SECHSTES KAPITEL

Wir wurden wach, weil Rodenstock irgendwo im Treppenhaus »Ich fasse es nicht! Ich fasse es nicht!« schrie.

Die Tür zu meinem Schlafzimmer knallte auf und donnerte gegen die Wand, als tobe eine Springflut herein. Rodenstock versuchte gleichzeitig mit Cisco das Schlafzimmer zu erobern, was zunächst schief ging, denn Rodenstock stolperte über das Tier und ging zu Boden. Der Hund jaulte entsetzlich und verschwand erst einmal unter dem Bett.

Dann wurde mir bewusst, dass Vera höchst unzüchtig im Stande vollkommener Nacktheit neben mir ruhte. Ich versuchte sie zuzudecken, was sie offensichtlich als Zumutung empfand und zum Zwecke der Abwehr beide Arme ausfuhr. Eine ihrer Fäuste traf mich passgenau am Kinn. Sie brabbelte: »Was issen?« Während ich verzweifelt daran arbeitete, sie irgendwie darauf aufmerksam zu machen, dass wir jetzt zu viert waren, hüpfte Cisco auf das Bett und traf mein kaputtes Bein. Ich weiß nicht, ob ich aufgeschrien habe, aber das alles war auch vollkommen unwichtig, denn Rodenstock stand wie ein Fels vor mir, hatte beide Arme wie zur Kreuzigung ausgebreitet und brüllte: »Sie ist gesund!«

Daraufhin ließ er sich fallen, seine rechte Hand klatschte auf meine Schulter und seine linke Hand landete zielgerichtet auf Veras Busen. Fünf Sekunden herrschten Ruhe, bis wir merkten, dass Rodenstock weinte.

»Ach, du lieber Himmel!«, keuchte Vera und versuchte eine Bewegung.

»Lass es!«, flüsterte ich.

Emma erschien in der Tür und sagte: »Es ist schon merkwürdig: Kaum weiß er, dass alles gut ist, wendet er sich Jüngeren zu. Und das gleich zweigeschlechtlich! Gott der Gerechte!«

Irgendwie lösten wir uns aus den Verknotungen und bei der Gelegenheit stellte ich fest, dass ich die Szene ebenfalls ohne den Hauch eines Bekleidungsstückes durchgespielt hatte.

Vera stammelte ungefähr zehnmal: »Entschuldigung«, ich röhrte: »Endlich mal eine gute Nachricht!«, und kniff dabei die Beine zusammen, als wollte mir jemand an die Unschuld.

Plötzlich fing Rodenstock an zu lachen, Emma prustete auch los und wir konnten wieder ins Leben eintreten. Die ganze Sache hatte wahrscheinlich nicht länger als hundert Sekunden gedauert. Erwachsene sind eine merkwürdige Rasse.

Später im Flur erklärte Rodenstock: »Es ist eine gutartige Geschwulst. Sie muss raus, aber sie ist gutartig. Ich liebe gutartige Geschwulste!«

»Mit so einer Äußerung würde ich vorsichtiger sein«, wandte ich ein.

»Scheiß drauf«, sagte Vera. »Es ist doch nichts passiert, oder? Darf ich mich jetzt besaufen?«

»Du darfst«, nickte Emma. »Was willst du, Baumeister?«

»Würstchen mit Kartoffelsalat«, antwortete ich. »Der Kartoffelsalat muss aber handgeschnitzt sein.«

»Kriegst du«, sagte Emma. Sie griff ein Wasserglas mit heller Flüssigkeit und trank es aus. »Wenn es Krebs gewesen wäre, hätte ich das Gleiche getan.« Auf meinen fragenden Blick hin, gestand sie verschämt: »Es ist Gin, ich habe ihn heimlich ins Haus geschmuggelt.«

»Ich hätte gern einen Whisky«, sagte Rodenstock träumerisch. »Einen großen, steifen Whisky mit nicht zu viel Wasser. Ich liebe dich, Frau.«

Gegen Mittag dieses denkwürdigen Tages fühlte ich mich von Alkoholikern umgeben, die sich lallend darüber verständigten, dass die Welt eigentlich prima sei, die Eifel ganz fantastisch, eine bestimmte Geschwulst geradezu lächerlich und der liebe Gott eine sehr ernst zu nehmende, im Ganzen aber höchst gelungene Einrichtung.

Ich flüchtete. Zunächst in die Wirtschaft von Markus nach Niederehe, der mir tatsächlich Würstchen mit Kartoffelsalat auftischen konnte und der die tote Natalie im eigenen Saal erlebt hatte.

»Ein Klasseweib!«, befand er. »Aber viel zu schön, um bekömmlich zu sein.« Von der Männerrunde in Bongard wusste er nichts, ebenso wenig von den beiden Polizeibeamten. Tina Colin dagegen kannte er und bezeichnete sie nicht ohne versteckte Anerkennung als ein ›besonders krasses Weib‹, was mir weiter half als jede blumige Beschreibung.

Danach fuhr ich weiter zu Ben, zum Teller nach Hillesheim, weil es bei bestimmten Anlässen gut und richtig ist, die Kneipen abzuklappern. Dort aß ich ein Eis mit viel Sahne.

Als ich gerade dachte, ich platze, sagte Bens Frau Andrea nachdenklich: »Ich möchte mal wissen, ob so was Schreckliches wie dieser Mord nicht nur deshalb passieren konnte, weil keiner wusste, wie es der Natalie wirklich ging. Und weil auch keiner das wirklich wissen wollte. Noch nicht mal ihre eigene Mutter.«

Ich antwortete nicht darauf.

Ich zahlte und steuerte langsam auf Daun zu. Ich überlegte, wer mir dazu etwas erzählen könnte, und dachte an den Oberstudienrat Detlev Fiedler. Ich wusste, er wohnte in Pützborn am so genannten Dollarhügel, wo sich Leute mit Geld ihre Häuser bauten und einen besonders schönen Blick auf die Eifel hatten. Als ich tankte, erhielt ich die Auskunft, wo Fiedlers Heim genau lag.

Ich stieg aus dem Wagen, ging die paar Stufen zur Haustür der Fiedlers hoch und klingelte. Vielleicht hatte ich Glück, vielleicht war er da, vielleicht wusste er Neues.

Die Frau, die mir öffnete, war schlank, wirkte elegant und leise. Sie trug eine Pagenfrisur, ihr Haar war dunkelbraun, ihr Gesicht wirkte blass und ein wenig verhärmt, die Augen waren umschattet und nichts sagend dunkel. Sie war unsicher. »Ja, bitte?«

»Mein Name ist Baumeister, ich möchte Ihren Mann wegen der Sache mit Natalie Colin sprechen. Wir kennen uns schon.«

»Ja«, murmelte sie tonlos. »Er ist in seinem Arbeitszimmer.« Sie wusste nicht, was sie mit mir anfangen sollte.

»Ich kann hier warten«, sagte ich hastig.

»O nein, kommen Sie doch herein. Diese Natalie hat alles durcheinander gebracht, nichts ist mehr normal.« Sie lächelte schmal und verschwand in die Tiefen des Hauses.

Ich erreichte das Wohnzimmer. Es war groß, ganz mit rötlichen Toskana-Fliesen belegt und beherbergte, außer einer Unzahl von Bücherregalen, zwei Sitzecken, die eine bunt, die andere in schwarzem Leder. Überall standen Blumen, das Haus war geradezu unheimlich still.

Fiedler kam von irgendwoher hereingesegelt und lächelte sein ewiges Lächeln. »Entschuldigung, ich habe gleich einen Interviewtermin mit SAT 1. Was kann ich für Sie tun? Nehmen Sie doch Platz.«

Die Frau im Hintergrund fragte: »Kaffee?«

»Das wäre sehr nett.« Ich setzte mich in einen der Ledersessel. »Darf man hier rauchen?«

»O ja, selbstverständlich. Aschenbecher ... Moment, irgendwo muss einer sein. Svenja! Einen Aschenbecher, bitte.«

Die Frau eilte wieder herein und stellte das Geforderte vor mich hin. »Der Kaffee dauert aber ein paar Minuten«, sagte sie gehetzt.

»Schon in Ordnung«, erwiderte der Lehrer mit der gleichgültigen Höflichkeit eines Patriarchen und wandte sich an mich: »In diesem Haus verkehren seit Tagen nur noch Journalisten, es ist ein richtiger Rummel. Meine Frau kann das nicht gut vertragen.«

Ich stopfte mir die Crown 300, die eine gemütliche Stimmung verbreitete, weil sie so großväterlich gebogen war und so klobig und klein nach betulichem Förster aussah, der gelassen durch sein Reich schreitet. »Ich muss noch einmal auf Ihre Hilfe hoffen. Alles, was ich inzwischen weiß, deutet darauf hin, dass der Mord an Natalie verübt wurde, weil sie zu viel wusste und gefährlich für Geschäftemacher war. Sie war im Weg. Sie werden gehört haben, dass man diesen Erben aus Boos festg enommen hat...«

»Ja«, meinte er nachdenklich. Er breitete leicht die Arme aus. »Ich denke, dass die Mutter Colin ihre Tochter in etwas hineingezogen hat, was die Tochter zerstörte. Wenn ein junger Mensch sich tagaus, tagein in der Nähe solch reicher und sicherlich herrischer Männer herumtreibt, kann das nur zur Folge haben, dass er die Realität verliert – wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ich weiß, ich weiß. Hat Natalie eigentlich viel über Geld und Geldeswert geredet?«

»Auffallend häufig«, nickte er. »Natalie vertrat den Standpunkt: Wenn man erfolgreich sein will, muss man den Erfolg anpeilen und alles andere beiseite legen. Ich denke, das ist eine viel sagende Ansicht, das ist die Theorie eines Einzelkämpfers. Es ist auch die Charakterisierung eines gewaltigen Problems in der Gesellschaft. Wir leiden unter Vereinzelung, unter Vereinsamung.«

»Wenn ich Ihnen zuhöre, kann ich nur den Schluss ziehen, dass Natalie mit Svens Engagement in dem Südamerika-Projekt nicht einverstanden gewesen sein kann.«

»Wir haben vor dem Abitur mal darüber diskutiert. Sven erzählte von seinem Vorhaben und Natalie tat das Ganze als romantischen Sozialquatsch ab. Ich kann mich gut an diesen Ausdruck erinnern: Sozialquatsch. Sven war tief gekränkt.«

»Warum, zum Teufel, redet Natalies Mutter dann eigentlich ständig von einer jugendlichen Romanze, die es offensichtlich doch niemals gegeben hat?«

»Weil alle Menschen sich ihr Leben zurechtbiegen, zurechtlügen. Ich habe in den letzten Tagen viel über diese Jugendliebe nachgedacht. Im Grunde lebten die beiden in sehr verschiedenen Welten. Sicher, sie waren fasziniert voneinander und über große Strecken hinweg auch ineinander verliebt. Aber eigentlich gab es keinen Weg zwischen diesen Welten. Ich bin übrigens immer noch der Überzeugung, dass Sven Natalie getötet hat. Dass der Täter den Diamanten aus ihrem Bauchnabel herausriss, der eindeutig von Sven stammte, ist für mich ein großes Indiz.«

»War sie eine Nutte?«

In diesem Moment betrat Fiedlers Frau mit einem Tablett den Raum und setzte es zwischen uns auf den Tisch. Sie stellte Tassen vor uns hin, die Kaffeekanne auf den Tisch, Milch dazu, Süßstoff, Zucker, kleine Löffel.

Starr sagte sie: »Ich bin ja nicht maßgebend, aber natürlich war sie eine Nutte. Und was für eine!«

»Svenja!« In Fiedlers Stimme waren Wut und Hilflosigkeit.

»Ist aber wahr!«, rief sie schrill. »Die hat doch rumgemacht, die hat in der Gegend rum... gefickt!«

»Das Wort wird in diesem Haus nicht benutzt!« Fiedler schrie, stockte, sah mich an. »Tut mir Leid. Bei uns liegen im Moment die Nerven bloß. Dauernd werde ich nach meiner fachlichen Einschätzung gefragt, soll mich objektiv äußern. Aber ich war auch ihr Lehrer und ich hatte eine positive Meinung über Natalie. Es gibt Leute, die mir das jetzt übel nehmen.« Er schaute seine Frau strafend an.

»Tut mir Leid«, murmelte sie und ging davon.

»Da scheiden sich die Geister«, sagte ich. »War sie eine Nutte?«

»Wissen Sie, ich gebe zu, dass ich Schwierigkeiten habe, dergleichen zu beurteilen. Nach Lage der Dinge muss es so gewesen sein. Nach Lage ihrer Seele wurde sie wahrscheinlich ausgenutzt, gesteuert. Und sie redete sich ihre Wirklichkeit schön. Genauso wie ihre Mutter sich die Wirklichkeit schönredete.«

Ich fühlte mich nun unwohl, wollte schnell aus diesem Haus verschwinden, die Stille kam mir eisig vor. »Danke für das Gespräch.«

»Keine Ursache«, nickte Fiedler freundlich. Er begleitete mich bis zur Tür. Dort sagte er leise, als könne jemand Verbotenes hören: »Ich hoffe, Sie sind durch den Temperamentsausbruch meiner Frau nicht irritiert.«

»Nein, nein, das kann ich gut verstehen. Der Tod von Natalie und Sven lässt niemanden unberührt. Nehmen Sie Ihre Frau einfach mal in die Arme.«

Er starrte mich mit eindeutiger Verwunderung an, erwiderte langsam: »Das wäre eine Möglichkeit. Seitdem es passiert ist, bin ich nicht mehr von dieser Welt.« Er blieb in der Tür stehen, bis ich im Auto saß und startete.

Ich war noch nicht in Rengen, als es mir gelang, Kischkewitz zu erreichen. »Ich habe ein paar Fragen. Was haben die Geschäftemacher aus dem Forsthaus gesagt?«

»Vieles und gleichzeitig nichts. Zur Sache haben wir von ihnen keinerlei Aussagen erhalten, die wirklich von Bedeutung sind.«

»Wie schätzt du die Typen ein?«

»Knallhart bis zur Brutalität. Bei denen geht es vierundzwanzig Stunden am Tag um Geld, nur um Geld. Keiner von ihnen will engeren Kontakt zu Natalie gehabt haben. Sie mochten sie, sie betrachteten sie väterlich, aber das ist auch schon alles. Das ist so die Sorte, die ihre eigene Großmutter verkauft und anschließend sagt: ›Sieh mal, meine Großmutter? Das wusste ich nicht. ‹ Eine besondere Rolle in der Truppe scheint Hans Becker zu spielen. Der führt den Spitznamen ›der Abt‹. Er ist ein ausgesprochen gelassener, väterlicher bis großväterlicher Typ. Was aber letztlich über seine möglichen kriminellen Handlungen nichts aussagt.«

»Was sagt ihr zu den verschwundenen Polizisten?«

»Das ist eine komische Sache. Die untere Polizeibehörde mauert gegen die obere.« Kischkewitz lachte. »Die von der Polizeiwache haben mir gesagt, dass ich mich nicht darum zu kümmern brauche, weil sich alles leicht erklären lässt. Aber eines werden sie nicht erklären können: Da ist nämlich einem der beiden Polizisten ein Rahmen mit sechs Schuss von einer Walther PPK abhanden gekommen. Und dass die beiden mit Natalie und Sven zu tun hatten, ist aufgrund der Beweislage nicht abzustreiten. Ein gefundenes Fressen für deine Branche.«

»Hast du jemals daran gedacht, dass Walter Hardbeck ein idealer Mörder wäre?«

»Flüchtig«, bestätigte er. »Wie sieht die Motivlage deiner Meinung nach aus?«

»Walter Hardbeck erlebt, dass sein Sohn seit Jahren an dieser Natalie leidet. Der Sohn liebt Natalie, sie liebt angeblich auch den Sohn. Trotzdem lässt sie sich einspannen für alle möglichen Dinge. Sven fantasiert, dass sie ein nuttenartiges Leben führt, und wahrscheinlich liegt er mit seinen Fantasien gar nicht so sehr daneben. Der Vater erfährt das als Teilnehmer der Männerrunde aus einer anderen Warte. Er weiß, dass diese Natalie seinen Sohn seelisch zugrunde richtet. Er tötet sie. Das Einzige, was er dabei an Emotion erkennen lässt, ist das Herausreißen des Brillanten aus Natalies Bauchnabel. Möglicherweise ahnt Sven, was da geschehen ist. Möglicherweise weiß er es. Und er bringt sich um. – Wieso redest du eigentlich mit mir?«

»Weil ich entschieden habe, dass ich allein entscheide, mit wem ich rede«, entgegnete Kischkewitz. »Im Übrigen scheitert deine Überlegung an der Tatsache, dass Svens Vater ein Alibi hat. Er hatte zwei Besucher bis gegen zwei Uhr nachts. Geschäftsbesuch. Sein Alibi ist absolut wasserdicht. Hardbeck kann natürlich den Auftrag zum Mord erteilt haben, zum Beispiel an Ladislaw Bronski. Wir behalten diese Idee mal im Auge. Mach's gut.«

Ich rauschte durch Brück, fuhr aber nicht nach Hause. Tina Colin war mein Ziel.

Auf der Höhe neben dem Lavabruch hielt ich wieder an und stopfte mir eine Pfeife. Zuweilen tut es gut, einfach stillzuhalten und in die Landschaft zu schauen. Im Himmel über mir rüttelte ein Turmfalke, irgendeine Maus würde dran glauben müssen. Auf einer rosafarbenen Malve saß ein Zitronenfalter und wurde von einem Blutströpfchen umkreist. Dicht daneben leuchtete das dunkle Rot einiger Teufelskrallen. Woher kam der Name? Ich wusste es nicht, ich musste es gelegentlich nachschlagen.

Mein Handy störte die Idylle und Rodenstock fragte vorwurfsvoll: »Wieso lässt du uns in den Stunden des Triumphes so elendiglich allein?«

»Als ich dich zuletzt gesehen habe, hast du auf meinem Sofa gehockt und blöde vor dich hin gekichert. Du hast gelallt, dass die Götter mit dir seien und dass du an allen niedrigen Problemen dieser Welt nicht mehr das geringste Interesse hättest.«

»Das ist aber doch schon ein paar Stunden her. Wo bist du?«

»Auf dem Weg zu Tina Colin. Ich bin bald zurück.«

Ich fuhr den Rest des Weges nach Bongard, und als ich vor dem Haus Tina Colins anlangte, wollte ich sofort wieder umkehren. Drei Kombis mit Trierer Zulassung standen im Hof und sechs Männer schleppten Akten und Kartons voll mit Papieren aus dem Haus.

Einer der Männer, ein besonders schneidig wirkender, ungefähr vierzig Jahre alt, kam heran und fragte: »Kann ich was für Sie tun?«

»Ich möchte mit Tina Colin sprechen.«

»Aha. Wohl Presse, wie?«

»Ja. Ist sie zu Hause?«

»Ja, ist sie.«

»Was tun Sie denn hier?«

»Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität.«

»Das ist ein Wort. Ist Tina Colin drin?«

»Auf der anderen Seite des Hauses.«

»Danke schön.«

Tina Colin hockte auf der Bank und starrte weinend ins Nichts. Sie hielt ein weißes Taschentuch in der verkrampften rechten Hand und hob nicht einmal den Kopf.

»Die räumen mir die Bude aus, sie meinen, sie finden wichtige Unterlagen.«

»Und? Werden sie was finden?«

Sie schniefte. »Bin ich doof?«

»Nein. Sind Sie nicht. Wie läuft die Sache mit der Illustrierten?«

»Ist seit heute am Kiosk. Der Titel heißt Frau Colins Gewerbe und es ist eine Geschichte über dieses Haus hier und über mich. Natalie spielt eine Nebenrolle. Ich hätte sie in den Tod gejagt. In der Geschichte sind mindestens sechs schwere Fehler. Die haben mich aufs Kreuz gelegt. Und sie werden dafür zahlen müssen.« Sie schnauzte sich in das Taschentuch. »Ich hätte auf Ihre Warnung hören sollen. Wollen Sie irgendetwas? Ein Wasser, einen Saft? Obwohl – die da drinen werden glauben, dass ich was aus dem Haus stehlen will.«

»Nein, danke.« Ich wollte sie provozieren: »Ich nehme an, dass Sie wissen, dass Adrian Schminck vorläufig in Haft sitzt?«

»Ja. Aber Schminck war es nicht.«

»Woher wollen Sie das wissen? Er hat Natalie angeblich geliebt.«

»Das haben angeblich viele.«

»Und Sie haben es zugelassen. Sie haben es tatkräftig unterstützt. Wie viel ist Ihnen für diesen Deal geboten worden? Und behaupten Sie bitte nicht, dass Sie nicht wissen, was ich meine.«

»Nichts.« Das kam so nebenbei wie eine Selbstverständlichkeit.

»Das glaube ich Ihnen nicht. Es ging um einen Siebzig-Millionen-Deal. Und Sie haben das gewusst und sich damit einverstanden erklärt, dass Natalie Schminck ein bisschen auf die Sprünge hilft. Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich ›ein bisschen‹? Natalie hat mit ihm geschlafen. Mit wem, zum Teufel, hat sie eigentlich nicht geschlafen? Und warum bescheißen Sie sich ständig selbst? Warum erzählen Sie mir, dass Sie immer genau wussten, was Natalie tat? Sie wussten es nicht. Von dem Tag ihres Todes wissen Sie nichts, nicht wahr? Wo kann sie hingefahren sein?«

»Ich habe keine Ahnung.« Ihr Gesicht war weiß, kalkig weiß.

Ich fuhr in gemütlicherem Ton fort: »Es kommt sowieso raus, Tina Colin. Irgendwann kommt das alles auf den Tisch. Sie können gar nichts dagegen tun.«

Sie drehte den Kopf zu mir und grinste unter Tränen. »Doch, ich kann etwas tun, ich habe schon etwas getan.«

»Was denn, bitte?«

»Mich in Sicherheit bringen.«

»Nein. Das nutzt nichts.«

»Das nutzt doch etwas.« Sie war nun ganz ruhig. »Ich habe schon einen Anwalt. Aus München. Und ich sage nichts mehr.«

»Das wird nichts nutzen, wenn die Staatsanwaltschaft Ihre Konten findet.«

Es war einen Moment ruhig, irgendwo schimpfte ein Spatz, eine Katze strich in einiger Entfernung durch das hohe Gras.

Plötzlich lachte Tina unterdrückt. Es war so verblüffend, dass ich es nicht glauben mochte. Aber es stimmte wirklich, sie lachte in stiller Heiterkeit.

»Hör zu, Junge. Deine Weste hat viele Taschen. Läuft in einer ein Tonband mit?«

»Nein«, antwortete ich.

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich diese Runde beherbergt habe. Viele, viele Jahre lang. Da kriegt man vieles mit. Und man bekommt ein gutes Verhältnis zu Bargeld.« Sie zündete sich eine Zigarette an und schwieg.

»Heißt das, du hast...?«

»Richtig, das heißt es.«

»Du hast es nirgendwo eingezahlt?«

»Nie.«

»Mein lieber Herr Kokoschinskü«, staunte ich ehrfurchtsvoll. »Und was ist bei Feuer, Sturm und Wasser?«

»Nichts«, sagte sie zufrieden.

»Wusste Natalie das?«

»Nein, natürlich nicht. Sie hätte es wahrscheinlich gnadenlos geklaut. Wirst du mich verpfeifen?«

»Nein.«

»Was glaubst du, wer Natalie getötet hat?«

»Ich weiß es nicht. Ich ahne nicht einmal etwas. Sven hat sie geliebt, trotz allem, das scheint sicher. Aber hat sie auch den Sven geliebt?«

»Manchmal ja, manchmal nein. Wie das Leben so spielt. Der Junge war hoffnungslos naiv.«

»Hatte sie zu einem aus der Runde eine besondere Verbindung?«

»Ich würde sagen, zu Hans Becker. Dem hat sie am ehesten vertraut. Aber dass Hans Becker ihr etwas zuleide tun konnte, das glaube ich nicht.«

»Hat sie mit ihm geschlafen?«

»Weiß ich nicht.«

Baumeister, zier dich nicht. »Du erinnerst mich an den Zauberer im Zauberlehrling. Sie ist dir entglitten, nicht wahr?«

»Schon lange«, flüsterte Tina Colin. »Seit Weihnachten weiß ich es. Vor anderthalb Jahren. Da tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte. Sie versteckte Geld vor mir.«

»Von wem war das?«

»Das weiß ich nicht und sie wollte es mir nicht sagen.«

»Viel?«

»Zehntausend Mark. Sie hatte sie in die Kommode neben ihrem Bett gesteckt. Sie sagte: Das geht dich nichts an.«

»Was hast du kassiert, Tina? Was hast du genommen für das Spiel mit Adrian Schminck?«

»Das ist doch gar nicht gelaufen, da war nichts zu holen.«

»Das ist gelogen«, sagte ich energisch. »Du hast doch immer vorher kassiert, oder nicht? Du bist doch clever. Also, wie viel war es?«

»Achthunderttausend.«

»Etwa auch in bar?«

»Nur in bar.«

»Wie viel davon stand Natalie zu?«

»Eigentlich fünfundzwanzig Prozent.« Tina Colin heulte Rotz und Wasser.

»Was heißt eigentlich?«

»Na ja, ich habe rausgekriegt, dass sie selbst auch Forderungen gestellt hat. Ohne ein Wort zu sagen.«

»Weißt du, wie viel?«

»Nein. Sie sagte: Wenn ich schon verheizt werde, will ich den Preis selbst bestimmen. Sie ... sie hat nicht verstanden, dass ich das alles für sie getan habe. Nur für sie.«

»Und du hast wirklich keine Ahnung, wohin sie fuhr, als sie an dem Morgen hier um elf abhaute?«

»Nein.«

»Wer könnte denn vielleicht etwas wissen?«

»Ich würde Ladi fragen. Ladi ist ein Typ, den sie mochte.«

»Was hältst du von Walter Hardbeck als Mörder?«

Sie war nicht erstaunt. »Warum? Weil Sven sie haben wollte? Fürs Leben? Walter? Ich habe über jeden nachgedacht, ziemlich lange. Auch über Walter. Vergiss ihn.«

»Was hat dich eigentlich so hart gemacht?«

»Das Leben, mein Lieber, das Leben. Wir waren acht Kinder zu Hause. Geld? Geld war nicht. Mein Vater soff, meine Mutter soff. Wir kamen von einem Heim ins andere. Da habe ich beschlossen, nie mehr zu hungern, in keiner Beziehung.«

»Hast du eigentlich auch mit den Männern geschlafen?«

»Ich? Nein. Nie. Dabei habe ich sogar einen Versuch als Bordschwalbe hinter mir. In Bonn, als ich jung war. Ich tauge nicht dafür, das ist nichts für mich.«

»Tina, du fängst an, offener zu werden. Irgendjemand muss dir mal sagen, dass du eigentlich mutig bist. Ich brauche noch eine Information und du solltest noch einmal mutig sein. Wie lief dieser Hotelbetrieb hier genau ab? Wie viel Zimmer hast du dafür benutzt?«

»Drei, zur Not vier, wenn ich das Bügelzimmer ausräume. Na ja, das war so wie üblich. Jemand trinkt zu viel, jemand will nicht mehr Auto fahren. Dann schläft er hier.«

»Und dafür bezahlte er?«

»Selbstverständlich. Wir haben ausgemacht, dass die Nacht mit Frühstück zweihundert Mark kostet. Die Zimmer haben Fernseher, Telefon, Badezimmer und so.«

»Was ist denn an diesem Ladi so Besonderes, dass Natalie ihn mochte?«

»Der ist einfach ein Kumpel, sagte sie immer.«

»Wenn jemand von den Männern hier schlief und etwas von Natalie wollte ... Was passierte dann?«

»Darüber will ich nicht sprechen«, erwiderte sie schroff und augenblicklich schienen alle Tränen versiegt.

»Was kostete sie?«

»Baumeister, bitte!«

»Was kostete sie? Ich führe dir nur vor, wie die Fragen aussehen werden, die man dir stellen wird. Stunde um Stunde, Tag um Tag.«

»Natalie ... Ich weiß es nicht. Natalie sagte, sie schliefe nicht wirklich mit den Männern. Sie sagte, sie tue nur so.«

»Der alte Nuttenspruch«, stellte ich fest. »Hat sie mit allen geschlafen?«

»Mit allen, außer Hardbeck. Was glaubst du, werden die mich verhaften?«

»Irgendwann ja. Irgendwann haben sie so viel Material gegen dich gesammelt, dass sie dich zu einem etwas längeren Gespräch bitten werden. Und ich würde dir nicht raten, dich zu verdrücken. Sie finden dich.«

Sie nickte. »Ich hab ja Geduld«, murmelte sie. »Baumeister, bitte komm mal wieder vorbei auf ein Schwätzchen.« Sie weinte wieder. »Kein Mensch spricht mehr mit mir.«

Ich trollte mich und dachte über diese Tina nach. Über ihre geradezu unglaubliche Energie, sich aus dem Elend herauszuarbeiten. Und darüber, was sie dabei mit ihrer Tochter gemacht hatte.

Ich hatte jetzt die Wahl: Bronski oder – der Reihe nach – seine Herren und Meister?

Als ich auf meinen eigenen Hof abbog, kam mir Vera entgegen. Sie trug ein Tablett mit Brot, Käse, Wurst, Butter und ähnlichen Dingen.

Sie hielt inne und sagte: »Ich bin verunsichert, Baumeister. Ich weiß nicht, ob das gut war mit uns. Ich denke, es tut dir Leid, oder?«

»Nein, wie kommst du darauf?«, sagte ich. »Und es war gut. Bist du wieder nüchtern?«

Sie strahlte, stellte das Tablett auf das Kopfsteinpflaster und umarmte mich. Sie flüsterte: »Ich war so schrecklich durcheinander. Und ich habe einen fürchterlichen Knutschfleck an einer ganz und gar unmöglichen Stelle.«

»Es gibt keine unmöglichen Stellen, es gibt nur christliche Tabuzonen. Wo ist die Stelle?«

»Das sage ich nicht. Was hast du erlebt?«

»Vieles. Aber ich tausche meine Erlebnisse nur gegen die Nennung der Stelle.«

»Du bist verrückt.«

»Das ist richtig. Ist Emma auch wieder nüchtern?«

»Nicht ganz. Mein Gott, Baumeister, sie ist so glücklich. Hast du den Mörder?«

»Nein, noch nicht. Jetzt lass uns das Zeug in den Garten tragen.«

Die Stimmung war friedlich, richtig gut geeignet, an das Ende des Tages zu reisen. Meine Freunde hockten um den Tisch, aßen und redeten miteinander, als sei das Leben eine Sache ohne Komplikationen.

»Du könntest einen Schluck Sekt darauf trinken, dass ich lebe«, sagte Emma.

»Gib mir ein Glas Wasser«, sagte ich. »Euch hier zu haben ist eine gute Sache.« Ich legte mich auf eine Liege. »Rodenstock, was hältst du von der Idee, dass Tina Colin die Mörderin ist?«

»Nicht abwegig«, meinte er nachdenklich. »Das Motiv?«

»Die Unfähigkeit einer Mutter, sich von ihrer Tochter zu lösen. Die Angst einer Mutter, dass die Tochter besser ist als sie selbst. Die Unfähigkeit einer Mutter, ohne diese Tochter zu leben, deren Leben sie formte. Das Begreifen einer Mutter, dass sie einen Wust von Peinlichkeiten schuf, dass sie ihre Tochter manipulierte, in kriminelle Handlungen trieb. Das Begreifen auch, dass alles zu Ende sein würde, wirklich alles, wenn diese Tochter fortgehen würde. Und das Begreifen, dass diese Tochter jetzt gerade dabei war, für immer und ewig zu gehen.«

Der Kater Paul hüpfte auf meine Liege und legte sich neben meinen Oberschenkel. Satchmo folgte und ließ sich zwischen meinen Beinen nieder. Sie schnurrten um die Wette.

»Das ist eine gute Überlegung«, sagte Emma. »Da könnte man dran arbeiten.«

»Nicht abwegig«, wiederholte Rodenstock.

»Aber ein Kopfschuss? Eine Frau – ein Kopfschuss?« Vera schüttelte den hübschen Kopf. »Das widerspricht der kriminologischen Erfahrung.«

»Nicht unbedingt«, wandte Emma ein. »Das ist schon vorgekommen. Du spielst auf diesen Hinrichtungsmodus an, nicht wahr?«

»Genau.«

Rechts von mir ergab sich ein zur Heiterkeit führender Anblick. Cisco näherte sich. Nicht jaulend, nicht winselnd, nicht schnell wie der Wind, sondern platt wie eine Flunder, Zentimeter um Zentimeter.

»Ja«, nickte Rodenstock, »das passt. Es passt sogar verdammt gut.«

»Man müsste wissen, was an dem Tag im Forsthaus los war«, murmelte Emma. »Waren die Männer da versammelt?«

»Das wissen wir«, entgegnete Rodenstock. »Es war niemand da, absolut niemand. Tina Colin hat kein Alibi.«

Cisco war nur noch zwei Meter von mir und meiner Liege entfernt und wurde immer langsamer. Er schnaufte ein bisschen wie ein alter Mann. Wahrscheinlich war das seine Art, meine Kater einzuschläfern.

»Vielleicht hatte sie einen Aussetzer, einen Blackout. Sie hat Natalie getötet und konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern«, überlegte Vera.

»Das ist möglich«, sagte Emma. »In Amsterdam gab es mal einen Serienkiller, der grundsätzlich in einen seelischen Rauschzustand verfiel, bevor er tötete. Er konnte sich hinterher nur bruchstückhaft erinnern, an manche wichtige Einzelheit überhaupt nicht mehr.«

»Aber Tina Colin wäre nicht fähig gewesen, Natalie in ein Auto zu packen, nach Mannebach zu fahren, sie dort auszuladen und dann den Steilhang hinunterzutragen. Mit so einer Last kann eine Frau das nicht schaffen, sie wäre gestürzt, Natalies Körper wäre gefallen. Natalie war gut einen Kopf größer als ihre Mutter und trotz ihrer Schlankheit bedeutend schwerer. Tina hat für den Müll-Deal achthunderttausend Mark erhalten und ...«

»Was?«, fragte Vera schrill.

»Nicht so ungeduldig, ich wollte gerade davon erzählen«, sagte ich. »Ja, es stimmt, ihr Lieben, sie hat für diesen Müll-Deal achthunderttausend Mark erhalten. Vermutlich war das Geld rabenschwarzer Zaster. Und da ist schon wieder ein loses Ende. Wer, um Gottes willen, hat einfach mal so achthunderttausend Mark Schwarzgeld herumliegen?« Ich berichtete von meinem Gespräch mit Tina Colin. Ich endete:

»Also wiederhole ich die Frage: Wer hat mal so eben achthunderttausend in bar und schwarz?«

»Eine Menge Leute«, behauptete Rodenstock gelassen. »Ich bin kein Wirtschaftsfachmann, aber alle Geschäfte mit Kunst, mit Antiquitäten, mit Waffen, mit Drogen, mit Prostitution, mit Gebrauchtwagen enthalten einen hohen Anteil an Barzahlungen. Ich erinnere mich an eine Gruppe Litauer, die sage und schreibe 2,2 Millionen Dollar in bar bei sich hatten, um hier im westlichen Europa gebrauchte BMWs zu kaufen. Durch einen Zufall ist herausgekommen, dass es sich um Subventionsgelder von der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel handelte. Ich betone: Diese Erkenntnis basierte auf einem Zufall. Ich frage mich also, wie viele solcher Geschäfte laufen, ohne dass sie jemals entdeckt werden. Und ich glaube nach wie vor, dass Natalie getötet wurde, weil sie wahrscheinlich nicht nur Ahnung von dem Müll-Deal hatte, sondern viel mehr von vielen Geschäften dieser edlen Herrenrunde Kenntnis hatte. Etwas ganz Entscheidendes wissen wir nicht: Warum wurde Tina Colin nicht getötet, die doch den gleichen Kenntnisstand von den Geschäften der Herren besaß? Warum lebt sie noch?« Rodenstock schnaufte unwillig. »Kinder, das, was uns an dem Fall verrückt macht, ist doch, dass wir viele Mosaiksteinchen zusammengetragen haben, aber absolut nichts damit anfangen können. Wir haben einen Recherchestau. Und wir haben mindestens vier harte Anwärter auf den Mord an Natalie: erstens Sven Hardbeck, zweitens Vater Hardbeck, drittens Tina Colin, viertens der Erbe der Müll-Millionen. Es kommt noch schlimmer: Im Grunde kommt jeder der Herrenrunde in Bongard in Betracht. Also weitere vier Männer. Das sind schon acht Verdächtige. Jeder dieser acht war in der Lage, einen anderen zu beauftragen, diesen Mord zu begehen. Unter Umständen kommt sogar noch der Pole Ladislaw Bronski infrage, unter Umständen auch die hohe heisere Stimme aus Mannebach, der Herr namens Martin, der dankenswerter Weise Baumeister verprügelt hat.«

»Ha!«, sagte ich. »Er hat's zurückgekriegt. Ich bin der mit Abstand furchtbarste Gegner in der Vulkaneifel.«

Emma lachte. »Nicht zu vergessen zwei Polizeibeamte, die etwas mit den Toten zu tun hatten.«

Der kluge Rodenstock grinste wie ein Wolf. »Das ist die weitere Hemmschwelle, die wir alle hier haben: Es gibt genügend Verdächtige, aber keiner passt uns so richtig in den Kram.« Er schlug sich in plötzlich hochschießender Heiterkeit klatschend auf den Oberschenkel. »Das ist eine Situation, die in Mordkommissionen häufig vorkommt. Wie gut, dass wir keine sind.«

Cisco war jetzt etwa einen Meter von meiner Liege entfernt und ich ahnte eine mittlere Katastrophe, wollte aber abwarten, um unsere Nachdenklichkeit nicht zu stören. Er schob sich nicht mehr Zentimeter um Zentimeter vorwärts, man musste vielmehr in Millimetern rechnen. Selbstverständlich wussten die alten Halunken Paul und Satchmo ganz genau, dass dieses scheußliche Biest namens Cisco sich näherte, und beider Schwänze zuckten gelegentlich und bewegten sich wie Schlangen, während die Kater in unendlicher Mattigkeit die Augen schlössen und ganz langsam wieder öffneten, als sei selbst das eine Anstrengung.

Cisco hatte wieder wenige Millimeter gewonnen. Es reichte nun aus, seine Pfote auf die Liege zu legen und sanft zu winseln. Die Kater waren so ruhig, dass sie nicht einmal mehr ihre Schwänze zucken ließen. Die Hundepfote lag in Höhe meines Kopfes und mir war klar, dass ich möglicherweise als Märtyrer enden konnte. Die zweite Pfote folgte. Dann atmete Cisco puffend aus und schob sich neben meinen Kopf. Langsam, unendlich langsam drückte er sich mit den Hinterläufen vorwärts. Hätte jemand ihn gefragt, was er als Lebensziel ansehen würde, hätte er geantwortet: Einmal mit den Katzen und Herrchen zusammen auf einer Liege, einmal Frieden im Karton!

Also ließ sich Cisco mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung neben meinem Kopf nieder, Paulchen stellte sich geräuschlos aufrecht, Satchmo glitt von der Liege und kroch unter ihr her.

»Vorsicht!«, rief Vera heftig.

Aber es war zu spät.

Cisco hatte sicherheitshalber die Augen fest zugekniffen, weil ja schon Kleinkinder wissen: Wenn ich sie zukneife, sind sämtliche Gefahren nicht vorhanden! Infolgedessen entgingen ihm die körperlichen Bewegungen seiner Erzfeinde. Paulchen machte einen kleinen, entzückenden Hüpfer auf meinen Kopf und schlug dann erbarmungslos zu.

Cisco schrie hoch und schrill, zeternd und vollkommen entsetzt. Er ließ sich über die Kante der Liege rollen, was taktisch gar nicht so übel war, aber Satchmo in den Kram passte. Der empfing meinen Cisco mit lautloser Brutalität, während sich Paulchen auf meiner rechten Kopfseite einstemmte und dann sprang.

Cisco bellte empört und versuchte auf die Beine zu kommen. Aber Paul und Satchmo wollten die Sache ein für alle Mal klären, nahmen Cisco zwischen sich und ohrfeigten ihn nach Strich und Faden, wobei sie die Krallen voll ausfuhren. Das bedeutete Blut. Nicht viel, aber immerhin so viel, dass Cisco es wahrnahm und sein Gejaule intensivierte. Dann schoss er davon, unter die Birke, an der Eiche vorbei unter die wilden Rosen und um die Ecke ins Haus.

Meine Kater folgten ihm nicht einen Zentimeter. Für so was waren sie sich entschieden zu schade.

»Der braucht doch Trost!«, sagte Vera, stand auf und wollte ins Haus gehen.

»Lass ihn«, bat ich. »Er muss lernen, dass er gegen die beiden nichts ausrichten kann.«

»Das ist Darwin pur«, sagte Emma leidenschaftslos. »Nur den Juden blieb es vorbehalten, Darwin zu widerlegen. In Arabien.«

Aus dem Haus war großes Geheul zu hören und nach wenigen Sekunden erschien Cisco an der Hausecke – er hatte sich für die Show entschieden. Er heulte zum Steinerweichen, guckte kurz, ob wir auch guckten, und als wir guckten, heulte er eine Oktave höher und strich dabei mit melancholischer Geschwindigkeit an der Hauswand entlang. Dann legte er sich platt ins Gras und starrte uns aus unendlich traurigen Augen an. Es war ein erstklassiger Act, reif für jeden Kulturkanal.

Ich wollte nun doch aufstehen und meinem Hund in seiner schwersten Stunde beistehen, aber ich kam nicht mehr dazu. Irgendein Handy schrillte und Rodenstock hörte eine Weile zu. Dann kappte er die Verbindung, sah uns an und erklärte: »Wir sollten vielleicht starten. Jemand hat Tina Colin in ihrem Haus überfallen, das Haus verwüstet und angezündet. In Bongard ist die Hölle los.«

»Ich habe kein Make-up und ich bin noch nicht frisiert«, sagte Emma energisch. »So gehe ich nie mehr außer Haus!«

»Wir kommen nach«, grinste Rodenstock.

Vera setzte sich neben mich in mein Auto und starrte durch die Scheibe.

»Du hast etwas vergessen«, bemerkte ich. »Du wolltest die Waffe hier lassen.«

»Wollte ich nie!«, erwiderte sie giftig.

Ich fuhr, so schnell ich konnte, und als wir auf dem Hügel über Bongard ins Tal rauschten, konnten wir die Qualmwolke sehen. Sie war beachtlich.

An das Haus heranzukommen war unmöglich, also parkten wir an der Landstraße nach Bodenbach. Das letzte Stück gingen wir zu Fuß, wobei das schwierig war, denn ständig schnauzten uns Feuerwehrleute an, wir sollten gefälligst die Fliege machen, uns verdrücken, unsere Neugier bezähmen und zusehen, dass wir Land gewännen. Es war ein Hindernisrennen allererster Güte.

Das Haus war nicht mehr zu retten, das Dach eingehüllt in eine Wolke aus schwarzem Qualm, aus dem meterhohe Flammengirlanden schössen. Abseits, ein wenig links von diesem Inferno, saß Tina Colin auf einer Liege des Roten Kreuzes. Detlev kniete vor ihr und war dabei, ihr etwas zu spritzen.

»Was ist denn los?«, fragte ich. »Was ist geschehen?«

Tina Colin wirkte erstaunlich entspannt, sie lächelte.

»Mach mal eine Faust!«, bat Detlev mit unglaublicher Geduld.

Sie machte eine Faust. »Das waren Vermummte, das war wie im Fernsehen, wie in den Filmen, von denen man immer sagt, sie sind beschissen, weil sie so unglaubwürdig sind. Sie kamen auf Motorrädern. Vier Mann. Sie schellten ganz freundlich und sagten kein Wort. Einer hielt mich fest und die anderen liefen ins Haus. Dann hörte ich nur noch Scheiben splittern und Vorhänge reißen, Geräusche, die ganz schrecklich waren. Dann stürmten sie wieder raus, setzten sich auf die Motorräder und fuhren los. Und das Haus brannte. Ich konnte nur noch die Feuerwehr rufen.«

»Du hast keine Ahnung, wer das war?«

»Keine.« Sie schüttelte den Kopf, neigte ihn und verlor nun doch die Beherrschung. Sie schluchzte: »Das ist mein Untergang.«

Vera setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.

Ich lief auf die Rückseite des Hauses. Der erste Stock war bereits heruntergebrannt, die Fensterscheiben im Untergeschoss allesamt zertrümmert, das Wasser schoss in breiten Bahnen auf die Terrasse.

»Darf ich in den Wohnraum reinsehen?«, fragte ich.

»Bist du verrückt?«, fragte mich ein junger Feuerwehrmann.

»Ja«, nickte ich und rannte auf die Tür zu.

Er kam hinter mir her und keuchte: »He, stopp, du Irrer!«

»Nur eine Sekunde«, sagte ich.

Der Raum war verwüstet und das erste Bild, das sich unauslöschlich einprägte, war eine Wasserflut, die glasklar über den Isafahan schwappte, Tinas Schnäppchen, auf das sie so stolz war. Kein Bild an der Wand war unzerstört, alle zertrümmert. Aber eindeutig nicht zertrümmert von Wasser oder Feuer. Feuer gab es in diesem Raum noch gar nicht, obwohl das nur eine Frage der Zeit war.

»Mehr wollte ich nicht sehen«, sagte ich dem jungen Feuerwehrmann ins Gesicht.

»Da bin ich aber froh«, entgegnete er furztrocken.

Vera hatte Tina noch immer im Arm und wiegte sie hin und her, wie man ein Kind wiegt.

»Sie haben alles kurz und klein geschlagen«, sagte ich. »Tina, was glaubst du, wie lange sie im Haus waren?«

»Ich weiß nicht. Lange, unheimlich lange, ich dachte, hört das denn nie auf ...?«

»Und sie haben kein Wort geredet?«

»Kein Wort. Und sie waren schwarz gekleidet. Ganz schwarz. Und Handschuhe trugen sie, dicke Handschuhe.«

»Tina, hast du deine Tochter getötet?«

Sie wandte den Kopf und sah mich an. Das, was mich am meisten beeindruckte, war, dass sie kein bisschen beunruhigt schien. Sie wirkte im Gegenteil vollkommen gleichgültig, als habe sie schon lange auf diese Frage gewartet.

»Nein. Ich wusste ja, ich bin sie los. Ich wusste lange, dass ich sie los bin. Warum hätte ich sie töten sollen? Kann man das überhaupt? Sie lebt doch da drin.« Und sie deutete auf ihre Brust.

»Und weißt du immer noch nicht, wie viel Natalie für den Müll-Deal als Extrabezahlung verlangte? Für sich persönlich?«

»Wie viel es am Ende war, das weiß ich nicht. Fürs Erste hatte sie hunderttausend Mark Startgeld gefordert. Bevor sie die nicht hatte, wollte sie sich nicht an Adrian Schminck heranmachen.«

»O Gott!«, hauchte Vera. »Und? Hat sie das Geld bekommen?«

Tina nickte langsam, als sei das alles gar nicht mehr wichtig. »Aber ich weiß nicht, von wem.«

»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete ich scharf. »Du musst doch wissen, wer bei dem Deal die Feder führte. Wer war der Chef in der Truppe?«

»Hans Becker und Herbert Giessen. Die haben die Oberbonzen gemacht.«

»Wo ist das Geld?«, fragte Vera.

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht steigt es gerade zum Himmel rauf«, murmelte ich. »Noch eine Frage. Hat der Deal am langen Ende überhaupt stattgefunden? Ich meine, haben die vier die Aktien von Adrian Schminck gekriegt?«

»Haben sie«, sagte Tina düster. »Die ganzen dreißig Prozent. Nati hat noch gesagt, dass sie das besonders gut hingekriegt hätte. Das war, als sie mir sagte, sie würde erst mal für eine Zeit nach Hollywood gehen.«

»Wohin?«, fragte ich verblüfft. »Wieso denn jetzt Hollywood? Es sollte doch Kuba sein, oder?«

Tina sah mich an, als hätte ich von Töchtern nicht die geringste Ahnung. »Es war Kuba, es war Moskau, es war New York, es war alles Mögliche. Es war immer das, was sie gerade irgendwo aufgeschnappt hatte. In dem Moment war es halt Hollywood.«

»Also nicht ernst zu nehmen?«, fragte Vera schnell.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Tina verkniffen. »Wir können sie ja nicht mehr fragen.«

»Verdammte Scheiße«, fluchte ich. »Warum konntest du das nicht eher sagen?«

»Weil ich es nicht wahrhaben wollte«, sagte sie seltsam endgültig.

Es hatte keinen Sinn, weiter auf Tina einzudreschen, ihr ruppige, ekelhafte Fragen zu stellen. Auf eine Weise war sie zerstört und würde nun vermutlich alles aussagen, was sie aussagen konnte. Ich musste grinsen: bis auf eines. Sie würde sicherlich nie offen legen, wo sie ihr Bares versteckt hatte.

Zwei Mercedes der S-Klasse mit Blaulichtern rauschten auf den Hof. Kischkewitz stieg aus und rief laut und unüberhörbar: »Hier wird nur von außen gelöscht, niemand geht in das Haus. Auch kein Brandmeister. Der Oberbrandmeister bitte mal schnell zu mir.«

»Was will er denn?«, fragte Vera.

»Na, ganz einfach. Er muss Spuren sichern. Wenn die Feuerwehr durchgegangen ist, kannst du von Spuren nicht mehr sprechen.«

»Das ist doch alles egal«, murmelte Tina.

Kischkewitz kam herüber zu uns und hockte sich auf einen Stapel Brennholz. »Ich darf wieder mit euch reden. Mein Staatsanwalt ist mittlerweile der Meinung, dass auch eine Mordkommission so etwas wie eine Serviceleistung erbringen muss. Wie geht es euch? Guten Tag, junge Dame. Willst du unter die Privatdetektive?«

»Warum nicht? Da habe ich wenigstens nicht mehr mit Beamten zu tun.« Veras Stimme klang giftig.

»Dein Chef hatte keine Wahl«, antwortete Kischkewitz gelassen. »Er musste dich aus dem Verkehr ziehen. Wie viele Verdächtige habt ihr?«

»Neun bis zehn«, antwortete ich. »Was hältst du von diesem Schlägertrupp hier? Nach der Beschreibung waren es doch die Gleichen, die das Fernsehteam am Fundort der Leiche Natalies verprügelt haben.«

»Man müsste herausfinden, was das Kamerateam und dieses Haus hier gemeinsam haben oder das Kamerateam und Tina Colin«, sagte Kischkewitz. »Jetzt muss ich arbeiten. Ich hörte, Emma ist unter den Lebenden?«

»Ja, Gott sei Dank.«

»Knutsch sie bitte von mir.« Er ging davon.

»Moment«, sagte ich hastig. »Wo könnte ich den Polen Ladislaw Bronski finden?«

»Autohof in Hürth. Nicht zu verfehlen. Da ist eine Kneipe. Die wissen immer, wo er ist. Aber Vorsicht, mein Lieber. Der Mann ist Dynamit. Und er lügt und lacht dabei. Das sind die Gefährlichen, wie du weißt.« Kischkewitz ging zu seinen Leuten.

Ich sagte Vera, dass ich heimfahren wollte. »Ich bin einfach hundemüde und will nachdenken.«

»Ich fahre dann später mit Rodenstock«, sagte sie.

Im gleichen Moment kamen Emma und Rodenstock den Weg entlang. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Emma hatte volle Kriegsbemalung angelegt, trug einen recht kurzen Rock und stöckelte ganz gegen ihre Gewohnheit auf haushohen Absätzen durch die Botanik.

Als sie mich grinsen sah, lachte sie auch. »Chic, was? Rodenstock meint, das sei nicht angebracht, aber ich bin der Meinung, heute ist es sehr angebracht.«

»Da hast du Recht«, sagte ich.