gefunden, die Dioxin enthält. Eigentlich ist Dioxin ein Gas, aber in der öligen Brühe ist es gebunden und wird niedlich als Verunreinigung bezeichnet. Das reicht, um ganz Frankfurt am Main zu töten. Das Zeug ist wahrscheinlich viele Jahre alt. Mehr konnte Kischkewitz nicht sagen. Und das konnte er auch nur sagen, weil es Thema einer Pressekonferenz sein wird, die er gleich gibt.«

»Ist es denn vorstellbar, dass drei Täter unabhängig voneinander in der gleichen Nacht dieselbe Stelle zur wilden Müllkippe machen? Gibt es so ein Zusammentreffen von Zufällen?« Emma zündete sich einen Zigarillo an.

»Möglich ist alles«, nickte Rodenstock. »Es hat in der Geschichte der Kriminalistik solche Zufälle gegeben. Aber alles in mir sträubt sich dagegen, das zu glauben. Baumeister, wo liegt diese Kippe genau, wie sieht die Umgebung aus?«

»Da ist eine schmale alte Landstraße. Wahrscheinlich verläuft sie auf einer uralten Pferdetrasse. Rechts und links sind abwechselnd Weideflächen und Wälder in einer hügeligen Landschaft. Auf der linken Seite dieser Straße, die von der B 410 abzweigt, liegt ein Hochwald, deutlich sichtbar abfallend in ein relativ steiles Tal. Wenn ich mit einem LKW und zwölf Giftfässern unterwegs bin und wenn ich diese Giftfässer unbedingt loswerden möchte, dann ist das keine Stelle, die ich zufällig wähle. Etwas anderes ist es, wenn ich die Stelle bereits kenne und weiß, dass sie sicher ist. Dabei spielt auch eine Rolle, wie fest der Boden des Feldwegs ist, der an diesem Waldrand entlangführt. Er muss fest genug sein, um keine Spuren meiner Bereifung zurückzulassen und um meinen LKW aufzunehmen. Ich darf unter keinen Umständen riskieren, das Fahrzeug festzufahren. Sicher ist diese Stelle insofern, als dass auf der schmalen Straße kaum Verkehr ist, bestenfalls alle zwei Stunden ein Auto, nachts bestimmt gar keines.« Mir fiel etwas ein: »Vielleicht ist der Fasstransporteur ja einfach auf gut Glück durch die Gegend gefahren und hat die Lage sondiert. Kann es nicht sein, dass er den, der seine Möbel loswerden wollte, beobachtet hat und dann die gleiche Stelle für sein Zeug wählte? Einer der Polizisten am Fundort war sich sicher: Erst sind die Möbel geflogen, dann die Fässer, dann kam die Tote. – Und noch etwas: Diese hohe heisere Stimme muss auch noch in das Bild passen. Was hat der Mann gesehen, vor allem wann?«

»Was meinst du, wie seine geistige Verfassung ist?«, fragte Rodenstock.

»Na ja, er ist intelligent genug, um ein mieses, arrogantes Spielchen zu spielen. Er kennt die Stelle und weiß von einer nackten toten Frau, noch ehe irgendjemand davon weiß. Das bedeutet mit Sicherheit: Er war dort. Das bedeutet ferner: Er könnte der Mörder sein. Aber warum? Er wirkt spöttisch, er wirkt so, als kenne er die Wirkung überraschender Nachrichten ganz genau. Ich vermute, dass er kein Landwirt ist, der zufällig dort mit der Mähmaschine vorbeikam. Es muss irgendetwas anderes gewesen sein, was ihn zu der Kippe führte. Aber was?«

»Wie lange braucht man vom Fundort der Leiche bis nach Mannebach?«, fragte Emma sachlich. »Ich meine zu Fuß?«

»Ein paar Minuten, es sind nur ein paar hundert Meter. Die Straße verläuft in ziemlich vielen Windungen ins Dorf, sicher, man kann den Weg abkürzen. Drei Minuten, vielleicht vier.«

»Die Stimme wird nicht der Mann sein, der die Fässer abgeladen hat. Der Mann, der das tat, muss verdammt kühl und vor allem schweigsam sein. Das aber passt nicht zu der Stimme. Denn die Stimme will ja auch angeben mit dem, was sie weiß, nicht wahr?« Emmas Gesicht war ruhig.

»Zweifellos«, antwortete ich. »Dann waren vielleicht vier Parteien an der Senke. Erst die Personen, die die Möbel dort hinwarfen. Dann der mit den Fässern, dann der Mörder mit Natalies Leiche. Und dann der Mann, der mich anruft. Sie alle sind im Verlauf einer Nacht dort gewesen und gründen eine wilde Müllkippe. Nee, Kinder, das erscheint mir vollkommen unglaublich. Diese Vorstellung stimmt nicht.«

»Was hat dir denn die Mutter von Natalie erzählt?«, wollte Emma wissen.

Ehe ich antworten konnte, rollte ein alter Mercedes-Diesel auf den Hof.

»Der Oberstudienrat«, murmelte Rodenstock. »Seid höflich und nehmt ihn aus.«

Detlev Fiedler war etwa fünfzig Jahre alt, mittelgroß, ein wenig korpulent, recht lässig mit beigefarbenen Jeans und einem Lacoste-Hemd bekleidet. Seine Haarfarbe spielte ins Grau, sein Kopf war beinahe monströs kugelig und mit einem schmalen Schnauzbart geschmückt. Er lächelte, er war ein ständiger Lächler.

Mit modulierender Stimme sagte er: »Ich hoffe, ich bin pünktlich. Zurzeit ist wegen der Geschichte viel los. Ich muss für meine Schüler da sein, sie sind stark verunsichert, haben Angst.« Er sah auf seine Uhr. »Ich habe eine halbe Stunde, nicht mehr. Tut mir Leid.«

»Wovor haben die Schüler denn Angst?«, fragte Emma.

»Ihre irrealen Fantasien machen ihnen Angst. Zum Beispiel vor einem Mörder, der erneut zuschlagen kann. Oder – besonders die Mädchen – vor einem Unbekannten, der ihnen an die Wäsche will. Sie sind alle fassungslos. Natürlich sind auch die Eltern vollkommen hysterisch und schüren die Ängste direkt und indirekt. Ein Vater hat den Vorschlag gemacht, die Kinder zu Hause zu lassen und nachts zu patrouillieren.« Fiedler machte »Ts, ts, ts« und schüttelte sanft den Kopf. »Eine Mutter verkündete, sie würde ihre Tochter nicht mehr zur Schule gehen lassen.«

»So irreal sind die Fantasien doch gar nicht«, mahnte Emma sanft. »Natürlich kann der Täter erneut zuschlagen. Solange wir nicht wissen, wer er ist, so lange können wir keine Fantasie als irreal bezeichnen.«

Fiedler lächelte und antwortete nicht.

»Sie haben doch diese Liebesgeschichte von Sven und Natalie als ihr Lehrer erlebt«, ermunterte ihn Emma. »Was können Sie uns darüber erzählen?«

»Ich weiß gar nicht, ob es eine wirkliche Liebesgeschichte war. Vor allem diese Form der Sexualität ... Na ja, die Leutchen schlafen miteinander und stellen gleichzeitig fest, das ist keine Liebe. Also, ich bin skeptisch, ob es wirklich eine Liebesgeschichte war.«

»Warum das?«, fragte Rodenstock verblüfft. Dann hielt er inne und sagte: »Ich brauche Kaffee, eine Zigarre, einen Kognak und Bitterschokolade. Auch wenn Sie nur eine halbe Stunde Zeit haben. Sie auch, Sie auch einen Kaffee?«

»Gerne«, sagte Fiedler. »Das kommt mir gelegen, ich bin schon müde von der vielen Rederei. Und ständig habe ich das Gefühl, den beiden nicht gerecht zu werden.«

Ich ging in die Küche, beeilte mich, ich wollte seine Geschichte hören. Ich stellte die Kaffeemaschine an und sammelte Rodenstocks Zubehör ein – bis auf die Zigarre. Für Emma öffnete ich eine Flasche Sekt. Ich stellte mir vor, das würde ihr gut tun.

Als ich wenige Minuten später in den Garten zurückkehrte, unterhielten sich die drei entspannt. Fiedler sagte gerade: »Ich bin der Ansicht, dass die Menschen um mich herum, und ich meine nicht nur meine Schüler, sondern alle, nicht fähig sind, das Geschehen zu analysieren, genau hinzuschauen. Das Ganze ist grausame Brutalität. Das reicht ihnen. Und diese grausame Brutalität kann sich ihrer Meinung nach jeden Moment in ihrer unmittelbaren Nähe wiederholen. Sie beachten nicht, dass es Nacht war, dass das Verbrechen viele Kilometer entfernt stattfand, dass es mit dem Gymnasium nicht das Geringste zu tun hat, dass junge Menschen betroffen sind, die die Schule längst verlassen haben, die in ihr Leben einsteigen wollten. Sogar meine kluge Frau sagte, sie werde unsere Kinder nicht mehr allein zur Schule und zur Arbeit gehen lassen, sie werde sie hinfahren. Wir haben zwei Töchter, längst erwachsen und selbstständig.« Fiedlers Augen waren ungewöhnlich hell, hellblau, unter dichten schwarzen Augenbrauen.

»Nun, es gab also keine Liebesgeschichte zwischen den beiden?«, fragte Emma. Dann lächelte sie entschuldigend: »Sie haben nur eine halbe Stunde Zeit.«

»Na ja, ein paar Minuten mehr oder weniger ... Tja, diese Liebesgeschichte ...«

»Einen Augenblick noch«, unterbrach ich ihn. »Waren Sie je bei Natalie oder bei Sven zu Hause?«

»Bei Sven ja, sogar öfter, weil sein Vater ein großer Sponsor der Schule ist. Bei Natalie nie. Aber das ist wohl schon Teil der Geschichte. Ich unterrichte in der Oberstufe Deutsch, Philosophie und Sozialwissenschaften. Ich mag die jungen Leute und habe einen guten Draht zu ihnen ... Sven und Natalie waren schon etwas Besonderes in ihrer Klasse. Sven wohl auch deshalb, weil sein Vater sehr wohlhabend ist und dem Jungen Dinge ermöglichte, über die ein junger Mensch normalerweise nicht so selbstverständlich verfügt – ein eigenes Auto, Reisen in ferne Länder, die Bekanntschaft mit anderen, reichen Familien, die Selbstverständlichkeit, schon mal im Fernen Osten oder in Rio gewesen zu sein. Das sind oberflächliche Dinge, wobei Sven alles andere als oberflächlich war. Er war sehr sensibel, sehr verletzlich und hatte zum Teil erstaunliche Ansichten, was soziale Dinge betraf. Ich habe nur wenige junge Männer gekannt, die ein dermaßen gutes Einfühlungsvermögen in andere Menschen besitzen ...«

»Sie mochten ihn sehr«, sagte Emma leise.

»Ja«, nickte der Lehrer und schloss einen Moment die Augen. »Und dann Natalie. Die war auch etwas Besonderes. Man kann sie am besten als schöne, selbstsichere Frau beschreiben. Das war sie von Beginn an. Sie war es schon, ehe ich die Klasse übernahm, sie war es schon als junges Mädchen von vierzehn. Dabei war sie weiß Gott nicht dumm, war temperamentvoll, manchmal vorlaut. Das, was an ihr erstaunte und manchmal sogar schockte, war ihr Realitätssinn. Ich erinnere mich an eine Klassenfahrt nach London. Meine Klasse war ein wirklich neugieriger Haufen, lebhaft und ungestüm. Wir waren in Diskos und Tanzpalästen und haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen. Wir haben diskutiert, ob dieses wilde Leben der jungen Londoner etwas beitragen kann zu der Fähigkeit, das Leben allgemein zu meistern.« Er grinste. »Die Eifel ist ja etwas betulicher als London. Bei der Diskussion kamen wortreiche Meldungen, das Übliche. Aber Natalie sagte: ›Es geht nur ums Bumsen! ‹ Ich erwähne das, um ihre Art zu demonstrieren: sehr klar, unmissverständlich und wesentlich abgebrühter als der Rest der Gruppe.« Fiedler starrte auf meinen Teich.

»Kindfrau!«, sagte er dann. »Man könnte vermuten, dass Natalie von ihren Mitschülerinnen gemieden wurde. So viel Erfahrung, so viel Sicherheit. Aber sie war die Queen, gab ihnen Ratschläge für alle Lebenslagen. Das ging so weit, dass sie ihnen genau erklärte, wie weit sie beim Petting gehen durften und wann sie das erste Mal mit ihrem Auserwählten schlafen sollten.« Er lachte kurz auf. »Sie hat mich verblüfft, sie hat mich immer wieder verblüfft.«

»Und Sie mochten auch sie, nicht wahr?«, fragte Rodenstock.

»Unbedingt«, bestätigte er, »unbedingt.« Dann kicherte er. »Sie nicht zu mögen hätte zu viel Energie erfordert.«

»Warum waren Sie bei Svens Eltern zu Gast und nie bei Tina Colin?«, fragte ich.

Er spielte mit der Zunge an den Lippen, seine Finger trommelten auf dem Tisch. »Das hatte mit ihrer Mutter zu tun, aber wohl auch mit ihr selbst. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ich die Eltern meiner Klasse kennen muss. Schließlich führe ich die Kinder durch das Abitur, ich hebe sie also über eine wichtige Lebensschwelle. Mich der Mutter von Tina zu nähern, war jenseits einer vorsichtig gezogenen Grenze nicht möglich. Die Mutter kam zu Klassenfesten, hielt sich aber sonst zurück. Ich muss hinzufügen, dass es eigentlich auch keinen Grund für einen intensiveren Kontakt gab. Die schulischen Leistungen von Natalie waren in Ordnung. Das war bei Sven übrigens genauso. Sie waren beide Führungspersönlichkeiten und daher war es natürlich, dass sie neugierig aufeinander waren.« Er schmunzelte in sich hinein. »Selbstverständlich habe auch ich das Gerücht gehört, dass Natalies Mutter eine Art, na ja, nennen wir es einmal offenes Haus oder einen Klub betreiben würde.« Er grinste. »Darüber redet die Bevölkerung hier seit vielen Jahren und natürlich war ich immer neugierig. Ich habe Natalie mal gefragt, was ihre Mutter beruflich macht. Und wissen Sie, was sie antwortete? ›Meine Mutter privatisiert! ‹, sagte sie. Nähere Erklärungen bekam ich nicht. Wenn Nati fehlte, dann nie, weil sie krank war. Es ist aber vorgekommen, dass die Mutter in der Schule anrief und erklärte: ›Natalie kommt heute nicht, heute Morgen ist es vier Uhr gewordene Ich wusste natürlich von Gesprächen mit Walter Hardbeck, was dort ablief. Weil eben Walter Hardbeck häufig im alten Forsthaus in Bongard war. Er meinte, das Haus schließe eine echte Lücke. Denn die vermögenden Herren misstrauen Hotels und so lag Tina Colin mit ihrer Geschäftsidee vollkommen richtig.«

»Die Geschichte der beiden«, mahnte ich.

»Richtig, ja. Entschuldigung, ich schweife dauernd ab. Also, sie waren neugierig aufeinander. Das fing früh an, da waren sie sechzehn oder so. Sie haben miteinander geschlafen. Das weiß jeder und sie erzählten das auch in aller Unschuld. Aber – und jetzt kommt ein entscheidendes Aber: Ich glaube nicht, dass Sven Hardbeck Natalies große Liebe war. Ich glaube viel eher, dass sie dankbar war, unter seinen Schutz kriechen zu können. Sie war sicher auch dankbar, dass er sich rührend um sie kümmerte, aber die große, glühende Liebe war es nie. Wir müssen die Sache differenzierter betrachten. Ich weiß, Natalie hoffte auf ihren Märchenprinzen, und ich weiß, das war nicht Sven. Ich habe gehört, die beiden seien verlobt, aber ich weiß hundertprozentig, dass von Natalies Seite aus diese Geschichte nicht für die Ewigkeit war. Und im Grunde habe ich das kleine Luder immer in Verdacht gehabt, dass sie hier und da am Wegesrand naschte. Bei Sven war das sehr schwankend. Zuweilen hing er an Natalie wie eine Klette, dann löste er sich wieder eine Zeit lang. Dann fing sie ihn wieder ein.«

»Wie war es zuletzt?«, fragte Emma dazwischen.

»Zuletzt war er ihr sehr verfallen«, überlegte der Lehrer. »Er wollte ins Ausland gehen, wie Ihnen sicher bekannt ist.

Und irgendwie konnte er sich wohl nicht vorstellen, wie das ohne sie funktionieren würde. Ich denke, deshalb hat er sie auch getötet. Meiner Meinung nach hat er begriffen, dass er sie nicht für immer an sich binden konnte. Da hat er ... Tja, da hat er die Notbremse gezogen und ist ausgerastet.« Er sah uns der Reihe nach an. »Das ist meine Überzeugung.«

»Und was ist, wenn er vor ihr starb?«, fragte Rodenstock.

»Das würde nicht viel ändern. Dann hat er sie nicht getötet, aber die Bewertung ihrer Verbindung bleibt die gleiche. Irgendwie war das für Sven aussichtslos.« Er starrte auf seine Schuhe. »Ich bin mir sicher, dass sie zuerst starb. Durch seine Hand. Und dann fuhr Sven gegen die Wand.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss. Ich erwarte eine Gruppe Eltern.« Er reichte nacheinander die Hand und ging zu seinem Auto.

»Das alles hat Hand und Fuß«, murmelte Rodenstock, als wir wieder unter uns waren. »Und da wir schon einmal dabei sind: Was hat denn Natalies Mutter dir nun erzählt?«

Ich berichtete so genau wie möglich, vergaß auch nicht, die beiden alten Bauern zu erwähnen und die Wahrscheinlichkeit, dass Tina Colin ihre Geschichte exklusiv verhökert hatte. Und ich erzählte von Matthias und was er mir von der narzisstischen Abtretung berichtet hatte.

»Wenn ihr mich fragt und wenn ich zusammenfassen darf: Die Liebesgeschichte ist ein wichtiger Punkt. Aber ein mindestens ebenso wichtiger ist das Müllgeschäft. Und darüber würde ich gerne mehr wissen. Ich rufe jetzt Svens Vater an, vorausgesetzt, er ist überhaupt zu sprechen.« Ich konnte es mir nicht verkneifen, hinzuzusetzen: »Und den Besitzer der hohen heiseren Stimme kennen wir noch nicht. Und auch nicht den, der die Möbel in den Wald warf. Und ohne die kommen wir nicht weiter.«

»Vielleicht ist das ein und dieselbe Person«, überlegte Emma. »Ich brauche mal meine Pillen für den Magen, mein Lieber.«

Ich ging ins Haus, um zu telefonieren. Im kühlen, dämmrigen Flur überkam mich das Gefühl, etwas Einfaches übersehen zu haben, aber ich wusste nicht, was.

Im Telefonbuch stand: Hardbeck, Walter, Unternehmer, Ursula, Sven. Im Höfchen 2. Kein Wort von Müll. Wahrscheinlich war seine Firma an anderer Stelle verzeichnet. Unter Hardbeck war eine der heiß begehrten dreistelligen Nummern angegeben.

»Hardbeck GmbH, das Büro«, meldete sich eine Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Siggi Baumeister, ich bin Journalist und rufe aus Brück an. Kann ich bitte Herrn Walter Hardbeck sprechen?«

»Das wird schwer möglich sein«, erklärte sie unpersönlich. »Er redet nicht mit Journalisten. Grundsätzlich nicht.«

»Ich rufe nicht als Journalist an.«

»Was wollen Sie denn von ihm?«

»Ich möchte etwas von ihm wissen.«

»Was denn, wenn ich fragen darf?«

»Ob er der Meinung ist, dass sein Sohn Sven hoffnungslos von Natalie Colin abhängig war. Und was er von dem Gerücht hält, das besagt, dass nicht nur Sven Hardbeck etwas mit Natalie hatte, sondern auch sein Vater. Zudem gibt es ein Gerücht, dass Natalie schwanger war, von Sven wahrscheinlich. Zur Klärung der Gerüchte will ich mit Walter Hardbeck reden.«

Eine Weile war es still. Dann hauchte sie: »Moment, ich versuche es.«

Es kam Musik auf. Freude, schöner Götterfunken, gesungen von einem Chor mit viel Schmalz.

Dann eine Stimme: »Hardbeck hier. Was kann ich für Sie tun?« Erstaunlich sachlich.

»Ich kläre Gerüchte. Mein Name ist Siggi Baumeister, ich bin Journalist. Seit vielen Jahren hier in der Eifel ...«

»Ja, ja, ich habe von Ihnen gehört. Hören Sie, meine Erfahrungen mit den Medien sind schlecht, und das hat nichts mit dem Tod der Kinder zu tun. Ich gebe kein Interview.«

»Ich will kein Interview. Ich veröffentliche von unserer Unterhaltung zunächst einmal gar nichts. Und wenn ich etwas veröffentliche, kriegen Sie vorher den Text auf den Tisch. Im Moment geht es nur darum, den Täter zu fassen.«

»Das sagt ihr doch alle«, murmelte er wegwerfend.

»Mir ist es ernst damit. Vielleicht kann ich mit Ihrer Frau darüber sprechen?«

»Das geht auf keinen Fall. Sie schläft, sie bekommt Beruhigungsmittel.«

»Entschuldigung, das wusste ich nicht. Ich brauche eine halbe Stunde Ihrer Zeit, nicht mehr.«

»Guter Mann, nein, nicht möglich. Hier stehen sich die Fernsehteams die Beine in den Bauch.«

»Dann kommen Sie doch in mein Haus«, schlug ich vor. »In Brück, neben der Kirche. Rodenstock, ein Kriminalist, ist auch anwesend und ...«

»Dann käme ich hier mal raus«, überlegte er plötzlich. »Also gut, ich komme rüber. Aber ich verlange Fairness und kein Wort an Ihre Kollegen.«

»Kein Wort«, versprach ich und unterbrach die Verbindung. Es war wesentlich einfacher gelaufen, als ich befürchtet hatte.

Auf einmal verstand ich, was ich bisher übersehen hatte.

Ich lief in den Garten und rief: »Nehmen wir an, der Polizist hat Recht. Erst fielen die Möbel in den Wald, dann die Fässer, dann Natalies Leiche. Wer kommt auf die Idee, Möbel ausgerechnet dort abzulegen? Und warum?«

»Mach ein Preisausschreiben draus«, rügte Rodenstock sanft. »Lass uns an deiner Weisheit teilnehmen.«

Ich merkte erst jetzt, dass Emma auf der Gartenliege lag, in eine Decke eingewickelt war und schlief.

»Es ist ganz einfach«, erklärte ich leise. »Alle Eifler haben in der Nähe ihres Dorfes ein oder zwei Stellen, wo sie alten Kram abschmeißen, von Grünabfällen über Bauschutt bis hin zu alten Möbeln eben. Jedenfalls war das über Jahrzehnte normal. Bis die wilden Kippen dichtgemacht wurden und man an die Bevölkerung appellierte, alte Möbel zum Sperrmüll zu geben. Warum, um Himmels willen, schmeißt heute noch jemand alte Möbel in den Wald?«

Rodenstock schaute mich an und seine Augen wurden weit. »Weil er es gewohnt ist, weil er überhaupt nicht nachdenkt. Deshalb.«

»Sechs Richtige«, nickte ich. »Und was folgern wir daraus, Schüler Rodenstock? Es ist ganz einfach. Wer immer es war, er schmeißt seine Wohnzimmereinrichtung an der Stelle ab, wo schon sein Vater die alte Wohnzimmereinrichtung versenkt hat. Es ist eine alte Kippe, es ist gar keine neue. Unter dem vielen alten vermodernden Laub werden wir eine fast vergessene Kippe finden, mit allem Scheiß, den man auf Kippen findet.«

»Aber selbst wenn es so ist, es bringt uns nicht weiter.«

»Doch, es bringt uns weiter. Ich gehe jede Wette ein, dass der Müllentsorger ein alter Mann ist, einer, der die Kippe sein Leben lang benutzt hat, einer aus Mannebach. Darauf will ich hinaus.«

»Das heißt, du wirst nach Mannebach fahren.«

»Erraten. Aber erst kommt Hardbeck vorbei, der Vater des toten Jungen.«

»Der kommt? Kannst du zaubern?«

»Er ist froh, mal aus seinem Haus herauszukönnen. Die Fernsehleute haben sein Eigenheim umstellt.«

»Deine Branche ist furchtbar«, murmelte Emma müde und öffnete die Augen nicht, lächelte aber.

Es war wieder schwül, die Hitze staute, von Heyroth her zogen neue Gewittertürme hoch, der Wind frischte in Böen auf und bewegte die Oberfläches des Teiches.

»Da ist Flucht angesagt«, stellte Rodenstock fest. »Komm her, meine Liebe, wir ziehen um ins Wohnzimmer.«

Wenig später rauschte der Regen wie aus Eimern und ging dann in einen ordentlichen Hagelschlag über, so dass die Landschaft vorübergehend winterlich weiß war. Und ebenso rasch, wie es begonnen hatte, verzog sich das nasse Wetter wieder.

Ich stand am Fenster meines Arbeitszimmers und guckte hinunter auf meinen Teich, dessen Wasser nach solchen Duschen immer klar und durchsichtig ist. So konnte ich die Sache mit Thusnelda beobachten.

Thusnelda war eine Goldbrasse, die mir ein eifriger Zierfischverkäufer mit Hilfe von ungeheuren Wortblasen angedreht hatte. Thusnelda zeichnete sich im Chor meiner Teichbewohner dadurch aus, dass sie immer ein wenig später schaltete als alle anderen. Gab es was zu fressen, kam sie stets zu spät, gab es mittels einer Fontäne frischen Sauerstoff, war Thusnelda die Letzte, die das entdeckte. Wenn eine frische Algenwolke in der Sommerwärme aufstieg und an der Oberfläche schwamm, war Thusnelda der Fisch, der das erst merkte, wenn die anderen schon satt waren. Thusnelda war der typische Verlierer, wobei ich gar nicht wusste, ob sie ein Männchen oder ein Weibchen war. Zumindest war sie trotz allem Stück um Stück gewachsen und verfügte nun über einen goldschimmernden 25-Zentimeter-Leib. Und sie hatte von den Koikarpfen gelernt, sich im Flachwasser in den Schlamm zu legen und möglichst unsichtbar unter blühenden Algen zu ruhen, das heißt: träge zu dösen. Thusnelda war eine große Schläferin vor dem Herrn.

Auch jetzt, im klaren Wasser, sah ich sie goldschimmernd zwischen zwei Wassersalatköpfen unter den Schwimmwurzeln ruhen und selig pennen. Sie musste schlafen, denn Satchmo, mein Kater, hockte etwa zehn Zentimeter entfernt zwischen zwei blauen Iris und betrachtete Thusnelda liebevoll, ohne einen einzigen Muskel zu rühren. Das Wasser über Thusnelda war bestenfalls einen Zentimeter hoch.

Mit einer hysterischen Bewegung riss ich drei Aktenordner von der Fensterbank, dann das Fenster auf und brüllte: »Satchmo! Du Sauhund!«

Satchmo bewegte sich kaum, drehte seinen schönen Kopf unendlich langsam. Er wusste aus Erfahrung: Wenn Herrchen aus dem ersten Stock brüllt, kann er mich. Er blinzelte nicht mal, als er mich so betrachtete. Dann brachte er seinen Kopf in die Ausgangsposition zurück und reckte ihn sanft nach vorn, so dass er eine bösartig lauernde Form einnahm.

Ich schrie noch einmal, wusste aber genau, dass alles zu spät war. Cisco kam um die Hausecke geschossen, um zu sehen, was los war. Aber der Hund griff natürlich nicht ein, weil er genau wusste, wenn er Satchmo jetzt störte, bekam er einen auf die Zwölf und musste drei Tage leiden.

Satchmo stellte sich auf die Hinterbeine und schlug mit beiden Vorderpranken zu. Thusnelda flog glitzernd durch die Luft und landete fünfzig Zentimeter vom Teich entfernt im saftigen Gras. Satchmo war gründlich und schnell, sprang hinterher und warf den Fisch einen Meter weiter. Schließlich stand der Kater mit beiden Vorderpfoten auf der armen Thusnelda und drehte seinen Kopf noch einmal unendlich gelangweilt in meine Richtung. Dann biss er zu.

Als ich ein paar Minuten später zur Beerdigung schritt, war von Thusnelda wenig geblieben. Und das Wenige sah aus wie ein arm gewordener Hering. Ich warf diesen Rest zurück in den Teich. Irgendwo im hohen Gras hockte Satchmo und beobachtete mich. Wahrscheinlich dachte er so etwas Ähnliches wie: Armer Irrer!

Eine Viertelstunde später lenkte Hardbeck seinen Wagen auf den Hof. Er fuhr einen Mercedes-Kompressor, ein Auto, das hundertprozentig zu ihm passte – oder umgekehrt. Er trug schwarze Jeans, ein schwarzes Hemd, schwarze Slipper, er war ein eleganter, schlanker Mann.

Als ich ihm die Türe öffnete, sagte er: »Hallo!« und wischte wieselflink an mir vorbei. »Irgendwelche Leute haben mich wahrscheinlich verfolgt.«

»Kommen Sie herein«, wollte ich sagen, aber er war ja schon drin.

Rodenstock stellte Emma und sich vor und deutete auf eine Flasche Wehlener Wein. »Ein guter Weißer. Wollen Sie?«

»Ja.« Er setzte sich.

Rodenstock goss ein: »Danke, dass Sie gekommen sind. Wir haben ein paar Fragen, weil wir an dem Fall ... Nun, wir arbeiten dran. Nicht zusammen mit der Mordkommission, sondern gewissermaßen privat. Da gibt es Gerüchte, wie Sie wissen. Hatten Sie je ein Verhältnis mit Nati?«

Hardbecks scharf geschnittenes Gesicht unter dem aschblonden Haarschopf war zwar sonnengebräunt, zeigte aber teigige Haut, die Erschöpfung und Schlaflosigkeit verriet. Seine Hände zitterten leicht. Er war ein Mann, der aus seinem Rhythmus geworfen worden war und der mit dem Tod seines einzigen Kindes überfordert schien. Unverhofft hielt er eine Packung Zigaretten in der Hand und erklärte düster:

»Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr geraucht. Jetzt bilde ich mir ein, es würde mir gut tun.« Seine Hände zitterten so, dass er die Flamme des Einwegfeuerzeuges nicht ruhig an die Spitze der Zigarette halten konnte.

Aggressiv fragte er: »Wollen wir uns wirklich mit so einem Scheiß wie Gerüchten beschäftigen?«

»Aus unserer Sicht müssen wir«, sagte Emma höflich. »Wir können uns nicht erlauben, an Gerüchten vorbeizurecherchieren. Denn manchmal, das weiß doch jeder, ist an Gerüchten auch etwas Wahres.«

»Ach, ist auch egal«, sagte er nach einigen Sekunden des Nachdenkens. »Tja, das mit den Gerüchten ist so eine Sache. Gerüchte gehören zum öffentlichen Leben und die meisten dieser Gerüchte sind zur Hälfte oder zu einem Viertel wahr. Manche Gerüchte, vor allem die, die aus Neid geboren werden, haben nicht einmal einen Kern Wahrheit.« Er strich sich mit der Hand durch das Gesicht. »Nein, ich hatte niemals etwas mit Nati. So etwas ist für mich undenkbar. Ich bin kein Moralbolzen, ich gucke gern schöne Frauen an. Ich freue mich ... ich freue mich an ihrem Anblick. Natalie war für mich immer eine Freundin von Sven. Wir verstanden uns gut, sehr gut sogar.« Hardbeck lächelte. »Wir haben den wildesten Tango in der Vulkaneifel getanzt. Das war so eine Ulknummer, wenn wir gut drauf waren ... O Gott.« Unvermittelt liefen ihm Tränen über die Wangen. »Das ist so eine furchtbare Scheiße.« Fahrig griff er nach dem Weinglas und trank es aus. Er verschluckte sich und begann zu husten. »Scheiße!«, wiederholte er.

»Ich habe auch einen Kognak«, bot ich an.

»Nein, nein, danke, das geht schon. Aber vielleicht haben Sie ein Papiertaschentuch?«

Emma wühlte unter einem Kissen und reichte ihm eine Packung über den Tisch. »Lassen Sie sich Zeit.«

Hardbeck wischte sich über die Augen und drückte dann die Zigarette in den Aschenbecher. »Vielleicht ist es das Beste, Sie stellen einfach Ihre Fragen. Das geht schneller.«

»Wir haben keine Eile«, meinte Rodenstock. »Möchten Sie einen Happen essen?«

»Vielleicht ein Stück Brot? Ich weiß gar nicht, ob ich heute überhaupt schon etwas gegessen habe.«

Mein Hund Cisco stürmte ins Zimmer und bellte fröhlich. Er ging uns gewaltig auf die Nerven und gab erst Ruhe, als er auf meinen Schoß springen und sich dort einrollen durfte.

Emma fuhrwerkte in der Küche herum, Teller schepperten, Besteck klirrte, Rodenstock zündete sich eine seiner gewaltigen Zigarren an, ich stopfte mir eine Pfeife.

Ich sagte: »Das Haus von Tina Colin erscheint uns rätselhaft. Was lief dort eigentlich wirklich ab?«

»Wir nennen es das Clubhaus. Ich bin der Gründer, wenn man so will, oder der Erfinder. Ich hatte Tina Colin kennen gelernt und schätzte sie auf Anhieb. Nicht als Frau, sondern mehr als Kumpel. Sie ist der Typ Mensch, der streng auf seinen Vorteil bedacht ist, aber auch bereit ist, dafür zu arbeiten. Wirtschaftlich ging es ihr dreckig. Sie saß in Bongard im alten Forsthaus, der Mann war abgehauen, sie hatte die Tochter und wusste nicht weiter. Da schlug ich ihr vor: Du kannst unser Clubhaus werden, wir brauchen so etwas.«

»Wer ist ›wir‹?«, fragte Rodenstock.

»Wir? Nun, ›wir‹ sind Unternehmer, mittelständische Unternehmer. Früher haben wir uns in unseren Jagdhütten getroffen und dort über Geschäfte geredet. Aber irgendwann hatten wir es satt, immer in feuchten Klamotten in feuchten Hütten herumzusitzen und Spaghetti aus Dosen reinzuschaufeln. In Hotels mochten wir nicht gehen, weil da zu viel Betrieb ist und einem ständig auf die Finger gesehen wird. Kneipen waren auch nicht das Richtige. Da kam Tina gerade recht. Das Haus liegt abseits, kein Mensch kommt dort vorbei, bestenfalls zwei-, dreimal im Jahr Wanderer.«

»Inzwischen ist das eine richtige Luxusherberge«, murmelte ich.

Emma kam mit einem Tablett voll belegter Brote herein und stellte sie vor Hardbeck hin. »Ich hoffe nicht, dass mir viel entgangen ist.«

»Nein«, sagte Rodenstock. »Danke, Liebes. Baumeister hat erzählt, da liegt ein Seiden-Isfahan für achtzigtausend Mark im Wohnzimmer.«

»Ja, das stimmt. Wir wollten es gemütlich haben, wir kauften das alles und haben es Tina geliehen.«

»Geliehen?«, fragte Emma erstaunt.

»Geliehen!«, bestätigte er und lächelte. »Ja, ich weiß, Tina versucht immer den Eindruck zu erwecken, sie habe das alles gekauft. Hat sie auch, aber mit unserem Geld.«

»War das schwarzes Geld?«, fragte Rodenstock nebenbei.

Hardbeck überlegte: »Ich hasse solche Fragen. Wissen Sie, warum? Weil so viel Schwarzgeld auf dem Markt ist, dass die Frage lächerlich ist. Es gibt Bargeldbranchen wie die Vergnügungsszene, Antiquitäten, gebrauchte Autos, sogar Obst und Gemüse im Großmarkt. Waffen, Drogen, Prostitution. Ich kann Ihnen nun wirklich nicht sagen, was genau in Tinas Haus mit Schwarzgeld und was mit blütenreinem Zaster bezahlt wurde. Von mir weiß ich: kein schwarzes Geld. Aber bei denen, von denen ich dieses Geld bekommen habe, weiß ich doch schon wieder nicht, woher das Geld stammt. Die anderen Herren müssen Sie selbst fragen.«

»Wer nahm denn nun an diesen Geschäftsgesprächen im alten Forsthaus in Bongard teil?«, wollte Emma wissen.

»Es gab einen harten Kern und es gab die, die von Zeit zu Zeit dazukamen.«

»Warum gebrauchen Sie die Vergangenheitsform?«, fragte ich.

»Weil das alles Vergangenheit ist. Mit diesen ... Todesfällen ist das vorbei.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Machen wir uns nichts vor, wir werden durch den Dreck gezogen werden ... in allen Medien. Ich gehe jede Wette ein, dass wir spätestens in drei Tagen die mieseste Presse haben, die man sich vorstellen kann.« Er trank einen Schluck Wein und verschüttete etwas. »Stellen Sie sich das vor – die Schlagzeile der BILD: ›Kriminelle Vereinigung von Kaufleuten in einem einsamen Forsthaus in der Eifeh. Das ist filmreif und genauso wird es kommen.«

Wir sagten nichts dazu, weil er Recht hatte.

»Trotzdem weiter«, meinte Emma energisch. »Ich möchte noch etwas über diese Gesprächsrunden wissen. Was wurde da besprochen?«

»Also, man muss sich das so vorstellen, dass wir alle Unternehmer und Kaufleute sind, die wenig Zeit und Möglichkeiten haben, sich über Probleme auszutauschen. Wir sind ständig mit irgendwelchen Geschäften befasst. In Tinas Haus war es möglich, nicht nur über Geschäfte zu sprechen, sondern auch über alles andere. Familie, Streitigkeiten, gerichtliche Dinge, Steuern. Es war wirklich wie ein Club und wir genossen die lockere Atmosphäre. Wir mussten uns nicht sorgen, dass etwas nach außen drang, weil es kein Personal gab, und Störungen gab es auch nicht.«

»Ich hätte gern ein konkretes Beispiel für ein Geschäft, das dort zustande gekommen ist.« Rodenstock spielte mit seinem Weinglas, drehte es hin und her.

»Gut«, nickte Hardbeck und dachte einen Moment nach. »Da hat jemand eine Beteiligung an einem Kölner Taxiunternehmen. Vierzig Taxis. Das kann er ausweiten auf die doppelte Wagenzahl durch Übernahme einer konkurrierenden Firma. Er will das Geschäft aber nicht allein machen, er will einen Partner. Also fragt er: ›Wer steigt ein? Ich muss meine Kapitaldecke erhöhen, ich will eine halbe Million. ‹ Ich überlege mir das und sage ja. Im Grunde geht es einfach oft um irgendwelche Beteiligungen.«

Plötzlich wirkte Hardbeck verunsichert, sah uns an und wurde blass. »Denken Sie, dass das alles etwas mit dem Tod ... Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Was soll das damit zu tun haben?«

»Das wissen wir nicht«, entgegnete Emma. »Aber man kann nichts ausschließen, nicht wahr? Schließlich ist es doch wohl ständig um Riesengeschäfte gegangen. Mit Müll. Das ist doch Ihre Spezialität, oder? Ich bin Polizistin. Nach meiner Erfahrung ist vorstellbar, dass Leute etwas über irgendwelche Geschäfte erfahren haben, die nie etwas davon hätten erfahren dürfen. Zum Beispiel die beiden Damen Colin. Was ist mit Erpressung? Ist es nicht möglich, dass jemand aus dem harten Kern dieser Männerrunde erpresst wurde? Dass er sich wehren musste, dass er keinen Ausweg mehr sah?« Sie sprach sanft, aber sie sprach auch unmissverständlich. Ihre Bemerkungen wirkten wie Peitschenhiebe.

Etwas hatte Hardbeck in helle Aufregung versetzt. Er starrte auf den Tisch und Furcht war in seinen Augen. »Erpressung!«, sagte er tonlos, als habe er soeben etwas begriffen, Zusammenhänge erkannt. Er wiederholte betroffen: »Erpressung. Wie soll das zusammenhängen? Einer von uns wird erpresst. Und dann geht der Erpresste hin und ...«

»Tötet Natalie«, ergänzte Rodenstock sachlich. Er räusperte sich theatralisch. Ich wusste genau, was das hieß. Er wollte das Thema wechseln, wollte die Unsicherheit, die Emma gesät hatte, langsam wachsen lassen. Er wollte das Misstrauen in Hardbeck schüren und gleichzeitig sollte Hardbeck glauben, das Thema sei vom Tisch.

Also gab Rodenstock dem Gespräch eine neue Wendung: »Dieses alte Forsthaus hat bei den Leuten hier als Fixpunkt von Gerüchten eine gewaltige Rolle gespielt. Natalie hat die Gesellschaft bedient, hat der Männerrunde das Leben angenehm gemacht.« Er machte eine kurze Pause. »Wie angenehm, Herr Hardbeck? Ich will Ihnen gerne glauben, dass nichts ... nun, nichts Anstößiges zwischen Ihnen und Natalie vorgefallen ist, aber können wir sicher sein, dass das auch für die anderen Herren gilt? Sie war sehr schön, die Natalie, sie war sicher aufreizend, sie war jung, war fröhlich, nicht wahr?«

Hardbeck nickte betulich und sagte langsam: »Ja, ja.«

Rodenstock fuhr erbarmungslos fort: »Ein weiteres Gerücht besagt, dass Ihr Sohn Sven von Natalie regelrecht abhängig war, dass er fürchtete, sie zu verlieren, dass er sie deshalb tötete und dann nicht mehr die Kraft hatte, weiterzuleben.« Jetzt hatte Rodenstock es geschafft, das Thema so komplett zu wechseln, dass das schlimme Wort Erpressung vom Tisch war und das nächste heikle Thema in aller Breite auf der sauberen Tischplatte lag.

Hardbeck schluckte. »Du lieber Gott, Sven kann sich gar nicht mehr verteidigen. Und wir wissen doch nicht einmal, ob Sven und Natalie sich an dem Tag überhaupt gesehen haben. Warum hätte er sie töten sollen?«

»Das ist doch bis jetzt nur ein Gerücht«, erklärte Rodenstock. »Wie alles andere auch. Wir wissen ja nicht einmal, warum Natalie ausgerechnet auf diesem Müllhaufen lag. Wieso in Mannebach, wieso an diesem Waldrand? Das ist alles sehr beziehungslos.«

»Na ja, das finde ich ja nun nicht«, erwiderte Hardbeck in die Stille und seltsamerweise wirkte er plötzlich arrogant. »Das Gebiet in Mannebach ist meine Jagd. Seit zwanzig Jahren.«

»Das alles wird immer verrückter«, murmelte Emma.

»Das heißt also ... Nein, ich korrigiere mich.« Ich versuchte eine neue Formulierung. »Der Weg, der an dem Waldweg entlangführt, der ...«

»Der Weg läuft unten im Tal direkt auf meine Jagdhütte zu. Die Hütte ist nur fünfhundert Meter weit weg.«

»Kannten sich alle dort aus, die mit Ihnen zu tun haben?«, fragte Emma.

»Alle«, nickte Hardbeck. »Die Hütte wurde aber nur noch selten genutzt. Vor Jahren war da immer der Bär los. Die beiden Kinder waren noch öfter dort. Na ja, sie waren ein Liebespaar, sie nutzten die Einsamkeit. Jeder wusste das, warum auch nicht. Manchmal nahmen sie auch Huhu mit.«

»Bevor wir auf diesen Huhu kommen, habe ich noch eine andere Frage: Tina Colin hat mir gegenüber so getan, als würde sie den Ort Mannebach nicht kennen. Und ihre Tochter, Natalie, habe ihn auch nicht gekannt. Ist das nicht mehr als merkwürdig?«

Er wirkte erstaunt, das war nicht gespielt. »Verstehe ich nicht. Tina war eine Zeit lang ziemlich häufig in meiner Jagdhütte, Natalie dauernd. Wieso streitet sie das ab?«

»Keine Ahnung. Und nun: Wer, bitte, ist Huhu?«

»Wie soll ich das erklären? Mein Haus liegt an einer stillen Stichstraße. Ich habe das ganze Gelände gekauft, beiderseits der Straße. Dazu gehört ein alter, kleiner Bauernhof. Adele heißt die Bäuerin, der Mann ist längst tot. Von ihr habe ich den Hof samt Grund und Boden erworben. Wir haben einen Vertrag. Adele darf lebenslang auf dem Hof wohnen und wir sorgen nach ihrem Tod für Huhu. Ihr Sohn, das ist Huhu. Er ist geistig zurückgeblieben, immer wenn er etwas für ihn Erstaunliches hört, sagt er: ›Huhuhuhu!‹ Deshalb wird er Huhu genannt. Er ist genauso alt wie Sven. Die beiden waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele. Sie lieben sich wie Brüder. Huhu ist oft bei mir im Haus. Er wäscht unsere Autos, kehrt den Hof, putzt die Fenster, er macht einfach alles und er macht es gern. Huhu gehört zu uns, er ist wie ein Familienmitglied. Im Moment hockt Huhu Tag und Nacht in der alten Scheune. Seit er von Svens Tod erfahren hat, hockt er dort und weint. Dabei müsste er eigentlich zum Arzt, er hat sich irgendwie die rechte Hand verletzt. Aber er lässt keinen an sich ran.« Hardbeck presste die Lippen aufeinander.

Wir schwiegen eine Weile, bis Emma fragte: »Warum ist es für Sie so unwahrscheinlich, dass Sven Natalie getötet hat?«

Hardbeck sah Emma eindringlich an. »Wenn mein Sven sie getötet hat, dann muss es irgendwie ... unter Zwang passiert sein, nicht wahr? Es gibt Leute, die behaupten, mein Sohn sei von ihr abhängig gewesen und Natalie habe sich von Sven lösen wollen. Das stimmt aber nicht! Machen wir uns nichts vor: Mein Sven war wirtschaftlich gesehen die beste Partie, die ein Mädchen in der Eifel machen kann. Und Mutter Tina hat verdammt darauf geachtet, dass Natalie niemals etwas tat, was Sven nicht gefallen hätte. Tina ist ein prima Kumpel, aber auch eine harter Rechnerin. Ihr Traumschwiegersohn hieß immer Sven. Natalie wusste das und hatte das verinnerlicht. Wäre ich jetzt gemein, würde ich behaupten: Tina und Natalie Colin waren einfach nur geldgierig. Sie lebten für diese Gier.«

»War es denn ernst mit einer eventuellen Heirat?«, fragte ich.

Hardbeck schüttelte den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde lächelte er spöttisch. »Nie. Sven mochte Nati, er mochte sie garantiert sehr. Aber das Letzte, was er in dieser Sache zu mir sagte, war: ›Papa, lass dich nicht von Tina nageln. Ich heirate Nati nicht, nicht in diesem Leben. ‹ Er sagte, Nati sei als Ehefrau nicht gut genug.«

»Kann das nicht eine Laune gewesen sein?«, fragte Emma. »Junge Menschen sind auf diesem Sektor zuweilen sehr labil. Die Formulierung, Nati sei nicht gut genug als Ehefrau – ist das nicht ziemlich arrogant?«

Er schüttelte bedachtsam den Kopf. »Nein, so ist das nicht zu verstehen. Sven ist in früheren Jahren mit Nati oft durch die Hölle gegangen. Er ist... er war sehr sensibel. Nati führte in dem Forsthaus ein Leben, das ihn misstrauisch machte. Und Sven war romantisch, er glaubte tatsächlich an Gefühle. Nati war oft viel zu cool und redete übers Ficken wie meine Frau über ein Frühstück. Entschuldigung, aber so war es.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, entgegnete Emma. »Was wollten Sie? Wollten Sie Natalie als Schwiegertochter?«

»Nie!«, antwortete er fest. »Die Beziehung der beiden war eine Jugendfreundschaft, von mir aus eine Jugendliebe. Aber als Schwiegertochter hätte ich mir Nati nie gewünscht. Ich hätte sie letztlich akzeptiert, aber ich war heilfroh, als Sven ganz von sich aus sagte, sie sei eine gute Freundin, aber als Ehefrau nicht geeignet.«

»Was meinte er damit?«, fragte Rodenstock.

»Sie war zu attraktiv und Svens Gefühl reichte nicht aus, sie zu heiraten. Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war. Man muss doch auch sehen, was Sven bei uns, bei seinen Eltern erlebte. Wir sind ein Ehepaar, das sich blind aufeinander verlassen kann. Es gibt Krach, selbstverständlich, aber normalerweise behandeln wir einander mit großem Respekt. Und ich weiß definitiv, dass Sven auch andere Mädchen hatte. Außerdem, um das klarzustellen: Tina Colins Haus war ein Clubhaus, für uns Unternehmer gut, bequem und verschwiegen. Aber falls Sie glauben, dass mein Sohn Sven mit Natalie dort so gut wie zu Hause war, irren Sie. Er wurde rausgehalten. Er holte Nati ab, aber eben nur das. Soweit ich weiß, hat er in seinem Leben nie dort geschlafen, nicht ein einziges Mal.«

»Das glaube ich, da wären ihm sämtliche Illusionen den Bach runtergegangen.« Emma sah Hardbeck amüsiert an. »Wie reagierte Natalie auf die anderen Mädchen von Sven?«

»Komisch!«, stellte er harsch fest. »Ihre Reaktion war nicht die eines verliebten jungen Menschen. Sie nahm es hin und war ganz die kleine Brave, Liebende. In dieser Sache war Natalie ferngesteuert von ihrer Mutter. Allein Tina gab Anweisungen und Verhaltensmaßregeln, von Natalie selbst kam wenig. Kinder, ich habe das selbst erlebt, ich war dabei. Tina ging mit Natalie um wie eine Dompteuse.« Er fuchtelte mit beiden Händen, warb um unser Wohlwollen.

»Hatte Ihr Sohn, nein, haben Sie eine Waffe vom Kaliber 7.65? Eine Walther PPK?«, erkundigte ich mich.

»Ja, das wollte auch schon die Mordkommission wissen. Die liegt aber weggeschlossen und unbenutzt in meinem Waffenschrank. Der ist mit vier Schlössern gesichert, außer mir hat niemand Zutritt. Ich habe die Waffe natürlich Herrn Kischkewitz gegeben, damit die Kriminaltechniker prüfen können, ob aus ihr gefeuert wurde. Und da kommt noch so ein merkwürdiges Ding daher. Das ist auch so unglaublich: Dass man meinem Sven zutraut, Natalie erschossen zu haben. Sven würde niemals schießen, er hasst Feuerwaffen. Was glauben Sie, warum er Zivildienst machen wollte?«

»Was ist, wenn Ihr Sohn einfach ausgeflippt ist?«, fragte Emma rasch.

»Das hätte ich als Vater todsicher vorher gemerkt!«

»Das muss nicht sein«, murmelte Rodenstock. »Es ist zum Beispiel möglich, dass Natalie ihm etwas Brutales oder Entsetzliches erzählt hat. Und dass er anschließend ausflippte. Innerhalb von Sekunden.«

»Ja ja, so etwas gibt es, aber Sven und Natalie haben sich doch an dem Tag ... an dem Tag ihres Todes überhaupt nicht gesehen. Das gilt garantiert bis zum späten Abend. Ich habe den Tag rekonstruiert und ich bin es leid, das dauernd wiederzukäuen. Ich sage es Ihnen trotzdem: Sven stand morgens ziemlich früh auf. Gegen sieben Uhr. Wir frühstückten zusammen, meine Frau, er und ich. Dann fuhr er nach Mayen, anschließend nach Daun. Er besorgte dort etwas für meine Frau. Anschließend fuhr er für mich nach Trier. Ein Jagdfreund von mir wird in den nächsten Tagen siebzig. Dem habe ich eine Springfield gekauft, das ist ein Gewehr. Am Kolben musste noch etwas geändert werden. Sven rief mich aus Trier an und sagte, er müsse warten, er ginge so lange ins Kino. Dann holte er das Gewehr ab und kam nach Hause. Er war gegen 19 Uhr wieder bei uns. Wir aßen zu Abend, gingen in den Keller und ich schoss die Waffe ein. Darüber wurde es neun Uhr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Sven Natalie an diesem Tag nicht gesehen, dafür garantiere ich. Er sagte dann, er führe möglicherweise noch zu Tina nach Daun. Das ist eine andere Tina, sie ist die Wirtin einer beliebten Kneipe. Ob er tatsächlich dorthin gefahren ist, weiß ich allerdings nicht. Meine Frau und ich wurden erst wach, als die beiden Polizeibeamten schellten und uns mitteilten, was passiert ist. Verdammt noch mal, wenn man sich Natis Tagesablauf anguckt, muss doch deutlich werden, dass die beiden sich an diesem Tag nicht getroffen haben können!«

»Das ist merkwürdig«, gab ich zu. »Tina Colin hat keine Ahnung, was Natalie an dem Tag getrieben hat. Sie hat das Haus um elf Uhr morgens verlassen. Tina Colin sagt, Sven und Natalie wollten Schuhe kaufen. Bis zu ihrem Auffinden in Mannebach ist Natalies Verbleib einfach rätselhaft. Aber vielleicht hat die Mordkommission ja inzwischen was herausgefunden. Eine andere Frage, Herr Hardbeck. Wissen Sie, wie die Müllkippe in Mannebach ausgesehen hat? Nein? Außer der Toten lagen da noch alte Möbel und zwölf Fässer herum.«

»Die Kripo hat das erwähnt. Die haben überhaupt ein Riesenbuhei um den ganzen Müll gemacht. Ich verstehe das nicht. An der Stelle war vor rund zwölf Jahren eine widerliche Müllkippe, das ganze Dorf schmiss da von Bauschutt bis zum alten Fernseher alles hin. Es stank dort wie auf einem öffentlichen Lokus. Dann kamen neue Verordnungen von der Kreisverwaltung. Ich selbst habe den LKW spendiert, der den ganzen Scheiß nach Walsdorf zur Deponie gefahren hat. Das war ein Schandfleck in meiner Jagd, ich war froh, als das aufhörte. Das Wohnzimmer hat bestimmt der alte Warzenbeter Gottfried da hingeschmissen. Das vermute ich deshalb, weil er neulich gedroht hat, er werde die Müllkippe wieder einrichten. Er habe kein Geld, um das Zeug mit dem Trecker nach Walsdorf zu schaffen und auch noch dafür zu bezahlen, dass sie es ihm abnehmen.«

»Warzenbeter?«, fragte Emma erheitert.

»Warzenbeter!« Hardbeck lächelte kurz. »Er betet Leute gesund und Warzen weg. Verrückte Eifel! Es gibt eine Menge Leute, die behaupten, dass es funktioniert. Er ist ein verrückter alter Mann. Und sein Sohn ist noch eine Stufe verrückter.«

Ich hob die Hand und meldete mich wie ein Volksschüler. »Ist dieser Sohn mit einer Stimme gesegnet, die hoch und heiser ist?«

»Richtig«, nickte er. »Der Sohn heißt Martin. Er ist Lehrer, hat also studiert, aber nie als Lehrer gearbeitet. Er behauptet von sich, er sei Kommunist. Er lebt auf dem kleinen Hof des Vaters, bekommt absolut nichts auf die Reihe und verkündet, erst werde der Sozialismus wiederkommen und anschließend der echte Kommunismus wie zu Zeiten des Herrn Jesus. Ein durchgeknallter Typ. Hat der etwa auch damit zu tun?«

»Wahrscheinlich nicht«, meinte Rodenstock. Er räusperte sich wieder, was bedeutete, er würde mit allem Nachdruck auf ein ekliges Thema zurückgreifen. »Noch mal zum Clubhaus, Herr Hardbeck. Sie halten es ja wohl inzwischen auch für denkbar, dass jemand erpresst worden ist. Wer? Welcher Ihrer Freunde kommt als Opfer infrage?«

»Lieber Himmel, das können Sie nun wirklich nicht von mir verlangen. Das geht zu weit!«

Seltsamerweise sagte Emma: »Einverstanden. Aber Sie sichern uns zu, dass Sie selbst nicht erpresst worden sind?«

»Die Garantie gebe ich!«, nickte er.

»Eine andere Frage.« Emma nahm eine Wolldecke und breitete sie über ihre Knie. »Ich stelle mir die Runde in Tina Colins Wohnzimmer vor. Da werden nicht nur Geschäfte gemacht, sondern auch Witze erzählt, Anekdoten, Geschichten aus dem wahren Leben. Es wird gegessen und getrunken, und zuweilen herrscht große Fröhlichkeit. Die Damen Colin huschen durch das Gemäuer und bedienen. Wie war denn Natalie bei diesen Anlässen angezogen?«

Hardbeck hielt den Kopf gesenkt und rieb sich wieder die Hände.

»Peinliche Frage, nicht wahr?«, fragte Rodenstock mit sanftem Spott.

»Peinlich«, bestätigte Hardbeck und hob den Kopf nicht. »Sie trug stets Miniröcke und immer Oberteile, die eine Menge Bauch freiließen und eine Menge Busen. Dazu hochhackige Schuhe.«

»Sexy?«, fragte ich.

»Ja, sexy. Wenn sie sich über den Tisch beugte, sah das immer so aus, als böte sie sich an. Es war ... es war schon nuttenhaft.«

»Und das ist auch der letzte Grund, weshalb Sie sie unter keinen Umständen als Schwiegertochter akzeptiert hätten«, sagte ich.

»Ja.«

»Haben Sie je erlebt, dass sie mit einem der Gäste irgendwohin verschwand?«

»Nein, nie.« Er fuhr sich mit seinen zittrigen Händen über das Haar. »Sicher, sie machte uns an. Auf der anderen Seite war ich der Wunsch-Schwiegervater«, sagte er hohl. »Verdammt, es war eine ewige Schiefläge.«

»Ich vermute etwas.« Emma sah ihn lächelnd an. »Und zwar, dass Sie – wenn die Wellen des Vergnügens ganz hochschlugen – die Runde verließen und nach Hause fuhren.«

»Das stimmt«, sagte er verblüfft.

»Ist Ihnen denn nie erzählt worden, was danach im Forsthaus passierte?«, fragte Rodenstock. »Es muss doch grinsende, männliche Bemerkungen gegeben haben.«

Hardbeck sagte eine Weile nichts, stöhnte nur: »Scheiße!«, und dann: »Warum tue ich mir das an?«

»Herr Hardbeck«, sagte ich, »war das so?«

»Es gab manchmal Bemerkungen«, gestand er ein.

»Und Sie haben weggehört«, murmelte Emma. »Das ist zu verstehen. Sie sagten, dass Sie nie erlebt haben, dass Natalie mit einem der Gäste für eine Weile verschwand. Die Frage war falsch gestellt, denke ich. Die Frage muss lauten: Kam es vor, dass alle Männer aufbrachen, aber einer aus der Runde blieb noch?«

»Um Gottes willen, was soll ich darauf antworten? Na, gut. Ich könnte mir vorstellen, dass das vorgekommen ist.«

»Oft?«, fragte Rodenstock. Das klang wie ein Pistolenschuss.

Hardbeck wollte nicht, aber ein Entkommen war nicht möglich.

»Wir werden das alles ohnehin herausfinden«, murmelte ich.

»Oft!«, sagte er endlich.

»Und wer blieb zurück?«, fragte Emma unerbittlich.

»Das weiß ich nicht.« Sein Kopf ruckte nach vorn. »Bis hierher und nicht weiter. Das können Sie nicht verlangen.«

»Wir verlangen gar nichts«, erklärte Rodenstock ruhig. »Ich nehme an, Sie haben der Mordkommission alle Namen von der Runde in Tinas Colins Haus gegeben?«

»Habe ich.«

»Würden Sie uns die Namen auch geben?«, fragte ich.

»Das ist ja kein Geheimnis«, stimmte er zu.

»Wenn es eine Erpressung gab«, sagte Emma tief in Gedanken, »was schätzen Sie, um wie viel Geld konnte es dabei gehen?«

»Wenn es um Erpressung geht, geht es immer um die Existenz. Das ist eine Binsenweisheit.«

Ein Handy fiepste. Hardbeck griff in seine Tasche und zog es hervor. »Ja, bitte?« Er hörte zu, bis er uns mitteilte: »Tut mir Leid, ich muss heim. Meiner Frau geht es nicht gut, sie haben den Arzt rufen müssen.«

»Schreiben Sie uns doch bitte noch die Namen des harten Kerns Ihrer Runde auf«, bat ich und legte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber vor ihn hin.

»Klar doch«, nickte er.

Drei Minuten später hatte er vier Namen auf das Papier geschrieben:

Herbert dessen, Bad Münstereifel, Im- und Export Hans Becker, Maria Laach, Kaufmann und Unternehmer Andre Kleimann, Euskirchen, Unternehmer und Finanzier Dr. Lothar Grimm, Koblenz, Industriebeteiligungen Hardbeck stand schon in der Haustür, als Rodenstock ihm nachrief: »Und diese Männerrunde macht in Müll? Alle?«

»Ja«, antwortete Hardbeck. »Alle. Sie haben Firmen oder Beteiligungen.«

»Sie entsorgen hier in der Gegend den Müll?«

»Nicht hier«, erklärte er. »Woanders. Müll gibt es überall. Auf Wiedersehen.«

Ich wartete im Hof, bis Hardbeck seinen Wagen gestartet hatte. Dann ging ich zurück.

»Eine wahrscheinlich edle Runde. Kennt ihr einen der Namen?«, fragte ich.

»Ich habe wenig Bekanntschaften im Reich des Geldes«, sagte Rodenstock düster. »Das werden harte Burschen sein. Wie geht es dir, meine Liebe?«

»Nicht so gut. Immer wenn Ruhe herrscht, kommen diese blöden Schmerzen. Ich glaube, ich nehme eine Tablette. Es ist spät geworden, ich bin sehr müde.« Sie lächelte Rodenstock scheu an. »Noch etwa sechsunddreißig Stunden, dann wissen wir es.«

»Ich fahre jetzt zu Gottfried, dem Warzenbeter«, sagte ich. »Ich kann sowieso noch nicht schlafen. Und ich will die Sache vom Tisch haben.«

»Du solltest besser ins Bett gehen«, sagte Rodenstock. »Der Sohn ist vermutlich ein Aufschneider und wahrscheinlich überhaupt nicht wichtig.«

»Ich hasse anonyme Anrufer«, beschied ich ihn. »Ich bin bald wieder hier.«

Es war neun Uhr am Abend, die Sonne hatte sich noch nicht ganz verabschiedet und schickte einen rosa Schimmer, der im Westen in den Himmel kroch und unendlich kitschig wirkte. In den Gärten hockten die Menschen, unterhielten sich träge, grillten oder saßen einfach so beisammen.

Mannebach war schnell erreicht. Es war gleichgültig, wen ich fragte, also steuerte ich das erste Haus an, schellte und fragte artig eine alte Frau, die die Tür öffnete: »Wie komme ich denn zu Gottfried?«

»Drei Häuser weiter links«, erwiderte sie bemüht hochdeutsch und setzte dann im breiten Slang hinzu: »De aale Kabuff!« Ganz eindeutig: Sie war keine Freundin von Gottfried.

›De aale Kabuff‹ war ein altes kleines Bauernhaus im Stil der Trierer Einhäuser, in denen alles vom Heuboden über das Vieh bis hin zu den Menschen unter einem Dach untergebracht ist. Schon die Frontseite verdeutlichte, dass hier kein Geld zu holen war: Der kleine Bauernhof war total verkommen. Vor dem Hauseingang lagen Haufen alter, verrosteter Gerätschaften aus der Landwirtschaft, daneben gammelten vier schrottreife PKW vor sich hin, zum Teil aufgebockt, zum Teil ausgewaidet. Das Ganze war ein chaotisches Durcheinander, eine klassische Männerwirtschaft.

Gottfried saß klein und zusammengekrümmt auf einer alten Bank neben dem Hauseingang. Er schmauchte zahnlos eine Pfeife und beobachtete mit unverhohlener Neugier, wie mein Wagen ausrollte und ich ausstieg. Ich schätzte ihn auf achtzig und wie viele alte Menschen trug er trotz der sommerlichen Wärme einen Pullover. Sein Gesicht unter dem kurzen, weißen Haar war eine Landschaft voller Falten und Schrunden, voll Leben und voll von einer eindeutigen Listigkeit.

Noch ehe ich ein Wort sagen konnte, murmelte er: »Wat willste dann, Jung?«

»Ich wollte mich bei dir erkundigen, warum du dein Wohnzimmer in den Busch geschmissen hast.«

Er bekam kugelrunde Augen vor Verwunderung. »Muss ich dir das sagen?«

»Nein«, bekannte ich.

»Na siehste«, knurrte er. »Aber ich kann dir das sagen. Es ist die alte Kippe vom Dorf. Ich benutze sie eben. Bist du von der Behörde?«

»Nein, bin ich nicht. Als du dein Wohnzimmer da hingeworfen hast, lagen da schon die Fässer rum?«

»Nä, die kamen wohl später.«

»Und wie viel Uhr war es, als du das Wohnzimmer abgeladen hast?«

»So abends um diese Zeit, es war noch genug Licht. Wir haben da immer abgeladen, soweit ich mich erinnern kann.

Als Kind schon. Ich zahl keine Strafe, zahl ich nicht. Ich hab kein Geld.«

»Ich habe nichts mit Strafe zu tun. Wo ist denn Martin, dein Sohn?«

»Hinten im Kabäuschen. Da musste ums Haus herum. Und laut klopfen, er sieht fern, er hört nichts. Er guckt Fußball. Es ist doch Europameisterschaft. Und da guckt er. Von morgens bis abends. Er guckt immer. Hat er wieder Scheiß gemacht?«

»Nein, nein.« Ich machte mich auf den Weg um das Haus. Es gab einen schmalen Trampelpfad und selbst der lag voll Müll.

Die Tür war verschlossen. Ich klopfte dagegen und wiederholte das ein paar Mal, bis sie sich quietschend öffnete.

»Ach so was!«, sagte Martin hoch und heiser und war nicht im Geringsten verlegen. »Der hohe Herr kommt persönlich. Na, war das eine schöne Leiche?«

»Kann ich Sie sprechen? Ich meine, muss das hier draußen sein?«

»Nee, komm ruhig rein.«

Er trug ein einstmals weißes T-Shirt mit einem Riss quer über den Bauch. Dazu Jeans, deren Ursprungsfarbe unklar war, und nichts an den Füßen. Das Gesicht war schmal, hager, lang gezogen mit großen Augen, die nirgendwo Halt zu bekommen schienen. Das Gesicht eines Fanatikers, dachte ich. Er war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, vielleicht ein paar Jahre älter.

Ich trat hinter ihm in den Raum und hatte sofort das Gefühl, eine andere als diese Welt zu betreten. Es stank. Es stank penetrant nach Schweiß und Urin, nach zu lange getragener Wäsche, nach Geschirr, das niemals gespült worden war.

Der Raum hatte kein Fenster, war etwa vier mal fünf Meter groß und durchgehend mit Tigerfellmuster ausgestattet. Die Wände waren mit Tigerfelltapete bekleistert, der Fernseher steckte in einer Hülle aus Plastiktigerfell. Das Sofa lag unter einer Tigerfelldecke und der Stuhl, auf den ich mich setzen sollte, hatte einen Tigerfellbezug. Auf dem niedrigen Couchtisch lag ein Tigerfellimitat. Der Fußboden war aus alten Eichendielen und wenigstens die zierte kein Tigermuster. Zwei Deckenfluter spendeten Licht, unangenehm weißes, durch nichts gedämpftes Licht.

»Ist Tigerfell die Lieblingsmarke?«, fragte ich, um etwas zu sagen.

Er musterte mich und nickte dann. »Der Tiger ist mein Wappentier. Sprungbereit, voller Kraft und niemals berechenbar.«

Ich dachte, er wollte mich verulken, aber dann sah ich seine Augen, sie waren weit offen und starr. Langsam begann ich zu ahnen, dass dieser Besuch Risiken in sich barg.

»Ich habe ein Problem«, sagte ich und ließ mich vorsichtig auf das mir zugewiesene Stück Tigerfell nieder.

Er legte sich lang auf das Tigerfellsofa. »Probleme kann man lösen.«

»Richtig«, nickte ich. »Gottfried, Ihr Vater, hat gesagt, er hat vorgestern gegen Abend seine alten Wohnzimmermöbel da oben zum Waldrand gefahren und abgeladen. Nach seinen Angaben zwischen 21 und 22 Uhr. Kann das stimmen?«

»Das stimmt«, nickte er.

»Wann sind Sie denn dann da oben am Waldrand gewesen? Das muss doch frühmorgens gewesen sein, denn wenig später haben Sie die Polizei angerufen. Und ein paar Stunden später mich.«

»Oh, oh«, warnte er. »Wer behauptet denn da was ohne jeden Beweis?«

»Ihre Stimme ist eindeutig wiederzuerkennen. Ich habe sie auf Band. Soll ich sie Ihnen vorspielen?«

Er wartete mit seiner Antwort, bis er sich meiner vollen Aufmerksamkeit sicher war. »Der Buddhismus gibt mir die Kraft, solche Anschuldigungen nicht bis in meine Seele dringen zu lassen.«

»Ein Buddhist«, staunte ich. »Sieh mal einer an, da wird sich der Gott der Eifler aber freuen.«

»Der Gott der Eifel hat versagt, total versagt.«

»Also mir wäre es lieber, Sie würden mir erzählen, wann Sie am Waldrand waren, wann Sie die Leiche entdeckten.

Mir reicht der ungefähre Zeitpunkt. War es schon hell oder war es noch dunkel? Und noch etwas, guter Mann, was wollten Sie da oben eigentlich? Ihrem Vater nachschnüffeln?« Er brachte mich entschieden auf die Palme.

»Auf ein derart niedriges Niveau begebe ich mich nicht. Niemals!« Er blickte mich nicht an, er sprach mit der Zimmerdecke.

»Aber das Niveau, erst die Polizei und dann mich anonym anzurufen, das haben Sie. Und es ist auch Ihr Niveau, haltlose Gerüchte zu erfinden. Wie zum Beispiel das, dass der Vater von Sven ein Verhältnis mit der Freundin seines Sohnes hatte.«

»Diese Natalie wird in der Dschehenna braten! Sie war eine Sünderin, eine bestialische Frau.«

»Dschehenna? Also haben Sie auch Durchs wilde Kurdistan gelesen. Jedenfalls war Karl May ein besserer Lügner als Sie. Wissen Sie was? Ich halte Sie für einen miesen Spanner.«

Er musste das geübt haben, viele Male: Er stemmte sich zwischen Rücken- und Sitzlehne in den Winkel des Sofas, legte die linke Hand auf den Tisch und vollführte dann einen perfekten Seitsprung über den Tisch. Er flog auf mich zu, kam wie ein großer Stein heran.

Schmerzhaft spürte ich den Aufprall und konnte nicht mal mehr die Arme hochreißen. Ich landete parterre, hörte, wie der Tigerfellstuhl unter mir zusammenbrach, irgendetwas ratschte an meinem rechten Bein entlang und ich bekam keine Luft mehr.

Martin war hinter mir und rief geradezu begeistert: »Wow!« Dann war er erneut sichtbar, und zwar über mir. Er trat zu und traf meinen linken Oberschenkel. Als er zum zweiten Mal zutrat, bekam ich seinen Fuß zu fassen, hielt ihn fest und drehte ihn, so weit ich konnte, nach innen. Er schrie und fiel.

Endlich war ich wieder oben und wollte etwas sagen, wahrscheinlich: Lassen wir doch den Quatsch! Doch er lag zwischen meinen Beinen und schnellte hoch. Es tat ekelhaft weh, ich sah dunkle Flecken tanzen und wurde immer wütender.

Ich schrie: »Blöder Hammel! Du Schwein!«, und ließ mich nach vorn fallen, weil er von hinten seine Affenarme um mich geschlungen hatte. Auf der linken Schulter kam ich auf und war zornig genug, den Schmerz nicht zu spüren. Ich drehte mich um und erblickte sein Gesicht vor meinem Gesicht, nicht weiter als ein paar Zentimeter entfernt. Da stieß ich meinen Kopf nach vorn und es gab ein ekelhaftes Geräusch, als ich sein Gesicht in der Mitte traf.

Martin gurgelte und fiel seitwärts auf die Dielen. Dort blieb er liegen, aus seinem Mund und seiner Nase lief Blut.

»Blöder Hund«, sagte ich, aber ich glaube nicht, dass mein Krächzen zu verstehen war. Es gab keinen Fleck an meinem Körper, der nicht schmerzte.

»Wir können reden«, keuchte er.

»Ich red nicht mehr mit dir. Du bist eine zu kleine Nummer in dem Spiel.« Ich steuerte die Tür an und hinkte hinaus. Meine Hose war zerrissen, unterhalb meines rechten Knies war die Jeans durchblutet.

Gottfried auf der Bank kommentierte mit hoher, heiterer Stimme: »War wohl nicht so doll, was?«

»Leck mich am Arsch!«, erwiderte ich.