Kapitel 5

In der Wohnung herrschten morgens um zehn Uhr bereits 30° C. In der Nacht hatte es kaum abgekühlt, obwohl Nola alle Fenster geöffnet hatte, um wenigstens einen Luftzug hereinzulassen. Sie brauchte sich nur auf die Couch zu setzen, und schon hatte sie das Gefühl, ihre Oberschenkel hafteten am Polster fest.

Sie stand wieder auf und zupfte an ihren Shorts herum, die an der Haut klebten. Danach kramte sie einen roten Bikini mit weißen Tupfen, ein Badelaken und Flipflops heraus. Sie packte alles in eine Schultertasche und tat Sonnenmilch, ein Buch, eine Flasche Wasser, einen Apfel sowie eine Packung Butterkekse hinzu. So ausgerüstet verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg in den Hyde Park; unterwegs kaufte sie noch die aktuelle »Times«.

Dieselbe Idee wie Nola hatte offenbar halb London gehabt: Männer, Frauen, Kinder bevölkerten die Liegewiesen im Hyde Park. Speakers’ Corner war verwaist, es war einfach zu heiß, um eine Rede ans Volk zu richten. Nola brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie einen Platz gefunden hatte, der groß genug war, ihr Badelaken auszubreiten und daneben ihre Tasche und Schuhe abzustellen. Neben ihr lag eine Mutter mit Kleinkind, und nach kurzer Zeit wurde ihr klar, warum der Platz frei gewesen war: Die Mutter redete ohne Pause in Babysprache, und Nola musste sich drei Mal als Tante betiteln lassen, bevor sie sich häuslich eingerichtet hatte. Sie drückte sich die Stöpsel ihres MP3-Players in die Ohren und drehte sich um, damit sie die beiden nicht mehr sah. Robbie Williams blendete das Geplapper aus.

Nola schlug die Zeitung auf, las als Erstes die Wettervorhersage -kein Ende der Hitze in Sicht - und die Nachrichten aus aller Welt. Danach begann sie auf Seite eins, ließ den Wirtschaftsteil aus und wandte sich der Londonseite zu. »Werwölfe in London?« lautete die Überschrift. War ein Reporter von »Daily 16« zur »Times« gewechselt? Warum verfolgten diese Bestien sie plötzlich? Im Nachtclub »Fox in the Night« waren gestern Nacht angeblich Werwölfe aufgetaucht und hatten eine Massenpanik ausgelöst. Mehrere Dutzend Gäste waren verletzt worden, und noch mehr schworen heilige Eide, sie hätten gesehen, wie sich vor ihren Augen Menschen in Wölfe verwandelt hätten. Die Opfer wurden psychologisch betreut, die Polizei hatte bisher jedoch keine Hinweise für die Existenz der Bestien gefunden.

Nola kramte ihr Mobiltelefon heraus. Das »Fox in the Night« war einer der Clubs, die Violet häufiger besuchte. Sie rief die Freundin an und atmete erleichtert auf, als die sich an ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion meldete.

»Mir geht es gut«, sprudelte Vi heraus. »Mensch, da ist einmal was los im >Fox in the Night< und ich bin nicht da. Stell dir mal vor, was das für ein fantastischer Artikel geworden wäre, aus erster Hand!«

»Sei lieber froh, dass du einmal nicht mittendrin warst. Eine Massenpanik ist kein Zuckerschlecken.« Nola wusste, dass sie sich altklug anhörte. Doch als Angestellte des Savoy musste sie regelmäßig Schulungen über richtiges Verhalten im Brandfall und bei anderen Katastrophen über sich ergehen lassen.

»Ich passe auf mich auf«, versprach Violet. »Aber du, du musst dir von diesen Tworekis helfen lassen, jetzt wo die Existenz der Werwölfe quasi amtlich ist. Am Ende entführt dich so eine Bestie.«

»Amtlich - nur weil es in allen Käseblättern steht?«

»Welche Zeitung hast du gelesen?«

»Die >Times<.«

»Ach, das Käseblatt«, spottete Violet. »Im Ernst, Süße, wir müssen der Sache auf den Grund gehen.«

»Ich muss gar nichts. Ich habe das ganze Werwolfgerede satt. Das nimmt doch immer verrücktere Ausmaße an.«

Nach dem Telefongespräch stellte Nola fest, dass der Akku ihres MP3-Players leer und sie wieder dem Babygeplapper ihrer Nachbarin ausgesetzt war. Sie packte ihre Sachen zusammen, um sich einen anderen Platz zu suchen.

Jetzt war Speakers’ Corner nicht mehr verwaist, ein Mann hatte die kleine Rednertribüne erklommen und wandte sich an ein ständig größer werdendes Publikum. An einem fahrbaren Stand kaufte Nola sich ein Eis. Sie wollte den Redner eigentlich links liegen lassen, doch dann hörte sie, wie er »Werwolf« sagte und mischte sich unter die Zuhörer. Den Sinn der Rede zu erfassen, war nicht schwer, der Mann wiederholte ihn ein ums andere Mal in wechselnden Formulierungen: Die Bewohner Londons dürften nicht tatenlos zusehen, wenn sich Werwölfe in der Stadt ausbreiteten. Sie müssten sich organisieren und bewaffnen, nur Silber töte die Bestien. Er habe den ersten Anti-Werwolf-Club gegründet und rufe alle mutigen Männer und Frauen auf, beizutreten. An dieser Stelle zog er eine Liste aus seinem Rucksack; aus dem Publikum reckten sich ihm Hände entgegen. Auch der Mann neben Nola drängte sich nach vorn.

Sie leckte gerade den Rest ihres Eises auf, als sie sich auf einmal beobachtet fühlte. Vorsichtig schaute sie sich um, entdeckte in der beträchtlich angewachsenen Menschenmenge aber kein bekanntes Gesicht, und niemand schaute sie an oder schnell zur Seite. Das Gefühl eines auf ihren Nacken gerichteten Augenpaars blieb dennoch. Ein zweites Mal musterte sie die Büsche und die Leute, von denen sich immer mehr auf der Liste des Demagogen eintrugen. Sie entfernte sich aus der Menge, umrundete sie und die Büsche; auf der anderen Seite stand eine Schlange an einem Kiosk nach Eis und Süßigkeiten an. Aus dem Augenwinkel nahm Nola eine Bewegung wahr, als wäre jemand hinter einem Baum verschwunden. Doch als sie hinsah, war da nichts.

Die Lust an ihrem Ausflug in den Hyde Park war ihr gründlich vergangen. Sie zog ihr Kleid und die Sandalen an und machte sich auf den Heimweg. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Immer wieder schaute sie sich um, entdeckte jedoch niemand.

Die U-Bahn brachte sie zurück nach Camden. Nola schlenderte über den Camden Lock Market, kaufte sich Hühnchen in Mangosauce, das sie am Abend in der Mikrowelle aufwärmen wollte, und machte sich dann auf den schattigen Straßenseiten auf den Heimweg.

Als sie an den beiden Wohnungstüren im ersten Stock des Hauses vorbeikam, öffnete sich eine davon und ihre Nachbarin, die alte Ms. Murphy, steckte den Kopf heraus.

»Wie gut, dass Sie endlich da sind, junge Miss.« Sie nannte Nola nie anders als »junge Miss«.

»Ist was passiert?«

»Ich weiß nicht, vielleicht mache ich mir nur zu viele Sorgen.« Sie zögerte.

»Bestimmt nicht, Ms. Murphy.«

»Heute sind zwei junge Herren ums Haus geschlichen, die ich im Viertel noch nie gesehen habe.«

»Was haben sie denn genau gemacht?«

Camden war ein buntes Viertel, das viele Besucher und schräge Vögel aller Couleur anzog. Fremde waren nichts Ungewöhnliches, aber trotzdem war es besser, vorsichtig zu sein.

»Sie sind auf der anderen Straßenseite hin und her gegangen. Außerdem sind sie an unserer Haustür gewesen und haben die Namen auf den Klingelschildern gelesen.«

Ms. Murphy hatte eine große Leidenschaft, und das waren die Geschichten über Sherlock Holmes und Dr. Watson.

»Haben sie noch mehr gemacht?«

»Ich weiß nicht. Bei mir haben sie nicht geklingelt, woanders vielleicht. Erwarten Sie Besuch, junge Miss?«

Nola schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten. Vielleicht waren sie von der Hausverwaltung oder so.«

Nola verabschiedete sich und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Sie wollte den Schlüssel gerade ins Schloss stecken, als sie ein komisches Gefühl überkam. Sie zog die Hand wieder zurück. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie hatte das Gefühl, als ob es um etliche Grad kälter geworden wäre. Sie hatte die untrügliche Ahnung, dass etwas in ihrer Wohnung ganz und gar nicht war, wie es sein sollte. Eben hatte sie Ms. Murphy noch innerlich belächelt, aber jetzt nicht mehr. Sie presste das Ohr gegen die Tür. Es war nichts zu hören, die Beklemmung ließ sie jedoch nicht los. Ms. Murphy hatte anscheinend auf sie abgefärbt. Entschlossen steckte Nola den Schlüssel ins Schloss.

In ihrer Wohnung sah auf den ersten Blick alles aus, wie sie es am Morgen zurückgelassen hatte. Ihre Schuhe standen im Regal, an der Garderobe hingen ein Mantel und eine leichte Jacke, die sie beide seit Wochen nicht getragen hatte. Der Spiegel gegenüber lieferte ihr einen Einblick durch die geöffnete Küchentür. Auch dort schien alles auf dem rechten Fleck zu stehen.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch die Wohnung, schaute in alle Zimmer. Niemand war da. Offenbar hatte sie sich wirklich nur von Ms. Murphy anstecken lassen.

Erleichtert stellte sie ihre Tasche in der Küche ab, packte das Essen und die Wasserflasche aus, trug die Sonnenmilch ins Bad. Dort stutzte sie zum ersten Mal. Ihr Badelaken hing am Haken, aber sie war sich eigentlich sicher, es über die Duschwand gehängt zu haben. Konnte sie sich so täuschen? Lag das an der Hitze?

Sie öffnete alle Fenster der Wohnung und zog die Vorhänge zu. Ein Schwall warmer Luft kam herein. Nola betrachtete die Wohnzimmereinrichtung, suchte nach weiteren Beweisen dafür, dass jemand hier gewesen war - und fand sie. Auf dem Bücherregal lag normalerweise immer der letzte Brief, den ihr ihre Großmutter vor ihrem Tod geschrieben hatte, doch jetzt war er nicht mehr dort. Sie wurde hektisch, tastete über die Buchreihen, als könnte sie so etwas finden, was die Augen nicht sahen. Dann dehnte sie ihre Suche aufs ganze Wohnzimmer aus, durchwühlte das Körbchen, das neben dem Fernseher stand und ihn dem sie

Ansichtskarten, Einladungen und Grußkarten aufbewahrte. Da war der Brief, ganz unten. Noch nie hatte Nola ihn dort hineingelegt. Die beiden Männer, die Ms. Murphy gesehen hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Waren sie in ihrer Wohnung gewesen? Je länger sie sich umschaute, desto mehr Kleinigkeiten fielen ihr auf: Kissen, die zu ordentlich lagen, in der Küche ein Wasserglas, das auf der falschen Seite der Spüle stand, ein Fingerabdruck im Staub auf dem Schlafzimmerschrank. Jemand war während ihrer Abwesenheit in die Wohnung eingedrungen.

Die Polizei, sie musste die Polizei rufen. Aber bevor sie den Telefonhörer in der Hand hatte, begriff sie die Unsinnigkeit ihres Vorhabens. Die Wohnung war nicht durchwühlt, nichts war gestohlen worden. Ihre Uhr und eine Kette lagen weithin sichtbar auf dem Wohnzimmertisch, die Tür wies keine Einbruchsspuren auf, und die Fenster waren viel zu hoch über dem Boden, als dass dort jemand eingestiegen sein könnte. Die Polizei würde ihr nicht glauben.

Was war mit ihrem bisher so geordneten Leben passiert? Der Fremde aus ihren Träumen, die Kratzer, die Werwolfjäger, heimliche Beobachter im Park, Eindringlinge in ihrer Wohnung. Hing das alles zusammen?

Sie fühlte sich in ihrer Wohnung nicht mehr sicher, ihr Nest war entweiht. Nola sprang auf, lief in die Küche und bewaffnete sich mit Eimer, Lappen und Scheuermilch. Sie würde alle Spuren des Eindringlings tilgen und anschließend umgehend einen Riegel sowie ein zweites Schloss anbringen lassen.

Verschwitzt und erschöpft setzte sich Nola später auf die Kante ihres Betts. Die Sonne war inzwischen weit nach Westen gewandert, und die Wohnung blitzte. Alles stand wieder an seinem Platz, alle fremden Spuren waren getilgt, der Staub aus jeder Ecke entfernt.

Rücklings ließ sie sich auf die Matratze fallen und schloss die Augen, nur für einen Moment … und begann zu träumen.

Sie befand sich in einem dunklen Raum. Ein bleiches Viereck zeigte an, wo ein Fenster war. Die Scheibe fehlte, sodass ein kühler Luftzug hereindrang. Sie wollte ihr Kleid zurechtzupfen, die Füße unter den Rock ziehen, doch da bemerkte sie, dass sie nackt war. Außerdem war ein Strick um ihr rechtes Handgelenk gebunden, dessen Ende in der Dunkelheit verschwand. Sie lag auf einem einfachen Holzgestell mit einer groben Matratze und war angebunden wie ein Hund.

»Rhodry!« Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.

Eine Tür wurde geöffnet, und Pawel Tworek kam herein. Er schaute auf Nola herab wie ein Jäger auf den Köder in seiner Falle. Sie war ihm völlig ausgeliefert. Niemand wusste, wo sie war! Wer sollte sie also retten vor seiner Gier? Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen und entblößte dabei ein Gebiss, das nicht das eines Menschen war — es sah aus wie das eines Raubtiers. Nola wurde noch kälter. Sie wollte um Hilfe rufen, aber kein Laut kam über ihre Lippen.

Ihr Peiniger knurrte etwas, das sich für sie anhörte wie: »Schrei du nur, hier wird dich niemand hören. Und jetzt werden wir warten.«

Worauf warten? Sie hatte keine Idee.

Plötzlich sprang die Tür auf und krachte gegen die Wand. Herein stürmte Rhodry, eine Laterne in der einen Hand und einen Stab in der anderen. Er war ein anderer als der sanfte Rhodry, den sie bisher erlebt hatte; die Haare flogen ihm ums Gesicht, seine Miene spiegelte mörderische Wut. Er wandte sich ihrem Peiniger zu, wollte den Stab auf dessen Kopf niedersausen lassen. Hinter ihm drängten mehrere Wölfe in den Raum, die die Lefzen über schauerlichen Raubtiergebissen zurückgezogen hatte. Werwolfjäger stürzten in den Raum.

Nola wollte schreien und Rhodry vor dem Mann hinter ihm warnen, als einer der Wölfe dem Angreifer an die Kehle fuhr. Blut spritzte an die Wand und auf den Boden. Nur ein bewegungsloser Leib blieb zurück.

Der Kampf war so schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. Pawel Tworek verschwand vor der Übermacht durch das Fenster, seine Leute mit ihm. Die Wölfe folgten den Flüchtenden.

Rhodry kam zu Nola, beugte sich über sie und küsste ihre Augenlider. Sie spürte die Kälte nicht mehr, und auch nicht die harte Matratze, sondern gab sich seinen sinnlichen Lippen auf den ihren hin.