FÜNFTES KAPITEL

Wir bereiteten uns ein spätes Mittagessen, kochten Spaghetti, die wir lustlos in uns hineinschaufelten. Wir waren es müde zu reden, jeder betonte lapidar, er sei nicht ausgeschlafen, das komme wahrscheinlich vom Wetter. Den Rest des Tages versuchten wir irgendwie totzuschlagen.

Tatsächlich waren wir wohl wegen des nur mühsamen Vorankommens melancholisch. Und da war noch etwas, was uns alle lähmte: Für Emma und Rodenstock würde der kommende Tag ungeheuer wichtig werden. Ein Arzt würde erklären: Es ist Krebs! Es ist kein Krebs!

Zweifel beschäftigten mich. Ich hatte eine wichtige Frage noch nicht gestellt: War das Forsthaus von Tina Colin eigentlich auch ein Hotel gewesen, eine Übernachtungsmöglichkeit? Ich hätte den prügelnden Martin sanfter behandeln müssen, nicht so beleidigend. Ich hätte ihn fragen können: Was hast du gesehen, als du bei Hardbecks Jagdhütte den Spanner gemacht hast? Aber war die Antwort darauf eigentlich wichtig? Natalie Colin war ein Produkt ihrer geldgierigen Mutter gewesen, hatte Hardbeck gesagt. Wie weit war sie selbst schon geldgierig gewesen? Wieso diese geradezu groteske Regel, dass der Freund und Geliebte Sven in Natalies Zuhause nicht verkehren durfte? Stimmte das überhaupt? Hatte Natalie mit den Männern im Forsthaus geschlafen? Hatte das zum Service gehört?

Auf der Spitze des langen Kirchenschiffs sang die Amsel ihr Lied zur Nacht. Ein Buchfink setzte sich auf die Fensterbank und putzte sich. Dann gab es ein Rauschen mit abschließendem Geplätscher. Das Wildentenpaar war eingeflogen. Wahrscheinlich würden sie eine Weile schlafen, den Kopf in das Gefieder stecken und anschließend zu ihren Jungen zurückkehren. Wie lange kümmern sich eigentlich Wildenten um den Nachwuchs?

Vor der Tür sprach Rodenstock mit Cisco. »Hör zu, du kannst nicht bei uns auf dem Bett liegen. Verstehst du?«

Cisco verstand kein Wort, japste nur leise und begeistert, weil er wahrscheinlich glaubte, er dürfte Emmas Füße wärmen.

»Lass ihn hier rein«, sagte ich.

Rodenstock öffnete die Tür und Cisco schoss herein und sprang auf mein Bein. Es schmerzte höllisch.

»Ich würde mich gern besaufen«, sagte Rodenstock.

»Tu es nicht«, riet ich.

»Ich kann endlich Dantes Inferno begreifen«, sagte er fast flüsternd. »Aber sie hält sich wirklich außerordentlich tapfer. Ich wäre nicht so«.

»Du wärst auch so«, widersprach ich. »Habt ihr irgendwelche Pläne, wenn die Diagnose Krebs lautet?«

»Natürlich. Erst haben wir gedacht: Wir reisen ganz weit weg. Und da sterben wir dann. Dann haben wir gedacht...«

»Moment mal, du sagst immer ›wir‹.«

»Sicher sage ich ›wir‹. Das alles hat doch keinen Zweck mehr für mich, wenn Emma gehen muss.«

»Das stimmt doch nicht«, hielt ich matt dagegen. »Du wirst noch gebraucht. Ich, zum Beispiel, brauche dich.«

»Ach ja?«, fragte er ganz verwundert.

»Natürlich!«, sagte ich wütend. »Krebs ist eine furchtbare Krankheit, aber nimm dir mal ein Beispiel an anderen. Zum Beispiel an Kati und Klaus hier aus dem Dorf. Kati war sehr mutig und tapfer und hat gekämpft, als hätte sie niemals etwas anderes getan. Doch sie ist gestorben. Aber weil die Welt weiter atmet, macht Klaus sein Restaurant weiter und neben ihm steht seine Tochter. Nichts ist so endgültig, dass nicht irgendjemand sagt: Lass uns weitermachen!«

»Was ist, wenn ich keinen Mut mehr habe?«

»Du wirst immer Mut haben, Rodenstock. Und immer Menschen, die dich mögen.«

»Das sagst du so.«

»Richtig, das sage ich so.«

»Es ist so bedrückend, wenn dir scheißegal ist, ob die Sonne scheint oder nicht. Es ist ziemlich schlimm, wenn Gelächter dich plötzlich anwidert, wenn du weißt, du wirst nicht schlafen können und auf ihren Atem hören. Und wenn du auf den Tag zu warten hast, an dem dieser Atem stirbt. Das ist furchtbar.«

»Das ist Liebe«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.

»Das ist es wohl«, nickte er. »Zuweilen ist sie schrecklich und liegt wie ein Alb auf dir. Was grübelst du denn so, wenn du nicht an Emma denkst?«

»Nebensächlichkeiten«, gab ich zu. »Und dass ich nicht weiß, was nebensächlich ist.«

»Schalte das aus. Geh hin, schau es an und schalte das aus. Auf eine Nebensächlichkeit würde ich dich gerne aufmerksam machen.«

»Ich kann es mir denken. Auf diese hohe heisere Stimme namens Martin und auf diesen Mann namens Monte Christo.«

»Das sind mögliche Nebensächlichkeiten«, stimmte Rodenstock zu. »Aber die habe ich nicht gemeint. Ich habe versucht, mich in diesen Sven zu versetzen, nachzufühlen, wie ich damals gefühlt habe, als ich neunzehn war. Er muss seit Jahren hin- und hergerissen gelebt haben. Fasziniert von Natalie und gleichzeitig abgestoßen, beleidigt. Gedemütigt und gleichzeitig umworben.«

»Ja, das kann ich begreifen. Aber das ist doch keine Nebensächlichkeit. «

»Nein, nein, aber da hängt eine dran! Erinnerst du dich an die Erzählung des Vaters Hardbeck? Er sagte, da gebe es diesen Huhu. Wahrscheinlich ist dieser Huhu auch eine Nebensächlichkeit, die uns aber weiterbringt. Geh ihn ansehen, rede mit ihm, wenn das möglich ist. Irre sind gute Seher, Irre waren schon immer gute Propheten.«

»Ja. Das ist eine Idee.«

Rodenstock ging wieder zu seiner Gefährtin.

Bevor ich erneut in Melancholie ertrinken konnte, griff ich zum Telefon und rief bei Hardbeck an.

Eine Frauenstimme meldete sich: »Ja, bitte?«

»Frau Hardbeck? Ist Ihr Mann im Haus? Baumeister hier.«

»Moment«, sagte sie.

Dann war er dran. »Ja, Herr Baumeister. Weiß man schon mehr?«

»Ich glaube nein. Sagen Sie, ist es inzwischen möglich, mit diesem Huhu zu reden?«

»Das kann ich nicht beantworten. Er sitzt immer noch in der Scheune und lässt keinen an sich ran. Man kann nie vorhersagen, was er tun wird und was er nicht tun wird. Er lebt in seiner eigenen Welt. Glauben Sie, er weiß was?«

»Keine Ahnung, das müsste man herausfinden.«

»Mit mir spricht er nicht, mit meiner Frau auch nicht. Er glaubt wohl, wir seien an all dem schuld.«

»Er ist sehr einsam, nicht wahr?«

»Ja, das ist er. Aber wir finden nicht... die Tür zu ihm.«

»Welche Rolle spielen eigentlich Ladi und der Graf von Monte Christo?«

»Ladi ist ein Pole. LKW-Fahrer. Ich habe beruflich nichts mit ihm zu tun. Er ist ein guter Typ, fährt für Giessen und Becker. Manchmal war er da, in der Jagdhütte oder bei Tina Colin. Er ist ein fröhlicher Mann. Der Graf ist ein Arschloch, einer, der nie im Leben erwachsen wird. Er gehört nicht zur Runde, war aber manchmal dabei. Gibt an wie ein Sack Seife. Den können Sie vergessen. Ja, vergessen Sie ihn.« Das Letzte kam schnell, viel zu schnell.

»Aber er hat Geld, oder?«

»Sehr viel Geld. Er ist von Beruf Erbe.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, er hatte was mit Natalie.«

Hardbeck schnaufte. »Kann sein oder kann nicht sein, ich weiß es nicht.«

»Trauen Sie ihm zu, Natalie getötet zu haben?«

Die Frage kam überraschend für ihn, er hatte noch nicht darüber nachgedacht. »Komisch, dass Sie das fragen. Weiß ich nicht. Manchmal nimmt er Koks. Macht Kokain aggressiv?«

»Das kann passieren, aber eher verursacht es eine ausgereifte Paranoia, einen Verfolgungswahn. Kokst er viel?«

»Kann ich nicht beurteilen. Aber ich traue es ihm zu.«

Ich bedankte und verabschiedete mich.

Ich starrte aus dem Fenster und stellte mir vor, wie dieser Mann sich fühlen mochte.

Später, als es schon dunkel war, klopfte es leise und Vera kam herein. Sie trug etwas Dunkles. Als sie sich setzte, spürte ich, dass es ein Trainingsanzug war. Ich machte das Licht auf dem Nachttisch an, das Sportdress war grün und auf der Brust prangte das Wappen der Polizei.

»Ich friere«, meinte sie. »Ich kann machen, was ich will, ich friere.«

»Der Fall ist nicht aussichtslos«, sagte ich zur Beruhigung.

»Das ist es nicht«, murmelte sie. »Es ist mir scheißegal, wer Natalie umgebracht hat. Ich friere, weil Emma vielleicht Krebs hat. Und ich habe ein blödes Gefühl. Was wird sie tun, wenn es so ist? Und was wird Rodenstock tun? Wird Emma sich was antun?«

»Das glaube ich nicht. Sie wird weitermachen und mit uns Mörder jagen.« Du lieber Himmel, was redest du einen Scheiß!

»Das glaube ich nicht«, sagte Vera bestimmt, »und du glaubst das auch nicht. Sie werden gehen, erst Emma, dann Rodenstock.«

»Nicht doch. Hör auf mit diesen Angstträumen.« Ich überlegte, ob sie zu mir ins Bett wollte, und bekam Panik. »Hast du Lust auf einen Ausflug?«

»Wie bitte? Ausflug?«

»Ja, ich will Huhu besuchen. Du weißt schon, dieser geistig zurückgebliebene Junge bei Hardbeck.«

»Ja, gut. Aber doch nicht jetzt? Warum jetzt?«

»Weil es Nacht ist«, erklärte ich. »Und weil ich sowieso nicht schlafen kann. Und weil mich Verrückte schon immer interessiert haben.«

Sie sah mich an und hatte mich erwischt. »Du kannst liegen bleiben, Baumeister. Ich gehe schon wieder.«

»Du kannst mitkommen, du musst nicht gehen.«

»Du bist irre.«

»Natürlich bin ich irre. Lass uns fahren.«

Zehn Minuten später fuhren wir, der Mond war groß und voll und gelb und wirkte ein wenig tröstlich. Aus Kumpanei hatte auch ich einen Trainingsanzug übergezogen, zudem eine Taschenlampe eingesteckt und mich mit Pfeifen und Tabak versorgt.

»Du bist einfach bescheuert«, seufzte Vera und zündete sich eine Zigarette an.

Wir kamen durch Dreis, dann ging es links querab nach Kradenbach hinüber. Ein Fuchs strich vor uns über die Straße und seine Augen funkelten grün und rot.

»Und was machst du, wenn er dich angreift, weil er sich bedroht fühlt?«

»Er wird sich nicht bedroht fühlen. Greif mal hinter dich. Da ist der Verbandskasten. Sieh mal nach, ob der komplett ist.«

Vera schnallte sich ab und kniete sich mit dem Rücken zur Frontscheibe. Sie öffnete des Kasten und sagte: »Da ist alles drin. Willst du ihn etwa versorgen?«

»Natürlich, wenn es stimmt, dass er verletzt ist. Setz dich wieder hin, das macht mich nervös, wenn du nicht angeschnallt bist.«

Als sie sich drehte, um sich zu setzen, spürte ich es und hielt den Atem an. »Du hast deine Waffe nicht abgegeben, nicht wahr?«

»Doch, habe ich. Diese Waffe ist mein Eigentum. Ich habe einen Waffenschein, Baumeister. Und nach dem, was mir passiert ist, gehe ich nachts nicht mehr ohne. Sie ist nicht geladen, ich habe den Rahmen mit der Munition in der Hosentasche.«

»Tut mir Leid, daran habe ich nicht gedacht. Ja, das kann ich verstehen.«

Wir gelangten nach Boverath, hoch in den Ort, in die Kurven, die die uralten Wege vorgaben. Dann kam die Abzweigung nach links mit dem Hinweis Sackgasse.

»Ich bleibe hier«, sagte Vera bestimmt. »Geh erst einmal allein. Einer reicht.«

Rechts lag Hardbecks Haus, links gegenüber der kleine alte Bauernhof. Im Anschluss daran unter dem gleichen Dach die Scheune. Das Tor stand einen Spalt auf. Ich schob es weiter auf und erwartete ein Quietschen, aber der Türflügel lief lautlos in den Scharnieren. Ich schaltete die Taschenlampe ein und richtete das Licht von seitwärts auf mein Gesicht.

»Huhu«, sagte ich, »ich suche nach dir. Ich bin Siggi, ich bin ein Freund, ich will mit dir über Sven reden.«

Es kam keine Antwort.

Ziemlich verloren stand ich in der Dunkelheit. Der Geruch, der alten Scheunen anhaftet – Heu, Stroh, Vieh, Grassamen, Staub aus Jahrhunderten –, stieg in meine Nase. Es roch vertraut, es erinnerte mich an meine Kindheit, als ich im alten Hof meiner Großmutter in Kottenheim bei Mayen auf dem leer geräumten Dachboden schlafen durfte, ein Paradies, in dem man niemals Furcht bekam.

»Huhu, ich bin Siggi. Ich muss mir dir sprechen.« Wahrscheinlich war es besser, wenn ich saß, unten auf dem Boden saß. Also setzte ich mich und ließ das Licht der Taschenlampe weiter auf mir ruhen.

Immer noch war kein Laut zu hören.

Nach ein paar Minuten war die Dunkelheit um mich herum erträglicher. Ich erkannte zumindest grobe Umrisse, Formen. Rechts von mir, drei Meter entfernt, stand ein alter Trecker. Daneben der längliche Metallbehälter einer alten Sämaschine, die schon vor dreißig Jahren eine Antiquität gewesen sein musste, sowie alte Pflüge, Eggen. Über mir waren Balken, auf denen irgendetwas lag, was ich nicht identifizieren konnte. Links von mir befand sich ein großer, unförmiger Kasten. Erst nach langem Hinstarren begriff ich, dass es ein aufgebockter PKW war, über den jemand eine Plane gebreitet hatte. Und dann war da ein neuer Geruch, etwas Säuerliches. Das kannte ich, das war Schweinestallgeruch, diese unnachahmliche Mischung aus gehäckselten Rüben, saurer Milch und der Zugabe von Mais und Kleie.

Dann sah ich das Licht.

Zuerst dachte ich, das Dach habe ein Loch, durch das der Mond hineinschien, aber es war nicht der Mondschein. Die Plane über dem PKW hatte einen Riss oder sie klaffte auseinander. Und durch diesen Spalt floss sanftgelbes Licht.

»Huhu«, sagte ich, »ich weiß doch, dass du im Auto sitzt. Ich will nur reden, nichts sonst.«

»Huhu ist traurig«, sagte er seltsam klar. Er hatte eine tiefe Stimme, einen Bass.

»Ich bin es auch«, sagte ich und war sekundenlang verwundert, weil es wirklich so war. »Nati ist tot und Sven ist tot.«

»Ja«, sagte er. »Alle tot.«

»Darf ich zu dir kommen? In das Auto?«

»Ja. Aber nicht Arzt.«

»Kein Arzt. Ich bin kein Arzt.« Ich stand auf und ging zu dem Auto hin. Es waren nur wenige Schritte, aber irgendetwas auf dem Boden ließ mich straucheln und ich fiel vornüber. Das verwundete Bein schmerzte.

Ich brauchte einige Atemzüge, bis der Schmerz nachließ.

Plötzlich war Huhu neben mir und meinte erheitert: »Alte Fliesen. Da liegen alte Fliesen.« Er griff unter meine Achseln und hob mich mühelos hoch. Dann bugsierte er mich vor sich her auf die andere Seite des Autos.

Dort gab es keine Plane, die vordere Tür des Autos stand offen. Es war ein alter Ford, wahrscheinlich ein Taunus. Der Fahrersitz fehlte, so dass man bequem hineinsteigen konnte. Auf dem Rücksitz war ein Bett hergerichtet, ein richtiges Bett mit rot karierter Bettwäsche. Das Auffälligste aber war eine Petroleumlampe, die Huhu mit einem Draht am Lenkrad festgemacht hatte. Auf dem Beifahrersitz lag ein Holzbrett mit Brot, einer Schachtel Margarine, einer Dose Marmelade und einem Messer.

Huhu kletterte an mir vorbei auf den Rücksitz. Er trug ein bunt kariertes Hemd und Jeans, dazu dicke Wollsocken.

»Essen!«, forderte er mich freundlich auf.

Ich kletterte in das Auto, nahm das Holzbrett und legte es auf den Boden. »Danke«, sagte ich, schnitt mir eine Scheibe Brot ab, strich Margarine darauf und dann Erdbeermarmelade. »Das ist gut.«

Ein Küchenhandtuch war um seine rechte Hand geschlungen.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Abgequetscht«, sagte er ohne sonderliches Interesse, nahm aber das blau-weiß karierte Küchentuch ab. Darunter war ein zweites Küchentuch. Er nahm auch das ab und wurde immer vorsichtiger. Dann sagte er erneut mit Stolz in der Stimme: »Abgequetscht«, und hielt mir die Hand hin.

Es stank bestialisch, es stank nach Fäulnis.

Er hatte den kleinen Finger nicht gequetscht, den Finger gab es nicht mehr, er war verschwunden. Und der nächste Finger, der Ringfinger, stand quer in die Hand hinein, als gehöre er nicht dazu. Wahrscheinlich war der Finger gebrochen. Die Wunde war groß, die Hand unförmig geschwollen, die Wundränder zeigten scharfe Rotfärbungen und gelbliche Herde. Die Hand war vollkommen vereitert. Huhu musste bestialische Schmerzen haben.

»Tut das weh?«, fragte ich.

»Weh«, nickte er. »Huhu trinkt das da.« Er wies auf eine Flasche auf der hinteren Ablage – ein Obstler aus der Eifel, 42 Prozent.

»Das ist gut«, lobte ich. »Du kannst Aspirin haben.« Ich fummelte in der Weste herum, die ich über mein Sportdress gezogen hatte, und reichte ihm einen Streifen mit Tabletten.

»Eine?«, fragte er sachlich.

»Vier«, riet ich.

»Vier«, nickte er. Er nahm die Pillen mit einem gewaltigen Schluck aus der Schnapsflasche.

»Du musst das verbinden«, sagte ich. »Du musst deine Hand unbedingt verbinden lassen. Ich habe einen Verbandskasten im Auto.«

Er sah mich misstrauisch an. »Kein Arzt.«

»Kein Arzt«, versprach ich. »Nur meine Freundin. Vera. Sie wartet im Auto. Ich hole den Verbandskasten. Einverstanden?«

»Okay«, nickte er.

Ich bemerkte die Schweißperlen auf seiner Stirn. Er musste Fieber haben, hohes Fieber. Sein Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet, aber auch erfüllt von einer unbegreiflichen Ruhe, als könne ihm nichts auf dieser Welt gefährlich werden.

»Ich gehe eben und komme sofort wieder«, sagte ich.

Langsam kletterte ich aus dem Auto, langsam ging ich durch die Dunkelheit der Scheune hinaus auf den Hof. Dann zuckte ich zusammen.

»Beinahe wäre ich reingestürmt«, sagte Vera neben mir. Sie stand breitbeinig an der Mauer und hielt mit beiden Händen die Waffe.

»Hol den Verbandskasten«, bat ich. »Der Junge braucht Hilfe.«

»Wie ist er denn?«

»Wie ein Kind«, sagte ich. »Und er hat Fieber. Aber im Augenblick ist er gut drauf.«

Vera lief davon. Als sie mit dem Verbandskasten in der Hand zurückkam, gingen wir wieder in die Scheune. Ich ließ Vera vor und sie beugte sich in das Auto und sagte: »Hallo, Huhu.«

Er murmelte »Hallo«, achtete aber nicht auf sie, sondern sah mich an. »Kein Arzt.«

»Kein Arzt«, sagte ich. »Wir müssen deine Hand verbinden.«

Ich hockte mich vor das Lenkrad mit dem Gesicht zu ihm, Vera kauerte links von mir auf dem Beifahrersitz.

»Mein Gott«, hauchte sie, »das sieht ja furchtbar aus. Und es stinkt schon.« Sie legte eine Hand auf seine Stirn und er schloss für Sekunden die Augen, als täte ihm die Berührung unendlich gut. »Gibt es irgendwas Steriles da drin?«

»Das wird wenig nutzen«, sagte ich. »Das ist schon entzündet.«

»Das ist scheißegal«, stellte sie resolut fest. »Lass mich mal sehen.« Sie kramte in dem Verbandskasten herum. »Hier sind Brandbinden, scheinbar mit Puder oder so was. Vielleicht nehmen wir die? Huhu? Leg mal deine Hand auf Siggis Knie. Hierher. So ist es gut. Tut es weh?« Sie legte eines der Küchentücher über mein Knie, nahm mit unendlicher Vorsicht die zerstörte Hand und bettete sie darauf.

»Sehr weh«, sagte er zittrig.

»Da machen wir jetzt ganz vorsichtig was drauf«, Veras Stimme war sachlich. »Du bist wirklich tapfer, Huhu, du bist klasse.«

Er lächelte, die Schweißperlen auf seiner Stirn waren mehr geworden und sein Lidschlag wurde länger. Er war auf eine Weise betrunken, wie man es von den Verbandsplätzen der Kriege berichtet hatte: Keine taumelnde und lärmende Trunkenheit, es war der Zustand gläserner Starre, erregter Wachheit und fieberhafter Tätigkeit des Hirns.

Vera arbeitete vorsichtig und konzentriert und verschaffte mir Zeit, mich mit Huhu zu unterhalten, wenngleich seine spärliche Kindsprache immer gedehnter und langsamer wurde. Zwischendurch sagte er immer häufiger erstaunt und angstvoll: »Huhu!« Er sagte das zu sich selbst, es klang wie eine Mahnung, vorsichtig mit diesen Fremden zu sein, es klang aber auch so, als sei er erstaunt, noch zu leben.

»Sven war dein Freund, nicht wahr? Dein bester Freund.«

»Ja. Sven Freund, viel Freund. Kein Arzt!«

»Es kommt kein Arzt. Vera macht das gut, nicht?«

Huhu sah sie an und beobachtete, wie sie sanft Mull auf eine eiternde Kante legte. Dann nickte er: »Gut.«

»Und Natalie? Was war Natalie? Eine Freundin?«

Keine Zustimmung, keine Abwägung, keine Sympathie. »Freundin für Sven. Manchmal. Manchmal nicht. Viel Trickitracki.«

»Trickitracki?«

»Ja, Bett.« Dann deutete er erregt auf sein Kopfkissen. »Hier!«

»Auf Normaldeutsch meint er: Geschlechtsverkehr«, murmelte Vera.

»Nati ist tot. Hast du Nati gesehen?«

Er schüttelte erregt und heftig den Kopf. »Nein, nein, nein. Nati nicht gesehen.« Etwas Speichel floss aus seinen Mundwinkeln. »Wo Nati?«

»Das ist weit weg«, sagte ich beruhigend. »In Mannebach, im Wald. Hat Sven Nati gesehen? Tot?«

»Nein, nein. Sven hier gewest.« Er sagte gewest, nicht gewesen, aber er wusste genau, um welchen Punkt es ging. »Huhu mit Sven.«

»Wo seid ihr denn gewesen?«

»Wald, im Wald gewest.«

»Bei Tina, bei der Mutter von Nati?«

»Nein. Im Wald gewest und gefahren. Auto. Weit gefahrt.«

»Ich bin fertig«, murmelte Vera. »Er muss dringend zu einem Arzt, ich habe keine medizinische Sachkenntnis, aber er wird sterben, wenn wir nichts tun.«

»Was willst du denn tun, wenn er nicht will?«

»Er muss wollen«, sagte sie entschlossen und beugte sich vor.

Dann schlug sie mit beiden Händen zu. Es ging so schnell, dass ich ihren Bewegungen nicht folgen konnte. Vera benutzte die Handkanten und traf ihn beidseitig in der Halsbeuge. Huhu war sofort bewusstlos.

»Ruf deinen Arzt an, sag ihm, wir kommen.« Veras Stimme duldete keinen Widerspruch.

Ich ging hinaus und bat den alten Mann inständig, dass Detlev da sein möge.

Er war da und ich ließ mich auf kein Gespräch ein. Ich sagte ihm, dass wir unterwegs seien, dass es ziemlich schlimm aussehe und dass er seinen Hintern aus dem Bett bewegen solle.

Wir schleppten Huhu keuchend zwischen uns. Er war groß und schwer.

»Wie lange dauert denn so ein K. o.?«

»Weiß ich nicht. Vorsicht, da liegt was auf dem Boden. Jetzt mach die hintere Tür auf, rein mit ihm.«

Es war ein hartes Stück Arbeit, bis wir losfahren konnten.

»Du hast das geahnt, nicht wahr?«, sagte Vera leise.

»Ja. Huhu war bei Sven im Auto, als es geschah. Das ist auch logisch. Sie waren ein Leben lang die besten Freunde.«

»Kischkewitz wird dir dankbar sein für Huhu.«

»Er kann mich mal.«

»Er kann doch nichts für den Maulkorb.«

»Stimmt auch wieder.«

»Warum hat er Huhu nicht längst kassiert? Ahnt er den Zusammenhang nicht?«

»Doch«, widersprach ich. »Kischkewitz wird die Verbindung von Sven und Huhu längst begriffen haben, aber er hält andere Dinge vermutlich für wichtiger. Und ich möchte liebend gern wissen, was das ist.«

»Das Forsthaus in Bongard.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Ich betrachtete im Rückspiegel Huhus Gesicht. Es war ein ruhiges Gesicht.

Mit Vollgas fuhr ich durch die Straßenbaustelle des neuen Gewerbegebietes in Kradenbach.

»Glaubst du jetzt, dass Sven doch der Täter war?«

»Nein, Sven war es nicht. Sven mag schrecklich gelitten haben, aber er war wahrscheinlich nicht in der Lage, Nati zu töten. Das war jemand anderes. Ich glaube Huhu, wenn er sagt, dass er die tote Nati im Wald nicht gesehen hat. Ich denke übrigens, dass Huhu Natalie nicht mochte. Sie waren Konkurrenten. Wahrscheinlich wäre er normalerweise froh gewesen, zu hören, dass sie nicht mehr lebt.«

Ich rauschte durch den Kreisverkehr in Dreis, dann rechts durch den Torbogen. Die Praxisräume waren erleuchtet und wirkten wie die Fenster einer einladenden Herberge. Detlev stand draußen, neben ihm seine Frau – »der Engel meiner Truppe«, wie er immer sagte.

»Was ist mit ihm?«

Ich erklärte es, während wir uns bemühten, Huhu aus dem Auto herauszukriegen.

»Der saß mit Sven Hardbeck zusammen im Auto?«

»Daran ist kaum ein Zweifel.«

»Und er stinkt wie eine Kneipe im Karneval.«

»Er hat auch viel gesoffen. Das war gut so. Warte, bis du seine Hand gesehen hast.«

Wir schleppten Huhu ins Haus und legten ihn auf die Liege im Behandlungszimmer.

»Wie wird er reagieren, wenn er aufwacht?«

»Wahrscheinlich panisch«, sagte ich. »Vera, bleibst du hier? Ich will mit Kischkewitz sprechen. Er sollte Bescheid wissen.« Ich ging hinaus, es war jetzt drei Uhr.

Kischkewitz war nicht erreichbar, es hieß, er schlafe ein paar Stunden.

»Dann seinen Vertreter bitte.«

Der Vertreter war eine Frau, deren Namen ich nicht kannte.

Ich sagte: »Ich habe den Mann, der bei Sven Hardbeck im Auto saß, als er tödlich verunglückte.«

»Aha«, erwiderte sie kühl. »Und was sollen wir mit dem?«

»Himmel!«, fluchte ich. »Was für ein Scheiß!« Ich unterbrach die Verbindung. Dass Mordkommissionen zuweilen einen Maulkorb verpasst bekommen, kann man als Laie begreifen, dass sie unhöflich sind, ist nicht einzusehen.

Nach einer halben Stunde rollte ein Fahrzeug des Roten Kreuzes auf den Hof und Huhu wurde, sanft betäubt, ins Krankenhaus nach Daun geschafft. Vera war auf die gute Idee gekommen, Vater Hardbeck aus dem Schlaf zu holen, damit Huhu im Krankenhaus in den ersten Stunden nicht allein war.

Wir trollten uns nach Hause, meine Hütte lag in tiefer Dunkelheit und es war beruhigend, dass in Emmas Zimmer kein Licht mehr brannte. Doch plötzlich gingen die Scheinwerfer eines Wagens an und ein schwerer BMW schoss von meinem Hof auf die Straße und ging mit quietschenden Reifen auf die Reise.

»Was war das?«, fragte Vera verblüfft.

»Wahrscheinlich hatte Rodenstock Besuch, wir werden es erfahren.«

Im Haus war es stockdunkel. Cisco schlich um meine Beine und winselte.

»Ich lade dich ein«, sagte ich zu Vera. »Immer vorausgesetzt, du machst mir keinen Heiratsantrag.«

»Gut«, grinste Vera, »das kann ich später immer noch erledigen.«

Cisco winselte zum Gotterbarmen und ich murmelte gut gelaunt und fröhlich: »Wieso machen wir nicht einen Dreier? Was spricht dagegen?«

Rodenstock flüsterte von irgendwoher aus dem Treppenhaus in die Dunkelheit, hohl wie ein Gespenst: »Wo seid ihr gewesen?«

Das hatte zur Folge, dass sämtliche kuscheligen Träume nicht umgesetzt werden konnten. Dafür frühstückten wir gegen vier Uhr morgens gemeinsam, wobei Emma uns mit Speckpfannkuchen versorgte und dabei kräftige jüdische Witze zum Besten gab.

Rodenstock hatte das Paketpapier an die Wand meines Arbeitszimmers geheftet und die wesentlichen Punkte in schönen Großbuchstaben niedergeschrieben. Schwarz war das, was wir wussten, rot war das, was ungeklärt war. Die Wand war fast komplett rot.

Ich fragte: »Sollen wir nun nach jemandem suchen, der über eine Waffe des Kalibers 7.65 verfügt?«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, widersprach Vera. »Nach offiziellen Schätzungen verfügen die Deutschen über mindestens zehn Millionen nicht registrierter Schusswaffen.«

»Der Fachmann spricht«, lächelte Rodenstock. »Was ist mit Müll? Wollen wir endlich darüber reden?«

»Wir müssen«, sagte ich ohne Begeisterung. »Aber erzähl uns zuerst, wer dich besucht hat.«

»Kischkewitz war hier. Nicht, um große Sensationen zu überbringen, sondern nur um zu reden. Um zehn Uhr ist eine Pressekonferenz in Trier. Und das, was dort bekannt gegeben wird, hat er mir jetzt schon erzählt. Das ist eine Menge. Es gibt einen Hauptverdächtigen – den Mann, der der Graf genannt wird. Der Pole, der LKW-Fahrer, ist entlassen worden. U-Haft war nicht zu rechtfertigen. Er hat wahrscheinlich gewusst, dass er Sauereien transportierte, aber das ist nicht beweisbar. Sein Rechtsanwalt hat ihn innerhalb einer Stunde freibekommen. Und dann ist etwas passiert, was euch die Schuhe ausziehen wird: Die beiden Polizeibeamten, die den Fundort der Toten bis zum Eintreffen der Mordkommission bewachten, sind spurlos verschwunden.«

»Das ist nicht wahr!«, sagte Vera verblüfft.

»Doch, doch«, nickte Emma. »Und sie stehen in einem denkwürdigen Zusammenhang mit der toten Natalie. Das könnte eine richtig schmutzige Geschichte werden.«

»Moment, Moment«, unterbrach ich schnell. »Das geht mir alles zu hastig. Da will die Mordkommission die Welt wohl neu erfinden. Wieso steht plötzlich der Graf unter Mordverdacht? Und dann noch zwei spurlos verschwundene Bullen? Vielleicht sitzen die nur mit Dünnpfiff auf einem Donnerbalken? Bei allen Heiligen, ist diese Kommission verrückt geworden?«

Es herrschte einen Moment Ruhe. »Ist sie nicht«, sagte Rodenstock dann sanft. »Sie ist unter Druck geraten, unter erheblichen professionellen und politischen Druck. Ein paar Oberstaatsanwälte wollen unbedingt Karriere machen. Und es wird heute im Trierischen Volksfreund einen Bericht geben, der alles Wissen neu infrage stellt. Zwei Journalisten namens Roland Grün und Stephan Sartoris haben gute Arbeit geleistet ... Und jetzt ist der Bär los. Aber, Baumeister hat Recht. Fangen wir am Beginn an.«

Ich war plötzlich sehr erschöpft und wahrscheinlich war ich unfair, aber ich fragte, bevor Rodenstock weiterreden konnte: »Hat die Mordkommission denn inzwischen Natalies Auto gefunden und den Tag vor ihrem Tod rekonstruieren können?«

Emma lächelte. »Du bist ein Ekel. Das hat sie noch nicht.«

»Wieso wird dann dieser ominöse Graf als Mordverdächtiger verkauft?«

»Das hat nun wieder mit Müll zu tun«, erklärte Rodenstock. »Ich sehe ja ein und gebe zu, dass da noch große Beweislücken sind, aber hättest du die Güte, die Schnauze zu halten und zuzuhören?« Nun war er eindeutig verärgert.

»Schon gut, schon gut, ich höre zu.«

Doch sein Handy meldete sich und er sagte knapp: »Ja, bitte?« Dann reichte er es mir herüber.

»Baumeister hier.«

»Kischkewitz. Ich wollte mich bei dir für Huhu bedanken. Wir lassen ihn erst mal im Krankenhaus. Und entschuldige meine Stellvertreterin, aber bei uns geht es etwas wild durcheinander. Sie hat gar nicht verstanden, was du gesagt hast.«

»Ja, ja«, murmelte ich. »Schon gut. Aber jetzt will ich erst einmal von Rodenstock hören, was überhaupt los ist.«

»Viel«, sagte Kischkewitz fröhlich. »Die Kiste ist endlich in Bewegung geraten.« Damit war das Gespräch zu Ende.

Ich saß ganz brav in meinem Sessel und sah Rodenstock wie ein eifriger Sohn an, der erwartet, große Belehrungen zu bekommen. Emma begann als Erste zu grinsen, dann lachte Vera unterdrückt, schließlich Rodenstock – und endlich auch Baumeister.

»Fang schon an, du Übervater!«

»Ich wollte eigentlich mit Müll starten«, sagte er. »Und ich überlege gerade, ob das nicht nach wie vor das Beste ist. Nun gut, fangen wir mit Müll an, weil ja auch der Hauptverdächtige vom Müll lebt. Vergesst mal alles, was ihr bisher über Müll wusstet. Für uns Normalverbraucher ist das der Dreck, der übrig bleibt. Wir schmeißen die Tonnen voll und bezahlen dafür, dass irgendjemand vorbeikommt und sie ausleert. Wir wissen, dass Glas, Papier, Bio-Abfälle und der Restmüll bestimmte Sorten sind, die getrennt behandelt werden. Alein dieser Landkreis hier bringt übrigens insgesamt 30.000 Tonnen pro Jahr auf. 18.000 Tonnen davon sind Restmüll, müssen irgendwie verbrannt, versorgt, deponiert werden. Sie kommen nach Mechernich, Kreis Euskirchen, und pro Tonne werden 260 Mark gezahlt. Unendliche Ströme an Müll rauschen Tag für Tag über unsere Straßen. Der Bio-Abfall aus diesem Landkreis geht nach Sachsen-Anhalt und wird dort kompostiert. Als Normalbürger fragt man: Wieso das denn? Und erfährt dann, dass diese Methode noch die billigste ist. Trotz aller Öko-Ideen geht es letzten Endes immer ums liebe Geld. Machen wir einen kurzen Sprung. Die Unternehmen, die unseren Müll zu Hause abholen und dann zu irgendeiner Verladestation bringen oder direkt zur Deponie, waren in der Regel gesunde Unternehmen mit ziemlich dicker Kapitaldecke. Die konnten fünfzehn Jahre lang in einer Goldgrube arbeiten, bis wegen verschärfter Konkurrenzsituation die Preise sackten. Der Preis pro Tonne halbierte sich fast. Aber immer noch ist das ein gutes, ein Riesengeschäft. Müll gibt es eben immer und es entsteht ständig neuer. Selbstverständlich hat diese Branche Begehrlichkeiten geweckt. Leute mit Geld waren immer schon darauf bedacht, es zu vermehren. Im Laufe der Zeit entstand ein vollkommen unübersichtliches Feld, Firmen kauften regionale Firmen auf, kauften sich in andere ein, übernahmen wiederum andere und es entwickelte sich eine Szene, in der nur noch Spezialisten eine Ahnung davon haben, wer da in Wahrheit den Müll transportiert. Das heißt: Wir sind gewohnt, dass unser Müll von Unternehmen A abgeholt wird. Das ist seit zwanzig Jahren so. Das Unternehmen ist uns bekannt, es sitzt meinetwegen in Mayen oder Koblenz. Wir denken nicht darüber nach. Tatsächlich ist dieses Unternehmen aber bereits vor zehn Jahren zum Beispiel an das RWE verkauft worden, das selbstverständlich, wie andere auch, an diesem lukrativen Geschäft teilhaben wollte. Dann kam ein französisches Konsortium und kaufte nun wiederum dem RWE dieses uns bekannte Unternehmen ab, gliederte es ein und verkaufte es an eine italienische Gesellschaft, die wiederum neu in den Markt drängte. Es hat Fälle gegeben, in denen die Besitzer regionaler Mülltransportunternehmen dreißig Millionen angeboten bekommen haben – und die haben sie auch genommen, hausen auf den Bahamas, während auf den Müllwagen noch immer ihr Name prangt. Diese Branche ist wirklich irre! Ein Regierungsbezirk baut eine Müllverbrennungsanlage, die viel zu groß dimensionert ist. Die Vertreter der Anlage grasen Deutschland ab: Helft uns, schickt uns Müll! Der Müll reicht aber immer noch nicht, das Werk in die schwarzen Zahlen zu bringen. Und dann kommt es zu einem irren Deal. Der Lebensmittelkonzern Aldi hat zu viel Geld, kauft die gesamte Anlage und least sie an den ursprünglichen Betreiber zurück. So irre ist diese Welt.« Rodenstock schnaufte. »Müll ist also ein Schweinegeschäft und dieses Geschäft ist verwinkelt und verborgen hinter soliden Namensschildern. Und schon sind wir bei unseren seriösen Herren vom Forsthaus in Bongard. Sie waren und sind alle an Müllgeschäften beteiligt. Kischkewitz ist der Meinung, dass die Runde seit etwa zwei Jahren einen leisen, aber sehr coolen Coup vorbereitet hat. Ziel war das Müllunternehmen eines Mannes namens Gustav Sänger. Es bedient Teile von Köln, Hürth, Teile des Landkreises Euskirchen, Teile des Landkreises Bitburg-Prüm. Der Wert des Unternehmens steht heute bei etwa zweihundert Millionen. Gustav Sänger ist ein Patriarch, das Haupt einer Geld machenden Sippe, der absolute Herrscher. Ohne seine Zustimmung konnte nicht einmal eine Rolle Lokuspapier gekauft werden. Vor zehn Jahren ging Sänger an die Börse. Er brauchte viel Geld, um seinen Wagenpark zu erneuern. Der Börsengang war erfolgreich, etwa dreißig Prozent der Aktien ging an Kleinanleger, fünfunddreißig Prozent blieben in Sängers Hand und weitere dreißig Prozent bekam seine Schwester, die ihm bedingungslos folgte und sich selbst für das Geschäft überhaupt nicht interessierte. Diese Schwester sorgte mit ihrer Existenz für bestimmte Steuervorteile, das war alles. Aber dann starb die Schwester sehr plötzlich und hinterließ ihre Anteile ihrem einzigen Sohn aus einer zerbrochenen Ehe. Diesen Sohn kennen wir als den Grafen von Monte Christo. Und dieser Sohn mochte seinen Onkel Gustav überhaupt nicht und bezeichnete das Oberhaupt der Sippe als einen Dino, der abgeschossen werden müsste. Mit dreißig Prozent der Aktien fand sich der Neffe nun überraschend in einer Schlüsselposition wieder. Und jetzt tauchte am Horizont die Bongard-Gruppe auf. Wir wissen nicht, woher die Information kam, aber die Herren müssen schon früh erfahren haben, dass die Schwester Gustav Sängers sterbenskrank war. Jedenfalls kauften sie heimlich alle am Markt verfügbaren Aktien auf: satte zweiundzwanzig Prozent. Die Frau war noch nicht ganz tot, als ihr Sohn schon von der Bongard-Gruppe ungefähr siebzig Millionen für sein Paket angeboten bekommen hat. Der Patriarch Gustav Sänger konnte seinem Untergang nur zusehen, denn es war klar, dass der Graf von Monte Christo, mit bürgerlichem Namen Adrian Schminck, seine dreißig Prozent jedem verkaufen würde, nur eben nicht dem verhassten Onkel. Die Bongarder Gruppe war um jene bedeutsamen Sekunden, die dieser moderne Markt erfordert, schneller als andere. Um das Geschäft mit Adrian Schminck noch mehr zu beschleunigen und sich abzusichern, warf Hans Becker zusätzlich eine Angel aus. An der hing Natalie Colin. Trotz Computer, weltweiten Vernetzungen, coolem Geschäftsgebaren: Noch immer gilt, dass junge Frauen von enormer Wichtigkeit sind, eigentlich im menschenkalten Geschäft immer wichtiger werden.« Rodenstock brach abrupt ab und fragte: »Wie spät ist es eigentlich?«

»Es ist kurz nach fünf morgens, mein Lieber«, antwortete Emma matt. »Meine Ärzte liegen noch in den Betten, wir müssen Geduld haben.«

»Ich habe aber keine Geduld mehr«, erwiderte er schroff. Dann lächelte er gequält. »Tut mir Leid, Leute. Weiter im Text. Die Gruppe in Bongard hatte also zweiundzwanzig Prozent der Aktien und wollte die dreißig Prozent des Adrian Schminck, dann konnten sie Gustav Sänger jederzeit überstimmen. Aber das war wohl gar nicht der Wunsch der Truppe, die vier Herren wollten mit dem Geschäft nichts zu tun haben, sondern nur einen Gewinn einstreichen. Es gibt nämlich noch einen riesigen Mischkonzern in dem Spiel, der in das Müllgeschäft einsteigen wollte und den Betrieb von Gustav Sänger gerne übernommen hätte. Doch der Mischkonzern kam zu spät, die Bongarder Herren verkündeten, sie hätten das Geschäft schon gemacht, boten aber beschwichtigend an: ›Ihr könnt den Betrieb kaufen, aber von uns!‹ Man weiß nicht genau, wie hoch der Gewinn für die Bongard-Gruppe ist, aber er muss immens sein. Darum wird sich die Finanzfahndung kümmern.«

»Wie beurteilt Kischkewitz die Sache?«, wollte Vera wissen.

»Er vermutet, dass etwas ganz Simples passiert ist: Natalie sollte das Leben von Adrian Schminck verschönen, zu einem ständigen Fest machen. Und, wie wohl erwartet, war sie perfekt. Der Mann hat sich ernsthaft in sie verliebt. Als er begriff, was da ablief, hat er sie getötet.«

»Hat Schminck ein Alibi für den Tag, den Abend, die Nacht?«, fragte ich.

Rodenstock schüttelte den Kopf. »Hat er nicht. Er sagt aus, er habe Natalie an diesem Tag nicht gesehen. Und es sei auch nicht vorgesehen gewesen, sich an dem Tag zu treffen. Er habe tagsüber im Büro gearbeitet. Am Abend sei er erst in einer Kneipe in Mayen gewesen. Das ist überprüft, das stimmt. Dann sei er nach Hause gefahren. Seine Hausangestellten gehen immer gegen 18 Uhr heim. Somit hat er für den späten Abend und die Nacht kein Alibi.«

»Wenn ich das richtig sehe, leugnet er die Tat?«, vermutete Vera.

»Vehement«, sagte Rodenstock. »Er wirft der Mordkommission vor, sie wolle der Öffentlichkeit krampfhaft einen Mörder präsentieren. Und da hätte er passend im Regal gestanden.«

»Das hat was!«, nickte ich. »Was ist mit Mikrospuren?«

»Du meinst Spuren von der Kippe in Mannebach? Unter den Schuhen müssten Erd- und Laubreste sein. Genauso wie an seiner Kleidung und in einem seiner Autos. Und das ist komisch: Es gibt offensichtlich keine. Allerdings sind die Untersuchungen noch nicht ganz abgeschlossen.«

»Die Kommission hat doch bestimmt Tina Colin zu der Geschichte vernommen«, überlegte ich. »Was sagt sie dazu?«

»Sie sagt, sie wüsste von diesem Geschäft nichts. Sie weiß, dass Adrian Schminck hinter ihrer Tochter her war wie der Teufel hinter der armen Seele. Ihr sei das angesichts der Familie Hardbeck schon richtig peinlich gewesen. Sie sagt, sie sei davon überzeugt, dass Natalie mit Herrn Schminck nicht das Geringste gehabt habe. Und sie betont, dass solche Probleme immer mal wieder aufgetreten seien. Das sei ganz natürlich: Die betörend schöne Tochter habe den Männern oft – in aller Unschuld, versteht sich – das klare Bewusstsein geraubt.«

»Puffmutter«, sagte Vera voller Verachtung.

»Was glaubst du: Ist diese Geschichte die Basis für den Mord an Natalie?«, fragte ich.

»Na ja, hier ist ein starkes Motiv«, murmelte Rodenstock. »Stell dir diese ungeheure Masse an Geld vor. Die Männer in Bongard wollten dieses Unternehmen, sie wollten es unter allen Umständen. Eine Übernahme dieser Art ist absolut legal. Sie ist eine moralische und ethische Sauerei, aber kein Richter wird ein Urteil sprechen. Die Männer in Bongard wissen, dass Adrian Schminck auf junge, schöne Frauen abfährt. Und spielen Natalie an ihn heran. Wahrscheinlich hat auch Tina Colin bei dem Deal ein Schweinegeld abgezockt. Wetten?«

»Ist Schminck unverheiratet?«, erkundigte sich Vera.

»Ja. Nicht geschieden, nie verheiratet gewesen. Ein Goldjunge mit dickem Scheckbuch, einer, der das Leben liebt.«

»Was glaubst du«, fragte ich, »wie lange können sie ihn festhalten?«

»Nicht lange«, antwortete Rodenstock düster. »Bis heute Abend oder morgen Mittag. Er wird den besten Anwalt auffahren, den er kriegen kann. Sie haben keine Handhabe, sie haben ohne verwertbare Spuren nichts. Indizien ja, aber was heißt das schon? Ich möchte nicht mit Kischkewitz tauschen. Er steht unter wahnsinnigem Druck und sämtliche Medien schreien Zeter und Mordio. Es war garantiert nicht seine Idee, heute Morgen in Trier eine Pressekonferenz zu veranstalten. Und dann jetzt noch diese Geschichte mit den verschwundenen Polizeibeamten. Das ist ...«

»Augenblick«, ich hob die Hand. »Ich liebe Neuigkeiten, ich lebe von Neuigkeiten, aber bitte eins nach dem anderen. Kann ich zunächst einmal erfahren, wieso sie diesen Ladislaw Bronski, diesen Giftfässer-Transporteur, entlassen haben? Ich verstehe, dass Kischkewitz unter hohem Druck steht, dass er irgendetwas vorweisen muss. Aber wieso entlässt er diesen Polen? Er hätte diesen Erben Adrian Schminck verschweigen sollen und auf dem Polen beharren müssen, das wäre logischer gewesen, das ...«

»Reg dich nicht auf. Ich weiß, was du sagen willst.« Rodenstock nickte mir freundlich zu wie einem Pennäler, der etwas nicht begreift. »Kischkewitz wollte den Polen retten, verstehst du? Er meint, der Mann ist fremd hier und eigentlich der ideale Verdächtige. Der Mann passt genau in die Vorstellung von einem Verdächtigen. Und er passt auf die Aussage: Ich wusste doch gleich, dass so was nur ein Ausländer tun kann, so was macht keiner aus der Eifel. Der Mann wäre erledigt gewesen. Kischkewitz ist den Mittelweg gegangen: Er hat ihn entlassen und ihm einen Fahnder mitgegeben. Der Pole wird nicht auf den Lokus gehen können, ohne dabei beobachtet zu werden. Ist das jetzt klar?«

»Klar«, nickte ich. »Lebt dieser Pole hier, hat er in Deutschland eine Wohnung?«

»Nein. Er kommt mit seinem Truck und lädt ab. Dann wartet er auf eine Ladung, die in Richtung Polen soll. Er hat eine mickrige Bude in der Nähe des Autohofes in Hürth. Manchmal ist er zwei, drei Tage hier, manchmal eine Woche, manchmal länger. Wer immer in dieser Gegend etwas zu transportieren hat, kann sich an Ladi wenden. Sein Preis liegt bei der Hälfte der deutschen Preise.«

»Was hat er auf die Fragen geantwortet, für wen er die Fässer gefahren, warum er sie in Mannebach abgeladen und wie viel er dafür bekommen hat?«

»Seinen Auftraggeber hat er nicht verraten, sondern die Aussage verweigert. Er hat die Fässer in Mannebach abgeladen, weil er das Gelände dort kannte, gut kannte. Er kannte im Übrigen auch Natalie gut, weiß aber nicht, was sie an dem Tag unternommen hat. Er hat sie angeblich schon ein paar Monate lang nicht mehr gesehen. Seine Bezahlung war erstaunlich: Er hat zwanzigtausend in bar für den Transport genommen. Kischkewitz nimmt an, dass sich der Pole nun mit seinem Auftraggeber in Verbindung setzen wird. Auch deshalb die Überwachung.«

»Sind die zwanzigtausend Mark einbehalten worden?«, fragte ich weiter.

»War nicht mehr möglich. Die sind schon mit einem Kumpel von Ladi nach Polen gereist und bei seiner Frau angekommen. Ausgesprochen gut organisiert.«

»Können wir jetzt mal über die verschwundenen Polizeibeamten sprechen?«, forderte Vera. »Und was heißt eigentlich ›verschwunden‹?«

»Lässt du mich?«, wandte sich Emma an Rodenstock. »Also, das ist eine komische Sache. Die beiden Beamten sind durch die Mordkommission verhört worden und durften dann nach Hause gehen. Am nächsten Tag erschienen sie zur Spätschicht. Dann waren sie erneut zu Hause. Alles ganz normal. Inzwischen passierte Folgendes: Zwei Journalisten, Roland Grün und Stephan Sartoris vom Trierischen Volksfreund, recherchierten den Mordfall Natalie. Sie hatten eine gute Idee, wie man den Fall etwas anders darstellen kann, und zwar haben sie ihre Recherche an der Frage aufgehängt: ›Wer hat Natalie bei welcher Gelegenheit kennen gelernt?‹ Ein dankbares Thema, weil in der Provinz ja jeder jeden kennt. Die beiden marschierten zum Fotostudio Nieder und ließen sich die unzähligen, dort archivierten Fotos zeigen, die hier im Umkreis auf den Schützenfesten, Sportfesten, beim Karneval und auf den Junggesellenfesten gemacht worden sind. Und da Natalie ein fröhliches Kind war und sich überall sehen ließ, zudem auch sehr gern tanzte, fanden sie sechsundfünfzig Fotos, wo sie drauf war. Vier davon zeigten Natalie in äußerst enger Umarmung mit dem Polizisten namens Egon Förster, dreiundvierzig Jahre alt. Und weil Sartoris und Grün schon mal gerade dabei waren, suchten sie auch noch nach Fotos von Sven Hardbeck. Den fanden sie vierundzwanzig Mal, davon drei Mal regelrecht knutschend mit einer Frau namens Ulrike Benesch. Diese Frau, achtunddreißig Jahre alt, ist die Ehefrau des Polizisten namens Klaus Benesch, ebenfalls achtunddreißig Jahre. Und das war der zweite Polizeibeamte am Fundort der Leiche. Beide Fotosequenzen stammen aus dem vorigen Jahr. In dem Artikel, die die beiden findigen Redakteure daraufhin geschrieben haben, wird ungefähr stehen: ›Kein Mensch wird auf die Idee kommen, die beiden Polizeibeamten mit dem Täter in Verbindung zu bringen, aber dass die beiden toten jungen Menschen ausgerechnet mit diesen beiden Beamten privat zu tun hatten, ist sehr typisch für die Eifel. Hier ist jeder mit jedem verstrickte« Emma zündete sich einen Zigarillo an und blies den Rauch über den Tisch. »Gleich wird jemand die Zeitung in den Briefkasten schmeißen und ihr könnt es lesen. Aber die Geschichte geht weiter: Die beiden Redakteure hatten nun also die Bilder und wollten mit den beiden Polizeibeamten sprechen. Sie fuhren zur Polizeiwache und erfuhren dort, dass die beiden Beamten in Sonderurlaub geschickt worden seien. Wegen der extremen seelischen Belastung nach diesen Todesfällen. Die Redakteure wussten, wo die beiden Beamten wohnten, und fuhren dorthin. Beide Ehefrauen sagten, die Männer seien überraschend zu einem Sonderlehrgang berufen worden. Die Frauen gaben an, keine Ahnung zu haben, um was für einen Lehrgang es sich handle. Die Polizeiwache gab keine Auskunft mehr, weder zu dem angeblichen Sonderurlaub noch zu dem Lehrgang.« Sie schnaufte unwillig. »Du musst zugeben, dass das eine ziemlich verrückte Geschichte ist.«

»Ich ahne Böses«, murmelte Vera düster. »Tatsache ist, dass eine solche Geschichte, einmal an der Öffentlichkeit, in wenigen Tagen die Laufbahn eines Polizisten beenden kann.«

»Richtig«, sagte Rodenstock trocken. »Und da die journalistische Konkurrenz den Bericht lesen wird, müssen wir damit rechnen, auf sämtlichen Kanälen die Story serviert zu bekommen, dass zwei Polizeibeamte aufs Äußerste in diese mysteriösen Todesfälle verstrickt sind. Es werden Fragen gestellt wie: Waren sie die Mörder?« Er schlug mit flachen Händen leicht auf die Tischplatte. »Provinz ist mörderisch!« Dann grinste er mich an: »Ich sehe, dass mein Schüler ein misstrauisches Gesicht macht. Und als vortragender Legationsrat hoffe ich, dass er jetzt imstande ist, die eine wichtige Frage zu stellen, die unbedingt geklärt werden müsste.«

»Moment, Moment«, sagte Emma hell und belustigt. »Ich wette, er stellt die Frage. Vera, hältst du dagegen?«

»Ich denke, es gibt mindestens drei wichtige Fragen. Ja, ich halte dagegen. Einsatz?«

»Eine Flasche Champagner«, sagte Emma. »Richtigen.«

»Einverstanden«, sagte Vera. »Nun stell sie schon, die Frage aller Fragen.«

»Ich möchte mit einer kleinen Flasche Cola beteiligt werden«, begann ich. »Rodenstock hat Recht, eine Frage bleibt in dem ganzen Durcheinander nach wie vor vorherrschend. Gut, Müll spielt die Hauptrolle. Müll und das ganz große Geld, das mit Müll zu machen ist. Wir haben einen Hauptverdächtigen, der anscheinend eng mit Natalie verbunden war und aus dem Bereich Müll kommt. Wir haben den Fasstransporteur, der seinen Auftraggeber nicht verraten will. Und wir haben zwei Polizisten, die verschwunden sind, nachdem sie zumindest randständig mit beiden Toten in Verbindung gebracht werden konnten. Das ist die verzweifelte Lage. Rodenstock sagt immer: Besinne dich auf die Ausgangsposition. Das tue ich und stelle jetzt die Frage: Natalie hat in ihrem dunkelgrünen Austin Mini das Forsthaus in Bongard um elf Uhr morgens verlassen. Wo war sie, bis sie tot in dem Wald bei Mannebach aufgefunden wurde?«

»Das ist die richtige Frage«, nickte Rodenstock. »Emma hat gewonnen. Ohne eine Antwort auf diese Frage kommen wir nicht weiter.«

»Wie schön«, sagte ich. »Ich gehe jetzt ein paar Stunden schlafen.«

»Ich auch«, sagte Vera. »Ich bin ehrlich kaputt.«

»Ich muss etwas gegen die Schmerzen tun«, sagte Emma.

»Ich will nur geweckt werden, wenn Emma den Bescheid bekommen hat, dass sie keinen Krebs hat.« Ich sah sie an.

»Du wirst sehen, der alte Mann da oben will dich noch nicht. Ich habe kürzlich mit meinem Engel gesprochen. Der sagte: Emma können wir nicht gebrauchen, noch lange nicht.«

Ich stiefelte in mein Schlafzimmer. Cisco fegte im Garten herum und schnüffelte, als sei er auf der Spur eines Schwarzen Panters. Das Gartenrotschwänzchen flatterte in den Vogelbeerbaum.

»Es ist so, Baumeister«, murmelte Vera hinter mir. »Du kannst versuchen, dich rauszureden. Aber du kannst auch versuchen, den Mund zu halten. Ich mach dann den Rest.«

Ich hielt den Mund.