ZWÖLFTES KAPITEL

Der Zwischenfall nagelte uns zwei Stunden am alten, abgebrannten Forsthaus in Bongard fest. Die beiden Streifenpolizisten, die als Erste aufgetaucht waren, machten Bekanntschaft mit einer echten Lebenskrise, als Rodenstock bedächtig zu Protokoll gab, er habe durchaus den Eindruck gehabt, als sei alles ganz friedlich verlaufen.

»Friedlich?« Die Stimme des Polizisten war nahe der Hysterie. »Da hat einer einen Oberschenkelschuss, der Zweite sieht aus, als wäre er ein paar Mal gegen mein Garagentor gelaufen, und Sie sagen ›friedlich‹?«

»Na ja«, entgegnete Rodenstock, »es hätte doch alles viel schlimmer kommen können.«

»Man muss auch erst mal abklären, ob hier überhaupt so etwas wie eine kriminelle Handlung stattgefunden hat«, ergänzte ich.

»Wie bitte?«, fragte der Zweite und erweckte den Eindruck, als durchlebe er einen Albtraum.

»Ich habe gehört, dass Herr Schminck es sich noch mal überlegen will, ob er überhaupt Anzeige erstattet. Das ist der, der ein paar Mal gegen Ihr Garagentor gelaufen ist«, erklärte ich.

»Aha. Und der mit dem Schuss im Oberschenkel hat wahrscheinlich nur mal seine eigene Wasserpistole ausprobiert, wie?«

»Tja«, meldete Bronski sich schüchtern. »Ich habe mich eben geirrt.«

»Was haben Sie? Und wer sind Sie überhaupt?«

In dieser Tonart ging es längere Zeit weiter, und ehe so etwas wie ein Protokoll zustande kam, waren die Beamten völlig entnervt und der Rest der Anwesenden sehr erheitert. Das Protokoll entsprach der Stimmung: Kein Mensch konnte beim Nachlesen feststellen, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Der mit Abstand am häufigsten gebrauchte und treffendste Satz war: »Es ging alles sehr durcheinander, ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«

Wir fuhren nach Hause, Rodenstock telefonierte mit Kischkewitz und sagte, was zu sagen war. Dann fragte er nach den Bankauskünften über Fiedlers Konten und hörte lange Zeit zu. Als er das Gespräch beendet hatte, erzählte er: »Es scheint wirklich so, als rufe Fiedler um Hilfe, man möge ihn um Himmels willen endlich verhaften ... Er traf Natalie auf der Dauner Burg. Dann rannte er hinunter zur Kreissparkasse und hob zwölftausend Mark ab. Er rannte wieder zurück und gab Natalie das Geld. Dann haben sie die Dauner Burg verlassen, getrennt natürlich. Aber irgendwie muss Fiedler wieder an seine zwölftausend Mark gekommen sein. Denn am nächsten Tag hat er gegen Mittag zwölftausend Mark auf sein Konto bei der Volksbank eingezahlt. Mit anderen Worten: Er muss Natalie an dem Tag ein zweites Mal getroffen haben.«

»Klar, er hat sie getötet.«

»So nicht!«, wehrte Rodenstock ab. »Das ist zu einfach, das nimmt dir kein Staatsanwalt ab. Es ist ein starkes Indiz, mehr nicht.«

»Aber was willst du noch herausfinden?«

»Das weiß ich noch nicht«, murmelte er. »Werde jetzt nicht ungeduldig, Baumeister.«

Irgendwann trennten wir uns, um unsere Betten aufzusuchen, und ich war gerade in einem höchst erfreulichen Traum, in dem ich Ladislaw Bronski krumm und schief prügelte, als Vera mich an der Schulter rüttelte und flüsterte: »Guten Morgen, Baumeister, freust du dich ein bisschen?«

Ich antwortete: »Worüber soll ich mich denn freuen?«

»Na ja, darüber, dass ich wieder da bin. Es ist drei Uhr nachts und der Film war abartig schlecht. Es ging um einen jungen Mann, der eines Morgens harmlos zur Arbeit geht und in der U-Bahn ein Mädchen trifft. Die beiden haben sich noch nie gesehen, und als es dann ...«

Ich wurde erst wieder wach, als Emma mich sanft stupste und flötete: »Baumeister, es ist so weit: Bescherung!«

»Wie bitte?« Ich tastete rechts neben mir, Vera war nicht da. Dann erkannte ich Emma. »Was denn für eine Bescherung?«

»Wir haben ihn.«

»Wen?«

»Fiedler.«

Jetzt drang etwas bis an meine Schaltzentrale vor. »Ja, und?«

»Es gibt ein Treffen mit Fiedler. In einer Stunde. In seinem Haus.« Dann ging sie hinaus und zwang mich so, aus dem Bett zu steigen. Frauen sind durchaus nicht immer eine amüsante Erfindung.

Ich rasierte mich nicht, putzte nur flüchtig die Zähne und tauchte dann in meiner Küche auf, um zu erfahren, welche Kraft die Welt gedreht hatte. »Wer war das Genie?«

»Emma!«, sagte Vera.

»Ich nicht allein, Rodenstock auch.« Emma lächelte. »Pass auf: Gehen wir mal davon aus, dass Fiedler es nicht aushalten konnte, Natalie zu verlieren. Er hasste sie, aber er liebte sie auch. Ohne sie, dachte er wohl, ginge sein Leben nicht weiter. Was für Möglichkeiten hatte er, als er erfuhr, dass sie nach Los Angeles fliegen wollte? Im äußersten Fall wollte er auch dorthin fliegen, denke ich. Er kann einen Flug übers Internet buchen, wie Schminck das für Natalie getan hat. Er kann auch in ein Reisebüro gehen. Auf jeden Fall muss die Lufthansa, bei der Schminck für Natalie gebucht hat, ja die Passagierliste haben. Und siehe da: Zwei Tage vor Natalies Tod hatte Fiedler ein Ticket für dieselbe Maschine nach Los Angeles gekauft. Wir wissen, was passierte, wir können uns das Zwischenspiel sparen. Am Tag nach Natalies Tod stornierte Fiedler den Flug. Und zwar stornierte er den Flug über seinen Computer morgens um vier Uhr. Er brauchte den Flug nicht mehr, er wusste, Natalie wird nie wieder ein Flugzeug besteigen. Verstehst du das, Baumeister?«

»Wie bitte? O ja, sehr. Und wie geht es jetzt weiter?«

Rodenstock antwortete: »Wir haben Kischkewitz gebeten, zwei von uns mitzunehmen, wenn er Fiedler holt. Ich gehe mit und du, Baumeister. Wir haben ganz fair gelost, das Los fiel auf uns beide. Natürlich sind die Frauen jetzt sauer, aber Glück ist eben Glück. Wir sind um vierzehn Uhr mit Fiedler verabredet. Ich weiß nicht, ob er etwas ahnt, ich habe nur gesagt, dass wir noch einmal seine Hilfe brauchen.«

»Was ist mit seiner Frau?«, fragte ich.

»Die schicken wir aus dem Haus, die muss das nicht mit ansehen. Ziehst du dir bitte vorher noch ein neues Hemd an, Baumeister?«

»Was? O ja, natürlich. Ich rasiere mich sogar noch, wie immer an hohen Festtagen.«

Wenig später fuhren wir und Vera versäumte es nicht, zum Abschied zu betonen, sie würde uns ein erstklassiges Abendessen kochen. »Und ich besorge Champagner«, versprach Emma.

»Komisch«, knurrte Rodenstock unterwegs. »Ich bin noch nicht einmal erleichtert darüber, dass wir ihn haben. Mein Gefühl sagt mir, da geht noch etwas schief.«

»Nicht doch«, sagte ich. »Hör auf zu unken.«

Kischkewitz saß in seinem Pracht-BMW vor dem Haus und lächelte milde. »Dann wollen wir mal.« Er schleppte eine schwere Aktentasche mit sich.

Fiedler stand in der Haustür und wirkte gut gelaunt. »Ach, Sie auch, Herr Kischkewitz. Herzlich willkommen.«

Es ging in die Wohnlandschaft an einer offenen Küchentür vorbei. »Wollen die Herren einen Kaffee?«, fragte Svenja Fiedler.

»Danke, nein«, sagte Kischkewitz freundlich. »Mein Kreislauf besteht nur noch aus dem Zeug. Ein Wasser vielleicht.«

»Dann Wasser für alle«, bestimmte sie fröhlich.

»Herr Fiedler«, sagte Kischkewitz aufgeräumt, »haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Tonband mitlaufen lasse?«

»Nicht im Geringsten«, antwortete der Lehrer zuvorkommend. »Sind Sie denn weitergekommen?«

»Kann man sagen«, nickte Rodenstock, »glücklicherweise.« Er setzte sich und stand gleich wieder auf, weil Svenja Fiedler mit einem Tablett hereinkam, auf dem Gläser und Wasserflaschen standen.

»Frau Fiedler«, sagte Rodenstock freundlich, »das ist sehr nett von Ihnen. Aber dürfte ich Sie nun bitten, einen Spaziergang oder so etwas zu machen? Wir wollen in Details einsteigen und da ist es nicht üblich, dass Unbeteiligte dabei sind. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Das war herb, das war massiv und direkt, das war peinlich.

Svenja Fiedler erstarrte eine Sekunde und quirlte dann überaus freundlich: »Aber selbstverständlich!«

»Du kannst doch mit dem Hund gehen, meine Liebe«, sagte Fiedler. Er wurde sarkastisch: »Wir haben zwar keinen Hund, aber das macht ja nichts.«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an und es war Misstrauen in ihren Augen und so etwas wie Verachtung. »Was glauben Sie, wie lange werden Sie brauchen?«

»Vielleicht eine Stunde«, sagte Kischkewitz leichthin.

Sie machte die Tür hinter sich zu und wenig später hörten wir die Haustür ins Schloss fallen.

Kischkewitz fummelte an dem kleinen Tonbandgerät herum, setzte sich, sagte zur Probe »Eins, zwei, drei« und nickte dann. »Gut so. Tja, Herr Fiedler, wir haben jetzt gewissermaßen das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich denke, das ist Ihnen klar, nicht?«

Fiedler blickte auf die Tischplatte. »Ja.« Sein Gesicht war vollkommen unbewegt, ein wenig blasser als sonst, seine Hände waren ruhig.

»Sind Sie erleichtert?«, fragte Rodenstock.

»Erleichtert? Ja, nein, das weiß ich nicht. Ja, ich bin erleichtert.«

Es war eine Weile still, ehe Rodenstock, der alte Fuchs, den Eröffnungszug machte: »Herr Fiedler, bevor wir hier beginnen, uns um Einzelheiten zu bemühen, möchte ich ganz für mich privat etwas fragen, weil es mich quält. Haben Sie gar nicht bemerkt, dass Natalies Genick gebrochen war?«

Fiedler atmete etwas hastiger. »Nein, das habe ich nicht gemerkt, das stimmt.«

»Und wo ist es passiert?«

»Auf der Straße hinter Kelberg. Ich sagte ihr, wir würden jetzt zur Jagdhütte fahren. Sie begann zu schreien und auf mich einzuprügeln. Und dabei ist es passiert, sie ist mit dem Kopf auf das Lenkrad geschlagen und war sofort besinnungslos. Das heißt, ich habe gedacht, sie wäre besinnungslos.« Sein Mund zuckte. »Sie war schon tot. Das habe ich erst gemerkt, als ich sie in den Wald gelegt habe.«

»Und warum der Schuss?«, fragte Rodenstock weiter.

»Das war in mir drin. Der Befehl steckte mir im Hirn: Du musst sie töten. Ehe sie alles kaputtmacht, dich und deine ganze Familie, musst du sie töten.«

»Und warum haben Sie sie ganz ausgezogen?«

Er überlegte eine Weile. »Weil ich sie noch einmal sehen wollte. Ich wollte sie noch einmal sehen, wie sie wirklich war.«

»Und dieser Schmuck im Bauchnabel?« Rodenstock wirkte wie ein freundlicher, alter Arzt.

»Den hasste ich, den habe ich immer gehasst. Den fand ich so protzig.«

Irgendwo im Haus tickte eine Uhr.

»Wollen Sie erzählen, Herr Fiedler?«, fragte Kischkewitz zurückhaltend.

»Ja, gut. Ich werde es versuchen. Kann sein, dass ich nicht alles auf die Reihe kriege. Zu viele Dinge sind immer gleichzeitig passiert.« Er lächelte plötzlich. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine Havanna rauche?«

»O nein, bitte sehr«, sagte Kischkewitz. »Selbstverständlich.«

»Sie auch?«, fragte Fiedler Rodenstock.

»Das wäre gut«, nickte der. »Das gefällt mir.«

Ich stopfte mir eine Crown aus der 200er-Reihe von Winslow, Kischkewitz zog einen Stumpen von irgendwo hervor, Rodenstock bekam eine Havanna und einen Abschneider gereicht, den er dann an Fiedler zurückgab. Die Zigarren waren von der Marke Montecristo – endlich wusste ich, wie man das schreibt.

Wir saßen im Nu im blauen Dunst und Kischkewitz' Stimme war richtig gemütlich, als er sagte: »Wenn es recht ist, werden wir Sie zunächst nicht unterbrechen. Selbstverständlich biete ich Ihnen an, Ihren Rechtsbeistand herbeizurufen. Wir möchten keinen ungebührlichen Druck ausüben.«

Das war eine gefährliche Klippe und Fiedler wusste das, wie unschwer auf seinem Gesicht abzulesen war. »Nein, nein, das geht schon in Ordnung«, befand er. »Gutes Kraut, man darf sie nur nicht heißrauchen.« Er atmete ein paar Mal tief durch. »Vor etwa zwei Jahren fing alles an, also ein Jahr, bevor die Klasse Abitur machte. Das Gefühl kam nicht ruckartig, es kam eher so herbeigeschlichen. Zu Anfang war Natalie nur in meinen Träumen. Natürlich, ich kannte sie schon lange, seit Jahren. Sie war hübsch, eigentlich sogar schön. Ich begann, von ihr zu träumen. Die Träume waren erotischer Natur. Ich schlief mit Natalie, sie war in meinen Vorstellungen sehr hungrig und sehr offen. Nun ja, sie erfüllte jeden meiner Wünsche, ehe ich ihn aussprach. Ich wusste, dass sie was mit Sven Hardbeck hatte, dass sie mit ihm schlief. Jeder wusste das und sie selbst machte ja auch nie einen Hehl daraus. Aber das war eben eine Pennälerliebe und ich war mir sicher, dass das vorbeigehen würde. Endlich war es vorbei und eigentlich wusste auch das jeder. Zur gleichen Zeit hatte Natalie damit begonnen, sich selbst zugrunde zu richten. Eigentlich war das die Schuld der Mutter, die Natalie anhielt, sich wie eine Nutte zu verkaufen. Ich wurde schier verrückt, ich habe sie ein paar Mal gewarnt und ihr gesagt, sie würde sich auf dem direkten Ritt in die Hölle befinden. Aber sie lachte nur und sagte: ›Du willst doch nur, dass ich mit dir ins Bett steige !‹ Wenn wir allein waren, duzte sie mich.«

»Ich möchte Sie trotzdem eben mal unterbrechen«, bat ich. »Wie schafften Sie das, Ihre Gefühle vor den anderen zu verbergen? Das ist doch vor Jugendlichen schlicht unmöglich.«

»Anfangs hatte ich Schwierigkeiten damit«, gab er zu. »Aber dann entwickelte ich eine sichere Masche. Ich erlebte ja dauernd wieder, dass sich Leute in Natalie verknallten. Und diesen Leuten gegenüber wurde ich spöttisch und ironisch. Das gab mir den Anschein von Distanz, von einer Distanz, die ich niemals hatte. Wenn zum Beispiel die vier Musketiere sie verteidigten, nachdem Natalie irgendetwas Unmögliches gesagt hatte, bemerkte ich: ›Oh, die Herren Kavaliere!‹ Und wenn sich Leute wie mein junger Kollege Lampert ernsthaft verliebten, konnte ich ihnen gut mit Rat und Tat zur Seite stehen, weil Rat und Tat eigentlich mir selbst galten.« Fiedler schwieg einen Augenblick, sammelte sich.

»Haben Sie je mit ihr geschlafen?«, fragte Kischkewitz.

»Nein, das habe ich nicht, das ließ sie nicht zu. Sie war eine unglaubliche Spötterin.« Sein Mund mahlte, sein Gesicht verzog sich, er begann unvermittelt zu weinen. »Einmal auf einer Klassenfahrt glaubte ich, nun beginne der Himmel, die Seligkeit. Wir hatten ein Quartier außerhalb der Stadt. Und abends hatte die Klasse freien Ausgang. Natalie kam als Letzte zurück, es war schon wieder hell. Sie hatte ein Einzelzimmer und ich begegnete ihr auf dem Flur, als sie im Bademantel zum Bad ging. Sie sagte, sie müsste mir was erzählen, und zog mich in ihr Zimmer. Sie legte sich nackt auf ihr Bett, nahm meine Hand und legte sie sich auf den Bauch. Sie sagte, sie habe unbedingt einen Engländer ausprobieren wollen. Aber es sei richtig furchtbar gewesen, weil der Kerl total versagt habe. Während sie das alles erzählte, rieb sie ihren Bauch mit meiner Hand. Und dann, von einer Sekunde zu anderen, schob sie meine Hand weg, lachte und sagte: ›Du bist ein armer Irrer und du wirst immer ein armer Irrer bleiben. ‹ Nein, ich habe nie mit ihr geschlafen. Ich erlebte, wie sie immer weiter in den Abgrund rutschte. Einmal sagte sie mir: ›Wenn Männer mich kaufen, dann kriegen sie zwanzig Quadratzentimeter, nicht mehr – aber auf die kriegen sie Garantien Sie redete immer häufiger von Geld, bis sie nur noch von Geld sprach. Ich wusste, dass alles, was ich dachte und tat und mir vorstellte, vollkommen aussichtslos war. Aber es gab eben auch immer wieder Momente, in denen ich glaubte, ich könnte sie für mich gewinnen. Kurz darauf fing sie wieder an zu lachen und ihren Spott kübelweise über mir auszugießen. Es wurde immer böser, es wurde verrückter, wahrscheinlich wurde ich verrückt. Ich dachte, es würde aufhören, wenn sie das Abi hätte und die Schule verließ. Stattdessen wurde es schlimmer. Ich konnte nicht ohne sie leben, ich versuchte sie zu sehen, und ich weiß, ich machte mich dabei lächerlich. Ich sah zu, wie sie mit diesem Polen schlief, ich sah auch zu, wie sie mit diesem Schminck schlief. Es war entsetzlich.« Er weinte intensiver, das Schluchzen erschütterte ihn.

»Was geschah an dem Tag, an dem Sie sie töteten?«, fragte Kischkewitz, nachdem er die Kassette umgedreht hatte.

»Ich ... es ist so, dass ich Lücken habe. An alles kann ich mich nicht mehr erinnern ... Wir trafen uns auf der Dauner Burg. Sie wollte, dass ich ihr das Auto abkaufte. Ich war einverstanden, besorgte das Bargeld. Sie sagte, sie würde in zwei Tagen verschwunden sein und dass ich dann meine Ruhe haben würde. Ich hatte schon vorher ein Ticket für dieselbe Maschine wie sie nach Los Angeles gekauft. Mir war alles gleichgültig, meine Frau, meine Kinder, dies Haus. Ich wollte mit ihr zusammen sein, sonst gar nichts. Und ich hasste sie. Sie hatte alles in mir zerstört, was es gab. Sie hatte meinen Verstand geraubt, sie war mein Engel und gleichzeitig mein Todesengel. Ich verfolgte sie. Sie fuhr erst zu Schminck, dann zu Becker nach Maria Laach. Dort stellte ich sie und flehte sie an, hier zu bleiben oder mich mitzunehmen ... Wahrscheinlich wollte sie mich beruhigen, wahrscheinlich dachte sie, sie könnte mich später loswerden oder so. Jedenfalls stieg sie in mein Auto, freiwillig. Als ich sie fragte, wohin ich fahren sollte, antwortete sie: ›Zur Hütte, wohin denn sonst?‹ Wir sprachen kaum, bis sie auf mich einprügelte, weil sie wohl spürte, dass ich vollkommen verzweifelt war, und ihr das Angst machte. Ich weiß nicht genau, wie es passieren konnte, dass ihr Genick brach, ich weiß nur, es war ein furchtbares Geräusch.« Jetzt konnte er sich gar nicht mehr beherrschen, er legte den Kopf auf die Tischplatte und seine Hände schlugen mörderisch laut immer wieder auf die glatte Fläche.

Wir rührten uns nicht.

Plötzlich sagte Kischkewitz erstickt: »Nein!« Dann schrie er »Nein!« und versuchte aufzustehen.

Es war zu spät. Svenja Fiedler war in der Tür erschienen, glitt heran und richtete einen Revolver auf den Kopf ihres Mannes. Dann schoss sie zweimal und ließ den Revolver auf die Tischplatte fallen. Sie fummelte etwas aus ihrer Strickjacke und warf es neben den Revolver.

Es war der Brillant.

Svenja Fiedler war schneeweiß im Gesicht und ihr Mund wirkte wie eine riesige Wunde.

»Natalies Sachen sind in einem Abfallkarton im Keller. Da war auch der Revolver«, sagte sie ohne jede Betonung. Sie starrte auf den Kopf ihres Mannes, der zerschmettert auf der Tischplatte lag. »Als er das letzte Mal mit mir schlief, und das war vor einem halben Jahr, nannte er mich Nati, sechs Mal Nati.« Sie sah Kischkewitz an. »Ich habe das Haus gar nicht verlassen. Ich habe Ihnen zugehört. Legen Sie mir jetzt Handschellen an?«