Kapitel 18

Im Stall traf Nola auf Teddy, der gerade den linken Vorderhuf eines Rappen hochgehoben hatte und die Sohle kritisch untersuchte. Es war eines der Pferde, mit denen sie und Rhodry ans Meer gereist waren. Das Tier schnaubte, als sie eintrat, und Teddy sah auf. Er ließ den Huf los, richtete sich auf und tippte sich grüßend an seine Kappe.

»Teddy, ich brauche ein Pferd. Ich möchte gerne ausreiten.«

»Sehr wohl, Mylady.«

Er wollte sich umdrehen, um ihren Befehl auszuführen. Nola trat dicht an ihn heran.

»Ich will alleine ausreiten, du verstehst?« Sie ließ einige Münzen in seine Hand gleiten. Was Amelia bei ihrer Zofe konnte, das brachte auch sie fertig.

Teddy zögerte, ließ dann jedoch das Geld in seiner Kitteltasche verschwinden. Er holte die braune Stute aus der Box, mit der sie schon einmal ausgeritten war.

»Soll ich das Pferd vor die Burg bringen?«

»In den Park.« Dort gab es einen Weg, auf dem Nola hoffte, das Gelände von Shavick Castle ohne großes Aufsehen verlassen zu können. Sie schlenderte aus dem Stall und über den Burghof durch eine Pforte in den Park. Sie gelangte ungesehen hindurch und atmete auf. Bis hierher war alles gut gegangen. Vom Hof hörte sie Hufgeklapper, Teddy kam mit der Stute.

Statt dem Stallburschen erschien jedoch Brandon Hatherley in der Pforte. »Sie wollen Shavick Castle verlassen, Mylady? Zu Pferd?«

»Ich will ausreiten.«

»Allein? Das solltet Ihr in diesen unruhigen Zeiten nicht tun. Dort draußen treiben sich die Krakauer herum.«

»Ich muss mal raus. Die dicken Mauern der Burg erdrücken mich.« Das war nicht einmal gelogen.

Teddy wartete mit der Stute vor dem Park, flüsterte mit ihr und strich ihr über die Nase, da die Nähe des Werwolfs sie nervös machte. Nola überlegte fieberhaft, wie sie Brandon Hatherley schnell loswerden konnte. Je länger sie hier standen, desto größer war die Gefahr, von weiteren Werwölfen entdeckt zu werden.

»Ich bot Euch an, Mylady, Euch bei allem, was Ihr vorhabt, zu unterstützen. Wenn Ihr ausreiten wollt, werde ich Euch begleiten. Dann seid Ihr sicher. Nehmt Ihr meine Hilfe an?«

Ich will nur ins Dorf. Ich bin sicher, Miss Amelia fährt auch alleine hin.« Nola fand keine Erklärung, warum er sich so auffällig um sie bemühte. Wollte er Rhodry eifersüchtig machen, ihm sogar den Rang streitig machen? Sie wusste nur, dass sie sich besser nicht mit ihm einließ.

»Nicht in diesen Tagen, Mylady. Bitte nehmen Sie meine Begleitung an. «

»Sie wird niemandes Begleitung annehmen, außer meiner eigenen.« Auf einmal stand Rhodry neben ihnen. Das Haar zerrauft, als wäre er mit den Fingern immer wieder hindurchgefahren. Ein Halstuch flatterte lose um seine Schultern.

»Rhodry.« Nola erster Impuls war, sich in seine Arme zu stürzen. Sie war froh, mit dem undurchsichtigen Brandon Hatherley nicht mehr allein zu sein. Gleichzeitig bedeutete das aber neue Hürden für ihren Plan.

Brandon zog sich unter dem Blick seines Rudelführers zurück, versuchte noch ein Lächeln in Nolas Richtung, das reichlich schief geriet.

»Nola, was ist in dich gefahren, Shavick Castle verlassen zu wollen, solange die Krakauer hier herumschleichen?«

»Mr. Hatherley hat angeboten, mich zu begleiten.«

»Als ob der etwas gegen ein Rudel Werwölfe ausrichten könnte.«

»Ich wollte nur ins Dorf, die Leute besuchen. Ich kann nicht immer nur hinter dicken Mauern sitzen und so tun, als wäre alles schön.«

An Rhodrys Schläfe schwoll eine Ader an, sein Blick verdüsterte sich, und Nola musste all ihre Willenskraft zusammennehmen, um sich nicht vor ihm zu ducken.

»Du wirst jetzt genau das tun, was ich von meiner Seelenpartnerin erwarte.« Seine Stimme war nicht laut, aber schneidend kalt. Er packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich über den Hof und in die Burg, am erstaunten Dalton vorbei, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer.

Seine Hand umklammerte ihren Unterarm wie eine Eisenfessel, und Nola blieb nichts anderes übrig, als neben ihm herzustolpern. In ihrem Zimmer stieß er sie von sich, dass sie zu Boden fiel. Sofort rappelte sie sich wieder auf und wollte zu einer wütenden Entgegnung ansetzten, als Rhodry sie anfuhr: »Ich dulde es nicht länger, dass du dich all meinen Anweisungen widersetzt und unvernünftiger bist als der jüngste Jungwolf. Du wirst jetzt hierbleiben, oder muss ich dich übers Knie legen und einschließen?« »Das wagst du nicht.«

»Und ob.« Er kam näher.

Nola wich zurück, stieß ans Bett und fiel. Er kam noch näher. Wollte er wirklich wahr machen, was er angedroht hatte? Er sah aus, als wäre er dazu wütend genug. Sie hob die Arme vor das Gesicht. Er packte sie, zog sie an sich, bog ihre Arme nach hinten und küsste sie. Sie wollte empört aufschreien, und er nutzte die Gelegenheit, seine Zunge in ihren Mund zu schieben. Er war viel zu stark für sie, und seine Lippen lagen viel zu fest auf ihren, als dass sie ihm ausweichen konnte. Dann verriet ihr Körper sie, denn ihre Lippen öffneten sich ohne ihr Zutun, und ihre Zunge begann das Spiel mit seiner, lockte und neckte. Ihr Körper wurde biegsam in seinen Armen und schmiegte sich an ihn. Rhodry ließ ihre Arme los, und wie von selbst schlangen sie sich um ihn, und als der Kuss nach Ewigkeiten endete, sehnte Nola sich nach mehr.

Der Earl löste sich jedoch von ihr. »Du wirst nie mehr einen anderen küssen als mich. Und jetzt bleibst du hier.« Er strich ihr noch einmal über die Wange, und weg war er.

Nola stand vor dem Bett und wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte, was sie denken sollte. Mit der Rechten betastete sie ihre Lippen, auf die sich eben noch Rhodrys gepresst hatten; ihre waren geschwollen und empfindlich.

Den ganzen Tag hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Sollte Rhodry ruhig denken, er hätte sie gebändigt, dabei hatte sie einen Plan nach dem anderen geschmiedet und wieder verworfen. Geblieben war der Wille, mit Lord Sharingham Kontakt aufzunehmen. Wenn sie tagsüber nicht aus der Burg hinauskam, würde sie es in der Nacht versuchen. Um keinen Verdacht zu erwecken, ließ sie sich abends von Jane bedienen und bettfertig machen.

Als eine Uhr in der Burg Zwei schlug, stand Nola wieder auf. Leise zog sie sich an und warf sich einen Umhang über. Die Tür zu der kleinen Kammer, in der Jane schlief, stand einen Spalt offen, und sie wollte die Zofe auf keinen Fall wecken. Mit einer Kerze in der Hand verließ sie das Zimmer. Auf dem Flur war alles ruhig, unter keiner der Türen schimmerte ein Licht durch.

An der Treppe blieb Nola stehen und orientierte sich. Wenn sie hinunterging in die Haupthalle, bestand die Gefahr, Dalton in die Arme zu laufen. Durch die Küche nach draußen konnte sie auch nicht gehen. Dabei würde sie vielleicht auf die Köchin oder eines der Küchenmädchen treffen. Aber auf ihren Gängen durch den

Park hatte sie auf der Rückseite der Burg eine Tür gesehen. Diese wollte sie finden. Der Park lag tiefer als die Burg, der Zugang zu dieser Tür musste sich also im Keller befinden. Nola war es nicht recht, in die Keller steigen zu müssen, aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie schlich eine Hintertreppe hinunter und in den Keller. Die Kerze warf unheimliche Schatten, und mehr als alles andere wünschte Nola sich, dass die Elektrizität schon erfunden wäre und sie wenigstens eine Taschenlampe gehabt hätte. Der Keller kam ihr viel düsterer und schmutziger vor, als bei ihrem ersten Erkundungsgang, auf dem sie Rhodry befreit hatte. Sie kam an der Kammer vorbei. Der Sarkophag stand noch dort, die Tafel hing an der Wand, Fackeln steckten in Haltern - Nola ging schnell weiter.

»Suchen Sie etwas, Mylady?«

Nola stieß einen Schrei aus und fuhr herum. Alles Blut sackte ihr für einen Augenblick nach unten, um ihr dann gleich wieder in den Kopf zu schießen. Sie taumelte und hilfreiche Hände hielten sie fest.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber Sie wissen doch, dass ich immer da bin, wenn Sie mich brauchen.«

Es war Brandon Hatherley. Nola machte sich von ihm los. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt. Sie sollen mir nicht nachschleichen.«

»Das tue ich nicht, aber Menschen hören so schlecht …«

»Lassen Sie mich in Ruhe.« Nola wollte an ihm vorbeigehen.

Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, versperrte den Durchgang - so leicht wurde sie ihn nicht los.

»Sie wollen Shavick Castle verlassen. Heute Morgen und jetzt schon wieder.«

»Verschwinden Sie.«

»Ich kann Ihnen dabei helfen, ich kenne Shavick Castle wie eine Maus ihr Loch und kann Sie sicher rausbringen. Wenn Sie nicht bleiben wollen, bin ich bestimmt der Letzte, der Sie überreden will. Kommen Sie.«

Er gab den Weg frei und schaute ihr in die Augen. Sie konnte seinem Blick nicht ausweichen und wie unter Zwang nickte sie. Sie blickte zur Seite und fühlte sich wieder leichter.

»Bringen Sie mich hier raus, aber dann trennen sich unsere Wege.«

»Wie Mylady wünschen.«

Brandon Hatherley ging voraus, Nola folgte ihm mit der Kerze. »Der Weg durch den Keller war nicht schlecht gewählt«, plauderte er dabei. »Die Chancen sind hier tatsächlich am besten. Seit der

Earl wieder unter uns ist, kommt hier kaum noch jemand her. Früher wurden hier Menschen gefangen gehalten und gefoltert, hhhuu.«

»Seien Sie still.«

Hatherley verstummte. Niemand von ihnen sprach, bis sie an eine Tür kamen. Sie war mit zwei Riegeln verschlossen. Brandon zog den ersten zurück - es gab ein hässliches Geräusch, das Nola vorkam, als wäre es in der ganzen Burg zu hören.

»Seien Sie doch vorsichtig.«

Mit zusammengebissenen Zähnen nickte der Werwolf, und es gelang ihm, den zweiten Riegel geräuschlos zu öffnen. Nacheinander traten sie aus der Burg. Wind und Regen schlugen ihnen entgegen. Nola setzte die Kapuze ihres Umhangs auf. Die richtige Nacht, um einen Besuch im Dorf zu machen. Bei diesem Wetter trieb sich bestimmt kein Werwolf und kein Mensch draußen herum.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte sie zu Hatherley.

»Irrtum, meine Schöne, hier fängt unsere gemeinsame Reise erst an.« Hatherley fasste sie um die Hüfte und hob sie so leicht hoch, als sei sie leicht wie eine Feder.

»Lassen Sie mich runter! Was soll das? Ich reise mit Ihnen nirgendwo hin.« Nola strampelte mit den Beinen.

»Tut mir leid, Mylady. Mir wurde aufgetragen, Sie zu einer Verabredung zu bringen.«

»Ich bin mit niemandem verabredet.«

Brandon lief mit ihr durch den Regen.

»Wohin bringen Sie mich?«

»Zu einem Ort, an dem jemand auf Sie wartet, und jetzt Ruhe.«

Ihre weiteren Proteste erstickte er, indem er ihr eine zusammengedrehte Falte des Umhangs in den Mund stopfte. Mit dem Oberarm sorgte er dafür, dass sie das Tuch nicht ausspuckte. Seine Hände umklammerten sie auf einmal viel grober. Als Werwolf hatte er mehr als dreimal so viel Kraft wie sie. Ihre Versuche, sich aus der Umklammerung zu befreien, führten nur dazu, dass sein Griff fester wurde.

»Scheißkerl!«, wollte sie hervorstoßen, wegen des Knebels geriet es zu einem dumpfen Gurgeln.

Sie strampelte mit den Beinen und traf ihn am Oberschenkel. Er störte sich nicht daran. Shavick Castle ragte als düstere Silhouette hinter ihnen auf. Schnell wurde sie kleiner. Nola war dem Werwolf ausgeliefert.

Er sprintete mit ihr durch den Park zum See und am Ufer entlang. Die Burg war fast nicht mehr zu erkennen, dafür wartete hinter einem Felsen eine Kutsche, schwarz, kein Wappen an der Tür, die Kutschlaternen nicht angezündet. Brandon öffnete den Wagenschlag, und in diesem einen winzigen Moment konnte er ihr nicht seine ganze Aufmerksamkeit widmen. Sie zog einen Ring vom Finger, einen schmalen Goldreif, ließ ihn durch die Falten des Umhangs hindurch zu Boden gleiten. Brandon stieß sie ins Innere der Kutsche, stieg selbst ein und schlug die Tür zu. Gleich darauf ruckte das Gefährt an. Im halsbrecherischen Tempo ging es vorwärts. Bis in den Wagen hinein hörte Nola das Schnauben der Pferde.

Eine Laterne wurde angezündet, sie schwankte wild hin und her. Das Licht enthüllte Pawel Tworek auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Das war nicht der Werwolfjäger, korrigierte sie sich, das war der Werwolf Maksym Derenski. Neben ihm saß eine Frau, die sie in London als Antonia Tworeka gekannt hatte. Sie hatte sich an den Werwolf gelehnt, beide waren offenbar sehr vertraut miteinander. Als blasser Schatten saß außerdem noch Lady Ianthe in einer Ecke.

»Sie«, stieß sie hervor.

»Willkommen, Lady Eleonore«, sagte Derenski mit polnischem Akzent und höflich, wie sie ihn aus London kannte. Es war gespenstisch mit jemandem zu reden, den sie in der Zukunft gekannt hatte.

»Lassen Sie mich gehen.«

Nola griff nach dem Wagenschlag. Brandons Hand schoss vor, umklammerte ihren Unterarm. Die Knochen wurden schmerzhaft zusammengedrückt.

»Ich kann Sie nicht schutzlos in die Nacht hinausgehen lassen. Wenn Ihnen was zustieße, ich könnte es mir nie verzeihen. Es ist besser, Sie bleiben hier. Darf ich Ihnen meine Seelenpartnerin Antonia Derenska vorstellen, Lady Ianthe kennen Sie ja bereits.«

Nola brachte möglichst viel Abstand zwischen sich und die Werwölfe und machte sich auf der Bank so klein wie möglich. Ihre Gedanken rasten.

»Sie haben mich entführt. Bringen Sie mich sofort zurück. Das wird ein Nachspiel für Sie haben. Der Earl of Shavick wird das nicht auf sich beruhen lassen.« An Ianthe gerichtet fuhr sie fort: »Sie sind eine Verräterin. Warum - ist es wegen Ihres …« Sie schaute dorthin, wo der linke Fuß der Werwölfin hätte sein sollen.

»Was wissen Sie schon«, schnaubte die als Antwort, doch mied dabei Nolas Blick.

»Wie können Sie das tun? Rhodry ist fair zu allen.«

Auf die Werwölfe machten ihre Worte keinen Eindruck. Derenski lachte sogar trocken auf.

»Monroe ist ein rückgratloser Köter. Diesmal werde ich ihn und die Schotten endgültig vernichten. Sie sind der Köder, Mylady. Der gute Brandon und Lady Ianthe werden mir dabei helfen.«

Er klopfte gegen die Kutschenwand — ein Signal für den Kutscher. Die Pferde fielen in Galopp, und die Kutsche schwankte noch heftiger. Gleich stürzen wir um, dachte Nola, und dann — hoffentlich — kann ich ihnen entkommen.

Die Kutsche stürzte nicht um, sondern jagte weiter durch die Nacht. Mit jedem Meter, den sie sich weiter von Shavick Castle entfernte, sank Nolas Mut.

Die Werwölfe redeten nicht mehr mit ihr, sie genossen ihren Triumph. Sie war ihnen wie eine dumme Göre in die Falle gegangen und brachte alle in Gefahr. Allen voran Rhodry, Eugene, Moira, den treuen Dalton.

Sie konnte sie nicht einmal warnen, oder? Rhodry hatte sie durch Raum und Zeit hindurch erreicht. Wenn sie das auch könnte… Nola konzentrierte sich. Sein Bild stieg vor ihr auf, streng und arrogant wie auf dem Gemälde im Vormittagssalon. Dahinter war Leere. Sie strengte sich mehr an und mühte sich gleichzeitig, entspannt auszusehen, damit die Werwölfe keinen Verdacht schöpften.

»Wir sind da.« Derenski packte sie am Oberarm.

Nola schrak zusammen. Die Kutsche hatte angehalten, und sie wurde hinausgestoßen. Sie stolperte und wäre beinahe gestürzt, im letzten Moment konnte sie sich abfangen. Wütend presste sie die Zähne aufeinander und mühte sich, ihre Umgebung zu erkennen. Sie war mitten im Nirgendwo gelandet, kein Licht deutete auf eine bewohnte Gegend. Und sie hatte nichts mehr, was sie unauffällig fallenlassen konnte.

Derenski schlang seinen Arm um ihre Taille, hob sie mühelos hoch. »Sie erlauben, Mylady.« Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern sagte zu Brandon: »Kümmere dich um den Kutscher.«

Er rannte mit Nola durch die Dunkelheit davon. Für sie sah alles gleich aus, er fand seinen Weg mühelos. Die beiden Frauen folgten ihm. Lady Ianthe hatte sich verwandelt und lief erstaunlich geschickt auf drei Beinen. Nach kurzer Zeit gesellte sich Brandon wieder zu ihnen. Die Wolkendecke riss für einen Moment auf, ließ den Mond durchscheinen, und für diesen kurzen Augenblick meinte Nola, Blut auf Brandons Lippen zu sehen. Die Bedeutung von Derenskis Worten wurde ihr schlagartig klar. Sie waren wilde Bestien. Sie musste fort von ihnen. Nola strampelte, biss dem Krakauer in die Hand.

Er gab ihr eine Ohrfeige. »Ruhig, meine Liebe, oder wollen Sie gefesselt und geknebelt werden? Dass Menschen nie wissen, wann sie verloren haben.« Er fletschte die Zähne.

Nola erstarrte schlagartig und machte sich auf seinem Arm klein. Ihr kam in den Sinn, dass Beten gegen Werwölfe helfen könnte, aber sie bezweifelte, dass ihre Worte im Himmel Gehör fanden, weil sie noch nicht einmal Weihnachten zur Kirche ging und das letzte Mal als Kind gebetet hatte.

Weiter und weiter trabten die Werwölfe mit ihr. Ihre Kräfte schienen unerschöpflich. Als sie endlich anhielten, standen sie vor einem Turm, einem sogenannten Broch. Im Gegensatz zu dem in der Nähe von Shavick Castle war dieser intakt und aus einer Fensteröffnung schimmerte Licht. Vier Gestalten warteten vor dem Eingang. Drei Männer und eine Frau in Hosen. Derenski stellte Nola wie ein Gepäckstück ab.

»Wohin haben Sie mich gebracht?«, fuhr Nola den Rudelführer an und hoffte, ihre Angst war ihrer Stimme nicht anzuhören. »Der Earl of Shavick wird nicht eher ruhen, bis er mich gefunden hat.«

»Das hoffe ich. Mein ganzer schöner Plan beruht darauf, dass er Sie findet. Aber nicht zu früh. Ludmilla, kümmere dich um unseren Gast. Sie soll präsentabel hergerichtet sein, wenn der Schotte kommt.«

»Ich spiele nicht die Zofe für die da.«

Kälte kroch unter Nolas Umhang. Dass die Nächte im März noch so kalt sein konnten! Sie zog den Umhang enger um sich. Um nichts in der Welt wollte sie weiter zwischen den Werwölfen stehen. »Was soll das? Wollen Sie ein Fest veranstalten?«

»Die Menschin hat Humor. Für uns wird es ein Fest werden, für Monroe … «

Derenski redete auf Polnisch weiter, die Männer antworteten aufgeregt, keiner achtete auf Nola. Sie rannte um den Broch herum, kümmerte sich nicht um die Kälte an ihren Füßen. Hinter dem Broch gab es nichts, wo sie sich verstecken konnte. Sie ließ sich auf den Boden fallen, verbarg sich unter dem Umhang -wenigstens war er dunkel. Sie musste sich auf ihre Schnelligkeit verlassen und darauf, dass die Nacht sie verbarg. Steine und Dreck missachtend, robbte sie weg vom Broch. Sie zwang sich, nicht an die Krabbeltiere zu denken, die sich im Gras verbergen mochten.

Hinter sich hörte sie einen Augenblick nichts - mit ihrer Flucht hatten die Bestien offenbar nicht gerechnet. Dann setzten polnische und englische Flüche ein, sie hörte eilige Schritte.

Derenski schrie: »Igor!«

Jäh wurde Nola gepackt und auf die Füße gezogen. Sie trat nach ihrem Widersacher, traf auch, aber es war, als hätte sie gegen einen Stein getreten. Die Wolkendecke riss einen Augenblick auf, und im Mondlicht erkannte sie ein breites, slawisches Gesicht, ein wölfisches Grinsen.

»Ruhig, Lady. Der Rudelführer hat gesagt, er braucht Sie, also kann ich Sie nicht entkommen lassen. Seien Sie artig, dann muss ich nicht grob werden.«

Sie spuckte nach ihm, verfehlte ihn - leider.

Derenski, Antonia und Brandon kamen um den Broch herum.

»Ah, Igor, du hast sie.« Derenski wandte sich an Nola. »Sie sollten wissen, meine Liebe, dass ein Mensch uns nicht entkommen kann. Wir sehen in der Nacht so gut wie am Tag, und unser Geruchssinn lässt uns eine Spur so leicht finden, als hätten sie einen Ariadnefaden ausgelegt. Monroe scheint ihnen nicht viel über uns beigebracht zu haben. Kommen Sie.« Er bot ihr den Arm, als ständen sie nicht als Feinde im Nirgendwo, sondern in einem Ballsaal.

Seine höfliche Geste täuschte sie nicht darüber hinweg, dass Maksym Derenski wütend war - extrem wütend. Als sie ihm den Arm nicht geben wollte, packte er zu und zog sie auf die andere Seite des Brochs.

In dem mittelalterlichen Turm warteten bereits Brandon, Ianthe und die beiden polnischen Frauen. In eisernen Wandhaltern steckten zwei rußende Fackeln, die Nolas Augen sofort tränen ließen. Mit dem Handrücken wischte sie über ihr Gesicht.

Rhodry wachte davon auf, dass seine Zimmertür geschlossen wurde. Noch bevor er die Augen geöffnet hatte, wusste er, dass jemand im Raum war. Es war kein Werwolf und es war eine Frau, das verriet ihm ein intensiver Geruch nach Maiglöckchen. Kein Werwolf benutzte ein Parfüm, das die Nase derart malträtierte.

Nola war zu ihm gekommen, war sein erster Gedanke. Er wisperte ihren Namen.

Eine Gestalt mit abgewandtem Gesicht näherte sich dem Bett. Sie war von Kopf bis Fuß verhüllt, er erkannte kaum mehr, als dass sie auf zwei Beinen ging. Er schmunzelte. Wenn Nola die unbekannte Besucherin spielen wollte — nur zu. Dafür nahm er den Parfümgestank hin.

Sie legte sich neben ihn, immer noch konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Er wollte den Schleier fortzupfen, aber sie hielt seine Hände fest. Ihre eigenen steckten in Handschuhen. Mit einem Finger strich sie ihm über die Lippen. Der Geste haftete etwas Aufreizendes an.

Er griff nach ihr, fand eine Öffnung in ihrer Verhüllung und stellte fest, dass sie darunter nichts trug. Er ertastete einen flachen Bauch, krauses Schamhaar. Seine Besucherin stöhnte. In Rhodry erwachte die Lust, endlich fanden er und Nola zusammen. Wenn er sie erst einmal besessen hatte … Wieder stöhnte sie, als seine Finger tiefer tasteten.

Er riss sich das Nachthemd vom Leib. Dass dabei mehrere Knöpfe absprangen, bemerkte er nicht. Nackt lag er neben ihr, ein Bein quer über ihre gelegt. Er wollte ihre Verhüllung zurückschlagen, sie erlaubte ihm nur die Berührung ihres Unterleibes. Dafür ließ sie es zu, dass er ihre behandschuhten Finger um seinen erigierten Penis schloss. Sacht schob sie die Vorhaut hin und her.

Der Maiglöckchenduft folterte ihn, verhinderte sein völliges Aufgehen in der Lust. Er musste ihr sagen, dass sie sparsamer mit dem Parfüm sein sollte — später, morgen. Er war bereit für sie, seit Jahrhunderten, da ließ er sich von Parfümgestank nicht aufhalten. Er tastete nach ihrer Scham, tauchte ein in ihre feuchte Wärme, massierte ihre Klitoris, spürte, sie war ebenfalls bereit für ihn. Sie stöhnte lauter.

Rhodry erstarrte mitten in der Bewegung. So klang Nola nicht. Er hatte sie stöhnen hören. Es kam tief aus ihrer Brust, unverfälscht, während das eben triumphierend geklungen hatte. Wer war die Verschleierte? Er schlug den Umhang zurück und diesmal ließ er sich nicht von behandschuhten Händen aufhalten. Ein makelloser Frauenleib kam zum Vorschein, dunkles Schamhaar. Nolas war heller. Die Frau hatte sich versteift und ließ es widerspruchslos geschehen, dass er sich an ihren Schleiern zu schaffen machte.

Schließlich lag Amelia vor ihm, nackt und mit Tränen in den Augen. Rhodry zuckte zurück, zog die Bettdecke über seine eigene Blöße. Enttäuschung und Wut schlugen in dunklen Wellen über ihm zusammen. Seine Kopfhaut prickelte, und seine Finger krümmten sich zu Krallen.

»Wahnsinnige«, murmelte er tonlos, räusperte sich. »Was hast du getan?«

Die Bettdecke um sich gewickelt, sprang er auf. Er musste mehr Abstand zwischen sich und die Tochter seines Butlers bringen. Ihre Haut schimmerte fahl im Mondlicht. Sie wirkte verletzlich, und das war gefährlich, ließ die Flammen seiner Wut höher züngeln. Er schaute sie nicht an, war jetzt dankbar über den Maiglöckchengestank, der seine Sinne verwirrte und die Verwandlung verhinderte.

»Bedeck’ dich endlich.«

»Mylord …« Ihre Stimmer zitterte, aber sie machte keine Anstalten, seinem Befehl Folge zu leisten. Dafür hörte er, wie sie sich über die Lippen leckte. Sollte das ein letzter verzweifelter Verführungsversuch werden? »Ich verzehre mich nach Euch, seit ich zwölf bin. Ich will Euch gehören, mit jeder Faser meines Seins. Nehmt mein Leben.« Sie hatte die Worte hastig hervorgestoßen.

»Du redest Unfug.«

Rhodry riskierte einen Blick zum Bett. Sie lag noch entblößt dort. Er erkannte jede Einzelheit ihres makellosen Leibs. Jeder Mann hätte frohlockt über das Angebot. Sein Penis hatte eigene Vorstellungen und pochte vor Verlangen, und dicht dahinter lauerte die Verwandlung. Ohne hinzusehen, überwand er die Distanz zum Bett und schlug den Umhang über ihren Leib zusammen. Danach zog er sich wieder ans Fenster zurück.

»Ich werde dein Leben nehmen, aber anders, als du dir das denkst.«

»Mein Leben gehört Euch. Ich weiß, dass Ihr kurz vor der Verwandlung steht, Mylord. Haltet Euch nicht zurück. Ich wäre froh, wenn Ihr mein Schicksal vollzieht. Liebt mich — einmal, ihr wünscht es doch genauso wie ich.«

Jetzt wurde sie melodramatisch, und das ernüchterte ihn. Das Prickeln in seinem Hinterkopf ließ nach, er lockerte die verkrampften Schultern, streckte die Finger.

»Ich wünsche das nicht halb so sehr, wie du dir das ausmalst. Tatsächlich denke ich nie mit Begehren an dich.« Er gab seiner Stimme absichtlich einen harten Klang. »Du gehörst zur Dienstfamilie der Earls of Shavick, darin besteht deine Pflicht, und mehr wird zwischen uns nicht sein. Im nächsten Jahr wirst du mir den Bluteid leisten.«

Vom Bett war ein erstickter Laut zu hören.

Rhodry redete weiter: »Ich kann dich verstoßen und es wäre, als hätte es dich nie gegeben; dein Vater hätte seine Pflicht mir gegenüber nicht erfüllt. Er müsste in seinem Alter noch einmal heiraten und ein Kind zeugen. Das will ich ihm nicht zumuten, aber wenn es nicht anders geht … «

»So weit muss es nicht kommen, Mylord.«

Er hörte Amelia aufstehen und das Zimmer verlassen. Vor der Tür brach sie in Tränen aus. Er hörte sie durch das dicke Holz hindurch schluchzen.

Beim Vollmond, was war in sie gefahren? Wie hatte sie hoffen können, er würde mit einem Mitglied seiner Dienstfamilie …? Dabei hatte sie es schlau angefangen, verhüllt wie eine Orientalin und mit dem Maiglöckchengestank. Er riss ein Fenster auf. Kühle Nachtluft strömte ins Zimmer, und Rhodry atmete erleichtert ein.

Schlafen konnte er nicht mehr, unruhig streifte er durch die Flure der Burg. Von Amelia war nichts zu sehen und zu hören. Wenn sie Stillschweigen bewahrte, würde er es auch tun, um ihren Vater zu schonen.

Vor Nolas Zimmertür blieb er stehen. Wann sah sie ein, dass es sinnlos war, gegen ihn zu kämpfen, und stimmte zu, als ersten Schritt endlich in die Räume der Hausherrin zu ziehen? Wenn sie heute Nacht zu ihm gekommen wäre …

Wie von selbst griff seine Hand nach der Klinke und öffnete die Tür. Dahinter war alles ruhig — zu ruhig. Ihr Geruch hing schwach in der Luft — zu schwach. Mit einem Sprung durchmaß er den Raum, zog den Bettvorhang beiseite. Das Bett war zerwühlt, aber leer. Nola war nicht da.

Von Sinnen schleuderte er die Bettdecke beiseite. Nola war fort. Seine Brust zog sich zusammen, schmerzte wie unter der Berührung von Silber. Er merkte nicht, dass Jane mit schreckgeweiteten Augen in der Tür zu ihrer Kammer aufgetaucht war, das Haar vom Schlaf zerrauft. Sie sah aus, als hätte sie einen Geist erblickt. Er reckte das Gesicht nach oben und stieß ein Heulen aus. Schauerlich hallte es von den Wänden wieder, suchte seinen Weg durch die Flure und Gänge der Burg.

Eugene und Moira waren als Erste bei ihm, die Haare aufgelöst und Morgenmäntel über die Nachthemden gezogen. Eugene hatte seinen nicht geschlossen, Moiras war schief geknöpft. Sie hielten Jane auf, die vor dem Heulen flüchten wollte. Weitere Werwölfe versammelten sich im Flur vor dem Zimmer. Herein traute sich außer Eugene und Moira niemand. Rhodry heulte schauerlich. Eugene packte ihn an der Schulter.

»Freund, beruhige dich. Was ist passiert?«

Er erhielt keine Antwort. Moira stand neben Nolas Bett, inspizierte die Kissen, roch an der zerrissenen Decke.

»Sie war hier, das kann ich mit Bestimmtheit sagen«, meinte sie.

Eugene verstand sie nur mit Mühe. Er hielt immer noch Rhodry an den Schultern gepackt und schüttelte ihn. Es hatte einen Augenblick gegeben, da hatte er gedacht, Moira bei einem Angriff der Werwolfjäger verloren zu haben. Das war fast 100 Jahre her, der Gedanke daran schmerzte noch — er konnte nachfühlen, was sein Freund durchmachte.

»Was noch?«

Moira strich über die Laken, die Bettpfosten. Vor Konzentration hatte sie die Brauen zusammengezogen und die Nase gekräuselt. Sie ließ sich auf die Knie nieder, fühlte mit den Händen über den Teppich, roch an den Fasern. Rhodry verstummte. Zusammen mit Eugene und allen anderen beobachtete er die Werwölfin. Niemand hatte eine so gute Nase wie Moira.

»Was riechst du?«, fragte er, als er das Warten nicht mehr aushielt. Seine Stimme zitterte hörbar.

»Sie war hier und ist aus dem Zimmer gegangen.« Moira war auf Knien bis zur Tür gerutscht. Die anderen machten ihr Platz. »Mehr nicht. Draußen verliere ich ihre Spur, zu viele andere Gerüche.« Die Werwölfin richtete sich auf. Ihr Blick fiel auf Jane, die wie ein Häufchen Elend zwischen den anderen stand.

»Mädchen, hast du was zu sagen?«

»Nichts.« Janes Stimme zitterte. »Ich - ich habe geschlafen und zuvor Lady Eleonore zu Bett gebracht. Danach noch ihr Kleid ausgebürstet.«

»Hast du etwas gehört?«

»Nichts.«

Rhodry ließ einen stahlharten Blick über die versammelten Rudelmitglieder schweifen, nicht wenige schauten weg.

»In den großen Saal. Alle!«, befahl er mit kalter Stimme.

Moira richtete sich vor ihm auf, die Stirn gerunzelt. Sie atmete keuchend, als wäre sie eine weite Strecke gerannt. »Ist das klug?«

Der Rudelführer antwortete nicht, seine Augen sprühten Funken. Die anderen beeilten sich, seinem Befehl nachzukommen, als er auf die Tür zukam. Eugene blieb an seiner Seite, Moira ging hinter den beiden.

Im Bankettsaal brannten keine Kerzen. Regen trommelte gegen die Fenster, ein Vorhang bewegte sich sacht in der Zugluft. Rhodry hatte die Zähne so fest zusammengepresst, dass man befürchten musste, sie würden dem Druck nicht standhalten. In ihm loderte Wut, gepaart mit Angst um Nola; seine Kopfhaut prickelte. Am Tischende drehte er sich abrupt um. Moira wäre beinahe in ihn hineingelaufen. Im letzten Moment konnte sie ausweichen und schlüpfte an Eugenes Seite. Die anderen blieben stehen, als wären sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt.

Moiras Frage war nicht unberechtigt gewesen, und wahrscheinlich war es nicht klug, was er vorhatte — nur konnte er nicht anders. Er holte tief Luft. Das Prickeln seiner Kopfhaut machte das Denken schwer.

»Ich muss wissen, was geschehen ist. Nola sollte nie ohne Schutz sein. Shavick Castle ist nicht unbewacht, und doch ist sie verschwunden? Fehlt noch jemand?«

Ein älterer Werwolf trat vor. Sein Name war Frank Moher. »Lady Ianthe ist nicht da.«

Die Worte trafen Rhodry wie ein Dolch. Ianthe war zu ihm gekommen und hatte ihn vor den Krakauern gewarnt, und er war sicher gewesen, sie hatte ihm nicht alles erzählt. Jetzt war sie weg -wenn sie mit den Krakauern gemeinsame Sache machte…

»Fehlt noch wer?«

»Brandon Hatherley«, antwortete Frank. »Vielleicht sucht er Lady Eleonore in der Burg?«

»Hat ihn und Lady Ianthe jemand heute Nacht gesehen?« Rhodry kam sich vor wie ein Inquisitor der Christen.

Einige schüttelten die Köpfe, schließlich sagte einer aus den hinteren Reihen: »Nein.« Andere wiederholten seine Antwort.

»Wir suchen sie«, meinte endlich einer und huschte aus dem Bankettsaal. Eine Handvoll Werwölfe folgten ihm.

Sie würden Nola nicht in den Mauern von Shavick Castle finden, wusste Rhodry mit schmerzlicher Deutlichkeit. Und Ianthe auch nicht.

»Wo waren alle?«, herrschte er Frank an, mäßigte sich dann. »Wie können drei Personen aus Shavick Castle verschwinden, ohne dass einer etwas sieht? Die Burg sollte bewacht werden, solange die Krakauer hier herumschleichen.«

»Sie wird bewacht«, mischte sich Eugene ein. »Vier Werwölfe patrouillieren ständig über das Gelände. Sie können ihre Augen nicht überall haben, und wer ihre Posten kennt, kann an ihnen vorbeischlüpfen. Sie sollen darauf achten, wer sich Shavick Castle nähert, nicht wer die Burg verlässt. Brandon Hatherley hat sich nie was zuschulden kommen lassen und Lady Ianthe auch nicht.«

»Dann ist es heute das erste Mal.« »Du kannst Werwölfe nicht zu Wachhunden degradieren.«

»Ich habe die Verantwortung für das Rudel, Shavick Castle und alle seine Bewohner, und da kann ich verdammt noch mal alle Befehle geben, die notwendig sind!«, brüllte Rhodry.

Die Werwölfe kamen von ihrer Suche zurück und stellten sich neben Frank Moher. »Wir haben sie nicht gefunden«, sagte einer.

Schlimmer konnte sich ein Werwolf nicht fühlen, wenn ihm eine Silberkugel ins Herz geschossen wurde. Rhodry hätte sich am liebsten auf dem Boden zusammengerollt wie ein Welpe. Der Schmerz war zu groß. Er presste die Fingernägel in die Handballen, bis sie bluteten. Er durfte sich jetzt nicht verwandeln — wenn Werwölfe beteten, in diesem Moment hätte er es getan. Es war nicht Eugenes Verantwortung und nicht Ianthes oder Brandons, es war seine, er war der Rudelführer. Sie warteten auf seine Entscheidung, und sein Kopf war leer.

»Sucht sie«, sagte er schließlich, »außerhalb der Burg und in jedem Winkel, wo sie sich verbergen könnte. Keiner kehrt ins Schloss zurück, bevor sie nicht gefunden wurde. Wenn ihr auf Brandon Hatherley oder Lady Ianthe stoßt, das Silber soll sie holen.«

Das war die Erlaubnis, die Werwölfe zu töten. Eugene sog scharf die Luft ein. Ging Rhodry da zu weit? Ein Blick in das Gesicht seines Freundes sagte ihm, es gab keine Chance, ihn umzustimmen. Die anderen Rudelmitglieder sahen ebenso erschrocken aus, nur die Ältesten konnten sich an ein Todesurteil gegen einen der ihren erinnern.

»Bring sie nach oben«, befahl Derenski seiner Seelenpartnerin.

Der Broch verfügte insgesamt über drei intakte Räume. Sie lagen alle übereinander und Antonia brachte Nola in den Obersten. Vom Erdgeschoss in den ersten Stock hatte eine wackelige Leiter geführt. Die anderen waren ihnen zunächst gefolgt, dann im ersten Stock zurückgeblieben. Der Letzte zog die Leiter ein, ließ eine schwere Falltür polternd zufallen.

Der Raum war nicht groß und mit neun Personen, von denen acht Werwölfe waren, eindeutig überfüllt.

Antonia packte Nola an der Schulter und gab ihr einen Schubs. »Los, weiter!«

Sie stolperte und wäre gefallen, wenn Brandon Hatherley sie nicht gehalten hätte. Sie befreite sich sofort aus seinem Griff, seine verräterischen Finger brannten schlimmer als Feuer. Vorbei war es mit seiner Freundlichkeit, und von Antonias lasziver Verführungskunst war auch nichts mehr zu spüren; dicht unter der menschlichen Hülle lauerte die Bestie, die einem mit einem Biss die Kehle herausreißen konnte. Sie hatte es in London direkt vor ihrer Haustür gesehen. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals.

Ob Rhodry auch so war, überlegte sie, als sie vor der Polin die Leiter hinaufkletterte. Konnte sie so jemanden lieben und mit ihm zusammenleben? Die Frage war müßig, denn sie würde ihn nie wiedersehen. Ihr langer Rock behinderte sie, und sie kam nur langsam voran. Antonia gab ihr von hinten einen Stoß. Sie stolperte die letzten Stufen hoch und in den Raum hinein. Sie schlug sich Knie und Unterarm an.

»Hier bist du sicher. Es gibt nur einen Weg hinaus.« Antonia ließ den Blick durch den Raum schweifen und kletterte wieder nach unten.

Nola schaute sich ebenfalls um.

Der Raum oben war genauso groß wie der untere und wurde fast zur Gänze von einem Bett ausgefüllt. Laken und Decken waren schmuddelig grau. Er hatte vier Fenster — Schießscharten traf es besser, denn sie waren so schmal, dass sich nicht einmal ein Kind hindurchzwängen konnte. Sie ließen kaum Licht in den Raum, es kam nur durch die Bodenluke von unten. Sie setzte die Inspektion des Raumes fort, richtete den Blick zur Decke. Die bestand aus Holzbalken und sah solide aus. Eine Falltür führte auf das Dach. Vielleicht …

Nola stellte sich aufs Bett und konnte den Riegel an der Tür mit den Fingern erreichen. Als sie daran zog, gab er ein hässliches Geräusch von sich. Erschrocken hielt sie inne. Hatten die Werwölfe es gehört? Von unten drang ein Lachen herauf, dann rief Derenski: »Versuchen Sie es nicht, Lady Eleonore. Sie landen bei Wind und Regen auf dem Dach, von dort gibt es nur einen Weg — den nach unten. Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt ein Menschlein nicht.«

»Wir können dich auch fesseln und aufs Dach legen«, setzte Antonia nach.

Die Gefangene gab jeden Gedanken an Flucht vorerst auf und kauerte sich auf dem Bett zusammen. Die Matratze war klumpig und klamm. Sie wickelte den Umhang und die Bettdecke um sich und ignorierte deren strengen Geruch. Von unten drangen Stimmen herauf, sie redeten polnisch, hin und wieder hörte sie Rhodrys Namen.

Der See bereitete Rhodry die größten Sorgen. Wenn Nola in der Dunkelheit vor Brandon und Ianthe aus der Burg geflohen und in das eiskalte Wasser geraten war? Binnen Minuten hätte die Kälte ihren Körper gelähmt, sie in die Tiefe gezogen. Sie hätten keine Chance, sie zu finden.

Und warum Brandon Hatherley? Er hatte ihn als abenteuerlustigen Jungwolf in Erinnerung. Wenn Nola nicht vor ihm, sondern mit ihm geflohen war? Wenn sie ihn und Shavick Castle so hasste, dass sie lieber mit einem anderen davonlief …

Er rannte mit Eugene und Moira durch die feuchtkalte Nacht. Die Werwölfin rief immer wieder Nolas Namen. Die anderen waren ebenfalls ausgeschwärmt, das ganze Rudel war unterwegs. Er hatte angeordnet, sofort durch einen Ruf benachrichtigt zu werden, wenn etwas gefunden wurde. Bisher war alles ruhig geblieben.

»Da vorne glitzert was.« Moira war stehengeblieben.

Die beiden Männchen spähten angestrengt in die Richtung, in die sie deutete.

»Da ist nichts«, sagte Eugene mit zusammengekniffenen Augen. Er spähte angestrengt ins Dunkel, aber seine Werwolfsaugen erblickten nichts.

»Ich habe es gesehen«, beharrte Moira. »Die Wolkendecke riss einen Moment auf und ihm Mondlicht habe ich es gesehen.«

»Nola, Nola«, rief Rhodry. Seine kräftige Stimme war kaum mehr als ein zittriges Flüstern, das der Wind sofort davontrug.

Sie gingen dorthin, wo Moira das Glitzern gesehen haben wollte. Die Werwölfin ging in die Hocke und tastete auf dem Boden umher. Sie kümmerte sich nicht um ihre Röcke, die im Matsch schleiften. Eugene war nach wie vor skeptisch. Es war stockdunkle Nacht, der Mond nicht mehr als eine schmale Sichel, da war es selbst für einen Werwolf schwierig, etwas zu erkennen. Er wollte gerade sagen, dass sie ihre Zeit verschwendeten, als Moira nach etwas griff.

Sie barg es in der Hand und richtete sich auf. Ihr Rock war bis zum Knie nass, ihr Gebiss blitzte auf, und Eugene konnte sich ihr Grinsen vorstellen. »Es ist ein Ring.«

Sie streckte eine schmutzige Hand aus, auf der Innenfläche lag ein schmaler, goldener Ring. Rhodry nahm ihn.

»Das ist Nolas.«

»Wie kannst du dir da sicher sein? Es ist ein Ring.« Eugene sah nichts als einen schmalen Goldreif, wie ihn hunderte junge Frauen trugen. Sogar Amelia hatte einen.

»Ich habe ihn an ihrer Hand gesehen.« Er roch an dem Ring, schüttelte jedoch den Kopf. »Erkennst du mehr, Moira?«

Die Werwölfin sah sich um, sog prüfend die Luft ein, griff sich eine Handvoll Schlamm, roch daran. »Der Regen hat alle Spuren fortgewaschen. Einzig rieche ich Pferde, ihr Geruch hängt schwach in der Luft und im Boden.«

»Pferde mitten in einer solchen Nacht und an diesem verlassenen Ort? Kein Mensch verlässt nachts seine Behausung, wenn er nicht muss.«

Moira schaltete sich wieder ein: »Es ist noch nicht lange her, oder die Pferde waren sehr aufgeregt oder beides.«

»Werwölfe«, vermuteten Rhodry und Eugene gleichzeitig.

»Was riechst du noch?«, beschwor der Earl die Wölfin.

»Mehr nicht.« Moira schüttelte den Kopf, dass ihr unfrisiertes Haar flog.

»Wenn das Nolas Ring ist und die Pferde mit ihrem Verschwinden zu tun haben, gibt es nur zwei Wege, die sie genommen haben können«, sinnierte Eugene. »Entweder durchs Dorf oder nach Norden.«

»Ruft die anderen zusammen. Wir erfahren im Dorf, ob Reiter oder eine Kutsche durchgekommen sind. Sonst geht es nach Norden.« Rhodrys Stimme war wieder kräftiger. Die Verzweiflung wich von ihm, jetzt wo sie eine erste Spur hatten.

Im Dorf weckten sie den Ältesten. Der Mann erschien mit Nachthemd und Nachtmütze angetan in der Tür. Mit einer Hand hielt er eine Laterne hoch, schaute die Besucher kurzsichtig an. »Wer kommt mitten in der Nacht?« Seine Stimme klang ungehalten.

»Ich bin der Earl of Shavick. Ich suche eine junge Frau. Ist in der Nacht eine Kutsche oder eine Gruppe Reiter durch das Dorf gekommen? Haben Sie etwas gehört?«

Seine Frau drängte sich hinter ihm heran, genauso gekleidet wie er. Sie war von ihrem Mann nur dadurch zu unterscheiden, dass unter ihrer Nachthaube lange Haare hervorschauten. »Der hat wie ein Toter geschlafen. Nachts hört er nie was. Als Sie eben geklopft haben, musste ich ihn erst wachrütteln.«

»Haben Sie Pferde gehört oder etwas anders Ungewöhnliches in dieser Nacht?« Rhodry wurde ungeduldig. Am liebsten hätte er die Frau am Hals gepackt und geschüttelt.

»Oh, Mylord, da war etwas. Jemand ist heute Nacht mit einer Kutsche durch den Ort gefahren. Die Räder haben auf den Steinen gerattert, es war zum Fürchten. Nachts und bei diesem Wetter so schnell zu fahren …« »Von wo sind sie gekommen?« Der Earl ballte die Hände zu Fäusten. Er spürte wieder dieses Prickeln im Hinterkopf, und daran war diese Alte Schuld, wenn sie nicht gleich … Er fletschte die Zähne.

Eugene stieß ihn an. »Freund, wenn du ihr die Kehle herausreißt, erfahren wir gar nichts.«

Er hatte recht, dennoch war der Gedanke verlockend.

»Die Kutsche ist von da gekommen.« Sie zeigte in die Richtung, in die Shavick Castle lag. »Und sie sind in diese Richtung gefahren.«

Rhodry war fort, bevor sie ausgeredet hatte. Eugenes und Moiras Heulen hatte unterdessen mehr als ein Dutzend Mitglieder des Schottlandrudels zusammengerufen. Sie verließen das Dorf auf dem Karrenweg, der nach Westen führte, fort von Shavick Castle. Moira übernahm mit Rhodry zusammen die Führung. Immer wieder versuchte sie, eine Spur zu finden, den Geruch der Pferde zu wittern, während der Rudelführer unbeirrt voranstürmte.

Keiner von ihnen hörte noch, wie der Dorfälteste zu seiner Frau sagte: »Da ist etwas im Gange. Es schleichen viele Fremde hier herum in letzter Zeit. Ich werde Lord Sharingham benachrichtigen.«